Heilende Begegnung - Körpergespräche Indikation für Körperkontakt im Klientenzentrierten Konzept Klaus Heinerth, LMU München Zusammengewürfelte Papiere: Texte und Folien zum Workshop RV München Symposion Stuttgart Oktober 2005 Stand: 23. Oktober 2005 Abstract Begegnungen sind die konkreten Elemente einer Beziehung und nicht notwendig verbal. Sie können umso empathischer (heilender) sein, je differenzierter das Modell der Symbolisierung und der Selbstexploration ist. Eine Differenzierung der Theorie von Rogers (1957) erlaubt ein tieferes Verstehen des Klienten in seinem so gewachsenen inneren Bezugsrahmen: - nach Art der Symbolisierungsstörung. Die Symbolisierung von Erfahrungen kann graduell (quantitativ) behindert (verzerrt oder gehemmt), oder prinzipiell (qualitativ) verhindert (versperrt oder zerstört) sein, so dass je nach Tiefe der Erfahrung Worte allein den Klienten nicht erreichen können und zunächst andere Formen der Begegnung, wie Körperkontakt, gefunden werden müssen. - nach Art des Verlustes. Unabänderliche Schicksalsschläge oder persönliche Herausforderungen der Umstände erfordern andere Formen der kathartischen Verarbeitung, entweder Weinen oder Wüten): Angst vor den Schmerzen der Trauerarbeit kann durch Körperkontakt vermindert werden. Es werden angemessene Interventionen theoretisch abgeleitet und praktisch erörtert. Das Primat der Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte wird differenziert und neu begründet. Heilende Begegnung 13.05.2016 1 / 54 Vorspann "Antaios, ein Riese, Sohn Poseidons und der Gaia (Mutter Erde), lebte in Lybien und forderte alle Fremdlinge, die dort ankamen, zum Ringkampf auf. Antaios war unbesiegbar, denn die Berührung mit der Erde verlieh ihm stets neue Kraft... Als Herakles auf der Suche nach den goldenen Äpfeln der Hesperiden durch sein Land zog, forderte Antaios auch ihn heraus. Herakles überwand ihn schließlich, indem er ihn vom Boden hochhob, damit von seiner Mutter trennte, und ihn in der Luft erdrückte." (Nach Grant & Hazel 1980) Mythen sind geronnene Menschheitserfahrungen. Die Menschheitserfahrung, dass Körperkontakt mit der Mutter nicht nur lebensspendend, sondern auch lebenserhaltend ist, ist mein Thema: der Einsatz archaischer mütterlicher Kräfte in der Psychotherapie, Körperkontakt, und zwar interaktiver Körperkontakt. Die ist ein uraltes Wissen, dessen heutige Bedeutsamkeit und Wirksamkeit ich aufzeigen möchte. Dabei bleibt offen, wie Körperkontakt in der Psychotherapie juristisch zu bewerten ist. Heilpraktiker dürfen körperlichen Kontakt aufnehmen (mit der Ausnahme sexuellen Kontaktes), dürfen das auf Psychotherapie beschränkte Heilpraktiker auch? Heilende Begegnung 13.05.2016 2 / 54 Beobachtungen: Viele Klienten öffnen sich leichter bei Körperkontakt - sofern dieser angstfrei angenommen werden kann. Viele Klienten wünschen von sich aus Körperkontakt und können ihn für ihre Sicherheit und Selbstexploration nutzen. Besonders im Zustand der Regression suchen Klienten Körperkontakt. Klientin: "Wenn du mich in den Arm genommen hättest, hätte ich weinen müssen!" Klientin: "Ich wollte die Therapie abbrechen, da nahmst du meine Hand!" Klientin: "Das Wichtigste, das mir im Leben passiert ist, ist Deine Hand!" Beeindruckend ist das Bild einer Klientin, die die Hand der Mutter wünscht, aber immer sind dort Plastiktüten, es gibt keinen Platz für sie, ihre Bedürfnisse. Oder das Bild eines Klienten, dessen wichtigste Erinnerung an einen Abend in der Disko ist, dass ihn jemand an die Hand nimmt, um mit ihm an einem ruhigen Ort zu sprechen. Ich erreiche mitunter Klienten nicht mit meinen Verbalisierungen. Empathie ist bei manchen Klienten eher über Körperlichkeit zu erreichen als über Verbalisierungen ihrer Emotionen. Heilende Begegnung 13.05.2016 3 / 54 Zur Definition nicht: nonverbale Kommunikation, Übungen, Körperbewusstsein, Feldenkrais, Rolf, Reich, Massage, Streicheln sondern: körperliche Interaktion, der Dialog von Körpern, Begegnung, Berührung mit körperlicher Resonanz mit und ohne Verbalisierung Beispiele: Händedruck, Hand nehmen, halten, Mutter/Kind-Haltung, Darmgeräusche hören lassen, mit Hand Schutz übernehmen, gegenseitige Umarmung, Nudeln, Tanzen sowie Kontakt mit Tieren, z.B. Reiten. zum Nudeln: gemeint ist nicht Streicheln, sondern einen herzhaften Kontakt mit einem gewissen Druck. Das gilt für die Hand, das gilt auch für den ganzen Körper. Babys wollen genudelt werden, das macht ihnen einen großen Spaß und der Grund dürfte darin zu suchen sein, dass sich der Organismus dann bis in seine Tiefen spürt. Dies ist unmittelbare Realität, deren Eindeutigkeit auch noch mit Genuss verbunden ist - wie jede Bedürfnisbefriedigung. Wie Babys, die genudelt werden wollen, ist der Partner zu drücken, da sich der Organismus dann bis in seine Tiefen spürt. Klienten wählen auch diesen Sprachgebrauch: "Ich möchte Dich gerne drücken!". Gemeint ist allerdings, "Bitte, drück mich!" Vorkommen: Heilende Begegnung vorsprachliche Interaktion Mutter/Kind Umgang von Liebenden Psychotherapie 13.05.2016 4 / 54 Parallelität zwischen Mutter/Kind- und Therapeut/KlientKontakt 1. Aufgaben: Aufbau, Differenzierung von Selbstexploration Selbstkonzept Beziehung, Kontakt Verbalisierung von Erfahrungen Empathie, Ausdruck von Empathie (verbal rsp. Bedürfnisbefriedigung: prompt und passend) Unbedingtheit der Wertschätzung Körper stiftet Realität = Erfahrung: Inkongruenz zwischen Erfahrung und Selbstkonzept: wirklich ist die Erfahrung, das Selbstkonzept ist lediglich ein Konstrukt, resultierend aus der Erfahrung. Sie ist die einzige Quelle, dem Selbstkonzept übergeordnet, das aus ihr folgt. 2. Wege: Indikation für Mutter/Kind ist gegeben, auch für Therapeut/Klient? Wichtigste Indikation für Körperkontakt in der Psychotherapie ist eine versperrte Symbolisierung. Zum besseren Verständnis dieser Störung folgt diese Übersicht: Heilende Begegnung 13.05.2016 5 / 54 Symbolisierungsstörungen und die Folgen Symbolisierung ist: Folgen für die Person: 1. offen keine Abwehr: „voll entfaltete Person“ 2. geringfügig gestört, hinreichend genau: 3. graduell (quantitativ) behindert kaum Abwehr nötig: gesunde Verarbeitung Selbstexploration stabilisiert das Selbstkonzept Kongruenz zwischen Selbst und Erfahrung Selbsterleben und Selbstexploration sind einfühlbar a verzerrt: selektive Abwehr: neurotische Störungen Selbstexploration ist selektiv gestört Selbstkonzept ist durch Introjekte instabil b gehemmt: generelle Abwehr: affektive Störungen Selbstexploration ist generell gestört Selbstkonzept wird abgewertet 4. prinzipiell (qualitativ) verhindert Selbstaktualisierung unterbrochen (keine Selbstaktual.) Selbstexploration teilweise schwer einfühlbar Selbsterleben zeitweise verstört c überfordert: akute Belastungsreaktion Selbstexploration ist behindert Selbstkonzept wird destabilisiert d versperrt: Dissoziation dissoziative Störungen e temporär zerstört: (Abspalten) Posttraumatische Belastungsstörungen und Persönlichkeitsveränderungen Selbstexploration partiell zerstört Selbstkonzept inhomogen f basal gesperrt: (Spaltung) Persönlichkeitsstörungen Selbstexploration selektiv unmöglich Selbstkonzept nur partiell entwickelt Heilende Begegnung 13.05.2016 6 / 54 Die letzte Gruppe ist die interessanteste. Hier möchte ich die Gruppe der Früh Gestörten den neurotisch gestörten Klienten gegenüberstellen. Ich gehe davon aus, dass Psychoneurotiker hinreichend verstanden werden, sie sind uns ja auch ähnlicher. In Abgrenzung zu Ihnen möchte ich Persönlichkeitsgestörte vorstellen, um auch sie verständlicher zu machen. Beide Störungsformen haben grundverschiedene Ursachen: Empathieversagen in den ersten drei Jahren vs Bedingtheit der Wertschätzung später Zur Dreijahresgrenze: In den ersten drei Jahren benötigt das sich entwickelnde SK Empathie um zu erfahren, wer er ist. Werden wesentliche Aspekte tabuisiert, aus welchen Gründen auch immer, werden sie im Ausbau des SK fehlen: z.B. Angst, Aggression, Liebe Nach Ablauf von drei Jahren weiß die Person, wer sie ist. Sie ist von der Empathie weniger abhängig als von der Unbedingtheit der Wertschätzung. In unserer Kultur ist es besonders das Leistungsverhalten, von dem die Wertschätzung abhängig gemacht wird. 13.05.2016 7/54 Im Detail zur Entwicklung der Persönlichkeitsstörung Der Mensch wird ohne dessen geboren, was wir Selbstbewusstsein und Identität nennen, aber mit der Fähigkeit, Selbstbewusstsein und Identität zu erlernen. Dazu bedarf es bestimmter Bedingungen. Unter der Voraussetzung, dass fundamentale physikalische und physiologische Defizitbedürfnisse hinreichend befriedigt sind, können die Bedingungen der Entwicklung von Selbstbewusstsein und Identität benannt werden. Entscheidendes Kriterium ist die Empathie der Mutter (Mutter als Metapher für die Bindungsperson). Dabei können wir davon ausgehen, dass dieses Empathiebedürfnis angeboren ist, ebenso wie das Bedürfnis der Mutter, empathisch zu sein, um dem sonst hilflosen Wesen zu helfen. Tragendes Element sind die Bindungsgefühle: Liebe. Die Realisierung dieser Empathie ist abhängig von der Entwicklungsphase, in der sich die Person befindet. In der vorsprachlichen Zeit befriedigt die einfühlsame Mutter das Empathiebedürfnis des Babys durch die prompte und richtige Befriedigung seiner Bedürfnisse. Dazu kommt die Verbalisierung dessen, was gerade mental passier (Du hast Hunger - Angst - Schmerzen - frierst - bist müde - ärgerlich einsam etc. Ich füttere dich, tröste dich, schütze dich, weil ich dich liebe. Du kriegst, was du brauchst, wenn es auch Grenzen gibt.) Die Verbalisierung der Interaktionen zwischen Mutter und Kind ist notwendig, weil das aufzubauende Selbstkonzept (Grundlage von Selbstbewusstsein und Identität) verbal verankert ist, und das Kind lernen muss, seine Befindlichkeit auch verbal auszudrücken. Sätze wie Ich habe Angst - bin traurig - ärgerlich konstituieren mit ihren Verknüpfungen mit den Erfahrungen das Selbst. Störungen in dieser Phase sind Frühe oder Persönlichkeitsstörungen (typisch ist die Borderline-Störung). Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die Persönlichkeitsstruktur in einer oder mehrere Hinsicht unvollständig ausgebildet ist. Erfahrungen in diesem Bereich können nicht korrekt symbolisiert werden. 13.05.2016 8/54 Den fundamentalen Unterschied, in welcher Phase ein Defizit erfahren wird, veranschaulicht der nächste Kasten. Entfaltung des Selbstkonzepts Entwicklung des Selbstkonzepts: Aufbauphase: Gründung des SK Ausbauphase: Erweiterung des SK durch Integration erster Erfahrungen (Selbst-Struktur) durch Integration neuer Erfahrungen (Selbst-Textur) durch Anerkennung durch Befriedigung durch Befriedigung des der Erfahrungen: primärer Bedürfnisse, Bedürfnisses nach passend und prompt Anerkennung durch kongruentes Gegenüber: Klientenprozesse Schwerpunkt empathische Bindungspersonen Offenheit für Erfahrungen, Wachstum, Selbstkongruenz ganzheitliches Selbstkonzept Identität in der Kontinuität Körpergespräche unbedingt wertschätzende Bezugspersonen 13.05.2016 selbstreflexives Selbstkonzept Selbst-Bewusstsein im Hier und Jetzt 9 / 54 Typische Folgen Das Besondere an den Persönlichkeitsstörungen ist, dass die betroffenen Personen zwar ein dumpfes Gefühl davon haben, dass etwas nicht in Ordnung ist (immerhin haben sie ja noch die entsprechenden Bedürfnisse, z.B. nach Nähe), aber sie können es nicht symbolisieren, also weder benennen noch verstehen. Aus diesem Grund sind sie auch durch andere und den Psychotherapeuten schwer zu verstehen, und wenn sie verstanden werden, wird von ihnen auch eine empathisch richtige therapeutische Verbalisierung nicht akzeptiert, eben weil nicht verstanden. Typisch sind Sätze wie Ich weiß nicht! Immerhin betreten sie in der Psychotherapie Neuland. Typisch ist auch, dass nach den systematischen Erfahrungen von unbefriedigten Bedürfnissen, vor allem nach Nähe, ein Wunsch nach Unabhängigkeit erwächst, um nicht fortgesetzt verletzt zu werden: Ich brauche niemanden! Aus diesem Schwur folgt zwar eine Autarkie zum Schutz, aber auch Misstrauen und Einsamkeit. In diesen gestörten Bereichen, gewöhnlich Bindungsgefühle, Aggressivität, Angst, Selbstwert, sind die Klienten verbal nicht erreichbar, Empathie führt ins Leere. Im Gegenteil kann Empathie als bedrohlich erlebt werden, so dass Misstrauen ein anderes typisches Merkmal von Frühen Störungen ist. Diese verbale Unerreichbarkeit hat immer wieder vermuten lassen, dass Persönlichkeitsstörungen untherapierbar sind. Diese Annahme ist falsch, wenn man die Möglichkeit einbezieht, die Betroffenen dort abzuholen, wo sie in ihrer Entwicklung stehen geblieben sind, nämlich in den ersten drei Lebensjahren, in denen ihre Identität hätte wachsen sollen, aber keine Chance hatte, sich zu entfalten. Vehikel ist die Beziehung, neben den Beziehungsmerkmalen sensu Rogers, gekennzeichnet durch Regression und nonverbale Kommunikation. Dies ist ein Zustand ähnlich dem, wie er damals zwischen Mutter und Kind nötig gewesen wäre. Dazu zählt auch Körperkontakt, Körperkontakt als Möglichkeit dort, wo eine Berührung verbal nicht möglich ist, s.u. Körpergespräche 13.05.2016 10 / 54 Fehlentwicklungen: in Aufbauphase in Ausbauphase 1. Anerkennung durch selbstinkongruente Bezugsperson ist ungenügend, besonders der Mangel an: einfühlendem Verstehen unbedingter Wertschätzung 2. organismische Erfahrungen wurden: nicht anerkannt "falsch" (nur bedingt) anerkannt 3. Erfahrungen weil unverstanden: weil nicht ins SK passend: versperrt: blockiert verzerrt: gefiltert oder umgedeutet 4. Symbolisierung ist: fehlend, versperrt falsch, verzerrt 5. Integration von bestimmten organismischen Erfahrungen geschieht: nicht falsch 6. Selbstentwicklung ist behindert durch: Fragmentierungen Introjekte 7. Inkongruenz besteht zwischen: fragmentiertem Selbst und Selbst-Introjekten organismischen und Selbst-Erfahrungen Erfahrungen Selbstaktualisierungstendenz (Bedürfnis nach Anerkennung) und Aktualisierungstendenz (organismischen Bedürfnissen) Selbstentfaltung und Selbsterhaltung Selbstbild und Idealbild 8. Entwicklungsstufen der Selbststruktur: das Selbst bleibt inkonsistent das Selbst ist bereits in sich konsistent, eine bedrohte Selbst-Konsistenz wird geschützt 9. Zeitpunkt der Störung geschieht eher: früh ("Frühe Störung") reaktiv (nach 2-3 Jahren) 10. Offenheit für bestimmte neue Erfahrungen: fehlend (oder unrealistisch) begrenzt (nämlich nur in Sicherheit) 11. Störung der Wahrnehmung: bei bestimmten Erfahrungen bei bestimmten Selbsterfahrungen 12. Ergebnis: Selbst-Inkonsistenz, Bedrohte Selbstkonsistenz 13. Folgen: Persönlichkeitsstörungen neurotische Störungen, Psychopathien, Psychosen Anpassungsstörungen (typisch: Borderline) (typisch: Hysterie) 14. Fehlentwickungen aufgrund: versperrter Symbolisierung verzerrter Symbolisierung. Körpergespräche 13.05.2016 11 / 54 Phänomenologie der Störungsformen Art der Störung: Persönlichkeitsstörung neurotische Störung 1. existentielles Thema: Sein: "Wer bin ich?" - "Was zu tun wäre jetzt richtig?" Schein: "Wie muss ich erscheinen, um anerkannt zu werden?" 2. Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung wird nicht erlebt (oder als Todesangst) macht Angst (vor Liebes-, oder Gesichtsverlust etc.) 3. Erfahrung ist versperrt, nicht als bedrohlich erkannt, Angst wird nicht erfahren wird verzerrt, bedrohlich, weil inkongruent mit SK; Angst-Bereitschaft 4. organismische Wahrnehmung vorhanden, unverstanden, ist blockiert vorhanden, bedrohlich, wird eher entstellt 5. SK-Repräsentanz fehlend, versperrt falsch, fremd, verzerrt lückenhaft: mit Lücken, Löchern, Leere, Fragmentierung "Ich bin falsch" "Ich bin nicht richtig" fehlerhaft: Verzerrungen Lebenslügen Rationalisierungen "Ich genüge nicht!" 7. Ursachen Empathieversagung z.B. bei Aggressivität, Bindungsgefühlen („Du sollst Vater und Mutter ehren!“) Bedingte Wertschätzung z.B. bei kreativem oder explorativem Verhalten („Leiste Du erst einmal etwas!“) 8. Bedürfnisse werden ignoriert oder als bedrohlich erlebt entwertet 9. Charakteristikum Selbstkonzept-Lücken, Selbstkonzept-Mangel, Fragmentierungen Selbstkonzept-Fehler, Fehlkonstrukte, Introjekte 10. Grundsätze Fragen des Charakters Fragen des Stils, der Camouflage 6. Selbst-Aspekte 11. Typische Aussagen im direkten Vergleich Körpergespräche Fortsetzung: 13.05.2016 12 / 54 Fortsetzung: Phänomenologie der Störungsformen Art der Störung: Persönlichkeitsstörung neurotische Störung 11. Typische Aussagen Ich weiß nicht, wer ich bin. Was sind denn Gefühle. Wer bin ich denn, dass XY das mit mir macht. Meine Gefühle stören mich. Ich bin wütend, weil XY mich ärgert. Ich kann alles zusammen schlagen, aber ich bin nicht wütend. Ich möchte wegrennen, aber weiß nicht warum. Ich möchte wegrennen, weil es mir zu viel wird. 12. Spezifische Besorgnis vor Depersonalisation, Affekt-Kontrollverlust, Identitätsverlust, ich-fremden Empfindungen, unsymbolisierten organismischen Erfahrungen Zerrissenheit, Selbstverstümmelungen Diskrepanz zwischen Selbst- und Idealbild, Selbstverachtung, Angst vor Liebesverlust, Lächerlichkeit, Erniedrigung, Gesichtsverlust (Scham), verzerrt symbolisierten organismischen (und sozialen) Erfahrungen 13. Ich-Erleben ich-dyston: "Was mir da passiert, ist mir fremd - das bin nicht wirklich ich!" ich-synton: "Das sind meine Ängste, die gehören (ob ich will oder nicht) zu mir!" 14. Motivation "Ich will es richtig machen!" "will wissen, wie es geht!" "Ich will gefallen!" "Ich will geliebt werden!" 15. Bewertung „Ich bin nicht ok.!“ "Du bist auch nicht ok.!" "Aber was ist ok.?") "Mich liebt keiner!“ ("Was muss ich dafür tun?") "Ich bin nicht ok., du bist ok.!" 16. Humor-Ersatz Sarkasmus Selbstironie 17. EmpathieErsatz kognitive Perspektivenübernahme Mitleiden, Burnout 18. Wertschätzungs-Ersatz Schmeicheln, Lobhudeln, Idealisieren Dienen, Anpassen 19. soziale Anpassung gering, aber: Nachahmung gegen Unsicherheit über Identität. überangepasst: Mitspielen aus Angst vor Liebesverlust. Körpergespräche 13.05.2016 13 / 54 Änderung des Selbstkonzepts: Aktualgenese (hic et nunc) Bei Störungen aus der Aufbauphase Ausbauphase Selbstentwicklung bei versperrter Symbolisierung verzerrter Symbolisierung Anerkennung einer Erfahrung durch Empathie durch unbedingte Wertschätzung durch (neue) verbalisierte Selbsterfahrung durch Selbstexploration wichtigste Agenten: Bezugsperson Psychotherapeut Individuum selbst, Partner, Freunde wichtigstes Agens: Beziehung und Regression (reparenting) Selbstanerkennung: Selbstempathie und Selbstachtung Wachstumsbedingungen Organismus erkennt günstige Bedingungen nicht Organismus sucht und blüht auf in günstiger Umgebung: Peers, Psychotherapeuten Anregung der Selbstaktualisierung bei Erfolg Wachstum: durch Aufbau des Selbstkonzepts durch Umstrukturierung des Selbstkonzepts Selbstkongruenz und Offenheit für neue Erfahrungen bei Scheitern: Stagnation Inkongruenz von Selbst und Erfahrung Ergebnis: Offenheit für neue Erfahrungen nimmt ab Perspektive: Verfestigung der Persönlichkeitsstörung Körpergespräche 13.05.2016 neurotischen Störung 14 / 54 Die Möglichkeiten einer therapeutischen Einflussnahme zeigt der folgende Kasten: Heilen durch Beziehung Störungsform: Persönlichkeitsstörung Neurotische Störung Wirkung durch Therapeutenverhalten (Beziehungsangebot) Empathie besonders im organismischen Bereich und überall dort, wo das SK keine Lücken hat. Lücken sachte „von den Rändern“ je nach Möglichkeit des Gewahrwerdens füllen (direkte Empathie, auch wenn sie offensichtlich richtig ist, erscheint sonst als falsche Interpretation). Wertschätzung, unbedingt für alle Gefühle, Wünsche, Motive, Bedürfnisse (nicht für alles Handeln!). Wertschätzung sehr vorsichtig (Misstrauen! Angst vor Abhängigkeit). Empathie, besonders für Inkongruenzen Das Selbst als unbekanntes Wesen. Das Selbst als unverstandenes Wesen. primärer Bedürfnisse via Regression (z.B. Körperkontakt) nur der Bedürfnisse nach Anerkennung und Nähe (als einziges Bedürfnis, das man sich nicht selbst befriedigen kann). durch Selbstexploration (Beziehung zu sich selbst) durch Befriedigung Körpergespräche 13.05.2016 15 / 54 Besonders zwei spezielle Folgen sind hier zur Begründung von Körperkontakt relevant: Überwinden der Sprach- und Begriffslosigkeit Bestimmte Körperempfindungen und Gefühle, wenn sie denn wahrgenommen werden, haben bei persönlichkeitsgestörten Klienten keine begrifflichen Fassungen; sie müssen erst wie Vokabeln gelernt werden. Der häufige Satz "Ich weiß nicht!" repräsentiert diesen Mangel. Er ist Hinweis darauf, dass organismisch etwas geschieht, das nicht verstanden wird. Eine Anerkennung dieses Geschehens durch den Therapeuten mag sich als schwierig erweisen. Der Therapeut hat dann anzuerkennen, dass dieser Satz eine Metapher für unverstandenes Geschehen ist, nicht dafür, dass wirklich nichts ist - was die Klienten gewohnt sind, sich selbst vorzumachen. Umgekehrt blieben auch bestimmte Kognitionen unverstanden. Sätze wie "Ich vertraue Dir!" oder "Ich mag Dich!" haben keine Repräsentanz im Organismus, solange sie nicht mit organismischen Erfahrungen verbunden werden können. So halten die Betroffenen den Zustand der Liebe, den sie nie so recht erlebet haben, für eine Krankheit (Martha in Die Klaschmohnfrau). Eine erprobte Methode, Begriffe und organismisches Geschehen in Beziehung zu setzen, bietet neben Focusing Körperkontakt: Empathisches Verstehen durch Taten kommunizieren. Verstehen sollte bei Persönlichkeitsstörungen nicht nur verbal kommuniziert werden. Das Ansprechen von Gefühlen ist schwierig, da Gefühle gewöhnlich nicht wahrgenommen bzw. verleugnet werden. So geht eine einfache Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte ins Leere, sie trifft nicht auf ein Selbst, das damit eine Anerkennung wahrnehmen könnte. Empathisches Verstehen muss ursprünglicher, auch nonverbal kommuniziert werden. Dabei ist wichtig, nonverbale Signale auch verbal zu begleiten, da das integrierte Selbst schließlich wesentlich verbal organisiert ist. Zu berücksichtigen ist dabei, dass eine Flucht in die Begrifflichkeit die Funktion einer Abwehr haben kann. Diese verbale Abwehr kann nonverbal umgangen werden. So kann es manchmal wirkungsvoll sein, zur rechten Zeit zu lachen, die Hand zu nehmen, oder die Haltung oder den Atem spüren zu lassen. Akkurates empathisches verstehen der Gefühle ist mitunter problematisch, da der Persönlichkeitsgestörte weniger seinem Fühlen als seinem Handeln Bedeutung beimisst. Die auf Grund seines Verhaltens vermuteten und angesprochenen Gefühle mögen weitgehend geleugnet werden, so dass die Gefahr besteht, dass sich der Klient auch bei überprüfbar richtigen Verbalisierungen nicht verstanden fühlt. Kognitive Aufklärungsarbeit kann hier hilfreich sein. Auch ist die Unterscheidung zwischen Gefühlen und Verhalten hilfreich. So ist z.B. ein Nähewunsch anzuerkennen, nicht aber ein entsprechendes Verhalten, Klammern. Körpergespräche 13.05.2016 16 / 54 Körperkontakt: Formen und Stufen des Angebots: Verbales Körperkontaktangebot: Nicht immer muss der Körperkontakt tatsächlich praktiziert werden. Wenn die Klienten Erfahrung mit Körperkontakt haben, mag es auch genügen, ihnen zu sagen, dass man sich ihm Nahe fühle und dass man ihn gerne in den Arm nehmen würde. Auch wenn es dann nicht dazu kommt, bedeutet dieses Angebot ein Angebot an Beziehung und an Verstehen - wenn der Zusammenhang stimmt. Auch wenn noch keine Erfahrungen an Körperkontakt in der therapeutischen Beziehung vorliegen, kann das verbale Angebot nutzen: "Ich möchte ..." "Stelle dir vor ..." An die Hand nehmen, zur rechten Zeit (nonverbale Empathie) "Das wichtigste, das mir in meinem Leben passiert ist, ist deine Hand!" s.o.). Dieser Körperkontakt bietet sich an, besonders bei Angst. Klienten, die Erfahrungen mit Angst haben, suchen von sich aus die Hände ihrer Nachbarn, um sich festzuhalten. In die Arme nehmen: Diese dichteste Form des Körperkontaktes bietet sich z.B. bei Schmerz an. Dem Partner wird dabei der ganze Körper geboten (im Stehen, Knien oder in der liegenden Casriel-Haltung, wie ich sie 1982 beschrieben habe), wobei der Therapeut den Klienten festhält und er den Klienten einlädt, sich an ihm festzuhalten. Dies bietet einen maximalen Kontakt und eine maximale Wirkung. In den Arm nehmen wie ein Baby: zusammengekrümmt. Dieser Kontakt bietet sich bei Regression an. Bei Wut empfiehlt es sich nicht, in der Front des Klienten zu sein. Wenn man ihn in seinem Ausdruck von Wut ermutigen will, genügt eine Hand im Kreuz mit der Bedeutung, dass ihm der Rücken gestärkt wird, freigehalten wird, damit sich der Klient berechtigt fühlt, zu seiner Wut zu stehen und sie zuzulassen, auszudrücken. In den Schoß nehmen: die Krümmung der Babyhaltung öffnet sich. Die Hand auf die Klientenhand legen, die sich selbst hält meist Bauch, dann Brust auch Stirn, Kopf (Beispiel Wegfliegen) Hand liegen lassen, wenn die Klientenhand sich entfernt. Hand sprechen lassen. Angebote zum Körperkontakt können Selbstberührung und Selbstverletzungen vorbeugen: Körpergespräche 13.05.2016 17 / 54 Zweifel an der Existenz und Identitätsprobleme Viele Klienten berichten von Selbstverletzungen, z.B. Haare ausreißen. Sie ermöglichen es ihnen, über den Schmerz das Gefühl zu erlangen zu existieren. Selbstverstümmelung ist ein Mittel der erzwungenen Selbstwahrnehmung. Sie werden weniger als schmerzend, eher als beruhigend empfunden. Ähnliche Ursachen haben Sich-Wiegen und Jaktationen. Vom Kontakt zum Gespräch Körperkontakt ist keine Einbahnstraße: er wird genommen und gegeben, er wird aber auch beantwortet. Bei einer Umarmung kann ich spüren, wie sich jemand anvertraut oder sperrt, ob er Angst hat oder sich sein lassen kann. Körperliche Spannung und Atmung geben über den organismischen Zustand des Klienten Auskunft. Diese Auskunft kann ich beantworten mit körperlichen Interventionen zur Verbesserung des Atmens, ich kann helfen, besser auszuatmen, also Angstatmung zu mindern. Die Betonung der Ausatmung stimuliert das parasympathische System. Gefühle werden möglich, wenn die Angst als Gegenspieler von Gefühlen vermindert wird. Mitunter bringt das Klienten unter Druck. Sie haben die Wahl zwischen Angst bei einer Betonung der Einatmung (Hyperventilation) und Gefühlen, die durchaus bedrohlich sein können. Wenn das fällige Gefühl Schmerz ist und sein Ausdruck wünschenswert, empfiehlt sich Körperkontakt und eine damit verbundene Hilfe der Atmung. Ein Sich-Sperren kann in einer Umarmung vom Therapeuten sofort erspürt und beantwortet werden. Ein wichtiges interaktives Berühren ist die Unterstützung des Atmens: Statt einer Angstatmung kann durch entsprechendes drücken der Atem vertieft werden, vom oberen bis zum unteren Anschlag, dort wo die Gefühle sind. Körpergespräche 13.05.2016 18 / 54 Atemschemata Volumen in Litern Atem bei Angst 6 maximale Inspiration InspirationsReservevolumen 3,5 Inspirationslage Atemvolumen 3 Expirationslage Atem bei Arbeit Atem in Ruhe Expirationsvolumen Atem bei Schmerz 1,2 maximale Expiration Residual-Volumen 0 Kollapslunge Zeit 6 Liter Totalkapazität: 4,8 Liter Vitalkapazität + 1,2 Liter Residualkapazität Im Atemholen sind zweierlei Gnaden Die Luft einziehen, sich ihrer entladen. Jenes bedrängt, dieses erfrischt So wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich prüft, und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt. Johann Wolfgang von GoetheWest-östlicher Divan; Buch des Sängers, Talismane Körpergespräche 13.05.2016 19 / 54 Aufhebung Sein Unglück ausatmen können tief ausatmen so dass man wieder einatmen kann und vielleicht auch sein Unglück sagen können in Worten in wirklichen Worten die zusammenhängen und Sinn haben und die man selbst noch verstehen kann und die vielleicht sogar irgendwer sonst versteht oder verstehen könnte Und weinen können Das wäre schon fast wieder Glück Erich Fried Körpergespräche 13.05.2016 20 / 54 Die Kunst des rechten Augenblicks Die Indikation für Körperkontakt ist das Eine, seine praktische Realisierung das Andere. Körperkontakt kann man nicht geben oder nicht, einfach einmal ausprobieren. Es bedarf des rechten Augenblicks. Persönlichkeitsgestörte sind durch Misstrauen gekennzeichnet und haben Angst vor Nähe, die das Potential zur Verletzung in sich birgt, das aus den Verletzungen des mütterlichen Versagens resultiert. Geblieben ist in der Tiefe die Sehnsucht nach Nähe, die mitunter sichtbar wird und die das Fenster bildet, das der Therapeut empathisch zu erspüren hat, um den Klienten auch mittels Körperkontakt zu berühren. Körpergespräche 13.05.2016 21 / 54 Die Kunst des rechten Augenblicks hat verschiedene Ebenen: Körperkontakt - kann vom Klienten erbeten werden: Ich brauche! - kann vom Therapeuten angeboten werden: Ich habe den Wunsch, dich in den Arm zu nehmen! - kann vom Therapeuten gegeben werden: Ich nehme deine Hand! - auch wortlos. Körperkontakt kann als ein Geschenk vom Klienten erlebt und angenommen werden. Dieses Geschenk, wahrgenommen als unbedingte Wertschätzung, kann wichtiger sein, als die Selbstverantwortung, die in einem darum Bitten liegt. Das Bitten bedeutet ein Verzicht auf Wichtigeres: Was ich mir nehme, kann mir nicht mehr geschenkt werden! Insofern besteht die Kunst darin, den Körperkontakt zu geben, ohne das er erbeten wurde, und doch gewünscht war. Eine fehlerhafte Empathie könnte Schaden anrichten, nämlich Vertrauen gefährden, Distanz aufbauen, die Beziehung zurückwerfen. Hier besteht ein Konflikt, einerseits die Gabe eines Geschenks, andererseits die Erwartung von Selbstverantwortung, den der Therapeut zu entscheiden hat. Im günstigen Fall geschieht Empathie. Eine Klientin schrieb mir per eMail: Körpergespräche 13.05.2016 22 / 54 glücksgefühl ankommen, da sein, spüren zu dürfen, dass ich da sein darf, einfach so, ohne etwas zu müssen, nur um zu schnaufen, mit ihrer hand auf meinem bauch, den kopf auf ihren bauch (ab)legen zu dürfen, einfach so dasein sein sich festhalten zu dürfen, halt spüren, zu brauchen, brauchen zu dürfen die augen zuzumachen und gehalten zu werden, den halt zu spüren, sich gehalten fühlen zu spüren, dass ich da sein darf, zu spüren, dass ich lebe Körpergespräche 13.05.2016 23 / 54 Zum Körperkontakt Virginia Satir hat die Hierarchie des Kontakts treffend formuliert: Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Beziehung. Der Begriff der Berührung ist zweideutig, Satir berücksichtigt beide Aspekte. Diese Hierarchie betrifft das Kontinuum kognitiv - emotional und damit auch die Tiefe der Beziehung: Berührung - wenn nicht verbal, dann körperlich. Eine andere Stimme: 5. DIE KRAFT DER BERÜHRUNG Die Berührung ist einer der stärksten Liebesbeweise. Sie reißt Barrieren nieder und verbindet Menschen. Berührungen verändert Körper und Gemüt und machen uns für die Liebe empfänglicher. Eine Berührung kann den Körper heilen und das Herz wärmen. Wenn wir unsere Arme ausbreiten, öffnen wir unser Herz. Jackson, Adam: Die zehn Geheimnisse der Liebe, München 1997. Klammern und Lassen entsprechend dem Kippen: Beziehungswunsch - Beziehungsangst Körpergespräche 13.05.2016 24 / 54 Zunächst: aus Enttäuschung Absage an die Bezugspersonen: „Ich komme alleine zurecht - ich brauche niemanden - ich lasse mich nicht noch einmal so verletzen!“ Dieser „Schwur“ macht autark (nicht autonom), aber einsam. Fundamentale Bedürfnisse werden enttäuscht. Durch das verlässliche Beziehungsangebot des Therapeuten kippt dieser Schwur, Bedürfnisse werden wieder spürbar, der Klient projiziert seine Beziehungswünsche auf den Therapeuten, er kann sich „verlieben“. Seine Bindungsgefühle können so stark werden, dass es zum Klammern kommt. Diese kindliche Liebe (Maslow: bedürftige Liebe) muss reifen zu einer erwachsenen Liebe (Maslow: selbstlose Liebe), deren Substanz Rogers mit Agape beschreibt. Verbunden ist diese Liebe, wenn sie über Agape hinausgeht, auf Grund der Unerfüllbarkeit, mit unstillbarer Sehnsucht, die schmerzt. Baltes: Sehnsucht ist die Verarbeitung vergangener unerfüllter Bedürfnisse. Die damit verbundenen Schmerzen vermögen Klienten nur dann zu verkraften, wenn sie sich verbunden fühlen. Die Gradwanderung des Therapeuten ist, Verbundenheit zu bieten, ohne Hoffnung auf endgültige Erfüllung zu machen, nicht im reellen Leben, und nur begrenzt im Hier und Jetzt. Die erwachsene Liebe wird charakterisiert durch Rilke, Groult und Coelho. Diese Texte helfen, Sehnsucht zu durchleben, zu leiden - und dennoch, oder deswegen, Glück zu erfahren (s.u.). Körpergespräche 13.05.2016 25 / 54 Paulo Coelho. Elf Minuten. Zürich: Diogenes „Die Liebe ist nicht im anderen, sie ist in uns selbst; wir erwecken sie. Aber für dieses Erwecken benötigen wir den anderen. Das Universum gibt nur einen Sinn, wenn wir jemanden haben, mit dem wir unsere Gefühle teilen können“ S. 128 „Ob er je wieder … kommen wird, weiß ich nicht, aber zum ersten Mal in meinem Leben ist mir das vollkommen egal. Es reicht, dass ich ihn liebe, in Gedanken bei ihm bin, in dieser schönen Stadt, die er mit seinen Schritten, seinen Worten, seiner Zärtlichkeit lebendiger macht.“ S. 151 „Die Freiheit ihrer Liebe bestand darin, nichts zu erbitten und nichts zu erhoffen.“ S.176 Dabei hatten sie gelernt, sich frei und bedingungslos zu lieben eine andere Beziehung würde nicht gut gehen -, und vielleicht liebten sie sich gerade deshalb, weil sie einander nicht brauchten. S. 248 Ja, ich liebe dich so, wie ich noch keinen Mann geliebt habe, und eben deshalb gehe ich, denn wenn ich bleibe, würde der Traum Wirklichkeit werden, und ich würde dich besitzen wollen - all das, was aus Liebe allmählich Sklaverei macht. Es ist besser, es bleibt ein Traum. S. 267 Körpergespräche 13.05.2016 26 / 54 Benoîte Groult (Salz auf unserer Haut): „Es ist, als ob ich seit der Begegnung mit dir etwas im Leben verloren hätte ... aber etwas, was ich sonst nie gefunden hätte. Nur erahnt. Komisch, nicht wahr?“ „Sagt mir, dass ich es hinnehmen muss, diese Liebe zu verlieren, wenn ich sie bewahren will.“ 6. DIE KRAFT DES LOSLASSENS Wenn du etwas liebst, lass es frei. Wenn es zu dir zurückkommt, gehört es dir, wenn nicht, war es nie dein. Jackson, Adam: Die zehn Geheimnisse der Liebe, München 1997. Joachim Ringelnatz: „Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern Meine Liebe wird mich überdauern Und in fremden Kleidern dir begegnen Und Dich segnen.“ Körpergespräche 13.05.2016 27 / 54 Rilke: Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist: Die Freiheit eines Lieben nicht mehren um alle Freiheit, die man in sich aufbringt. Wir haben, wenn wir lieben ja nur dies: einander lassen; Denn – dass wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen. (Requiem für eine Freundin) Körpergespräche 13.05.2016 28 / 54 Indikation 1. Besonders da, wo das Selbst desorientiert ist, reicht der verbale Kontakt oft nicht aus. Um die therapeutische Beziehung aufzubauen, gehe ich auf die organismische Ebene (die vorsprachliche) d.h. z.B., dass ich die Hand des Klienten halte, um Verbundenheit herzustellen, oder aus der Isolation herauszuhelfen. Z.B. bei Borderline-Patienten, bei denen eine Kluft zwischen ihren Gefühlen und ihren Begriffen besteht, (möglicherweise aus der Tatsache entstanden, dass sie als Kind nie eine Akzeptierung ihrer Gefühle erlebt haben) ist vorsichtiger Körperkontakt ein eindeutiger Weg, Verstehen zu signalisieren. Damit entsteht die Möglichkeit, ein Stück organismischer Selbstwerdung nachzuholen: Körperkontakt als Signal für "Du bist o.k.", wenn fundamentales Annehmen in der Biographie des Klienten fehlt. Konkret ist Körperkontakt indiziert bei folgenden Syndromen fundamentaler Mangel an Selbstachtung Beziehungsunfähigkeit Verbalisierungsunfähigkeit Selbststörungen, wenn eine Regression erforderlich ist Realitätsverlust. 2. Bei großer Angst im therapeutischen Prozess ist Körperkontakt indiziert, um Unterstützung zu geben, die Angstbarriere zu überwinden, d.h. meist, dem Klienten zu helfen, zu seiner Wut oder seinem Schmerz zu finden. In der Umarmung kann ich auch das Atmen gut unterstützen. Mit dem Rhythmus der Atembewegung kann Kontakt aufgenommen werden. Besonders besteht Indikation bei akuter Angst und Schutzbedürftigkeit, z.B. bei akuten und posttraumatischen Belastungsstörungen. 3. Unterstützung kathartischer Gefühle: bei Schmerz, auch bei Wut (Hand am Rücken als Rückenstärkung). Klienten weinen erst, wenn sie in den Arm genommen werden. Wenn Klienten noch Angst vor dem Weinen haben, haben sie auch Angst vor Körperkontakt. Klientin E.A. bringt es auf den Punkt: "Wenn du mich in den Arm genommen hättest, hätte ich weinen müssen!" Körpergespräche 13.05.2016 29 / 54 Kontraindikationen Sehr frühe Störungen, ich denke da an Schizophrenie, zeichnen sich dadurch aus, dass die Trennung zwischen Außen und Innen nicht vollständig vollzogen wurde. D.h. dass hier äußerste Vorsicht geboten ist, Körperkontakt anzubieten, weil die Verschmelzungsbedürfnisse sehr groß sind und die Verschmelzungsgefahr gegeben ist. Da aber genau an dieser Grenze zwischen Innen und Außen die Arbeit des Schizophrenen liegt, kann gerade deswegen hier Körperkontakt eingesetzt werden, weil nämlich die Kontaktfläche ja die Grenze zwischen Innen und Außen ist. Im übrigen kann eben auch, wenn dann die Verschmelzungswünsche und Verschmelzungsängste auftreten, genau an diesen gearbeitet werden. Die gleiche Problematik zeigt sich bei der Abhängigkeit der Klienten vom Therapeuten. Diese Abhängigkeit gilt es wahrzunehmen, zu respektieren um sie dann zu bearbeiten. Es ist klar, dass die Gefahr der Abhängigkeit hier auch ein Symptom ist, das es zu bearbeiten gilt. Bei manchen Störungen ist die Abhängigkeit eine besondere Phase der Therapie, die einen besonderen Stellenwert hat und besonders zu behandeln ist (z.B. Borderline). Körpergespräche 13.05.2016 30 / 54 Während Frühe Störungen und persönliche, emotionale Abhängigkeit der Klienten ambivalente Kontraindikationen sind, ist die Kontraindikation bei einer Sexualisierung des Kontaktes eindeutig. Die Wahrscheinlichkeit, dass Körperkontakt auf sexuelle Bedürfnisse anspricht, ist groß. Hier gilt es, darüber zu reden und sexuelle Probleme nicht zu tabuisieren. Während es wichtig ist, über sexuelle Gefühle auch im Hier und Jetzt zu reden, gibt es keinen Grund, Sexualität auch zu leben. Die Gefahren sexueller Kontakte in der Therapie sind bekannt. Ich brauche hier nicht darauf einzugehen. Eingehen möchte ich aber auf den Umstand, dass offensichtlich auch im therapeutischen Kontext, Sexualität im Widerspruch zu jeder Indikation steht. In einzelnen: Regression und Sexualität schließen sich aus. Ängstliche Personen können keine sexuellen Gefühle empfinden während ihrer Angst, denn Angst und Sexualität schließen sich aus. Personen im Schmerz bedürfen der Tröstung, keiner Sexualität. Beziehungsunfähigkeit ist ebenfalls inkompatibel mit Sexualität, da Sexualität eine Beziehung auf einer Ebene ansiedelt, die mitunter geeignet ist, die Beziehung zu unterlaufen. Im Übrigen stehen die Bedürfnisse des Therapeuten derart im Vordergrund, dass er nicht mehr in der Lage sein dürfte, die Bedürfnisse des Klienten angemessen wahrzunehmen, um ihm zu begegnen. Beispiel der Klientin, die darauf bestand, mich Streicheln zu dürfen, die therapie abbrach und ihren nächsten Therapeuten heiratete. Körpergespräche 13.05.2016 31 / 54 Vermeidung verbalen Kontaktes: Manchen Klienten fällt es leichter, sich in körperliche Geborgenheit zu flüchten, um der Auseinandersetzung zu entgehen. Dies ist nicht das Ziel des Körperkontaktes und es ist acht zu haben auf diese Gefährdung des Klienten, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Zur Therapie gehört nicht nur das Wohlbefinden in der Therapie, sondern auch die aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst (Selbstexploration). Die Selbstexploration ist das höhere Ziel in der Gesprächspsychotherapie. Körperkontakt ist nur das Vehikel, Selbstexploration zu erleichtern. Emotionale Verwicklungen des Therapeuten: Unerfahrenheit, eigene Bedürfnisse (besonders sexuelle) bieten die Gefahr, nicht offen, unbestechlich und frei in die Beziehung mit dem Klienten zu gehen. Gegenübertragungsgefühle an sich müssen einer erfolgreichen Therapie nicht im Wege stehen, aber sie gehören reflektiert. Die Gefühle des Therapeuten als Reaktion auf das Klientenverhalten sind wesentliche Momente einer Therapie, aber nur solange sie nicht verdunkelt werden durch die eigene Problematik des Therapeuten. Aversion: Wenn der Therapeut einen Klienten nicht riechen kann, ist Vorsicht geboten. Das Geruchsorgan empfindet sehr intim und persönlichkeitsnah. Wenn aversive Gefühle auftreten, der Therapeut den Klienten nicht riechen kann, scheint es mir unmöglich zu sein, dass der Therapeut über seinen Schatten springt und sich zwingt, etwas zu geben, was er nicht gerne gibt. Es besteht die Chance, im Gespräch zu klären, was einer körperlichen Nähe im Wege steht, auch wenn dieses Vorgehen keine Garantie bedeutet, alle Behinderungen aus dem Wege zu räumen. Die Respektierung dieses Umstandes, also die Beibehaltung einer gewissen Distanz, ist angezeigt und muss einem Therapieerfolg keineswegs im Wege stehen. Körpergespräche 13.05.2016 32 / 54 Ist die Angst vor Körperkontakt eine Kontraindikation? Zunächst ja, aber sollte der Mensch in Not und Angst nicht überredet, verführt werden? - wie in der Festhalte-Therapie? Erstaunlicherweise ist die Angst vor Körperkontakt in wirklicher Not kaum zu beobachten, und Betroffene berichten, wie gut es war, nicht gefragt zu werden, sondern einfach überrollt worden zu sein, und einfach das erhalten zu haben, was sie tatsächlich gebraucht haben - wenn sie es sich nicht sogar von sich aus geholt haben. Körpergespräche 13.05.2016 33 / 54 Erleichternde Bedingungen 1. Gruppe: Die Gruppe erleichtert den Körperkontakt, weil unter der Kontrolle von Vielen, Missverständnisse vermieden werden können. Die Transparenz der Gruppe hilft, den Körperkontakt als das zu nehmen, was er ist, nämlich Angebot von Beziehung und von Nähe und nicht von bloßer Lustbarkeit. Außerdem bietet die Gruppe ein Modell für den Umgang mit Gefühlen, einschließlich des Körperkontaktes. Die Gruppenteilnehmer sind Modell für die Öffnung, für die Selbstöffnung, für den Umgang mit Gefühlen und für den Umgang mit Bedürfnissen und ihrer Befriedigung. 2. Gruppenleitung durch ein Paar. Es ist erleichternd, wenn beide Geschlechter vertreten sind. Noch besser ist es, wenn dieses Paar ein Ehepaar ist, so dass alle Gefühle im Rahmen gesehen werden können. 3. In der Einzelarbeit ist Körperkontakt dann denkbar, wenn er zuvor in der Gruppe kennen gelernt wurde und wenn er im Einzelkontakt nicht über das hinausgeht, was in der Gruppe möglich ist. 4. Kontakt mit Tieren. Es ist in der Einzelarbeit möglich, den Körperkontakt durch Kontakt mit Tieren zu ersetzen. So haben wir gute Erfahrungen mit Katzen gemacht, die anlehnungsbedürftig sind. Wir benutzen sie, um den Klienten Nähe und Wärme und Beziehung auf diesem Wege anzubieten. Die Möglichkeit einer Reittherapie ist darüber hinaus auch gegeben. Dabei geht es bei der Reittherapie nicht nur um das Reiten, den Umgang mit der Angst, sondern zunächst einmal mit dem Umgang mit einem lebendigen Wesen und mit der Aufnahme einer Beziehung. Es hat sich gezeigt, dass die Aufnahme von Beziehungen mit Tieren für manche Menschen einfacher ist, als die Aufnahme von Beziehungen zu Menschen. Auch das Reden über die Aufnahme diese Beziehung ist leichter mit Tieren als mit Menschen, weil offensichtlich für diese Menschen eine optimale Distanz in der Beziehung möglich ist. Körpergespräche 13.05.2016 34 / 54 Zur Theorie: 1. Alle Defizitbedürfnisse (sensu Maslow) kann sich der erwachsene Mensch selbst befriedigen, außer dem Bedürfnis nach Nähe. Da Selbsterfahrung wie alle Wachstumsbedürfnisse nach der Theorie der hierarchischen Struktur der Bedürfnisse nur erfolgen kann, wenn die Defizitbedürfnisse befriedigt sind, muss für die entsprechende Basis gesorgt sein: das Bedürfnis nach Nähe ist auch in seinen körperlichen Aspekten zu berücksichtigen. 2. Die Voraussetzung zur emotionalen und dann auch kognitiven Selbstwerdung ist die organismische Selbstwerdung. Sie geschieht auf drei Ebenen: a) auf der phylogenetischen Ebene: Nur in Hochkulturen, die eine Schrift entwickelt haben, haben Individuen die Möglichkeit der Entwicklung eines Bewußtseins (Julien Jaynes belegt: In der Ilias ist die "psyche" noch soviel wie "Luft", in der Odyssee wird der "Atem" zur Metapher "Psyche", zur Seele.) b) auf der ontogenetischen Ebene: Das organismische Sich-Verstanden-Fühlen ist die nonverbale Verbundenheit mit Bezugspersonen. Es ist das Erleben, dass meine Bedürfnisse befriedigt werden (z.B.: Ich habe Hunger, ich schreie, ich bekomme zu essen, d.h. ich werde wahrgenommen, ich bin in Ordnung, die Welt ist in Ordnung, ich bin ein willkommener Teil von ihr. Oder: Ich brauche Nähe, ich schreie, ich bekomme Kontakt, also: die Welt ist in Ordnung und ich bin o.k.!). Zur Bewußtseinsbildung, zur Entwicklung des Selbst bedarf es dann der verbalen Kommunikation, besonders auf der emotionalen Ebene (Emotionen sind Affekte in Form von Kognitionen, z.B.: "Ich habe Angst". Die Symbolisierung der Angst macht aus dem Affekt eine Emotion.). Zum Aufbau des Selbstbewußtseins bedarf es der Kommunikation mit einem Anderen, der Bewußtsein hat. Bewußtsein entwickelt sich nur im Kontakt mit Menschen und nur über Symbolisierungen (Sprache, Begriffe, Metaphern, Bilder, Mythen). c) auf der aktualgenetischen Ebene: Ist der Entwicklungsprozeß des Selbstbewußtseins mangelhaft, kann er später (mittels Selbstexploration mit einem Du) vervollständigt werden. Die Symbolisierungen müssen mit den organismischen Erfahrungen korrespondieren. Fehlen einem Menschen diese Erfahrungen, so muss der ganzheitliche Organismus, also auch die Körperlichkeit des Klienten, in die Therapie einbezogen werden. Körpergespräche 13.05.2016 35 / 54 Ernst Fürntratt: Bedingen von Sicherheit durch Körperkontakt Üblicherweise werden Klienten in Psychotherapie durch sozialen Kontakt, der verbal gestaltet wird, versichert. Wenn aber Menschen verbal nicht zu erreichen, verbal also auch nicht zu versichern sind, wie so häufig beim Vorliegen eines Notfalls, mag Körperkontakt als "unbedingter Sicherheitsauslöser" helfen. Der Experimental-Psychologe Ernst Fürntratt hat 1974 herausgearbeitet, dass das Gefühl von Sicherheit nicht nur die Abwesenheit von Angst, sondern eine eigenständige, positiv zu beschreibende emotionale Reaktion ist. Sie ist zwar inkompatibel mit Angst, aber doch eine von ihr unabhängige Reaktion. Wie Angst kann sie ausgelöst, gelernt, konditioniert und gelöscht werden. "Wie Angst wird Sicherheit gewöhnlich hervorgerufen und gegebenenfalls aufrechterhalten durch äußere und eventuell auch innere Reize sowie durch Vorstellungen, jedenfalls durch kognitive Prozesse." (p. 30, Hervorhebung durch F.) Im Gegensatz zur Angst ist Sicherheit jedoch kein Trieb, so wie Fürntratt einen Trieb definiert (Trieb ist, was treibt, also motiviert): Sicherheit "aktiviert nicht, regt nicht auf, sondern beruhigt, macht nicht wach, ... treibt nicht, sondern 'bremst' eher und wirkt niemals als Motivation ('treibende Kraft') zu irgendwelchen Aktivitäten." Sie ist "ein 'Antitrieb"', ein dem Angst-Trieb entgegen-(anti-)wirkender Mechanismus." (p.32, Hervorhebung durch F.). Wie Angst hat auch Sicherheit unbedingte Auslöser. Wenigstens einer ist sicher auszumachen und auch experimentell zu belegen: Körperkontakt. Die Kraft dieses Reizes ist so stark, dass weiche, fellige Attrappen auch noch Sicherheit spenden und Angst reduzieren können (Harlow & Zimmermann 1959 nach Grossmann & Grossmann 1994). Fazit: Der unbedingte Sicherheitsauslöser Körperkontakt bietet sich hier und auch in der Notfallpsychologie an. Körpergespräche 13.05.2016 36 / 54 Martha Welch: Halte-Therapie Für dieses regelmäßig zu beobachtende Phänomen, dass sich Körperkontakt und Misstrauen ausschließen, hat Welch für die Kinderpsychotherapie eine Lösung vorgeschlagen. Martha Welch, eine amerikanische Psychiaterin, hat die Halte-Therapie ("Holding-Time" 1988) zuerst an autistischen Kindern entwickelt und dann an anderen gestörten und gesunden Kindern erprobt. In Deutschland wurde ihre Methode als Festhaltetherapie von Jirina Prekop eingeführt ("Hättest Du mich festgehalten ..." 1989). Agens dieser Kindertherapieform ist der enge körperliche Kontakt, täglich und besonders in Krisen. Welch beobachtete dabei drei Phasen, die durchlaufen werden müssen: Die Auseinandersetzung (Konfrontation) Die Zurückweisung (Rejektion) Die völlige Auflösung der Spannung (Resolution). Wichtig sei, dass die Phase der Zurückweisung nicht nur überstanden, sondern auch gelebt wird. Hier ist der Ort für alle, auch schmerzlichen und aggressiven Gefühle, die das Kind (und notfalls auch die Mutter) ausdrücken muss. Eine Beendigung des Haltens vor Durchlaufen der Phase der Lösung lässt Mutter und Kind unbefriedigt. Ein vollständiges Durchlaufen aller Phasen führt zur Vermittlung der "... Botschaft, dass Sie es (die Mutter das Kind) mit allen seinen Gefühlen vorbehaltlos annehmen, so negativ oder zerstörerisch sie auch sein mögen." Und: "Indem die Mutter alle Gefühle des Kindes vorbehaltlos zulässt, erlaubt sie ihm, sie ohne Schuld- und Schamgefühle zu erleben; das Kind muss sich nicht länger selbst abwerten. Es lernt, dass es sich vor Gefühlen nicht zu fürchten braucht, da es sie innerhalb dieses Rahmens verarbeiten kann: Furcht, Wut, Schuld- und Schamgefühle, Verletzungen, Neid und Eifersucht sowie alle positiven Gefühle." (p. 29). "Wenn Mutter und Kind beide zu den Tiefen ihrer Gefühle vorgedrungen sind, findet eine seelische Befreiung (Katharsis) statt, und die völlige Auflösung der Spannung beginnt. Die Auseinandersetzungen, die Kämpfe, das Schreien und das Vermeidungsverhalten der Zurückweisung weichen einer intensiven körperlichen und verbalen Nähe." (p. 37) Was hier für Kinder entwickelt wurde, kann auch für Erwachsene in therapeutischer Regression sinnvoll sein. Körpergespräche 13.05.2016 37 / 54 Z-Prozess-Beziehungstherapie Eine andere Art der Haltetherapie, die für Erwachsene konzipiert ist und sich vornehmlich auf aggressive Störungen spezialisiert, wurde schon früher von Robert Zaslow entwickelt: die Z-Prozess-Beziehungstherapie. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Techniken eingehen (deren Beschreibung (1983) nicht überzeugt, obgleich sie von seriösen Psychologen, so von seinem Herausgeber Corsini 1983, ernst genommen werden), sondern lediglich auf den Umstand aufmerksam machen, dass weitere Praktiker den Wert von Körperkontakt nutzen und sich auf eine Theorie der Beziehung stützen: "Der Z-Prozeß-Beziehungstheorie liegt die Prämisse zugrunde, dass die Psychopathologie im Prinzip eine Beziehungsstörung ist." (p. 1455, Hervorhebung durch Z.) Fazit: Körperkontakt mit einer Bezugsperson ist eine wirksame Intervention, sogar gegen Widerstand und Vorbehalte. Körpergespräche 13.05.2016 38 / 54 Soziobiologie, Ethologie Körperkontakt ist ein physisches, physiologisches und biologisches Phänomen, das deswegen auch soziobiologisch betrachtet werden kann. Die wesentlichen Schlußfolgerungen der Ethologie hat Eibl-Eibesfeld (1984) formuliert: "Streicheln, Tätscheln, Kraulen, Auflegen der flachen Hand, Herzen und Umarmen gehören zu den universellen tonischen Signalen. Sie entstammen dem Repertoire der Mutter-Kind-Signale. Sie wirken beruhigend und stimmen freundlich. In dieser Funktion werden sie auch in das Repertoire der Erwachsenen übernommen. Erwachsene können Trost spenden, indem sie den verzweifelten Mitmenschen in die Arme schließen, der sich seinerseits wie ein Kind an dessen Brust birgt und sich wohl auch am Partner festhält." (p.542). Fazit: Bindungsgefühle und Bindungsverhalten (wie Körperkontakt suchen und geben) basieren auf genetischen Programmen, die auch im Erwachsenen wirksam sind und seinen Bedürfnissen nach sozialer Geborgenheit entsprechen. Körpergespräche 13.05.2016 39 / 54 Casriel: New Identity Process Dan Casriel, ein New Yorker Psychiater und ehemaliger Psychoanalytiker, war zugleich Pragmatiker und hatte eine offenes Ohr für seine Klienten. Die haben ihn gelehrt, so erzählte er auf Workshops, wie wichtig Schreien und Körperkontakt für den Prozeß der Psychotherapie für sie seien. Er schrieb 1972 (A scream away from happiness): "Das Umarmen kam spontan in meinen Gruppen auf. Viele scheuten jedoch vor solchen Umarmungen zurück. Mich störten sie anfänglich ganz bestimmt; die offene Äußerung von liebevollen Gefühlen widersprach völlig meiner Ausbildung - und ebenso meinem Gefühl für persönliche emotionale Sicherheit. Die Furcht vor Berührungen ist in unserer Gesellschaft groß, doch wenn man erlebt, wenn sich Menschen in Gruppen umarmen, sieht man deutlich, dass dieser Kontakt zu unserer Natur gehört. Es ist ein fundamentales Bedürfnis aller Primaten, ein Bedürfnis, das uns die Zivilisation immer mehr verweigert hat. Das Kind braucht es dringend, umarmt und gehätschelt zu werden. Der Erwachsene ebenso." (p. 285, Hervorhebung durch C.) Casriel pflegte dann diese Kultur des Bonding ("Bindung bedeutet physische Nähe, verbunden mit emotionaler Offenheit." 1983, p.807, Hervorhebung durch C.), den unmittelbaren Körperkontakt in der Begegnung, um direkt, konkret und menschlich Gefühle und Beziehungen auszudrücken und mitzuteilen. Er sieht Bonding (also körperliche und emotionale Nähe) als ein menschliches Grundbedürfnis an, das einzige, das sich ein Mensch im Erwachsenenalter nicht selbst befriedigen kann und bei dessen Befriedigung er auf andere angewiesen ist. In Momenten großer Angst und großen Schmerzes bietet er seinen Klienten Bonding an Fazit: Körperkontakt ist in der Lage, Sicherheit zu vertiefen. Körpergespräche 13.05.2016 40 / 54 Rogers: Das Klientenzentrierte Konzept Vor der Betrachtung einzelner Aspekte möchte ich Rogers, der sonst kaum über Körperkontakt geschrieben hat, selbst zitieren. Er schreibt 1970: "Mit der Zeit habe ich gelernt, mit physischem Kontakt zu reagieren, wenn es wirklich, spontan und angemessen scheint. ... Wenn eine Person leidet, und ich spüre in mir den Wunsch, zu ihr zu gehen und meinen Arm um sie zu legen, dann tue ich das. Aber ich versuche nicht, diese Art des Verhaltens bewusst zu fördern. Ich bewundere die jungen Leute, die in dieser Hinsicht lockerer und freier sind." (p.65) Zur Selbstaktualisierung Viele Entwicklungstheorien kennen die grundsätzliche Dualität von Sicherheitsbedürfnis und dem Bedürfnis nach Autonomie oder Exploration. Im Klientenzentrierten Konzept verbirgt sich in der Aktualisierungstendenz diese Dualität, wie Höger (1993) herausgearbeitet hat. Er unterscheidet ihren erhaltenden von dem entfaltenden Aspekt, die er in eine Beziehung setzt: "Um wirksam werden zu können, setzt der entfaltende Aspekt der Aktualisierungstendenz die ausreichende Gewährleistung des erhaltenden Aspektes voraus." (p. 34). Umgekehrt: So lange der erhaltende Aspekt nicht befriedigt wird, ist eine Selbstentfaltung blockiert, wie im Notfall. Hier ist zuerst der erhaltende Aspekt zu berücksichtigen, das Bedürfnis nach Sicherheit, auch dann, wenn es mit Regression verbunden ist. Körpergespräche 13.05.2016 41 / 54 Entwicklungspsychologische Aspekte Körperkontakt ist ein Bedürfnis, das entwicklungspsychologisch begründet ist. Entsprechend der fortschreitenden Differenzierung benötigt der wachsende Organismus differentielle Angebote aus der Umwelt, die in drei Phasen unterschiedlich präsent sein müssen: 1. Phase: Angenommen werden 2. Phase: Verstanden werden 3. Phase: Austausch mit einem selbst-kongruenten Du. 1. Phase: Angenommen werden In dieser Zeit geht es um das existentielle Willkommensein auf der Welt und die Befriedigung elementarer Bedürfnisse. Schon der Begriff "Emotionale Wärme" macht deutlich, dass dies eine Metapher aus frühester Erfahrung ist: körperliche Wärme. Es ist nicht vorstellbar, dass emotionale Nähe erlebbar ist ohne die Erfahrung von körperlicher Nähe und Wärme. Ist Emotionale Wärme vom Klienten nicht erfahrbar, besteht über die Wahrnehmung unmittelbarer körperlicher Wärme und Nähe die Möglichkeit einer Annäherung. Eine fürsorgliche Einstellung des Therapeuten kann so unmittelbar erfahrbar gemacht und zur Beruhigung genutzt werden. 2. Phase: Verstanden werden Empathie ist unabdingbare Voraussetzung für eine Entwicklung primärer Kongruenz, der Übereinstimmung von Selbst und Erfahrung. Sie wird kommuniziert präverbal durch die richtig interpretierten Bedürfnisse und deren Befriedigung, und später durch verbale Anerkennung der Erfahrungen durch Bezugspersonen. Dies geschieht durch angemessene Verbalisierung der Erfahrungen, besonders der Gefühle zu sich selbst. Menschen in Not regredieren leicht, sie sind verbal nicht in ihre Tiefen zu erreichen. Sie sind aber durch die Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse zu erreichen, durch das Geben von Sicherheit durch Körperkontakt. Die so gezeigte Empathie entspannt den Organismus. Körpergespräche 13.05.2016 42 / 54 3. Phase: Austausch mit einem selbst-kongruenten Du. Die Aufnahme einer realen Beziehung mit einem realen Du ist die dritte Voraussetzung zur Erhaltung des Organismus. Diese Beziehung benötigt auf der Seite der Bezugsperson vorab Selbstkongruenz. Diese Selbstkongruenz umfaßt auch den unmittelbaren Ausdruck ihrer Beziehungs-Gefühle. So muss sie auch erwägen, wie weit sie ihre Distanz-Nähe-Gefühle auch konkret leben, ihre Gefühle der Nähe wahrnehmbar machen, wahr machen, realisieren, konkretisieren kann. Der Helfer ist nur glaubwürdig, wenn er menschlich, also ganzheitlich, verbal und körperlich hilft. Das klientenzentrierte Konzept fußt auf der Begegnung von Person zu Person, und Körperkontakt ist Konkretisierung von Kontakt. Körpergespräche 13.05.2016 43 / 54 Das bisher Gesagte gilt nicht nur für versperrte Symbolisierungen. Das erste Display, hier wiederholt, erweitert die Sichtweise: Symbolisierungsstörungen und die Folgen Symbolisierung ist: Folgen für die Person: 1. offen keine Abwehr: „voll entfaltete Person“ 2. geringfügig gestört, hinreichend genau: 3. graduell (quantitativ) behindert kaum Abwehr nötig: gesunde Verarbeitung Selbstexploration stabilisiert das Selbstkonzept Kongruenz zwischen Selbst und Erfahrung Selbsterleben und Selbstexploration sind einfühlbar a verzerrt: selektive Abwehr: neurotische Störungen Selbstexploration ist selektiv gestört Selbstkonzept ist durch Introjekte instabil b gehemmt: generelle Abwehr: affektive Störungen Selbstexploration ist generell gestört Selbstkonzept wird abgewertet 4. prinzipiell (qualitativ) verhindert Selbstaktualisierung unterbrochen (keine Selbstaktual.) Selbstexploration teilweise schwer einfühlbar Selbsterleben zeitweise verstört c überfordert: akute Belastungsreaktion Selbstexploration ist behindert Selbstkonzept wird destabilisiert d versperrt: Dissoziation dissoziative Störungen e temporär zerstört: (Abspalten) Posttraumatische Belastungsstörungen und Persönlichkeitsveränderungen Selbstexploration partiell zerstört Selbstkonzept inhomogen f basal gesperrt: (Spaltung) Persönlichkeitsstörungen Selbstexploration selektiv unmöglich Selbstkonzept nur partiell entwickelt Körpergespräche 13.05.2016 44 / 54 Posttraumatische Belastungsreaktion und Körperkontakt in der Notfallpsychologie Hier wird sichtbar, dass in allen Fällen Körperkontakt hilfreich werden kann: Körperkontakt als psychologische Intervention zur Vermeidung einer Entwicklung von der akuten zur chronischen, posttraumatischen Belastungsreaktion. (Der folgende Teil ist eine Kürzung und Erweiterung des Vortrags „Indikation für Körperkontakt in der Klientenzentrierten Psychotherapie“ auf dem Kongress der GwG in Aachen: Solidarität und Konkurrenz) Am 10. November 1994 berichtet die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG unter der Überschrift "Psychologie im Erste-Hilfe-Kasten" von den Bemühungen der Bundesanstalt für Straßenwesen, Unfallverletzte nicht nur körperlich zu versorgen. Aus Befragungen von Unfallopfern und professionellen Helfern ergab sich die Notwendigkeit auch emotionaler Hilfen. Vier Gebote wurden in Zusammenarbeit mit dem BdP erarbeitet: Körpergespräche 13.05.2016 45 / 54 "Psychologie im Erste-Hilfe-Kasten" Sage, dass Du da bist Schirme den Verletzten ab Suche Körperkontakt Sprich und höre zu! Bundesanstalt für Straßenwesen - BDP Körpergespräche 13.05.2016 46 / 54 Wenn die Gebote aus gedächtnispsychologischen Gründen nicht alle mit "S" hätten anfangen müssen, wäre sicher formuliert worden: Biete Körperkontakt statt Suche Körperkontakt. Tatsächlich wissen professionelle Helfer von der Wirksamkeit körperlichen Kontaktes und stellen im Notfall bei Bergungsarbeiten eine Person allein für diese menschliche Hilfe ab. Die triviale Erkenntnis, wie hilfreich Körperkontakt ist, basiert auf biologischen Mechanismen: Wie beim Schreien wird auch durch Körperkontakt die Ausschüttung von Endorphinen bewirkt, die als körpereigene Morphine den Organismus beruhigen. Diese Beruhigung kommt auch beim Stillen zum Tragen. Das still werden des Babys beruht nicht nur auf der Sättigung, sondern geschieht auch durch die Beruhigung, die durch den körperlichen Kontakt wirkt. Dieser Körperkontakt ist auch das tragende Element bei der „KänguruhPflege“. Babys entwickeln sich - nachgewiesen für Frühgeburten besser, wenn sie zeitweise auf die nackte Brust von Vater oder Mutter gelegt werden. In einem Experiment habe ich (1996) nachweisen können, dass diese Beruhigung auch mit Erwachsenen, hier Studenten, gelingt. Sie wurden für lange Minuten von einem Mutterersatz (anderen Studenten) in Armen gehalten und konnten ihre Probleme mit Hilfe dieser Haltung signifikant besser bewältigen als Studenten der Kontrollgruppe. Bemerkenswert ist, dass Körperkontakt ausreichend ist, es muss kein Hautkontakt sein. Bei meinen weiteren Ausführungen werde ich mich grundsätzlich auf Körperkontakt beschränken, Hautkontakt erscheint nicht nötig. Vielmehr scheint wesentlich zu sein, dass Körperkontakt durchaus kräftig sein kann, so dass der Organismus sich auch in den Tiefen spürt. Babys wollen genudelt sein, herzhaft gedrückt, nicht nur gestreichelt. Körpergespräche 13.05.2016 47 / 54 Hemmung der Symbolisierungsfähigkeit Ein viertes Indikationsfeld sind Störungen bei lang anhaltenden, schwelenden Überforderungen: Werden Erfahrungen, die dem Selbstkonzept widersprechen, in ihrer Gesamtheit und Dauer als zu bedrohlich wahrgenommen, kommt es zu einer (generellen) Hemmung der Symbolisierungsfähigkeit, affektive Störungen werden möglich. Körpergespräche 13.05.2016 48 / 54 2. Themenfeld: Passung von Problem und Verarbeitungsmodus Nicht nur Borderline-Gestörte verhindern mit ihrer sprichwörtlichen Wut ihren Schmerz. Wut und Schmerz, neben Lachen Expression mit kathartischer Wirkung, haben unterschiedliche Funktionen in der Verarbeitung von Problemen, die eine entgegen gesetzte Tendenz haben können: Ein Problem kann emotional verarbeitet werden. oder Ein Problem kann handelnd gelöst werden. Zum ersten: es bedarf des Abschieds, Trauerarbeit Zum zweiten: des bedarf der Wut, Energie zum Handeln Beide Formen der Probleme aufgrund von Verletzungen des Selbstgefühls, treten auf, aber nicht unmittelbar gleichzeitig. Der Versuch einer gleichzeitigen Verarbeitung muss scheitern, führt zur Verzweiflung (zwiefach, zweifelnd). Typische Äußerungen: Ich bin sauer (traurig oder Wütend?) - verzweifelt (weder noch, eine Lösung ist blockiert). Der Therapeut kann helfen, den jeweils wichtigeren Impetus zu erspüren und seine Empathie darauf einzurichten. In der Therapie ist gewöhnlich die Trauerverarbeitung im Vordergrund, die aber behindert wird durch Wut und ein Handeln wollen, durch den Versuch, so dem Schmerz auszuweichen. Borderline-Gestörte versuchen zu handeln und werden aggressiv, weil Handeln nichts nutzt. Sie gilt es, an ihre Schmerzen zu führen. Da ihre Schmerzen uralt sind, aus einer vorsprachlichen Zeit stammt, ist Regression und Körperkontakt indiziert. Körpergespräche 13.05.2016 49 / 54 Anpassungsmodus: Akkomodation Assimilation Grund der Inkongruenz: (z.B. „Ich bin nicht liebenswert“) unpassendes Selbstkonzept („Ich wurde nicht anerkannt“) ungünstige Erfahrung („Ich suche Menschen, die mich anerkennen“) Charakteristika von Problemen prinzipiell existent, unabwendbar prinzipiell lösbar, wandelbar typisches Problem Partnerverlust Vereinsamung Etikett: Schicksal, fatum, (widrige) Umstände, göttliche Verfügung circumstantiae Beschreibung der Situation: Es gilt, die Not als so geschehen anzunehmen, wobei sich die Person verändern wird. Es gilt, die Not als Herausforderung anzunehmen, wobei die Person die Welt verändern wird. Entsprechende Aufgabe der Person: Umstrukturierung des Selbstkonzepts Herausforderung annehmen, handeln zielführende Emotionen: Schmerzausdruck, Trauerarbeit Wut, Empörung evolutionäre Ausstattung: Denken, Sprache, Konstruktion, Expression Kämpfen, Fliehen, Täuschen (Erstarren) Vehikel der Wahl: Selbstöffnung, Selbstausdruck (Handeln ist sekundär) zielgerichtetes Handeln (Handeln ist Selbstausdruck) Selbstexploration ist die Kompetenz, die Anpassungs-Anforderungen an Assimilation und Akkomodation zu entwirren. Körpergespräche 13.05.2016 50 / 54 Unabdingbar ist die Selbstexploration zur Akkomodation nur bei unabwendbaren Notfällen, nicht notwendig bei alltäglichen Assimilationsproblemen: das Handeln erübrigt eine Akkomodation. In jedem Falle ist Selbstexploration dann notwendig, um das eine vom anderen zu unterscheiden. Denn wenn Assimilationsanforderungen mit Akkomodationsbemühungen beantwortet werden, oder Akkomodationsanforderungen mit Assimilationsbemühungen sind Komplikationen (Selbstinkongruenzen) zu erwarten: Körpergespräche 13.05.2016 51 / 54 Zuordnungsfehler von Anpassungsmodi von Problemen und Lösungsversuchen Die Selbstexploration ist besonders dann gefordert, wenn das Problem durch eine falsche Zuordnung vom Typ des Problems und dem Umgang der Klienten gekennzeichnet ist: Typen der Anpassung an Probleme Umgang der Klienten mit diesen Problemen akkomodativ durch Akzeptanz des Problems und Anpassung an sich selbst assimilativ durch den Versuch der Anpassung der Umwelt an persönliche Bedürfnisse Körpergespräche AkkomodationsProbleme mit Reflexionsbedarf AssimilationsProbleme mit Handlungsbedarf Erfolgschancen durch Umstrukturierung des Selbstkonzepts Scheitern durch Feigheit, Selbstmissachtung wahrscheinlich A D B C Scheitern durch Überforderung: Stress, Depression wahrscheinlich 13.05.2016 Erfolgschancen durch Handeln: DKämpfen, Fliehen, Täuschen (Erstarren) 52 / 54 In allen Fällen bedarf es der Selbstexploration, wenn auch in unterschiedlicher Funktion. Sie ist vergleichsweise unproblematisch bei Feldern A und C (Erfolgsdiagonale versus B und D, Diagonale des Scheiterns), da hier eine geringere Selbst-Inkongruenz zu erwarten ist, und das auch bei nur geringer Selbstexplorations-Kompetenz. Es geht in Feld A um Annahme des Schmerzes, Trauerarbeit mit emotionaler Expressivität (Weinen, Schreien) und Umstrukturierung des Selbstkonzepts, und in Feld C um die Beseitigung der Not durch Handeln. Wird aber assimilativ versucht, das unabänderliche Problem handelnd zu lösen (Feld B), wird die Trauerarbeit verhindert, ohne dass das Problem gelöst werden könnte, da Kampf oder Flucht inadäquat sind. Erste Aufgabe für eine angemessene Selbstexploration wird sein, eine tragfähige Beziehung herzustellen, in der der Klient in einem Klima der Sicherheit seinen Standpunkt überprüfen kann. Die Trauerarbeit wird erst dann geleistet werden können, wenn der Klient entsprechend Feld A seinen emotionalen Standpunkt korrigieren konnte. Durch Handeln lösbare Probleme bedürfen der Wut, der Empörung, denn die liefern die Energie, die für das Handeln gegen externe Kräfte notwendig ist. Dennoch muss das Handeln angemessen sein, denn es bedarf zwar einerseits des Mutes zur Empörung, um später vielleicht zur Wut gelangen zu können, aber andererseits läuft der Klient Gefahr, die lange abgewehrte Wut nicht unter Kontrolle halten zu können. Und mitunter ist es gerade die Angst vor der eigenen Wut, die die Ansätze von Empörung und Tätigwerden verhindert, schon im Keim erstickt. Problematisch ist es entsprechend Feld D ebenfalls, wenn wandelbare Probleme intern gelöst werden sollen. Hier ist Entängstigung nötig, um an die verschüttete Wut zu gelangen, um Mut zu fassen, gegen die eigene Angst und das mangelhafte Selbstvertrauen, aktiv zu werden. Psychotherapie ist die Ermöglichung verarbeitender Gefühle wie der Ausdruck von Schmerz und Wut (Empörung), rsp die Bewältigung von Angst (Feigheit) und Depression (Stress, Erstarrung, Stagnation), sowie von Ärger (selbstschädigender Ausdruck von Empörung) und Selbstmitleid (selbstschädigender Ausdruck von Trauer und Schmerz). Körpergespräche 13.05.2016 53 / 54 Dabei ist die erste Aufgabe der Selbstexploration die Identifizierung der Problemstruktur: was ist zu Grabe zu tragen und zu betrauern, und was ist handelnd zu bewirken. Angstminderung durch Körperkontakt Seit Freud wissen wir, dass alle emotionalen Störungen mit Angst verbunden sind - selbst dort, wo die Klienten ihre Angst nicht mehr spüren können, wenn auch Stress und Abwehr spürbar bleiben. Andererseits wissen wir, dass Körperkontakt ein unbedingter Sicherheitsauslöser ist - wenn die Beziehung stimmt. Der Weg des Klienten ist es, sich zu öffnen, um sich zu explorieren, mit dem Ziel, entweder über Wut Energien zu sammeln um tätig zu werden, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, oder über den Ausdruck von Schmerz solche Erfahrungen zu betrauern, die hinzunehmen sind. Solche Erfahrungen mögen sein, von den Eltern nicht das bekommen zu haben, was gebraucht wurde (im Falle Früher Störungen), oder Verluste, die zu betrauern der Klient sich nicht traut, aus Angst, dass die Trauer zu tief ginge, ihr Ausdruck unendlich dauern könnte, dass der Partner ihn deshalb ablehnen würde, oder dass es seinen eigenen Werten nicht genügte. Diese Angst kann durch den Psychotherapeuten verstanden und aufgefangen werden. Körperkontakt ist dann indiziert, wenn dem Klienten Tränen kommen, er sie aber nicht fließen lassen kann, weil er bisher erfahren hat, dass er mit seinem Schmerz alleine ist. Die körperliche Annahme der Tränen kann helfen zu erfahren, dass Tränen befreien können. Eine Klientin sprang über ihre Angst und staunte unter Tränen: Tränen tun ja gar nicht weh! Schließlich: Primat der Verbalisierung! Insofern passt der Terminus: Gesprächspsychotherapie! Körpergespräche 13.05.2016 54 / 54