Körperkontakt

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Heilende Begegnung - Körpergespräche
Indikation für Körperkontakt im Klientenzentrierten Konzept
Klaus Heinerth, LMU München
Zusammengewürfelte Papiere:
Texte und Folien
zum Workshop RV München
Symposion Stuttgart
Oktober 2005
Stand: 23. Oktober 2005
Abstract
Begegnungen sind die konkreten Elemente einer Beziehung und nicht notwendig
verbal. Sie können umso empathischer (heilender) sein, je differenzierter das Modell der
Symbolisierung und der Selbstexploration ist. Eine Differenzierung der Theorie von
Rogers (1957) erlaubt ein tieferes Verstehen des Klienten in seinem so gewachsenen
inneren Bezugsrahmen:
- nach Art der Symbolisierungsstörung. Die Symbolisierung von Erfahrungen kann
graduell (quantitativ) behindert (verzerrt oder gehemmt), oder prinzipiell
(qualitativ) verhindert (versperrt oder zerstört) sein, so dass je nach Tiefe der
Erfahrung Worte allein den Klienten nicht erreichen können und zunächst andere
Formen der Begegnung, wie Körperkontakt, gefunden werden müssen.
- nach Art des Verlustes. Unabänderliche Schicksalsschläge oder persönliche
Herausforderungen der Umstände erfordern andere Formen der kathartischen
Verarbeitung, entweder Weinen oder Wüten): Angst vor den Schmerzen der
Trauerarbeit kann durch Körperkontakt vermindert werden.
Es werden angemessene Interventionen theoretisch abgeleitet und praktisch erörtert. Das
Primat der Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte wird differenziert und neu
begründet.
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Vorspann
"Antaios, ein Riese, Sohn Poseidons und der Gaia (Mutter Erde), lebte in
Lybien und forderte alle Fremdlinge, die dort ankamen, zum Ringkampf auf.
Antaios war unbesiegbar, denn die Berührung mit der Erde verlieh ihm stets
neue Kraft... Als Herakles auf der Suche nach den goldenen Äpfeln der
Hesperiden durch sein Land zog, forderte Antaios auch ihn heraus.
Herakles überwand ihn schließlich, indem er ihn vom Boden hochhob,
damit von seiner Mutter trennte, und ihn in der Luft erdrückte." (Nach
Grant & Hazel 1980)
Mythen sind geronnene Menschheitserfahrungen. Die Menschheitserfahrung,
dass Körperkontakt mit der Mutter nicht nur lebensspendend, sondern auch
lebenserhaltend ist, ist mein Thema: der Einsatz archaischer mütterlicher
Kräfte in der Psychotherapie, Körperkontakt, und zwar interaktiver
Körperkontakt.
Die ist ein uraltes Wissen, dessen heutige Bedeutsamkeit und Wirksamkeit
ich aufzeigen möchte.
Dabei bleibt offen, wie Körperkontakt in der Psychotherapie juristisch zu
bewerten ist. Heilpraktiker dürfen körperlichen Kontakt aufnehmen (mit der
Ausnahme sexuellen Kontaktes), dürfen das auf Psychotherapie beschränkte
Heilpraktiker auch?
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Beobachtungen:
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Viele Klienten öffnen sich leichter bei Körperkontakt - sofern dieser
angstfrei angenommen werden kann.
Viele Klienten wünschen von sich aus Körperkontakt und können ihn
für ihre Sicherheit und Selbstexploration nutzen.
Besonders im Zustand der Regression suchen Klienten Körperkontakt.
Klientin: "Wenn du mich in den Arm genommen hättest, hätte ich
weinen müssen!"
Klientin: "Ich wollte die Therapie abbrechen, da nahmst du meine
Hand!"
Klientin: "Das Wichtigste, das mir im Leben passiert ist, ist Deine
Hand!"
Beeindruckend ist das Bild einer Klientin, die die Hand der Mutter
wünscht, aber immer sind dort Plastiktüten, es gibt keinen Platz
für sie, ihre Bedürfnisse.
Oder das Bild eines Klienten, dessen wichtigste Erinnerung an einen
Abend in der Disko ist, dass ihn jemand an die Hand nimmt, um
mit ihm an einem ruhigen Ort zu sprechen.
Ich erreiche mitunter Klienten nicht mit meinen Verbalisierungen.
Empathie ist bei manchen Klienten eher über Körperlichkeit zu erreichen als
über Verbalisierungen ihrer Emotionen.
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Zur Definition
nicht:
nonverbale Kommunikation, Übungen, Körperbewusstsein,
Feldenkrais, Rolf, Reich, Massage, Streicheln
sondern: körperliche Interaktion, der Dialog von Körpern,
Begegnung, Berührung mit körperlicher Resonanz
mit und ohne Verbalisierung
Beispiele: Händedruck, Hand nehmen, halten, Mutter/Kind-Haltung,
Darmgeräusche hören lassen, mit Hand Schutz übernehmen,
gegenseitige Umarmung, Nudeln, Tanzen
sowie Kontakt mit Tieren, z.B. Reiten.
zum Nudeln: gemeint ist nicht Streicheln, sondern einen herzhaften
Kontakt mit einem gewissen Druck. Das gilt für die Hand, das gilt auch
für den ganzen Körper. Babys wollen genudelt werden, das macht ihnen
einen großen Spaß und der Grund dürfte darin zu suchen sein, dass sich
der Organismus dann bis in seine Tiefen spürt. Dies ist unmittelbare
Realität, deren Eindeutigkeit auch noch mit Genuss verbunden ist - wie
jede Bedürfnisbefriedigung. Wie Babys, die genudelt werden wollen, ist
der Partner zu drücken, da sich der Organismus dann bis in seine Tiefen
spürt. Klienten wählen auch diesen Sprachgebrauch: "Ich möchte Dich
gerne drücken!". Gemeint ist allerdings, "Bitte, drück mich!"
Vorkommen:
Heilende Begegnung
vorsprachliche Interaktion Mutter/Kind
Umgang von Liebenden
Psychotherapie
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Parallelität zwischen Mutter/Kind- und Therapeut/KlientKontakt
1. Aufgaben:
 Aufbau, Differenzierung von
 Selbstexploration
 Selbstkonzept
 Beziehung, Kontakt
 Verbalisierung von Erfahrungen
 Empathie, Ausdruck von Empathie
 (verbal rsp. Bedürfnisbefriedigung: prompt und
passend)
 Unbedingtheit der Wertschätzung
 Körper stiftet Realität = Erfahrung:
Inkongruenz zwischen Erfahrung und Selbstkonzept:
wirklich ist die Erfahrung, das Selbstkonzept ist
lediglich ein Konstrukt, resultierend aus der
Erfahrung. Sie ist die einzige Quelle, dem
Selbstkonzept übergeordnet, das aus ihr folgt.
2. Wege:
Indikation für Mutter/Kind ist gegeben, auch für Therapeut/Klient?
Wichtigste Indikation für Körperkontakt in der Psychotherapie ist
eine versperrte Symbolisierung. Zum besseren Verständnis dieser
Störung folgt diese Übersicht:
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Symbolisierungsstörungen und die Folgen
Symbolisierung ist:
Folgen für die Person:
1. offen
keine Abwehr: „voll entfaltete Person“
2. geringfügig gestört,
hinreichend genau:
3.
graduell (quantitativ) behindert
kaum Abwehr nötig: gesunde Verarbeitung
Selbstexploration stabilisiert das Selbstkonzept
Kongruenz zwischen Selbst und Erfahrung
Selbsterleben und Selbstexploration sind einfühlbar
a verzerrt:
selektive Abwehr: neurotische Störungen
Selbstexploration ist selektiv gestört
Selbstkonzept ist durch Introjekte instabil
b gehemmt:
generelle Abwehr: affektive Störungen
Selbstexploration ist generell gestört
Selbstkonzept wird abgewertet
4.
prinzipiell (qualitativ) verhindert Selbstaktualisierung unterbrochen (keine Selbstaktual.)
Selbstexploration teilweise schwer einfühlbar
Selbsterleben zeitweise verstört
c überfordert:
akute Belastungsreaktion
Selbstexploration ist behindert
Selbstkonzept wird destabilisiert
d versperrt: Dissoziation
dissoziative Störungen
e temporär zerstört:
(Abspalten)
Posttraumatische Belastungsstörungen und
Persönlichkeitsveränderungen
Selbstexploration partiell zerstört
Selbstkonzept inhomogen
f basal gesperrt:
(Spaltung)
Persönlichkeitsstörungen
Selbstexploration selektiv unmöglich
Selbstkonzept nur partiell entwickelt
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Die letzte Gruppe ist die interessanteste. Hier möchte ich die Gruppe der Früh
Gestörten den neurotisch gestörten Klienten gegenüberstellen. Ich gehe davon aus,
dass Psychoneurotiker hinreichend verstanden werden, sie sind uns ja auch ähnlicher.
In Abgrenzung zu Ihnen möchte ich Persönlichkeitsgestörte vorstellen, um auch sie
verständlicher zu machen.
Beide Störungsformen haben grundverschiedene Ursachen:
Empathieversagen in den ersten drei Jahren
vs
Bedingtheit der Wertschätzung später
Zur Dreijahresgrenze:
In den ersten drei Jahren benötigt das sich entwickelnde SK Empathie um zu
erfahren, wer er ist. Werden wesentliche Aspekte tabuisiert, aus welchen Gründen
auch immer, werden sie im Ausbau des SK fehlen: z.B. Angst, Aggression, Liebe
Nach Ablauf von drei Jahren weiß die Person, wer sie ist. Sie ist von der Empathie
weniger abhängig als von der Unbedingtheit der Wertschätzung. In unserer Kultur ist
es besonders das Leistungsverhalten, von dem die Wertschätzung abhängig gemacht
wird.
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Im Detail zur Entwicklung der Persönlichkeitsstörung
Der Mensch wird ohne dessen geboren, was wir Selbstbewusstsein und Identität
nennen, aber mit der Fähigkeit, Selbstbewusstsein und Identität zu erlernen. Dazu
bedarf es bestimmter Bedingungen.
Unter der Voraussetzung, dass fundamentale physikalische und physiologische
Defizitbedürfnisse hinreichend befriedigt sind, können die Bedingungen der
Entwicklung von Selbstbewusstsein und Identität benannt werden.
Entscheidendes Kriterium ist die Empathie der Mutter (Mutter als Metapher für die
Bindungsperson). Dabei können wir davon ausgehen, dass dieses Empathiebedürfnis
angeboren ist, ebenso wie das Bedürfnis der Mutter, empathisch zu sein, um dem
sonst hilflosen Wesen zu helfen. Tragendes Element sind die Bindungsgefühle:
Liebe.
Die Realisierung dieser Empathie ist abhängig von der Entwicklungsphase, in der
sich die Person befindet. In der vorsprachlichen Zeit befriedigt die einfühlsame
Mutter das Empathiebedürfnis des Babys durch die prompte und richtige
Befriedigung seiner Bedürfnisse. Dazu kommt die Verbalisierung dessen, was gerade
mental passier (Du hast Hunger - Angst - Schmerzen - frierst - bist müde - ärgerlich einsam etc. Ich füttere dich, tröste dich, schütze dich, weil ich dich liebe. Du kriegst,
was du brauchst, wenn es auch Grenzen gibt.)
Die Verbalisierung der Interaktionen zwischen Mutter und Kind ist notwendig, weil
das aufzubauende Selbstkonzept (Grundlage von Selbstbewusstsein und Identität)
verbal verankert ist, und das Kind lernen muss, seine Befindlichkeit auch verbal
auszudrücken. Sätze wie Ich habe Angst - bin traurig - ärgerlich konstituieren mit
ihren Verknüpfungen mit den Erfahrungen das Selbst.
Störungen in dieser Phase sind Frühe oder Persönlichkeitsstörungen (typisch ist die
Borderline-Störung). Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die
Persönlichkeitsstruktur in einer oder mehrere Hinsicht unvollständig ausgebildet ist.
Erfahrungen in diesem Bereich können nicht korrekt symbolisiert werden.
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Den fundamentalen Unterschied, in welcher Phase ein Defizit erfahren
wird, veranschaulicht der nächste Kasten.
Entfaltung des Selbstkonzepts
Entwicklung des
Selbstkonzepts:
Aufbauphase:
Gründung des SK
Ausbauphase:
Erweiterung des SK
durch Integration
erster Erfahrungen
(Selbst-Struktur)
durch Integration
neuer Erfahrungen
(Selbst-Textur)
durch Anerkennung durch Befriedigung
durch Befriedigung des
der Erfahrungen:
primärer Bedürfnisse, Bedürfnisses nach
passend und prompt
Anerkennung
durch kongruentes
Gegenüber:
Klientenprozesse
Schwerpunkt
empathische
Bindungspersonen
Offenheit für Erfahrungen,
Wachstum, Selbstkongruenz
ganzheitliches
Selbstkonzept
Identität
in der Kontinuität
Körpergespräche
unbedingt
wertschätzende
Bezugspersonen
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selbstreflexives
Selbstkonzept
Selbst-Bewusstsein
im Hier und Jetzt
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Typische Folgen
Das Besondere an den Persönlichkeitsstörungen ist, dass die betroffenen
Personen zwar ein dumpfes Gefühl davon haben, dass etwas nicht in
Ordnung ist (immerhin haben sie ja noch die entsprechenden Bedürfnisse,
z.B. nach Nähe), aber sie können es nicht symbolisieren, also weder
benennen noch verstehen.
Aus diesem Grund sind sie auch durch andere und den Psychotherapeuten
schwer zu verstehen, und wenn sie verstanden werden, wird von ihnen
auch eine empathisch richtige therapeutische Verbalisierung nicht
akzeptiert, eben weil nicht verstanden. Typisch sind Sätze wie Ich weiß
nicht! Immerhin betreten sie in der Psychotherapie Neuland.
Typisch ist auch, dass nach den systematischen Erfahrungen von
unbefriedigten Bedürfnissen, vor allem nach Nähe, ein Wunsch nach
Unabhängigkeit erwächst, um nicht fortgesetzt verletzt zu werden: Ich
brauche niemanden! Aus diesem Schwur folgt zwar eine Autarkie zum
Schutz, aber auch Misstrauen und Einsamkeit.
In diesen gestörten Bereichen, gewöhnlich Bindungsgefühle,
Aggressivität, Angst, Selbstwert, sind die Klienten verbal nicht erreichbar,
Empathie führt ins Leere. Im Gegenteil kann Empathie als bedrohlich
erlebt werden, so dass Misstrauen ein anderes typisches Merkmal von
Frühen Störungen ist.
Diese verbale Unerreichbarkeit hat immer wieder vermuten lassen, dass
Persönlichkeitsstörungen untherapierbar sind. Diese Annahme ist falsch,
wenn man die Möglichkeit einbezieht, die Betroffenen dort abzuholen, wo
sie in ihrer Entwicklung stehen geblieben sind, nämlich in den ersten drei
Lebensjahren, in denen ihre Identität hätte wachsen sollen, aber keine
Chance hatte, sich zu entfalten. Vehikel ist die Beziehung, neben den
Beziehungsmerkmalen sensu Rogers, gekennzeichnet durch Regression
und nonverbale Kommunikation. Dies ist ein Zustand ähnlich dem, wie er
damals zwischen Mutter und Kind nötig gewesen wäre. Dazu zählt auch
Körperkontakt, Körperkontakt als Möglichkeit dort, wo eine Berührung
verbal nicht möglich ist, s.u.
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Fehlentwicklungen: in Aufbauphase
in Ausbauphase
1. Anerkennung durch selbstinkongruente Bezugsperson ist ungenügend,
besonders der Mangel an:
einfühlendem Verstehen
unbedingter Wertschätzung
2. organismische Erfahrungen wurden:
nicht anerkannt
"falsch" (nur bedingt) anerkannt
3. Erfahrungen
weil unverstanden:
weil nicht ins SK passend:
versperrt: blockiert
verzerrt: gefiltert oder umgedeutet
4. Symbolisierung ist:
fehlend, versperrt
falsch, verzerrt
5. Integration von bestimmten organismischen Erfahrungen geschieht:
nicht
falsch
6. Selbstentwicklung ist behindert durch:
Fragmentierungen
Introjekte
7. Inkongruenz besteht zwischen:
fragmentiertem Selbst und
Selbst-Introjekten
organismischen
und Selbst-Erfahrungen
Erfahrungen
Selbstaktualisierungstendenz
(Bedürfnis nach Anerkennung)
und Aktualisierungstendenz
(organismischen Bedürfnissen)
Selbstentfaltung und Selbsterhaltung
Selbstbild und Idealbild
8. Entwicklungsstufen der Selbststruktur:
das Selbst bleibt inkonsistent das Selbst ist bereits in sich konsistent,
eine bedrohte Selbst-Konsistenz
wird geschützt
9. Zeitpunkt der Störung geschieht eher:
früh ("Frühe Störung")
reaktiv (nach 2-3 Jahren)
10. Offenheit für bestimmte neue Erfahrungen:
fehlend (oder unrealistisch)
begrenzt (nämlich nur in Sicherheit)
11. Störung der Wahrnehmung:
bei bestimmten Erfahrungen bei bestimmten Selbsterfahrungen
12. Ergebnis:
Selbst-Inkonsistenz,
Bedrohte Selbstkonsistenz
13. Folgen:
Persönlichkeitsstörungen
neurotische Störungen,
Psychopathien, Psychosen
Anpassungsstörungen
(typisch: Borderline)
(typisch: Hysterie)
14. Fehlentwickungen aufgrund:
versperrter Symbolisierung
verzerrter Symbolisierung.
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Phänomenologie der Störungsformen
Art der Störung:
Persönlichkeitsstörung
neurotische Störung
1. existentielles Thema:
Sein:
"Wer bin ich?" - "Was zu
tun wäre jetzt richtig?"
Schein:
"Wie muss ich erscheinen,
um anerkannt zu werden?"
2. Inkongruenz zwischen
Selbst und Erfahrung
wird nicht erlebt
(oder als Todesangst)
macht Angst (vor Liebes-,
oder Gesichtsverlust etc.)
3. Erfahrung
ist versperrt, nicht als
bedrohlich erkannt,
Angst wird nicht erfahren
wird verzerrt, bedrohlich,
weil inkongruent mit SK;
Angst-Bereitschaft
4. organismische
Wahrnehmung
vorhanden, unverstanden,
ist blockiert
vorhanden, bedrohlich,
wird eher entstellt
5. SK-Repräsentanz
fehlend, versperrt
falsch, fremd, verzerrt
lückenhaft:
mit Lücken, Löchern,
Leere, Fragmentierung
"Ich bin falsch"
"Ich bin nicht richtig"
fehlerhaft:
Verzerrungen
Lebenslügen
Rationalisierungen
"Ich genüge nicht!"
7. Ursachen
Empathieversagung
z.B. bei Aggressivität,
Bindungsgefühlen
(„Du sollst Vater
und Mutter ehren!“)
Bedingte Wertschätzung
z.B. bei kreativem oder
explorativem Verhalten
(„Leiste Du erst einmal
etwas!“)
8. Bedürfnisse werden
ignoriert oder als
bedrohlich erlebt
entwertet
9. Charakteristikum
Selbstkonzept-Lücken,
Selbstkonzept-Mangel,
Fragmentierungen
Selbstkonzept-Fehler,
Fehlkonstrukte,
Introjekte
10. Grundsätze
Fragen des Charakters
Fragen des Stils, der
Camouflage
6. Selbst-Aspekte
11. Typische
Aussagen
im direkten
Vergleich
Körpergespräche
Fortsetzung:
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Fortsetzung: Phänomenologie der Störungsformen
Art der Störung:
Persönlichkeitsstörung
neurotische Störung
11. Typische
Aussagen
Ich weiß nicht, wer ich
bin.
Was sind denn Gefühle.
Wer bin ich denn, dass
XY das mit mir macht.
Meine Gefühle stören
mich.
Ich bin wütend, weil XY
mich ärgert.
Ich kann alles zusammen
schlagen, aber ich bin
nicht wütend.
Ich möchte wegrennen,
aber weiß nicht warum.
Ich möchte wegrennen,
weil es mir zu viel wird.
12. Spezifische
Besorgnis vor
Depersonalisation,
Affekt-Kontrollverlust,
Identitätsverlust,
ich-fremden
Empfindungen,
unsymbolisierten
organismischen
Erfahrungen
Zerrissenheit,
Selbstverstümmelungen
Diskrepanz zwischen
Selbst- und Idealbild,
Selbstverachtung,
Angst vor Liebesverlust,
Lächerlichkeit,
Erniedrigung,
Gesichtsverlust (Scham),
verzerrt symbolisierten
organismischen (und
sozialen) Erfahrungen
13. Ich-Erleben
ich-dyston: "Was mir da
passiert, ist mir fremd - das
bin nicht wirklich ich!"
ich-synton: "Das sind meine
Ängste, die gehören (ob ich
will oder nicht) zu mir!"
14. Motivation
"Ich will es richtig machen!"
"will wissen, wie es geht!"
"Ich will gefallen!"
"Ich will geliebt werden!"
15. Bewertung
„Ich bin nicht ok.!“
"Du bist auch nicht ok.!"
"Aber was ist ok.?")
"Mich liebt keiner!“
("Was muss ich dafür tun?")
"Ich bin nicht ok., du bist ok.!"
16. Humor-Ersatz
Sarkasmus
Selbstironie
17. EmpathieErsatz
kognitive
Perspektivenübernahme
Mitleiden, Burnout
18. Wertschätzungs-Ersatz
Schmeicheln, Lobhudeln,
Idealisieren
Dienen, Anpassen
19. soziale
Anpassung
gering, aber: Nachahmung
gegen Unsicherheit über
Identität.
überangepasst:
Mitspielen aus Angst
vor Liebesverlust.
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Änderung des Selbstkonzepts: Aktualgenese (hic et nunc)
Bei Störungen aus der
Aufbauphase
Ausbauphase
Selbstentwicklung bei
versperrter Symbolisierung
verzerrter Symbolisierung
Anerkennung einer
Erfahrung
durch Empathie
durch unbedingte
Wertschätzung
durch (neue) verbalisierte
Selbsterfahrung
durch Selbstexploration
wichtigste Agenten:
Bezugsperson
Psychotherapeut
Individuum selbst,
Partner, Freunde
wichtigstes Agens:
Beziehung und Regression
(reparenting)
Selbstanerkennung:
Selbstempathie
und Selbstachtung
Wachstumsbedingungen
Organismus erkennt günstige
Bedingungen nicht
Organismus sucht und
blüht auf in
günstiger Umgebung:
Peers,
Psychotherapeuten
Anregung der
Selbstaktualisierung
bei Erfolg Wachstum: durch Aufbau
des Selbstkonzepts
durch Umstrukturierung
des Selbstkonzepts
Selbstkongruenz und Offenheit für neue Erfahrungen
bei Scheitern:
Stagnation
Inkongruenz von Selbst und Erfahrung
Ergebnis:
Offenheit für neue Erfahrungen nimmt ab
Perspektive:
Verfestigung der
Persönlichkeitsstörung
Körpergespräche
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neurotischen Störung
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Die Möglichkeiten einer therapeutischen Einflussnahme zeigt der folgende Kasten:
Heilen durch Beziehung
Störungsform:
Persönlichkeitsstörung
Neurotische Störung
Wirkung durch
Therapeutenverhalten
(Beziehungsangebot)
Empathie besonders im
organismischen Bereich und
überall dort, wo das SK
keine Lücken hat. Lücken
sachte „von den Rändern“ je
nach Möglichkeit des
Gewahrwerdens füllen
(direkte Empathie, auch
wenn sie offensichtlich
richtig ist, erscheint sonst als
falsche Interpretation).
Wertschätzung,
unbedingt für alle Gefühle,
Wünsche, Motive,
Bedürfnisse
(nicht für alles Handeln!).
Wertschätzung sehr
vorsichtig (Misstrauen!
Angst vor Abhängigkeit).
Empathie, besonders für
Inkongruenzen
Das Selbst als unbekanntes
Wesen.
Das Selbst als
unverstandenes Wesen.
primärer Bedürfnisse
via Regression
(z.B. Körperkontakt)
nur der Bedürfnisse nach
Anerkennung und Nähe
(als einziges Bedürfnis,
das man sich nicht selbst
befriedigen kann).
durch
Selbstexploration
(Beziehung zu
sich selbst)
durch Befriedigung
Körpergespräche
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Besonders zwei spezielle Folgen sind hier zur Begründung
von Körperkontakt relevant:
Überwinden der Sprach- und Begriffslosigkeit
Bestimmte Körperempfindungen und Gefühle, wenn sie denn wahrgenommen werden,
haben bei persönlichkeitsgestörten Klienten keine begrifflichen Fassungen; sie müssen erst
wie Vokabeln gelernt werden. Der häufige Satz "Ich weiß nicht!" repräsentiert diesen
Mangel. Er ist Hinweis darauf, dass organismisch etwas geschieht, das nicht verstanden
wird. Eine Anerkennung dieses Geschehens durch den Therapeuten mag sich als schwierig
erweisen. Der Therapeut hat dann anzuerkennen, dass dieser Satz eine Metapher für
unverstandenes Geschehen ist, nicht dafür, dass wirklich nichts ist - was die Klienten
gewohnt sind, sich selbst vorzumachen.
Umgekehrt blieben auch bestimmte Kognitionen unverstanden. Sätze wie "Ich vertraue
Dir!" oder "Ich mag Dich!" haben keine Repräsentanz im Organismus, solange sie nicht mit
organismischen Erfahrungen verbunden werden können. So halten die Betroffenen den
Zustand der Liebe, den sie nie so recht erlebet haben, für eine Krankheit (Martha in Die
Klaschmohnfrau). Eine erprobte Methode, Begriffe und organismisches Geschehen in
Beziehung zu setzen, bietet neben Focusing Körperkontakt:
Empathisches Verstehen durch Taten kommunizieren.
Verstehen sollte bei Persönlichkeitsstörungen nicht nur verbal kommuniziert werden. Das
Ansprechen von Gefühlen ist schwierig, da Gefühle gewöhnlich nicht wahrgenommen bzw.
verleugnet werden. So geht eine einfache Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte ins
Leere, sie trifft nicht auf ein Selbst, das damit eine Anerkennung wahrnehmen könnte.
Empathisches Verstehen muss ursprünglicher, auch nonverbal kommuniziert werden. Dabei
ist wichtig, nonverbale Signale auch verbal zu begleiten, da das integrierte Selbst schließlich
wesentlich verbal organisiert ist. Zu berücksichtigen ist dabei, dass eine Flucht in die
Begrifflichkeit die Funktion einer Abwehr haben kann. Diese verbale Abwehr kann
nonverbal umgangen werden. So kann es manchmal wirkungsvoll sein, zur rechten Zeit zu
lachen, die Hand zu nehmen, oder die Haltung oder den Atem spüren zu lassen.
Akkurates empathisches verstehen der Gefühle ist mitunter problematisch, da der
Persönlichkeitsgestörte weniger seinem Fühlen als seinem Handeln Bedeutung beimisst. Die
auf Grund seines Verhaltens vermuteten und angesprochenen Gefühle mögen weitgehend
geleugnet werden, so dass die Gefahr besteht, dass sich der Klient auch bei überprüfbar
richtigen Verbalisierungen nicht verstanden fühlt. Kognitive Aufklärungsarbeit kann hier
hilfreich sein. Auch ist die Unterscheidung zwischen Gefühlen und Verhalten hilfreich. So
ist z.B. ein Nähewunsch anzuerkennen, nicht aber ein entsprechendes Verhalten, Klammern.
Körpergespräche
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Körperkontakt: Formen und Stufen des Angebots:
 Verbales Körperkontaktangebot: Nicht immer muss der Körperkontakt
tatsächlich praktiziert werden. Wenn die Klienten Erfahrung mit
Körperkontakt haben, mag es auch genügen, ihnen zu sagen, dass man
sich ihm Nahe fühle und dass man ihn gerne in den Arm nehmen würde.
Auch wenn es dann nicht dazu kommt, bedeutet dieses Angebot ein
Angebot an Beziehung und an Verstehen - wenn der Zusammenhang
stimmt. Auch wenn noch keine Erfahrungen an Körperkontakt in der
therapeutischen Beziehung vorliegen, kann das verbale Angebot nutzen:
"Ich möchte ..."
"Stelle dir vor ..."
 An die Hand nehmen, zur rechten Zeit (nonverbale Empathie)
"Das wichtigste, das mir in meinem Leben passiert ist, ist deine Hand!"
s.o.).
Dieser Körperkontakt bietet sich an, besonders bei Angst. Klienten, die
Erfahrungen mit Angst haben, suchen von sich aus die Hände ihrer
Nachbarn, um sich festzuhalten.
 In die Arme nehmen: Diese dichteste Form des Körperkontaktes bietet
sich z.B. bei Schmerz an. Dem Partner wird dabei der ganze Körper
geboten (im Stehen, Knien oder in der liegenden Casriel-Haltung, wie ich
sie 1982 beschrieben habe), wobei der Therapeut den Klienten festhält
und er den Klienten einlädt, sich an ihm festzuhalten. Dies bietet einen
maximalen Kontakt und eine maximale Wirkung.
 In den Arm nehmen wie ein Baby: zusammengekrümmt. Dieser Kontakt
bietet sich bei Regression an. Bei Wut empfiehlt es sich nicht, in der
Front des Klienten zu sein. Wenn man ihn in seinem Ausdruck von Wut
ermutigen will, genügt eine Hand im Kreuz mit der Bedeutung, dass ihm
der Rücken gestärkt wird, freigehalten wird, damit sich der Klient
berechtigt fühlt, zu seiner Wut zu stehen und sie zuzulassen,
auszudrücken.
 In den Schoß nehmen: die Krümmung der Babyhaltung öffnet sich.
 Die Hand auf die Klientenhand legen, die sich selbst hält
meist Bauch, dann Brust auch Stirn, Kopf (Beispiel Wegfliegen)
 Hand liegen lassen, wenn die Klientenhand sich entfernt.
 Hand sprechen lassen.
Angebote zum Körperkontakt können Selbstberührung und Selbstverletzungen
vorbeugen:
Körpergespräche
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Zweifel an der Existenz und Identitätsprobleme
Viele Klienten berichten von Selbstverletzungen, z.B. Haare ausreißen. Sie
ermöglichen es ihnen, über den Schmerz das Gefühl zu erlangen zu
existieren. Selbstverstümmelung ist ein Mittel der erzwungenen
Selbstwahrnehmung. Sie werden weniger als schmerzend, eher als
beruhigend empfunden. Ähnliche Ursachen haben Sich-Wiegen und
Jaktationen.
Vom Kontakt zum Gespräch
Körperkontakt ist keine Einbahnstraße: er wird genommen und gegeben, er
wird aber auch beantwortet. Bei einer Umarmung kann ich spüren, wie
sich jemand anvertraut oder sperrt, ob er Angst hat oder sich sein lassen
kann. Körperliche Spannung und Atmung geben über den organismischen
Zustand des Klienten Auskunft. Diese Auskunft kann ich beantworten mit
körperlichen Interventionen zur Verbesserung des Atmens, ich kann
helfen, besser auszuatmen, also Angstatmung zu mindern. Die Betonung
der Ausatmung stimuliert das parasympathische System. Gefühle werden
möglich, wenn die Angst als Gegenspieler von Gefühlen vermindert wird.
Mitunter bringt das Klienten unter Druck. Sie haben die Wahl zwischen
Angst bei einer Betonung der Einatmung (Hyperventilation) und Gefühlen,
die durchaus bedrohlich sein können. Wenn das fällige Gefühl Schmerz ist
und sein Ausdruck wünschenswert, empfiehlt sich Körperkontakt und eine
damit verbundene Hilfe der Atmung. Ein Sich-Sperren kann in einer
Umarmung vom Therapeuten sofort erspürt und beantwortet werden.
Ein wichtiges interaktives Berühren ist die Unterstützung des Atmens:
Statt einer Angstatmung kann durch entsprechendes drücken der Atem
vertieft werden, vom oberen bis zum unteren Anschlag, dort wo die
Gefühle sind.
Körpergespräche
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Atemschemata
Volumen in Litern
Atem bei Angst
6
maximale Inspiration
InspirationsReservevolumen
3,5 Inspirationslage
Atemvolumen
3 Expirationslage
Atem bei
Arbeit
Atem in Ruhe
Expirationsvolumen
Atem bei Schmerz
1,2 maximale Expiration
Residual-Volumen
0
Kollapslunge
Zeit
6 Liter Totalkapazität: 4,8 Liter Vitalkapazität + 1,2 Liter
Residualkapazität
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen.
Jenes bedrängt, dieses erfrischt
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich prüft,
und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.
Johann Wolfgang von GoetheWest-östlicher Divan; Buch des Sängers, Talismane
Körpergespräche
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Aufhebung
Sein Unglück
ausatmen können
tief ausatmen
so dass man wieder
einatmen kann
und vielleicht auch sein Unglück
sagen können
in Worten
in wirklichen Worten
die zusammenhängen
und Sinn haben
und die man selbst noch
verstehen kann
und die vielleicht sogar
irgendwer sonst versteht
oder verstehen könnte
Und weinen können
Das wäre schon
fast wieder
Glück
Erich Fried
Körpergespräche
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Die Kunst des rechten Augenblicks
Die Indikation für Körperkontakt ist das Eine, seine praktische
Realisierung das Andere. Körperkontakt kann man nicht geben
oder nicht, einfach einmal ausprobieren. Es bedarf des rechten
Augenblicks. Persönlichkeitsgestörte sind durch Misstrauen
gekennzeichnet und haben Angst vor Nähe, die das Potential zur
Verletzung in sich birgt, das aus den Verletzungen des
mütterlichen Versagens resultiert. Geblieben ist in der Tiefe die
Sehnsucht nach Nähe, die mitunter sichtbar wird und die das
Fenster bildet, das der Therapeut empathisch zu erspüren hat, um
den Klienten auch mittels Körperkontakt zu berühren.
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Die Kunst des rechten Augenblicks hat verschiedene Ebenen:
Körperkontakt
- kann vom Klienten erbeten werden:
Ich brauche!
- kann vom Therapeuten angeboten werden:
Ich habe den Wunsch, dich in den Arm zu nehmen!
- kann vom Therapeuten gegeben werden:
Ich nehme deine Hand! - auch wortlos.
Körperkontakt kann als ein Geschenk vom Klienten erlebt und
angenommen werden. Dieses Geschenk, wahrgenommen als
unbedingte Wertschätzung, kann wichtiger sein, als die
Selbstverantwortung, die in einem darum Bitten liegt. Das Bitten
bedeutet ein Verzicht auf Wichtigeres:
Was ich mir nehme, kann mir nicht mehr geschenkt werden!
Insofern besteht die Kunst darin, den Körperkontakt zu geben,
ohne das er erbeten wurde, und doch gewünscht war. Eine
fehlerhafte Empathie könnte Schaden anrichten, nämlich
Vertrauen gefährden, Distanz aufbauen, die Beziehung
zurückwerfen.
Hier besteht ein Konflikt, einerseits die Gabe eines Geschenks,
andererseits die Erwartung von Selbstverantwortung, den der Therapeut zu
entscheiden hat.
Im günstigen Fall geschieht Empathie. Eine Klientin schrieb mir per
eMail:
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glücksgefühl
ankommen, da sein,
spüren zu dürfen, dass ich da sein darf,
einfach so, ohne etwas zu müssen,
nur um zu schnaufen,
mit ihrer hand auf meinem bauch,
den kopf auf ihren bauch (ab)legen zu dürfen,
einfach so
dasein
sein
sich festhalten zu dürfen,
halt spüren,
zu brauchen,
brauchen zu dürfen
die augen zuzumachen und gehalten zu werden,
den halt zu spüren,
sich gehalten fühlen
zu spüren, dass ich da sein darf,
zu spüren, dass ich lebe
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Zum Körperkontakt
Virginia Satir hat die Hierarchie des Kontakts treffend formuliert:
Ich glaube daran, dass das größte Geschenk,
das ich von jemandem empfangen kann, ist,
gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden.
Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen
zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren.
Wenn dies geschieht, entsteht Beziehung.
Der Begriff der Berührung ist zweideutig, Satir berücksichtigt beide
Aspekte.
Diese Hierarchie betrifft das Kontinuum kognitiv - emotional und damit
auch die Tiefe der Beziehung: Berührung - wenn nicht verbal, dann
körperlich.
Eine andere Stimme:
5. DIE KRAFT DER BERÜHRUNG
Die Berührung ist einer der stärksten Liebesbeweise.
Sie reißt Barrieren nieder und verbindet Menschen.
Berührungen verändert Körper und Gemüt und machen uns für die Liebe
empfänglicher.
Eine Berührung kann den Körper heilen und das Herz wärmen.
Wenn wir unsere Arme ausbreiten, öffnen wir unser Herz.
Jackson, Adam: Die zehn Geheimnisse der Liebe, München 1997.
Klammern und Lassen
entsprechend dem Kippen: Beziehungswunsch - Beziehungsangst
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Zunächst: aus Enttäuschung Absage an die Bezugspersonen: „Ich komme
alleine zurecht - ich brauche niemanden - ich lasse mich nicht noch einmal
so verletzen!“
Dieser „Schwur“ macht autark (nicht autonom), aber einsam.
Fundamentale Bedürfnisse werden enttäuscht.
Durch das verlässliche Beziehungsangebot des Therapeuten kippt dieser
Schwur, Bedürfnisse werden wieder spürbar, der Klient projiziert seine
Beziehungswünsche auf den Therapeuten, er kann sich „verlieben“. Seine
Bindungsgefühle können so stark werden, dass es zum Klammern kommt.
Diese kindliche Liebe (Maslow: bedürftige Liebe) muss reifen zu einer
erwachsenen Liebe (Maslow: selbstlose Liebe), deren Substanz Rogers mit
Agape beschreibt. Verbunden ist diese Liebe, wenn sie über Agape
hinausgeht, auf Grund der Unerfüllbarkeit, mit unstillbarer Sehnsucht, die
schmerzt. Baltes: Sehnsucht ist die Verarbeitung vergangener unerfüllter
Bedürfnisse. Die damit verbundenen Schmerzen vermögen Klienten nur
dann zu verkraften, wenn sie sich verbunden fühlen. Die Gradwanderung
des Therapeuten ist, Verbundenheit zu bieten, ohne Hoffnung auf
endgültige Erfüllung zu machen, nicht im reellen Leben, und nur begrenzt
im Hier und Jetzt.
Die erwachsene Liebe wird charakterisiert durch Rilke, Groult und
Coelho. Diese Texte helfen, Sehnsucht zu durchleben, zu leiden - und
dennoch, oder deswegen, Glück zu erfahren (s.u.).
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Paulo Coelho. Elf Minuten. Zürich: Diogenes
„Die Liebe ist nicht im anderen, sie ist in uns selbst; wir erwecken
sie. Aber für dieses Erwecken benötigen wir den anderen. Das
Universum gibt nur einen Sinn, wenn wir jemanden haben, mit
dem wir unsere Gefühle teilen können“
S. 128
„Ob er je wieder … kommen wird, weiß ich nicht, aber zum ersten
Mal in meinem Leben ist mir das vollkommen egal. Es reicht, dass
ich ihn liebe, in Gedanken bei ihm bin, in dieser schönen Stadt,
die er mit seinen Schritten, seinen Worten, seiner Zärtlichkeit
lebendiger macht.“
S. 151
„Die Freiheit ihrer Liebe bestand darin, nichts zu erbitten und
nichts zu erhoffen.“
S.176
Dabei hatten sie gelernt, sich frei und bedingungslos zu lieben eine andere Beziehung würde nicht gut gehen -, und vielleicht
liebten sie sich gerade deshalb, weil sie einander nicht brauchten.
S. 248
Ja, ich liebe dich so, wie ich noch keinen Mann geliebt habe, und
eben deshalb gehe ich, denn wenn ich bleibe, würde der Traum
Wirklichkeit werden, und ich würde dich besitzen wollen - all das,
was aus Liebe allmählich Sklaverei macht. Es ist besser, es bleibt
ein Traum.
S. 267
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Benoîte
Groult (Salz auf unserer Haut):
„Es ist, als ob ich seit der Begegnung mit dir etwas im
Leben verloren hätte ... aber etwas, was ich sonst nie
gefunden hätte. Nur erahnt. Komisch, nicht wahr?“
„Sagt mir, dass ich es hinnehmen muss, diese Liebe zu
verlieren, wenn ich sie bewahren will.“
6. DIE KRAFT DES LOSLASSENS
Wenn du etwas liebst, lass es frei.
Wenn es zu dir zurückkommt, gehört es dir, wenn
nicht, war es nie dein.
Jackson, Adam: Die zehn Geheimnisse der Liebe, München 1997.
Joachim Ringelnatz:
„Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern
Meine Liebe wird mich überdauern
Und in fremden Kleidern dir begegnen
Und Dich segnen.“
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Rilke:
Denn das ist Schuld,
wenn irgendeines Schuld ist:
Die Freiheit eines Lieben nicht mehren
um alle Freiheit, die man in sich aufbringt.
Wir haben, wenn wir lieben
ja nur dies:
einander lassen;
Denn – dass wir uns halten,
das fällt uns leicht
und ist nicht erst zu lernen.
(Requiem für eine Freundin)
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Indikation
1. Besonders da, wo das Selbst desorientiert ist, reicht der verbale
Kontakt oft nicht aus. Um die therapeutische Beziehung aufzubauen, gehe
ich auf die organismische Ebene (die vorsprachliche) d.h. z.B., dass ich die
Hand des Klienten halte, um Verbundenheit herzustellen, oder aus der
Isolation herauszuhelfen. Z.B. bei Borderline-Patienten, bei denen eine
Kluft zwischen ihren Gefühlen und ihren Begriffen besteht,
(möglicherweise aus der Tatsache entstanden, dass sie als Kind nie eine
Akzeptierung ihrer Gefühle erlebt haben) ist vorsichtiger Körperkontakt
ein eindeutiger Weg, Verstehen zu signalisieren. Damit entsteht die
Möglichkeit, ein Stück organismischer Selbstwerdung nachzuholen:
Körperkontakt als Signal für "Du bist o.k.", wenn fundamentales
Annehmen in der Biographie des Klienten fehlt.
Konkret ist Körperkontakt indiziert bei folgenden Syndromen
fundamentaler Mangel an Selbstachtung
Beziehungsunfähigkeit
Verbalisierungsunfähigkeit
Selbststörungen, wenn eine Regression erforderlich ist
Realitätsverlust.
2. Bei großer Angst im therapeutischen Prozess ist Körperkontakt
indiziert, um Unterstützung zu geben, die Angstbarriere zu überwinden,
d.h. meist, dem Klienten zu helfen, zu seiner Wut oder seinem Schmerz zu
finden. In der Umarmung kann ich auch das Atmen gut unterstützen. Mit
dem Rhythmus der Atembewegung kann Kontakt aufgenommen werden.
Besonders besteht Indikation bei akuter Angst und Schutzbedürftigkeit,
z.B. bei akuten und posttraumatischen Belastungsstörungen.
3. Unterstützung kathartischer Gefühle: bei Schmerz, auch bei Wut
(Hand am Rücken als Rückenstärkung). Klienten weinen erst, wenn sie in
den Arm genommen werden. Wenn Klienten noch Angst vor dem Weinen
haben, haben sie auch Angst vor Körperkontakt. Klientin E.A. bringt es
auf den Punkt: "Wenn du mich in den Arm genommen hättest, hätte ich
weinen müssen!"
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Kontraindikationen
Sehr frühe Störungen, ich denke da an Schizophrenie, zeichnen sich
dadurch aus, dass die Trennung zwischen Außen und Innen nicht
vollständig vollzogen wurde. D.h. dass hier äußerste Vorsicht geboten ist,
Körperkontakt anzubieten, weil die Verschmelzungsbedürfnisse sehr groß
sind und die Verschmelzungsgefahr gegeben ist. Da aber genau an dieser
Grenze zwischen Innen und Außen die Arbeit des Schizophrenen liegt,
kann gerade deswegen hier Körperkontakt eingesetzt werden, weil nämlich
die Kontaktfläche ja die Grenze zwischen Innen und Außen ist. Im übrigen
kann eben auch, wenn dann die Verschmelzungswünsche und
Verschmelzungsängste auftreten, genau an diesen gearbeitet werden.
Die gleiche Problematik zeigt sich bei der Abhängigkeit der Klienten vom
Therapeuten. Diese Abhängigkeit gilt es wahrzunehmen, zu respektieren
um sie dann zu bearbeiten. Es ist klar, dass die Gefahr der Abhängigkeit
hier auch ein Symptom ist, das es zu bearbeiten gilt. Bei manchen
Störungen ist die Abhängigkeit eine besondere Phase der Therapie, die
einen besonderen Stellenwert hat und besonders zu behandeln ist (z.B.
Borderline).
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Während Frühe Störungen und persönliche, emotionale Abhängigkeit der
Klienten ambivalente Kontraindikationen sind, ist die Kontraindikation bei
einer Sexualisierung des Kontaktes eindeutig. Die Wahrscheinlichkeit,
dass Körperkontakt auf sexuelle Bedürfnisse anspricht, ist groß. Hier gilt
es, darüber zu reden und sexuelle Probleme nicht zu tabuisieren. Während
es wichtig ist, über sexuelle Gefühle auch im Hier und Jetzt zu reden, gibt
es keinen Grund, Sexualität auch zu leben. Die Gefahren sexueller
Kontakte in der Therapie sind bekannt. Ich brauche hier nicht darauf
einzugehen. Eingehen möchte ich aber auf den Umstand, dass
offensichtlich auch im therapeutischen Kontext, Sexualität im
Widerspruch zu jeder Indikation steht. In einzelnen: Regression und
Sexualität schließen sich aus. Ängstliche Personen können keine sexuellen
Gefühle empfinden während ihrer Angst, denn Angst und Sexualität
schließen sich aus. Personen im Schmerz bedürfen der Tröstung, keiner
Sexualität. Beziehungsunfähigkeit ist ebenfalls inkompatibel mit
Sexualität, da Sexualität eine Beziehung auf einer Ebene ansiedelt, die
mitunter geeignet ist, die Beziehung zu unterlaufen. Im Übrigen stehen die
Bedürfnisse des Therapeuten derart im Vordergrund, dass er nicht mehr in
der Lage sein dürfte, die Bedürfnisse des Klienten angemessen
wahrzunehmen, um ihm zu begegnen.
Beispiel der Klientin, die darauf bestand, mich Streicheln zu dürfen, die
therapie abbrach und ihren nächsten Therapeuten heiratete.
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Vermeidung verbalen Kontaktes: Manchen Klienten fällt es leichter,
sich in körperliche Geborgenheit zu flüchten, um der Auseinandersetzung
zu entgehen. Dies ist nicht das Ziel des Körperkontaktes und es ist acht zu
haben auf diese Gefährdung des Klienten, den Weg des geringsten
Widerstandes zu gehen. Zur Therapie gehört nicht nur das Wohlbefinden
in der Therapie, sondern auch die aktive Auseinandersetzung mit dem
eigenen Selbst (Selbstexploration). Die Selbstexploration ist das höhere
Ziel in der Gesprächspsychotherapie. Körperkontakt ist nur das Vehikel,
Selbstexploration zu erleichtern.
Emotionale Verwicklungen des Therapeuten:
Unerfahrenheit, eigene Bedürfnisse (besonders sexuelle) bieten die Gefahr,
nicht offen, unbestechlich und frei in die Beziehung mit dem Klienten zu
gehen. Gegenübertragungsgefühle an sich müssen einer erfolgreichen
Therapie nicht im Wege stehen, aber sie gehören reflektiert. Die Gefühle
des Therapeuten als Reaktion auf das Klientenverhalten sind wesentliche
Momente einer Therapie, aber nur solange sie nicht verdunkelt werden
durch die eigene Problematik des Therapeuten.
Aversion:
Wenn der Therapeut einen Klienten nicht riechen kann, ist Vorsicht
geboten. Das Geruchsorgan empfindet sehr intim und persönlichkeitsnah.
Wenn aversive Gefühle auftreten, der Therapeut den Klienten nicht
riechen kann, scheint es mir unmöglich zu sein, dass der Therapeut über
seinen Schatten springt und sich zwingt, etwas zu geben, was er nicht
gerne gibt. Es besteht die Chance, im Gespräch zu klären, was einer
körperlichen Nähe im Wege steht, auch wenn dieses Vorgehen keine
Garantie bedeutet, alle Behinderungen aus dem Wege zu räumen. Die
Respektierung dieses Umstandes, also die Beibehaltung einer gewissen
Distanz, ist angezeigt und muss einem Therapieerfolg keineswegs im
Wege stehen.
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Ist die Angst vor Körperkontakt eine Kontraindikation? Zunächst ja,
aber sollte der Mensch in Not und Angst nicht überredet, verführt werden?
- wie in der Festhalte-Therapie? Erstaunlicherweise ist die Angst vor
Körperkontakt in wirklicher Not kaum zu beobachten, und Betroffene
berichten, wie gut es war, nicht gefragt zu werden, sondern einfach
überrollt worden zu sein, und einfach das erhalten zu haben, was sie
tatsächlich gebraucht haben - wenn sie es sich nicht sogar von sich aus
geholt haben.
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Erleichternde Bedingungen
1. Gruppe: Die Gruppe erleichtert den Körperkontakt, weil unter der
Kontrolle von Vielen, Missverständnisse vermieden werden können. Die
Transparenz der Gruppe hilft, den Körperkontakt als das zu nehmen, was
er ist, nämlich Angebot von Beziehung und von Nähe und nicht von bloßer
Lustbarkeit. Außerdem bietet die Gruppe ein Modell für den Umgang mit
Gefühlen, einschließlich des Körperkontaktes. Die Gruppenteilnehmer
sind Modell für die Öffnung, für die Selbstöffnung, für den Umgang mit
Gefühlen und für den Umgang mit Bedürfnissen und ihrer Befriedigung.
2. Gruppenleitung durch ein Paar. Es ist erleichternd, wenn beide
Geschlechter vertreten sind. Noch besser ist es, wenn dieses Paar ein
Ehepaar ist, so dass alle Gefühle im Rahmen gesehen werden können.
3. In der Einzelarbeit ist Körperkontakt dann denkbar, wenn er zuvor in
der Gruppe kennen gelernt wurde und wenn er im Einzelkontakt nicht über
das hinausgeht, was in der Gruppe möglich ist.
4. Kontakt mit Tieren. Es ist in der Einzelarbeit möglich, den
Körperkontakt durch Kontakt mit Tieren zu ersetzen. So haben wir gute
Erfahrungen mit Katzen gemacht, die anlehnungsbedürftig sind. Wir
benutzen sie, um den Klienten Nähe und Wärme und Beziehung auf
diesem Wege anzubieten. Die Möglichkeit einer Reittherapie ist darüber
hinaus auch gegeben. Dabei geht es bei der Reittherapie nicht nur um das
Reiten, den Umgang mit der Angst, sondern zunächst einmal mit dem
Umgang mit einem lebendigen Wesen und mit der Aufnahme einer
Beziehung. Es hat sich gezeigt, dass die Aufnahme von Beziehungen mit
Tieren für manche Menschen einfacher ist, als die Aufnahme von
Beziehungen zu Menschen. Auch das Reden über die Aufnahme diese
Beziehung ist leichter mit Tieren als mit Menschen, weil offensichtlich für
diese Menschen eine optimale Distanz in der Beziehung möglich ist.
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Zur Theorie:
1. Alle Defizitbedürfnisse (sensu Maslow) kann sich der erwachsene Mensch
selbst befriedigen, außer dem Bedürfnis nach Nähe. Da Selbsterfahrung wie
alle Wachstumsbedürfnisse nach der Theorie der hierarchischen Struktur der
Bedürfnisse nur erfolgen kann, wenn die Defizitbedürfnisse befriedigt sind,
muss für die entsprechende Basis gesorgt sein: das Bedürfnis nach Nähe ist
auch in seinen körperlichen Aspekten zu berücksichtigen.
2. Die Voraussetzung zur emotionalen und dann auch kognitiven
Selbstwerdung ist die organismische Selbstwerdung. Sie geschieht auf drei
Ebenen:
a) auf der phylogenetischen Ebene:
Nur in Hochkulturen, die eine Schrift entwickelt haben, haben Individuen die
Möglichkeit der Entwicklung eines Bewußtseins (Julien Jaynes belegt: In der
Ilias ist die "psyche" noch soviel wie "Luft", in der Odyssee wird der "Atem"
zur Metapher "Psyche", zur Seele.)
b) auf der ontogenetischen Ebene:
Das organismische Sich-Verstanden-Fühlen ist die nonverbale Verbundenheit
mit Bezugspersonen. Es ist das Erleben, dass meine Bedürfnisse befriedigt
werden (z.B.: Ich habe Hunger, ich schreie, ich bekomme zu essen, d.h. ich
werde wahrgenommen, ich bin in Ordnung, die Welt ist in Ordnung, ich bin ein
willkommener Teil von ihr. Oder: Ich brauche Nähe, ich schreie, ich bekomme
Kontakt, also: die Welt ist in Ordnung und ich bin o.k.!). Zur
Bewußtseinsbildung, zur Entwicklung des Selbst bedarf es dann der verbalen
Kommunikation, besonders auf der emotionalen Ebene (Emotionen sind
Affekte in Form von Kognitionen, z.B.: "Ich habe Angst". Die Symbolisierung
der Angst macht aus dem Affekt eine Emotion.). Zum Aufbau des
Selbstbewußtseins bedarf es der Kommunikation mit einem Anderen, der
Bewußtsein hat. Bewußtsein entwickelt sich nur im Kontakt mit Menschen und
nur über Symbolisierungen (Sprache, Begriffe, Metaphern, Bilder, Mythen).
c) auf der aktualgenetischen Ebene:
Ist der Entwicklungsprozeß des Selbstbewußtseins mangelhaft, kann er später
(mittels Selbstexploration mit einem Du) vervollständigt werden. Die
Symbolisierungen müssen mit den organismischen Erfahrungen
korrespondieren. Fehlen einem Menschen diese Erfahrungen, so muss der
ganzheitliche Organismus, also auch die Körperlichkeit des Klienten, in die
Therapie einbezogen werden.
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Ernst Fürntratt: Bedingen von Sicherheit durch Körperkontakt
Üblicherweise werden Klienten in Psychotherapie durch sozialen Kontakt, der
verbal gestaltet wird, versichert. Wenn aber Menschen verbal nicht zu
erreichen, verbal also auch nicht zu versichern sind, wie so häufig beim
Vorliegen eines Notfalls, mag Körperkontakt als "unbedingter
Sicherheitsauslöser" helfen.
Der Experimental-Psychologe Ernst Fürntratt hat 1974 herausgearbeitet, dass
das Gefühl von Sicherheit nicht nur die Abwesenheit von Angst, sondern eine
eigenständige, positiv zu beschreibende emotionale Reaktion ist. Sie ist zwar
inkompatibel mit Angst, aber doch eine von ihr unabhängige Reaktion. Wie
Angst kann sie ausgelöst, gelernt, konditioniert und gelöscht werden. "Wie
Angst wird Sicherheit gewöhnlich hervorgerufen und gegebenenfalls
aufrechterhalten durch äußere und eventuell auch innere Reize sowie durch
Vorstellungen, jedenfalls durch kognitive Prozesse." (p. 30, Hervorhebung
durch F.)
Im Gegensatz zur Angst ist Sicherheit jedoch kein Trieb, so wie Fürntratt einen
Trieb definiert (Trieb ist, was treibt, also motiviert): Sicherheit "aktiviert nicht,
regt nicht auf, sondern beruhigt, macht nicht wach, ... treibt nicht, sondern
'bremst' eher und wirkt niemals als Motivation ('treibende Kraft') zu
irgendwelchen Aktivitäten." Sie ist "ein 'Antitrieb"', ein dem Angst-Trieb
entgegen-(anti-)wirkender Mechanismus." (p.32, Hervorhebung durch F.). Wie
Angst hat auch Sicherheit unbedingte Auslöser. Wenigstens einer ist sicher
auszumachen und auch experimentell zu belegen: Körperkontakt. Die Kraft
dieses Reizes ist so stark, dass weiche, fellige Attrappen auch noch Sicherheit
spenden und Angst reduzieren können (Harlow & Zimmermann 1959 nach
Grossmann & Grossmann 1994).
Fazit: Der unbedingte Sicherheitsauslöser Körperkontakt bietet sich hier und
auch in der Notfallpsychologie an.
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Martha Welch: Halte-Therapie
Für dieses regelmäßig zu beobachtende Phänomen, dass sich Körperkontakt
und Misstrauen ausschließen, hat Welch für die Kinderpsychotherapie eine
Lösung vorgeschlagen.
Martha Welch, eine amerikanische Psychiaterin, hat die Halte-Therapie
("Holding-Time" 1988) zuerst an autistischen Kindern entwickelt und dann an
anderen gestörten und gesunden Kindern erprobt. In Deutschland wurde ihre
Methode als Festhaltetherapie von Jirina Prekop eingeführt ("Hättest Du mich
festgehalten ..." 1989). Agens dieser Kindertherapieform ist der enge
körperliche Kontakt, täglich und besonders in Krisen. Welch beobachtete dabei
drei Phasen, die durchlaufen werden müssen:
Die Auseinandersetzung (Konfrontation)
Die Zurückweisung (Rejektion)
Die völlige Auflösung der Spannung (Resolution).
Wichtig sei, dass die Phase der Zurückweisung nicht nur überstanden, sondern
auch gelebt wird. Hier ist der Ort für alle, auch schmerzlichen und aggressiven
Gefühle, die das Kind (und notfalls auch die Mutter) ausdrücken muss. Eine
Beendigung des Haltens vor Durchlaufen der Phase der Lösung lässt Mutter
und Kind unbefriedigt. Ein vollständiges Durchlaufen aller Phasen führt zur
Vermittlung der "... Botschaft, dass Sie es (die Mutter das Kind) mit allen
seinen Gefühlen vorbehaltlos annehmen, so negativ oder zerstörerisch sie auch
sein mögen." Und: "Indem die Mutter alle Gefühle des Kindes vorbehaltlos
zulässt, erlaubt sie ihm, sie ohne Schuld- und Schamgefühle zu erleben; das
Kind muss sich nicht länger selbst abwerten. Es lernt, dass es sich vor
Gefühlen nicht zu fürchten braucht, da es sie innerhalb dieses Rahmens
verarbeiten kann: Furcht, Wut, Schuld- und Schamgefühle, Verletzungen, Neid
und Eifersucht sowie alle positiven Gefühle." (p. 29). "Wenn Mutter und Kind
beide zu den Tiefen ihrer Gefühle vorgedrungen sind, findet eine seelische
Befreiung (Katharsis) statt, und die völlige Auflösung der Spannung beginnt.
Die Auseinandersetzungen, die Kämpfe, das Schreien und das
Vermeidungsverhalten der Zurückweisung weichen einer intensiven
körperlichen und verbalen Nähe." (p. 37)
Was hier für Kinder entwickelt wurde, kann auch für Erwachsene in
therapeutischer Regression sinnvoll sein.
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Z-Prozess-Beziehungstherapie
Eine andere Art der Haltetherapie, die für Erwachsene konzipiert ist und sich
vornehmlich auf aggressive Störungen spezialisiert, wurde schon früher von
Robert Zaslow entwickelt: die Z-Prozess-Beziehungstherapie. Ich möchte an
dieser Stelle nicht auf die Techniken eingehen (deren Beschreibung (1983)
nicht überzeugt, obgleich sie von seriösen Psychologen, so von seinem
Herausgeber Corsini 1983, ernst genommen werden), sondern lediglich auf den
Umstand aufmerksam machen, dass weitere Praktiker den Wert von
Körperkontakt nutzen und sich auf eine Theorie der Beziehung stützen: "Der
Z-Prozeß-Beziehungstheorie liegt die Prämisse zugrunde, dass die
Psychopathologie im Prinzip eine Beziehungsstörung ist." (p. 1455,
Hervorhebung durch Z.)
Fazit: Körperkontakt mit einer Bezugsperson ist eine wirksame Intervention,
sogar gegen Widerstand und Vorbehalte.
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Soziobiologie, Ethologie
Körperkontakt ist ein physisches, physiologisches und biologisches Phänomen,
das deswegen auch soziobiologisch betrachtet werden kann. Die wesentlichen
Schlußfolgerungen der Ethologie hat Eibl-Eibesfeld (1984) formuliert:
"Streicheln, Tätscheln, Kraulen, Auflegen der flachen Hand, Herzen und
Umarmen gehören zu den universellen tonischen Signalen. Sie entstammen
dem Repertoire der Mutter-Kind-Signale. Sie wirken beruhigend und stimmen
freundlich. In dieser Funktion werden sie auch in das Repertoire der
Erwachsenen übernommen. Erwachsene können Trost spenden, indem sie den
verzweifelten Mitmenschen in die Arme schließen, der sich seinerseits wie ein
Kind an dessen Brust birgt und sich wohl auch am Partner festhält." (p.542).
Fazit: Bindungsgefühle und Bindungsverhalten (wie Körperkontakt suchen und
geben) basieren auf genetischen Programmen, die auch im Erwachsenen
wirksam sind und seinen Bedürfnissen nach sozialer Geborgenheit
entsprechen.
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Casriel: New Identity Process
Dan Casriel, ein New Yorker Psychiater und ehemaliger Psychoanalytiker, war
zugleich Pragmatiker und hatte eine offenes Ohr für seine Klienten. Die haben
ihn gelehrt, so erzählte er auf Workshops, wie wichtig Schreien und
Körperkontakt für den Prozeß der Psychotherapie für sie seien. Er schrieb 1972
(A scream away from happiness): "Das Umarmen kam spontan in meinen
Gruppen auf. Viele scheuten jedoch vor solchen Umarmungen zurück. Mich
störten sie anfänglich ganz bestimmt; die offene Äußerung von liebevollen
Gefühlen widersprach völlig meiner Ausbildung - und ebenso meinem Gefühl
für persönliche emotionale Sicherheit. Die Furcht vor Berührungen ist in
unserer Gesellschaft groß, doch wenn man erlebt, wenn sich Menschen in
Gruppen umarmen, sieht man deutlich, dass dieser Kontakt zu unserer Natur
gehört. Es ist ein fundamentales Bedürfnis aller Primaten, ein Bedürfnis, das
uns die Zivilisation immer mehr verweigert hat. Das Kind braucht es dringend,
umarmt und gehätschelt zu werden. Der Erwachsene ebenso." (p. 285,
Hervorhebung durch C.)
Casriel pflegte dann diese Kultur des Bonding ("Bindung bedeutet physische
Nähe, verbunden mit emotionaler Offenheit." 1983, p.807, Hervorhebung
durch C.), den unmittelbaren Körperkontakt in der Begegnung, um direkt,
konkret und menschlich Gefühle und Beziehungen auszudrücken und
mitzuteilen. Er sieht Bonding (also körperliche und emotionale Nähe) als ein
menschliches Grundbedürfnis an, das einzige, das sich ein Mensch im
Erwachsenenalter nicht selbst befriedigen kann und bei dessen Befriedigung er
auf andere angewiesen ist. In Momenten großer Angst und großen Schmerzes
bietet er seinen Klienten Bonding an
Fazit: Körperkontakt ist in der Lage, Sicherheit zu vertiefen.
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Rogers: Das Klientenzentrierte Konzept
Vor der Betrachtung einzelner Aspekte möchte ich Rogers, der sonst kaum
über Körperkontakt geschrieben hat, selbst zitieren. Er schreibt 1970: "Mit der
Zeit habe ich gelernt, mit physischem Kontakt zu reagieren, wenn es wirklich,
spontan und angemessen scheint. ... Wenn eine Person leidet, und ich spüre in
mir den Wunsch, zu ihr zu gehen und meinen Arm um sie zu legen, dann tue
ich das. Aber ich versuche nicht, diese Art des Verhaltens bewusst zu fördern.
Ich bewundere die jungen Leute, die in dieser Hinsicht lockerer und freier
sind." (p.65)
Zur Selbstaktualisierung
Viele Entwicklungstheorien kennen die grundsätzliche Dualität von
Sicherheitsbedürfnis und dem Bedürfnis nach Autonomie oder Exploration. Im
Klientenzentrierten Konzept verbirgt sich in der Aktualisierungstendenz diese
Dualität, wie Höger (1993) herausgearbeitet hat. Er unterscheidet ihren
erhaltenden von dem entfaltenden Aspekt, die er in eine Beziehung setzt: "Um
wirksam werden zu können, setzt der entfaltende Aspekt der
Aktualisierungstendenz die ausreichende Gewährleistung des erhaltenden
Aspektes voraus." (p. 34). Umgekehrt: So lange der erhaltende Aspekt nicht
befriedigt wird, ist eine Selbstentfaltung blockiert, wie im Notfall. Hier ist
zuerst der erhaltende Aspekt zu berücksichtigen, das Bedürfnis nach
Sicherheit, auch dann, wenn es mit Regression verbunden ist.
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Entwicklungspsychologische Aspekte
Körperkontakt ist ein Bedürfnis, das entwicklungspsychologisch begründet ist.
Entsprechend der fortschreitenden Differenzierung benötigt der wachsende
Organismus differentielle Angebote aus der Umwelt, die in drei Phasen
unterschiedlich präsent sein müssen:
1. Phase: Angenommen werden
2. Phase: Verstanden werden
3. Phase: Austausch mit einem selbst-kongruenten Du.
1. Phase: Angenommen werden
In dieser Zeit geht es um das existentielle Willkommensein auf der Welt und
die Befriedigung elementarer Bedürfnisse. Schon der Begriff "Emotionale
Wärme" macht deutlich, dass dies eine Metapher aus frühester Erfahrung ist:
körperliche Wärme. Es ist nicht vorstellbar, dass emotionale Nähe erlebbar ist
ohne die Erfahrung von körperlicher Nähe und Wärme. Ist Emotionale Wärme
vom Klienten nicht erfahrbar, besteht über die Wahrnehmung unmittelbarer
körperlicher Wärme und Nähe die Möglichkeit einer Annäherung. Eine
fürsorgliche Einstellung des Therapeuten kann so unmittelbar erfahrbar
gemacht und zur Beruhigung genutzt werden.
2. Phase: Verstanden werden
Empathie ist unabdingbare Voraussetzung für eine Entwicklung primärer
Kongruenz, der Übereinstimmung von Selbst und Erfahrung. Sie wird
kommuniziert präverbal durch die richtig interpretierten Bedürfnisse und deren
Befriedigung, und später durch verbale Anerkennung der Erfahrungen durch
Bezugspersonen. Dies geschieht durch angemessene Verbalisierung der
Erfahrungen, besonders der Gefühle zu sich selbst. Menschen in Not
regredieren leicht, sie sind verbal nicht in ihre Tiefen zu erreichen. Sie sind
aber durch die Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse zu erreichen, durch das
Geben von Sicherheit durch Körperkontakt. Die so gezeigte Empathie
entspannt den Organismus.
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3. Phase: Austausch mit einem selbst-kongruenten Du.
Die Aufnahme einer realen Beziehung mit einem realen Du ist die dritte
Voraussetzung zur Erhaltung des Organismus. Diese Beziehung benötigt auf
der Seite der Bezugsperson vorab Selbstkongruenz. Diese Selbstkongruenz
umfaßt auch den unmittelbaren Ausdruck ihrer Beziehungs-Gefühle. So muss
sie auch erwägen, wie weit sie ihre Distanz-Nähe-Gefühle auch konkret leben,
ihre Gefühle der Nähe wahrnehmbar machen, wahr machen, realisieren,
konkretisieren kann. Der Helfer ist nur glaubwürdig, wenn er menschlich, also
ganzheitlich, verbal und körperlich hilft.
Das klientenzentrierte Konzept fußt auf der Begegnung von Person zu Person,
und Körperkontakt ist Konkretisierung von Kontakt.
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Das bisher Gesagte gilt nicht nur für versperrte
Symbolisierungen. Das erste Display, hier wiederholt, erweitert
die Sichtweise:
Symbolisierungsstörungen und die Folgen
Symbolisierung ist:
Folgen für die Person:
1. offen
keine Abwehr: „voll entfaltete Person“
2. geringfügig gestört,
hinreichend genau:
3.
graduell (quantitativ) behindert
kaum Abwehr nötig: gesunde Verarbeitung
Selbstexploration stabilisiert das Selbstkonzept
Kongruenz zwischen Selbst und Erfahrung
Selbsterleben und Selbstexploration sind einfühlbar
a verzerrt:
selektive Abwehr: neurotische Störungen
Selbstexploration ist selektiv gestört
Selbstkonzept ist durch Introjekte instabil
b gehemmt:
generelle Abwehr: affektive Störungen
Selbstexploration ist generell gestört
Selbstkonzept wird abgewertet
4.
prinzipiell (qualitativ) verhindert Selbstaktualisierung unterbrochen (keine Selbstaktual.)
Selbstexploration teilweise schwer einfühlbar
Selbsterleben zeitweise verstört
c überfordert:
akute Belastungsreaktion
Selbstexploration ist behindert
Selbstkonzept wird destabilisiert
d versperrt: Dissoziation
dissoziative Störungen
e temporär zerstört:
(Abspalten)
Posttraumatische Belastungsstörungen und
Persönlichkeitsveränderungen
Selbstexploration partiell zerstört
Selbstkonzept inhomogen
f basal gesperrt:
(Spaltung)
Persönlichkeitsstörungen
Selbstexploration selektiv unmöglich
Selbstkonzept nur partiell entwickelt
Körpergespräche
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Posttraumatische Belastungsreaktion und Körperkontakt in der
Notfallpsychologie
Hier wird sichtbar, dass in allen Fällen Körperkontakt hilfreich
werden kann:
Körperkontakt als psychologische Intervention zur Vermeidung einer
Entwicklung von der akuten zur chronischen, posttraumatischen
Belastungsreaktion.
(Der folgende Teil ist eine Kürzung und Erweiterung des Vortrags
„Indikation für Körperkontakt in der Klientenzentrierten
Psychotherapie“ auf dem Kongress der GwG in Aachen: Solidarität
und Konkurrenz)
Am 10. November 1994 berichtet die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
unter der Überschrift "Psychologie im Erste-Hilfe-Kasten" von den
Bemühungen der Bundesanstalt für Straßenwesen, Unfallverletzte
nicht nur körperlich zu versorgen. Aus Befragungen von Unfallopfern
und professionellen Helfern ergab sich die Notwendigkeit auch
emotionaler Hilfen. Vier Gebote wurden in Zusammenarbeit mit dem
BdP erarbeitet:
Körpergespräche
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"Psychologie im Erste-Hilfe-Kasten"
Sage, dass Du da bist
Schirme den Verletzten ab
Suche Körperkontakt
Sprich und höre zu!
Bundesanstalt für Straßenwesen - BDP
Körpergespräche
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Wenn die Gebote aus gedächtnispsychologischen Gründen nicht alle
mit "S" hätten anfangen müssen, wäre sicher formuliert worden: Biete
Körperkontakt statt Suche Körperkontakt. Tatsächlich wissen
professionelle Helfer von der Wirksamkeit körperlichen Kontaktes
und stellen im Notfall bei Bergungsarbeiten eine Person allein für
diese menschliche Hilfe ab.
Die triviale Erkenntnis, wie hilfreich Körperkontakt ist, basiert auf
biologischen Mechanismen: Wie beim Schreien wird auch durch
Körperkontakt die Ausschüttung von Endorphinen bewirkt, die als
körpereigene Morphine den Organismus beruhigen. Diese Beruhigung
kommt auch beim Stillen zum Tragen. Das still werden des Babys
beruht nicht nur auf der Sättigung, sondern geschieht auch durch die
Beruhigung, die durch den körperlichen Kontakt wirkt. Dieser
Körperkontakt ist auch das tragende Element bei der „KänguruhPflege“. Babys entwickeln sich - nachgewiesen für Frühgeburten besser, wenn sie zeitweise auf die nackte Brust von Vater oder Mutter
gelegt werden.
In einem Experiment habe ich (1996) nachweisen können, dass diese
Beruhigung auch mit Erwachsenen, hier Studenten, gelingt. Sie
wurden für lange Minuten von einem Mutterersatz (anderen
Studenten) in Armen gehalten und konnten ihre Probleme mit Hilfe
dieser Haltung signifikant besser bewältigen als Studenten der
Kontrollgruppe.
Bemerkenswert ist, dass Körperkontakt ausreichend ist, es muss kein
Hautkontakt sein. Bei meinen weiteren Ausführungen werde ich mich
grundsätzlich auf Körperkontakt beschränken, Hautkontakt erscheint
nicht nötig. Vielmehr scheint wesentlich zu sein, dass Körperkontakt
durchaus kräftig sein kann, so dass der Organismus sich auch in den
Tiefen spürt. Babys wollen genudelt sein, herzhaft gedrückt, nicht nur
gestreichelt.
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Hemmung der Symbolisierungsfähigkeit
Ein viertes Indikationsfeld sind
Störungen bei lang anhaltenden, schwelenden
Überforderungen: Werden Erfahrungen, die dem
Selbstkonzept widersprechen, in ihrer Gesamtheit und
Dauer als zu bedrohlich wahrgenommen, kommt es zu
einer (generellen) Hemmung der
Symbolisierungsfähigkeit, affektive Störungen werden
möglich.
Körpergespräche
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2. Themenfeld:
Passung von Problem und Verarbeitungsmodus
Nicht nur Borderline-Gestörte verhindern mit ihrer sprichwörtlichen Wut ihren
Schmerz.
Wut und Schmerz, neben Lachen Expression mit kathartischer Wirkung, haben
unterschiedliche Funktionen in der Verarbeitung von Problemen, die eine
entgegen gesetzte Tendenz haben können:
Ein Problem kann emotional verarbeitet werden.
oder
Ein Problem kann handelnd gelöst werden.
Zum ersten: es bedarf des Abschieds, Trauerarbeit
Zum zweiten: des bedarf der Wut, Energie zum Handeln
Beide Formen der Probleme aufgrund von Verletzungen des Selbstgefühls,
treten auf, aber nicht unmittelbar gleichzeitig. Der Versuch einer gleichzeitigen
Verarbeitung muss scheitern, führt zur Verzweiflung (zwiefach, zweifelnd).
Typische Äußerungen: Ich bin sauer (traurig oder Wütend?) - verzweifelt
(weder noch, eine Lösung ist blockiert).
Der Therapeut kann helfen, den jeweils wichtigeren Impetus zu erspüren und
seine Empathie darauf einzurichten. In der Therapie ist gewöhnlich die
Trauerverarbeitung im Vordergrund, die aber behindert wird durch Wut und ein
Handeln wollen, durch den Versuch, so dem Schmerz auszuweichen.
Borderline-Gestörte versuchen zu handeln und werden aggressiv, weil Handeln
nichts nutzt. Sie gilt es, an ihre Schmerzen zu führen. Da ihre Schmerzen uralt
sind, aus einer vorsprachlichen Zeit stammt, ist Regression und Körperkontakt
indiziert.
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Anpassungsmodus:
Akkomodation
Assimilation
Grund der Inkongruenz:
(z.B. „Ich bin nicht
liebenswert“)
unpassendes
Selbstkonzept
(„Ich wurde nicht
anerkannt“)
ungünstige
Erfahrung
(„Ich suche Menschen,
die mich anerkennen“)
Charakteristika von
Problemen
prinzipiell existent,
unabwendbar
prinzipiell lösbar,
wandelbar
typisches Problem
Partnerverlust
Vereinsamung
Etikett:
Schicksal, fatum,
(widrige) Umstände,
göttliche Verfügung circumstantiae
Beschreibung der
Situation:
Es gilt, die Not als
so geschehen
anzunehmen, wobei
sich die Person
verändern wird.
Es gilt, die Not als
Herausforderung
anzunehmen,
wobei die Person die
Welt verändern wird.
Entsprechende Aufgabe
der Person:
Umstrukturierung
des Selbstkonzepts
Herausforderung
annehmen, handeln
zielführende Emotionen:
Schmerzausdruck,
Trauerarbeit
Wut,
Empörung
evolutionäre
Ausstattung:
Denken, Sprache,
Konstruktion,
Expression
Kämpfen, Fliehen,
Täuschen (Erstarren)
Vehikel der Wahl:
Selbstöffnung,
Selbstausdruck
(Handeln
ist sekundär)
zielgerichtetes
Handeln
(Handeln ist
Selbstausdruck)
Selbstexploration ist die Kompetenz, die
Anpassungs-Anforderungen an Assimilation
und Akkomodation zu entwirren.
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Unabdingbar ist die Selbstexploration zur Akkomodation nur bei
unabwendbaren Notfällen, nicht notwendig bei alltäglichen
Assimilationsproblemen: das Handeln erübrigt eine
Akkomodation. In jedem Falle ist Selbstexploration dann
notwendig, um das eine vom anderen zu unterscheiden. Denn
wenn Assimilationsanforderungen mit
Akkomodationsbemühungen beantwortet werden, oder
Akkomodationsanforderungen mit Assimilationsbemühungen sind
Komplikationen (Selbstinkongruenzen) zu erwarten:
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Zuordnungsfehler von Anpassungsmodi von Problemen
und Lösungsversuchen
Die Selbstexploration ist besonders dann gefordert, wenn das
Problem durch eine falsche Zuordnung vom Typ des Problems
und dem Umgang der Klienten gekennzeichnet ist:
Typen der Anpassung an Probleme
Umgang der
Klienten mit diesen
Problemen
akkomodativ durch
Akzeptanz des
Problems und
Anpassung an sich
selbst
assimilativ durch den
Versuch der
Anpassung der
Umwelt an
persönliche
Bedürfnisse
Körpergespräche
AkkomodationsProbleme mit
Reflexionsbedarf
AssimilationsProbleme mit
Handlungsbedarf
Erfolgschancen
durch
Umstrukturierung
des Selbstkonzepts
Scheitern durch
Feigheit,
Selbstmissachtung
wahrscheinlich
A
D
B
C
Scheitern durch
Überforderung:
Stress, Depression
wahrscheinlich
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Erfolgschancen
durch Handeln:
DKämpfen, Fliehen,
Täuschen
(Erstarren)
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In allen Fällen bedarf es der Selbstexploration, wenn auch in
unterschiedlicher Funktion. Sie ist vergleichsweise unproblematisch bei
Feldern A und C (Erfolgsdiagonale versus B und D, Diagonale des
Scheiterns), da hier eine geringere Selbst-Inkongruenz zu erwarten ist,
und das auch bei nur geringer Selbstexplorations-Kompetenz. Es geht in
Feld A um Annahme des Schmerzes, Trauerarbeit mit emotionaler
Expressivität (Weinen, Schreien) und Umstrukturierung des
Selbstkonzepts, und in Feld C um die Beseitigung der Not durch
Handeln.
Wird aber assimilativ versucht, das unabänderliche Problem handelnd zu
lösen (Feld B), wird die Trauerarbeit verhindert, ohne dass das Problem
gelöst werden könnte, da Kampf oder Flucht inadäquat sind. Erste
Aufgabe für eine angemessene Selbstexploration wird sein, eine
tragfähige Beziehung herzustellen, in der der Klient in einem Klima der
Sicherheit seinen Standpunkt überprüfen kann. Die Trauerarbeit wird
erst dann geleistet werden können, wenn der Klient entsprechend Feld A
seinen emotionalen Standpunkt korrigieren konnte.
Durch Handeln lösbare Probleme bedürfen der Wut, der Empörung,
denn die liefern die Energie, die für das Handeln gegen externe Kräfte
notwendig ist. Dennoch muss das Handeln angemessen sein, denn es
bedarf zwar einerseits des Mutes zur Empörung, um später vielleicht zur
Wut gelangen zu können, aber andererseits läuft der Klient Gefahr, die
lange abgewehrte Wut nicht unter Kontrolle halten zu können. Und
mitunter ist es gerade die Angst vor der eigenen Wut, die die Ansätze
von Empörung und Tätigwerden verhindert, schon im Keim erstickt.
Problematisch ist es entsprechend Feld D ebenfalls, wenn wandelbare
Probleme intern gelöst werden sollen. Hier ist Entängstigung nötig, um
an die verschüttete Wut zu gelangen, um Mut zu fassen, gegen die
eigene Angst und das mangelhafte Selbstvertrauen, aktiv zu werden.
Psychotherapie ist die Ermöglichung verarbeitender Gefühle wie der
Ausdruck von Schmerz und Wut (Empörung), rsp die Bewältigung von
Angst (Feigheit) und Depression (Stress, Erstarrung, Stagnation), sowie
von Ärger (selbstschädigender Ausdruck von Empörung) und
Selbstmitleid (selbstschädigender Ausdruck von Trauer und Schmerz).
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Dabei ist die erste Aufgabe der Selbstexploration die Identifizierung der
Problemstruktur: was ist zu Grabe zu tragen und zu betrauern, und was
ist handelnd zu bewirken.
Angstminderung durch Körperkontakt
Seit Freud wissen wir, dass alle emotionalen Störungen mit Angst
verbunden sind - selbst dort, wo die Klienten ihre Angst nicht mehr
spüren können, wenn auch Stress und Abwehr spürbar bleiben.
Andererseits wissen wir, dass Körperkontakt ein unbedingter
Sicherheitsauslöser ist - wenn die Beziehung stimmt.
Der Weg des Klienten ist es, sich zu öffnen, um sich zu explorieren, mit
dem Ziel, entweder über Wut Energien zu sammeln um tätig zu werden,
das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, oder über den Ausdruck
von Schmerz solche Erfahrungen zu betrauern, die hinzunehmen sind.
Solche Erfahrungen mögen sein, von den Eltern nicht das bekommen zu
haben, was gebraucht wurde (im Falle Früher Störungen), oder Verluste,
die zu betrauern der Klient sich nicht traut, aus Angst, dass die Trauer zu
tief ginge, ihr Ausdruck unendlich dauern könnte, dass der Partner ihn
deshalb ablehnen würde, oder dass es seinen eigenen Werten nicht
genügte. Diese Angst kann durch den Psychotherapeuten verstanden und
aufgefangen werden. Körperkontakt ist dann indiziert, wenn dem
Klienten Tränen kommen, er sie aber nicht fließen lassen kann, weil er
bisher erfahren hat, dass er mit seinem Schmerz alleine ist. Die
körperliche Annahme der Tränen kann helfen zu erfahren, dass Tränen
befreien können. Eine Klientin sprang über ihre Angst und staunte unter
Tränen: Tränen tun ja gar nicht weh!
Schließlich: Primat der Verbalisierung!
Insofern passt der Terminus: Gesprächspsychotherapie!
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