MEIN KIND – DEIN KIND – UNSER KIND Erfahrungen mit dem gemeinsamen Sorgerecht aus Sicht eines familienpsychologischen Sachverständigen Dipl.-Psych. Klaus Ritter Vortrag für das „Forum Erziehungsberatung – 1999“ Fulda, 27.05.1999 Inhalt 1. Einleitung .............................................................................................................. 2 2. Die derzeitige Rechtslage zum Sorgerecht........................................................... 2 3. Das Beziehungsdreieck Vater – Mutter – Kind ..................................................... 4 4. Beispiel einer Scheidungsfamilie .......................................................................... 7 5. Voraussetzungen für das gemeinsame Sorgerecht ............................................ 10 1. Einleitung Thema meines Vortrages ist die Ausgestaltung der elterlichen Sorge nach Trennung oder Scheidung der Elternteile. Dabei werde ich mich auf die Frage der Potentiale und Risiken des gemeinsamen Sorgerechts konzentrieren. Ich gehe zunächst auf die derzeitige Rechtslage ein, so wie sie sich nach der Kindschaftsrechtsreform darstellt. Danach möchte ich Ihnen die Bedeutung des Beziehungsdreiecks Vater- MutterKind aus entwicklungspsychologischer und psychoanalytischer Sicht kurz darstellen. Anschließend werde ich Ihnen anhand eines Fallbeispiels aus meiner Tätigkeit als familienpsychologischer Sachverständiger schildern, welche Kriterien für die Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge erfüllt sein sollten. Am Schluss meines Vortrages möchte ich Ihnen dann die wichtigsten psychologischen Voraussetzungen der gemeinsamen elterlichen Sorge benennen. 2. Die derzeitige Rechtslage zum Sorgerecht Die rechtlichen Rahmenbedingungen bis zum 30.06.1998 sahen vor, dass im Fall der Scheidung der Elternteile das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder vom Familiengericht aufgeteilt wird. In § 1671 BGB hieß es dazu: „Die elterliche Sorge ist einem Elternteil allein zu übertragen.“ Mit beeinflusst durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 03.11.1982 ist das neue Kindschaftsreformgesetz zum 01.07.1998 in Kraft getreten. In seiner Entstehungsgeschichte ist das Motiv eingeflossen, eine Regelung bei Trennung und Scheidung der Eltern zu finden, die dem Kindeswohl besser entspricht als die bisherige Aufteilung der elterlichen Sorge. Bezüglich des Sorgerechts bestimmt das Gesetz, dass es nur noch dann zu einer Entscheidung des Familiengerichts kommt, falls ein Elternteil die elterliche Sorge oder Teile davon gem. § 1671 BGB beantragt. Das Familiengericht wird folglich auf Antrag tätig und hat dem Antrag stattzugeben, soweit der andere Elternteil zustimmt und nicht ein Kind über 14 Jahre der Übertragung widerspricht. Außerdem ist dem Antrag zu entsprechen, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Die Formulierung Kindeswohl ist dabei generelle Leitlinie des Gesetzes. Faktisch bedeutet dies, dass die Elternteile bei Trennung oder Scheidung es in der Hand haben, ob sie selbst zu einer konstruktiven Lösung kommen können und damit die juristische Entscheidung bezüglich der elterlichen Sorge überflüssig wird. Aber auch wenn das Familiengericht nicht tätig wird, besteht eine Anhörungs- und Beratungspflicht seitens des Gerichts. Der Antrag eines Elternteils kann sich darauf beziehen, ihm die gesamte elterliche Sorge zu übertragen oder Teilaspekte des Sorgerechts, beispielsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht auf Entscheidung der Heilmaßnahmen oder Festlegungen zur Ausbildung des Kindes. 2 Falls es zu einem einvernehmlichen Vorschlag beider Elternteile kommt, das Sorgerecht auf einen Elternteil zu übertragen, so ist das Familiengericht grundsätzlich gehalten, diesem Elternwillen zuzustimmen. Dem Gericht steht jedoch zusätzlich die Möglichkeit zu, bei Zweifeln an der Erziehungsfähigkeit der Elternteile eine Überprüfung entsprechend § 1666 BGB einzuleiten. In diesem Paragrafen ist festgelegt, dass bei einer Gefährdung des Kindes das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen treffen kann. Damit sind sowohl Schritte gegen die Inhaber des Sorgerechts gemeint als auch Festlegungen gegen beteiligte Dritte. Konkret heißt dies, dass das Gericht in einem solchen Fall die elterliche Sorge oder Teile davon den Eltern entziehen kann. Auch hinsichtlich des Umgangsrechts hat das Gesetz eine Modifizierung gebracht, indem festgelegt worden ist, dass das Kind ein Recht auf Umgang mit jedem Elternteil hat (siehe § 1684 BGB). Zusätzlich wird bestimmt, dass jeder Elternteil nicht nur zum Umgang mit dem Kind berechtigt ist, sondern auch verpflichtet. Dabei wird, und auch dies ist eine Neuerung, nicht zwischen ehelichen Kindern und Kindern, deren Eltern nicht miteinander verheiratet sind, unterschieden. Den Eltern wird aufgegeben, alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder erschwert. § 1685 BGB regelt, dass auch weitere Bezugspersonen des Kindes umgangsberechtigt sind, beispielsweise Großeltern, Geschwister, Stiefelternteile oder Personen, die zeitweise eine Pflege des Kindes übernommen haben, beispielsweise Pflegeeltern. Einziger Maßstab für die Ausgestaltung des Umgangsrechts ist das Wohl des Kindes, insbesondere seine Bindungen zu den genannten Personen. Die o. g. Vorschriften betreffend der Ausgestaltung des Umgangsrechts gelten für die weiteren Bezugspersonen analog. Die Kindschaftsrechtsreform hat damit seit Mitte 1988 rechtliche Vorgaben geschaffen, um zum einen die stärkere Orientierung am Kindeswohl zu ermöglichen, und zum anderen Eltern und weitere Bezugspersonen des Kindes zu motivieren, konstruktive Lösungen bei der Ausgestaltung von Sorge- und Umgangsrecht zu suchen, damit eine juristische Auseinandersetzung möglichst vermieden werden kann. Dabei verweist das Gesetz auf die bestehenden pädagogischen und psychologischen Beratungsangebote, beispielsweise im Rahmen des Jugendamtes oder durch die Erziehungsberatungsstelle. An dem Gesetz ist erkennbar, dass man sich bemüht hat, pädagogische und entwicklungspsychologische Erkenntnisse mit einfließen zu lassen. Es muss in diesem Zusammenhang deutlich gesagt werden, dass es der juristischen Ebene natürlich nicht möglich ist, durch solche Vorgaben die Familienstrukturen unmittelbar zu verändern oder eine Konsensfähigkeit zu entwickeln. Andererseits liefert das Gesetz Leitsätze, an denen sich die Beteiligten abarbeiten können, so dass potentiell die Möglichkeit besteht, die oft nach einer Trennung bzw. Scheidung auftretenden familiären Konflikte in weniger destruktive Bahnen zu lenken. Die stärkere Betonung der Eigenverantwortung der Eltern und das Herausstreichen von nichtjuristischen Beratungs- und Therapiemöglichkeiten könnte dazu führen, dass familiäre Konflikte als solche angegangen werden, ohne das Familiengericht mit unrealistischen Erwartungen zu überfrachten. 3 3. Das Beziehungsdreieck Vater – Mutter – Kind In seiner Entwicklung erlebt das Kind verschiedene Beziehungsdreiecke. Neben der gleichzeitigen Beziehung zu Vater und Mutter gibt es weitere Dreieckskonstellationen, beispielsweise zu den beiden Großelternpaaren. Mit der Trennung bzw. Scheidung der Elternteile kommt es zu einer tiefgreifenden Erschütterung dieser Beziehungsdreiecke. Deshalb möchte ich Ihnen zunächst aus entwicklungspsychologischer Sicht darstellen, welche Bedeutung den Beziehungsdreiecken für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zukommt. Das Erleben und Verinnerlichen von mehreren wechselseitigen Beziehungen wird in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie mit dem Begriff Triangulierung bezeichnet. Triangulierung meint dabei das Dreieck von Personen, beispielsweise in der kindlichen Entwicklung das Dreieck Vater – Mutter – Kind, darüber hinaus die Beziehungen innerhalb dieser Dreieckskonstellationen sowie die innerpsychischen Repräsentanzen dieser Beziehungen. Im engeren Sinne meint Triangulierung den psychischen Prozess der Integration dieser drei unterschiedlichen Ebenen. In der frühkindlichen Entwicklung steht für das Kind häufig eine Zweierbeziehung im Vordergrund, oft die zur Mutter. Mit der Weiterentwicklung der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten des Kindes wird die Kompetenz erworben, mehrere und unterschiedliche Beziehungen gleichzeitig zu unterhalten, zu erkennen und zu akzeptieren. Dabei ist für das Kind ein wichtiger psychischer Reifungsprozess, dass es nicht nur Beziehungen gibt, die auf das eigene Selbst bezogen sind, sondern dass die Bezugspersonen, beispielsweise Vater und Mutter, eigenständige Beziehungen zueinander unterhalten. An dieser Formulierung wird schon deutlich, dass es sich bei der Triangulierung um eine Entwicklungsaufgabe handelt, die die gesamte Kindheit bis in das Erwachsenenalter hinein begleitet. Idealerweise sollte eine Dreieckskonstellation fünf Bedingungen erfüllen, um sie als vollständig klassifizieren zu können. Erste Voraussetzung ist, dass sich die drei Personen klar voneinander differenzieren. Der zweite Aspekt meint, dass zwischen allen Beteiligten wechselseitige Beziehungen bestehen. Dritter Gesichtspunkt ist, dass die Dreiecksstruktur durch die Beteiligten eine Billigung erfährt. Vierte und daran anschließende Bedingung ist, dass die Beziehungen des Dreiecks überwiegend positiv gefärbt sein sollten. Schließlich beinhaltet die fünfte Bedingung, dass die Beziehungen in den Beteiligten psychisch ausreichend repräsentiert sind. Unter diesen Aspekten ist ein familiäres Beziehungsgefüge vorstellbar, in dem gute Grundvoraussetzungen für eine befriedigende Persönlichkeitsentwicklung des Kindes vorliegen. Das Kind kann in einem solchen Ablauf die Fähigkeit entwickeln, mehrere Beziehungen unterschiedlicher Qualität gleichzeitig anzunehmen und darüber eine Zufriedenheit zu entwickeln. Entwicklungspsychologisch vollzieht sich der Übergang von der Dyade, das heißt der Zweierbeziehung, hin zur Dreieckskonstellation. Das Kind entwickelt allmählich die Kompetenz, die 4 Beziehungen, beispielsweise der Eltern oder das Verhältnis weiterer Geschwister untereinander, als eigenständige und eigengesetzliche Strukturen zu akzeptieren. Diese Akzeptanz beinhaltet einen psychischen Reifegrad des Kindes, nämlich die Stufe von Teilobjektbeziehungen überwunden zu haben und das Nebeneinander unterschiedlicher Beziehungen und Beziehungsqualitäten akzeptieren zu können. Eingeflossen in meine These ist die Annahme, dass der Prozess der Triangulierung nicht ohne das zumindest unbewusste Einverständnis der Eltern erfolgreich verlaufen kann. Kommt es zu einer übermäßigen Fixierung des Kindes auf einen Elternteil, so wird die Herausbildung gelingender Beziehungsdreiecke in der Regel gestört. Eine solche Fixierung im Sinne eines Teilbündnisses kann bereits innerhalb einer bestehenden Partnerschaft bzw. Ehe stattfinden. Häufig führt eine Partnerschaftskrise dazu, dass ein Elternteil eine übermäßige Nähe zum Kind aufbauen will, beispielsweise im Sinne einer kompensatorischen Befriedigung für die ausbleibende Zuwendung durch den Partner. Das Kind erlebt durch diese übermäßige Zuwendung zunächst eine Bestätigung im Sinne einer narzisstischen Überhöhung, das heißt einer Übersteigerung des Selbstwertgefühls. Mit der bewussten und unbewussten Wahrnehmung der Paarkrise der Eltern ist das Familienbild des Kindes tangiert. Die bisher Sicherheit und Geborgenheit gebende Rolle der Familie erscheint in Frage gestellt. Das im Rahmen der Triangulierung erworbene und phantasierte Bild, dass die Eltern ihre eigenen Bereiche eigenständig und kompetent regeln können, gerät ins Wanken. Typische Reaktionsweise beim Kind ist die Tendenz, die Situation zu verleugnen, häufig verbunden mit einer betonten Unauffälligkeit und Überangepasstheit. Eine andere Reaktionsbildung des Kindes ist die Auslösung von Verlustängsten und damit verbundene Verhaltensauffälligkeiten, um auf sich aufmerksam zu machen. Das Kind würde dann zum Symptomträger der Familie, verbunden mit der unbewussten Hoffnung, dadurch die Krise der Eltern stoppen zu können. Mit der organisatorischen, juristischen und räumlichen Trennung der Elternteile vollzieht sich ein Bruch für das Kind, indem der Lebensmittelpunkt zukünftig bei einem Elternteil liegt und die Kontakte zum anderen Elternteil häufig erheblich reduziert werden. Damit ist die bisher in der Familie vorliegende Triangulierungsfunktion des anderen Elternteils, und dies ist häufig der Vater, mehrfach in Frage gestellt. Die mit der Trennung häufig einhergehenden Schuld- und Schamgefühle führen häufig zu einer Fixierung des Kindes auf denjenigen Elternteil, bei dem es weiter lebt, und zu einer Schuldzuweisung dem anderen Elternteil gegenüber. Dies erschwert zusätzlich den Zugang zum anderen Elternteil. Häufig werden dann die Besuchskontakte, beispielsweise zum Vater, mit Scheidungsfolgekonflikten überfrachtet, die dem Kind zusätzlich den Eindruck eines abgelehnten bzw. verunsicherten Vaters vermitteln können. Die bisherige Funktion des Vaters im Sinne eines korrigierenden Dritten kann dieser kaum noch erfüllen. Stattdessen erlebt das Kind eine verstärkte reale und psychische Abhängigkeit zu dem mit ihm lebenden Elternteil. Reaktion des Kindes ist dann häufig eine verstärkte Loyalitätsbindung, um dieses Ausgeliefertsein als psychische Phantasie abzuwehren. Zusätzlich ist zu bedenken, dass sich durch die Scheidung nicht selten die psychosoziale und materielle Situation der gesamten Familie verschlechtert. 5 Trennung und Scheidung sind häufig mit einem Wohnungswechsel, dem sozialen Abstieg sowie einer Reduzierung der materiellen Ressourcen verbunden. Vorher selbstverständliche Entfaltungsmöglichkeiten und Freizeitaktivitäten müssen in der neuen Lebenslage mit Hinweis auf die knappen finanziellen Möglichkeiten beschnitten werden. Durch diese psychosozialen Veränderungen reduziert sich insgesamt die Möglichkeit, weitere Beziehungsdreiecke im Sinne einer kompensatorischen Funktion aufzubauen. Die vorliegenden psychologischen Untersuchungen zur Entwicklung des Kindes nach Trennung und Scheidung zeigen, dass die psychische Bewältigung dieser Situation grundsätzlich besser erfolgen kann, wenn es dem Kind gelingt, auch die Beziehung zu dem Elternteil, bei dem es nicht lebt, weiter zu entwickeln oder Ersatzbeziehungen zu finden. Generell ist festzustellen, dass Scheidungskinder mit einer guten Vaterbeziehung deutlich weniger psychische Auffälligkeiten zeigen und langfristig besser in der Lage sind, sich an ihre neue Lebenssituation anzupassen. Generell sind Prozesse von Trennung und Scheidung hochgradig dazu geeignet, bei den Beteiligten eine psychische Destabilisierung hervorzurufen, die mit einer ungünstigen Veränderung der Selbst- und Objektrepräsentanzen einhergeht. Für die zukünftige Partnerwahl des betroffenen Kindes werden Weichen gestellt, indem diese beispielsweise unbewusst mit Ansprüchen nach Wiedergutmachung oder Schuldabbau besetzt wird. Langzeitfolge einer nicht gelingenden Bewältigung der Scheidung kann damit sein, dass Scheidungskinder später selbst eine instabile Partnerschaft und eine hohe Scheidungsraten aufweisen. Es ist daher generell davon auszugehen, dass es für das Kind eine bedeutungsvolle korrigierende Erfahrung wäre, dass beide Elternteile nach einer Trennung in der Lage sind, das Sorgerecht gemeinsam auszuüben. Der andere Elternteil wäre dann weiterhin als eingreifender Dritter präsent und das Kind würde sich weniger dem die Erziehung hauptsächlich durchführenden Elternteil ausgeliefert fühlen. Das eingeschränkte Miteinander der beiden Elternteile, nun nicht mehr auf der Paarebene, sondern in ihrer Funktion als Elternteile, kann dem Kind als Vorbild dienen, dass die aufgeworfenen Konflikte zumindest ansatzweise von den Beteiligten verarbeitet werden. Die in der juristischen Auseinandersetzung sich vollziehende bewusste und unbewusste Aufteilung in Gewinner und Verlierer kann in ungünstiger Weise dazu führen, die eigenen Anteile am Scheitern der Ehe zu verleugnen und der erlittenen narzisstischen Kränkung aus dem Weg zu gehen. Zielsetzung des gemeinsamen Sorgerechts wäre daher, diese Aufteilung in Gewinner und Verlierer zu unterbrechen und dem getrennten Paar die gemeinsame Elternverantwortung auch nach der Scheidung zu belassen. Das gemeinsame Sorgerecht beinhaltet grundsätzlich, dass die wichtigen Entscheidungen der Erziehung einvernehmlich getroffen werden müssen, und dass die beiden Elternteile entweder ein gemeinsames Erziehungskonzept entwickeln oder sich wenigstens in der Ausübung ihrer jeweiligen Erziehung nicht wechselseitig behindern. Konsens zwischen den Elternteilen wird bei grundsätzlichen Fragen erwartet, beispielsweise bei der Festlegung der Schullaufbahn oder bei lebenswichtigen medizinischen Maßnahmen. 6 Aus psychoanalytischer Sicht kommt es bei der Ausgestaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge nicht darauf an, dass eine ständige reale Präsenz beider Elternteile für das Kind sichergestellt ist. Ein Gelingen des gemeinsamen Sorgerechts setzt jedoch voraus, dass das Kind nicht mit Loyalitätskonflikten überfrachtet wird. Die Eltern sollten versuchen, die Konflikte miteinander anzugehen und nicht agiert über das Kind, etwa wenn dem Kind wechselseitige Teilbündnisse angeboten werden. Diese Teilbündnisse sind besonders schädigend, indem dem Kind die Beziehung zum anderen Elternteil erschwert wird, weil dieser als der Böse oder der Aggressor dargestellt wird. Ziel einer gemeinsamen Ausübung der elterlichen Sorge sollte daher sein, dass ein funktionierendes Beziehungsdreieck Vater – Mutter – Kind zumindest wieder in Ansätzen hergestellt wird. Dem Kind kann dadurch die Chance eröffnet werden, zu beiden Elternteilen jeweils eigenständige Bindungen aufzubauen, ohne dadurch in Loyalitätskonflikte und damit verbundene Schuld- und Schamgefühle zu geraten. Im erweiterten Blick auf die Beziehungsdreiecke bedeutet dies, dass auch die anderen Beteiligten, beispielsweise die Großelternpaare, nicht darauf drängen, mit dem Kind exklusive Bündnisse einzugehen und auf die Fixierung einer Feindbildprojektion möglichst verzichtet wird. Die Feindbildprojektion ist häufiger Ablauf nach einer Trennung oder Scheidung, um die eigenen vielfältigen Affekte von Trauer, Schuld, Scham und Verlustangst durch eine aggressive Abwertung der anderen Partei abwehren zu können. Letztlich handelt es sich bei der dabei um den aus psychologischer Sicht untauglichen Versuch, die Prozesse der psychischen Verarbeitung der Scheidung durch eine dauerhafte Polarisierung von Gut und Böse umgehen zu können. Die Folge sind oftmalig langwierige und quälende Nachscheidungskonflikte, auch auf der juristischen Ebene, beispielsweise um materielle Fragen oder die Ausgestaltung der Umgangskontakte. In diese Polarisierung sind regelmäßig die beiden Herkunftsfamilien der Elternteile wie eine Art Hilfstruppe einbezogen. 4. Beispiel einer Scheidungsfamilie Anhand der Situation von Familie B. möchte ich Ihnen einige typische Probleme hinsichtlich der Möglichkeit der gemeinsamen elterlichen Sorge darstellen. Herr und Frau B. haben zusammen zwei Kinder. Es handelt sich um den 1990 geborenen Paul sowie um Joachim, geboren 1992. Zum Zeitpunkt der Trennung sind die Kinder 6 bzw. 4 Jahre alt. Die Mutter lebt seit der Trennung der Elternteile weiter in der früheren ehelichen Wohnung, der Vater hat am gleichen Ort eine eigene Wohnung bezogen. Beide Kinder sehen die Eltern etwa gleich häufig und wechseln in einer von den Eltern entwickelten komplizierten Zeitaufteilung mehrmals in der Woche zwischen beiden Elternteilen. Beim Kennenlernen des Paares war Frau B. 17 Jahre alt und wohnte noch bei ihren Eltern. Herr B. war 22 Jahre alt und er absolvierte gerade seine Ausbildung zum Finanzbeamten. Frau B. hatte den Wunsch, das Elternhaus möglichst rasch zu verlassen. Sie schilderte die Atmosphäre bei ihrem dominanten und gefühlskalten 7 Vater als unangenehm. Herr B. war ihr erster Freund. Sie hatte vorher noch keine sexuellen Erfahrungen. Herr B. hatte sich nach dem Abitur gegen ein Studium entschieden und begann die Ausbildung bei der Finanzbehörde in einer 150 Kilometer entfernten Großstadt. Das Paar zog nach kurzer Bekanntschaft zusammen und es entwickelte sich eine Wochenendbeziehung, da Herr B. weiter zu seiner Ausbildung fuhr. Innerhalb der Ehe ist es dann von Anfang an zu Krisen gekommen. Beide stellten hohe Erwartungen aneinander, die die Partner kaum erfüllen konnte. Jeder hatte das starke Bedürfnis, vom anderen emotional versorgt zu werden. Als diese Erwartungshaltung nicht erfüllt wurde, zog sich Frau B. innerlich von ihrem Mann zurück, und er begann innerhalb seiner Ausbildung eine Beziehung zu einer anderen Frau. Es kam dann zu mehreren vorübergehenden Trennungen, ohne dass die Ehe endgültig zerbrach. Mit 26 Jahren setzte Frau B. eigenmächtig die Pille ab und verkündete ihrem Mann die Schwangerschaft mit den Worten: „Du wirst jetzt Vater!“ Frau B. hatte damals nach ihrem Studium bereits ihre Stelle als Lehrerin, und sie ließ sich beurlauben. Von dem Paar wird die Zeit nach der Geburt des ersten Kindes positiv geschildert. Herr B. gab seine außereheliche Affäre auf und kümmerte sich intensiv um den Sohn Paul. Frau B. berichtet, dass es um die Versorgung des Kindes regelrechte Rivalitäten gegeben habe, und ihr Mann habe ihr zeigen wollen, dass er auch in diesem Bereich „besser“ sei. Nach der Geburt des zweiten Kindes hat sich Herr B. überraschend von der Kindererziehung abgewandt, und der berufliche Aufstieg wurde zu seinem Hauptlebensinhalt. Er lebt nur noch für seinen Beruf und schließlich kommt es zu einer psychosomatischen Erkrankung, die er zunächst verleugnet, und er arbeitet mit gleicher Intensität weiter. Schließlich führt die Erkrankung zu einer dauerhaften Einschränkung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit, so dass er als Beamter vorzeitig pensioniert wird. Innerhalb der Ehestruktur fühlt sich Frau B. vernachlässigt und wendet sich einem Arbeitskollegen zu. Herr B. reagiert mit starker Eifersucht und schließlich zieht Frau B. aus. Die Entwicklung des Kindes Paul ist dadurch gekennzeichnet, dass er seit seinem vierten Lebensjahr vermehrt über Kopfschmerzen klagt. Insbesondere bei den starken Streitigkeiten der Eltern hat er damit die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Beide Elternteile versuchen, den Jungen zu schonen. Nach der Trennung fühlt sich der Junge weiterhin zu beiden Elternteilen hingezogen und er erklärt, dass er „zwei Zuhause“ habe. Er versucht, beide Elternteile in der Trennungssituation zu trösten, insbesondere in intensiven Gesprächen mit seinem Vater. Im Gespräch wirkt der Junge überangepasst, und seine Gedanken kreisen um das Wohlergehen seiner Eltern. Bei dem jüngeren Bruder Joachim zeigen sich seit der Trennung der Eltern kleinkindhafte Verhaltensweisen. Zu der Mutter sucht er starke körperliche Nähe, und er möchte oft bei ihr im Bett schlafen. Gelegentlich ist es wieder zu einem Einnässen gekommen. In seinem Spiel beschäftigt sich der Junge oft mit dem Eindringen böser Mächte. Er liebt seine Ritterburg und spielt oft, dass die Ritter in dem Keller ihrer 8 Burg einen Feind festgestellt hätten. Sie gingen mit ihrer Kanone in den Keller und würden den Feind vernichten. In den Zeiten, die die Kinder mit dem Vater verbringen, erleben beide eine Überbetonung der Gemeinsamkeiten. Der Vater unterstreicht häufig die Bedeutung der Kinder für ihn. Ausdruck seiner Nähewünsche sind die an den Zimmertüren von ihm angebrachten Schilder. Es sind die Kinderzimmer gekennzeichnet, sowie der Hinweis auf das Arbeitszimmer von Herrn B. („Das Zimmer von Eurem Papi“). Eigene Hobbys und Interessen hat Herr B. inzwischen aufgegeben, seine ganze Aufmerksamkeit gilt den Kindern. Beide Elternteile möchten das gemeinsame Sorgerecht fortsetzen, sind sich aber unsicher, ob die bestehende Zeitaufteilung für die Kinder sinnvoll sei. Für den Kindesvater bedeutet seine Aufopferung für die Kinder, die er im Rahmen eines gemeinsamen Sorgerechts breit ausleben könnte, den Versuch einer Wiederherstellung seiner Identität. Die Fürsorglichkeit den Kindern gegenüber stellt eine Abwehr seiner durch die Ehekrise und den Verlust des Arbeitsplatzes aufgeworfenen Frustrationen und Aggressionen dar. Für die beiden Jungen hieße dies, dass der Vater auch zukünftig nicht ausreichend für eine Auseinandersetzung mit der männlichen Rolle zur Verfügung steht. Er würde seine expansiven Seiten gegenüber den Kindern verleugnen und dadurch die Persönlichkeitsentwicklung bei den Jungen insbesondere im Bereich der Männlichkeit erschweren. Die für den Prozess der Triangulierung wichtige Auseinandersetzung zwischen divergierenden weiblichen und männlichen Seiten wäre somit einseitig aufgelöst. Frau B. strebt ebenfalls das gemeinsame Sorgerecht an. Sie ist jedoch in dieser Haltung zögerlicher als ihr Mann. Ihr unbewusstes Motiv bei der angestrebten Regelung ist die Abwehr der bei ihr durch den aktiven Schritt der Trennung ausgelösten Schuldgefühle den Kindern und dem Ehemann gegenüber. Sie möchte ihm die Kinder als eine Art versuchter Wiedergutmachung anbieten, verbunden mit der Hoffnung einer Besänftigung seiner Wut. Durch ihre außereheliche sexuelle Beziehung fühlt sie sich schuldig an der jetzigen Lage der Kinder. Für die Kinder würde die Festschreibung eines gemeinsamen Sorgerechts ihrer Eltern ohne die Lösung der eben skizzierten Konflikte zu einer weiteren psychischen Belastung führen. Durch die unbewussten Motive bei der Sorgerechtswahl negieren die Elternteile die eigenständige Entwicklung der Kinder. Die Kinder hätten die Funktion, Schuldgefühle abzuwehren bzw. narzisstische Defizite zu reparieren. Mit dem gemeinsamen Sorgerecht würden sich die Elternteile wechselseitig die Erlaubnis und nach außen die Legitimation geben, um mit dieser Struktur fortzufahren. Nach alledem ist aus meiner Sicht deutlich, dass die Fortsetzung eines gemeinsamen Sorgerechts erst konstruktiv möglich sein kann, nachdem pädagogische und psychologische Hilfen dafür gesorgt haben, dass die bisherigen ungünstigen Beziehungsformen verbessert werden und wieder ein Prozess der Triangulierung ermöglicht wird. Beispielsweise sollte Frau B. im Rahmen einer Beratung oder Psychotherapie ihre Schuldgefühle bearbeiten und sich innerlich die Trennung von ihrem Mann erlauben. Über die Berufstätigkeit und eine neue 9 Partnerschaft hat sie Ansatzpunkte für eine eigenständige Lebensentwicklung, die den Kindern eine Mutter zeigen würde, die sich trotz ihrer depressiven Struktur ein eigenes Leben aufbaut. Auch für Herrn B. wäre ein Beratungsprozess sinnvoll, damit er erkennen kann, dass er seine lebensgeschichtlichen Verluste nicht durch eine symbiotische Anklammerung an die Kinder bewältigen kann. Für ihn ist es wichtig, überhaupt wieder Beziehungen jenseits seiner Rolle als Vater aufzubauen. Durch eine solche Weiterentwicklung ihrer Elternteile könnten beide Kinder ihren Prozess der Triangulierung fortsetzen und sich die Mischung aus Liebes- und Hassgefühlen den jeweiligen Elternteilen gegenüber zugestehen. Allmählich könnten der Vater und die Mutter wieder als Subjekte begriffen werden, die ein eigenes Leben mit eigenen Inhalten und spezifischen Geheimnissen führen. Dadurch würden die beiden Jungen die psychische Sicherheit erlangen, sich in ihrer Entwicklung von den Elternteilen abzulösen und sich die altersentsprechenden Autonomiebestrebungen zu gestatten. Das vorliegende Beispiel soll die These belegen, dass das gemeinsame Sorgerecht zunächst eine vorgegebene Beziehungsform ist, die nur durch eine entsprechende psychisch Kompetenz der Beteiligten zum Leben gebracht werden kann. Bei unaufgelösten und weiter bestehenden Scheidungskonflikten besteht die Gefahr, dass die Elternteile mit den Kindern regressive Beziehungsformen entwickeln, die die Weiterentwicklung der Kinder auf Dauer behindern. 5. Voraussetzungen für das gemeinsame Sorgerecht Aus meiner Erfahrung als familienpsychologischer Sachverständiger ist mir deutlich geworden, dass das gemeinsame Sorgerecht zunächst einmal eine juristische Kategorie ist. Entscheidend ist und bleibt, wie die Beziehungen innerhalb der Familie im Rahmen des gemeinsamen Sorgerechts ausgestaltet werden. Dabei können die rechtlichen Normen bewusstseinsbildende Potenz haben, sie greifen aber ohne flankierende Maßnahmen zu kurz. Realistisch und praktikabel erscheint das Modell der gemeinsamen elterlichen Sorge dann, wenn ein Mindestmaß an Konfliktfähigkeit trotz der Trennung erhalten geblieben ist, und die Elternteile folglich nicht im Übermaß dazu neigen, Auseinandersetzungen über die Kinder zu agieren. Nach meinen bisherigen Erfahrungen erscheint die Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge in den folgenden Fällen problematisch: Falls weiterhin ein hohes Konfliktpotential der beiden Elternteile besteht, sowie eine mangelhafte Verarbeitung der narzisstischen Kränkungen aus der Ehe. Die Kinder wurden in der Vorgeschichte erheblich in die Paarkrise und die Trennung hineingezogen, z.B. als Partnerersatz oder zum Agieren von Schuldzuweisungen. Es besteht eine geringe Bereitschaft der Elternteile zur Inanspruchnahme von Beratung und Psychotherapie. 10 Es besteht eine Erziehungsunfähigkeit beider Elternteile, z.B. durch eine schwere Persönlichkeitsstörungen, Alkoholismus, Neigung zur Misshandlung oder zum sexuellem Missbrauch der Kinder. Die Erziehungskonzepte der Elternteile erscheinen unvereinbar, der Grundkonsens zwischen ihnen ist gestört und es besteht eine geringe Neigung für gemeinsame Lösungen. Dies führt dazu, dass in Fragen von erheblicher Bedeutung für die Erziehung keine Einigung erzielt werden kann. Die bisherigen Ansätze der Erziehungsberatung und Jugendhilfe erscheinen ausgeschöpft und gescheitert. In diesen Fällen sollte zunächst überprüft werden, ob durch eine Beratung die Basis für ein gemeinsames Sorgerecht wieder hergestellt werden kann. Scheitert ein solches Vorgehen, dann muss geprüft werden, ob das Sorgerecht zwischen den Elternteilen aufgeteilt wird. Hauptziel der gemeinsamen elterlichen Sorge kann und sollte es sein, dem betroffen Kind einen Eindruck davon zu vermitteln, dass beide Elternteile noch konstruktiv miteinander in Kontakt stehen. Die durch die Ehekrise und die Trennung der Eltern ausgelöste Verunsicherung und Traumatisierung des Kindes kann dadurch allmählich wieder verringert werden. Dabei kommt es nach meiner praktischen Erfahrung nicht so sehr darauf an, dass die beiden Elternteile ständig in Absprache über die Erziehung stehen. Vielmehr scheint für das Kind von zentraler Bedeutung, dass es eine Kontinuität ist in der aktiv Konfliktlösungskompetenz der Eltern erlebt und die gefundenen Regelungen als konstruktiv annehmen kann. Dies bedeutet, dass die Qualität der Bindungen im Vordergrund steht und nicht so sehr die Vielzahl der Kontakte zu beiden Elternteilen. Einige Eltern haben die Ausgestaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge so geregelt, dass für die Kinder ein häufiger Wechsel zwischen den beiden Lebenssituationen stattgefunden hat. Dieser Wechsel hat regelmäßig zu einer psychischen und auch organisatorischen Überforderung der Kinder geführt, da es ihnen schwergefallen ist, ihren Lebensmittelpunkt zu finden und einen kontinuierlichen Freundeskreis aufzubauen. Dieser Wechsel der Lebenswelten kann dazu führen, dass die betroffenen Kinder versuchen, es beiden Elternteilen recht zu machen. Sie übernehmen dann immer wieder die Rolle eines Ersatzpartners, um damit die unbewussten Elternerwartungen zu erfüllen. Beispielsweise sind die Kinder in einem starken Maße damit beschäftigt, die jeweiligen Bedürfnisse und Interessen der Elternteile zu nachspüren und dabei eigene Autonomiebestrebungen zu vernachlässigen. Durch das Modell der weiter bestehenden gemeinsamen Sorge wird dem Vater nach der Trennung nahegebracht, weiterhin für die Kinder präsent zu sein. Zwei Abläufe erscheinen dabei aber nicht sinnvoll. Erstens sollte der Vater nicht versuchen, die Beziehungen zu den Kindern zu überfrachten. Dabei wird häufig der Fehler gemacht, dass der Vater in komprimierter Form versucht, früher Versäumtes nachzuholen, ohne auf die Aufnahmefähigkeit der Kinder ausreichend Rücksicht zu nehmen. Dabei spielen die Schuldgefühle des Vaters seinen Kindern gegenüber eine gewichtige Rolle. Diese motivieren ihn zu einer übertriebenen Nähe im Sinne einer Wiedergutmachung. Für die Kinder 11 erscheint diese Form der Annäherung häufig unangemessen, aber aus ihren Verlustängsten heraus lassen sie sich darauf ein. Zweitens sollte der Vater nicht in einem Konkurrenzkampf mit der Mutter darüber eintreten, wer der bessere Elternteil sei. Prinzipiell erscheint es nach den vorliegenden entwicklungspsychologischen Erkenntnissen sinnvoll, dass der Vater für die Kinder als Bezugsperson in qualitativer Hinsicht ausreichend präsent bleibt. Dies muß aber nicht bedeuten, dass beide Elternteile in der Alltagssorge ständig anwesend sind. Vielmehr sollte es bei der gemeinsamen Ausübung der elterlichen Sorge zu einer Auseinandersetzung über zentrale Anliegen der Erziehung kommen, wobei die Elternteile durchaus divergierende Meinungen haben können. Für das Erleben der Kinder ist es nicht entscheidend, dass Vater und Mutter einer harmonische Einheit bilden, sondern dass sich trotz der Unterschiede zwischen beiden ein Konsens entwickelt. In diesen Aspekt liegt die wichtigste Chance des gemeinsamen Sorgerechts. Sie wird nicht genutzt, wenn bloß der formale Rahmen gewählt wird, ohne die Qualität der Bindungen zu verbessern und zu entwickeln. Angesichts der meist wenig verarbeiteten Erfahrungen der vorhergehenden Paarkrise und der Trennung ist es gemeinsame Aufgabe aller beteiligten Familienmitglieder, wieder die Inhalte der Beziehungen so zu gestalten, dass eine dem Kindeswohl entsprechende Entwicklung der Kinder möglich ist. Dieser Anspruch wird in der Regel nicht ohne professionelle Hilfe in Form von Beratung oder Psychotherapie einzulösen sein. Nach meiner Erfahrung scheitern diejenigen Familien an dem gemeinsamen Sorgerecht, bei denen die beiden Elternteile dieses Modell lediglich als eine formale Regelung begreifen, mit der sie die bisherigen Machtkämpfe fortsetzen können. Der rechtliche Rahmen liefert Anregungen, um dem Kind trotz der Trennung seiner Eltern die Beziehungen und Bindungen möglichst zu erhalten. Die Aufarbeitung der Konflikte, die zu Trennung und Scheidung geführt haben, kann jedoch weder durch eine formale Regelung, noch überhaupt durch juristische Prozesse erreicht werden. Gefragt sind die pädagogischen und psychologischen Interventionen, welche die Qualität der Beziehungen verbessern sollen und ein Gelingen des Dreiecks von Vater, Mutter und Kind wiederherstellen. Im Rahmen des gemeinsamen Sorgerechts ist ein bestimmter psychischer Reifegrad der beteiligten Familienmitglieder und eine Struktur für die Alltagsabläufe zu entwickeln. Ohne die Entwicklung einer solchen Kompetenz droht das gemeinsame Sorgerecht zu einer sinnentleerten Hülle zu werden und zum Austragungsort von Nachscheidungskonflikten unproduktiver Art. Das gemeinsame Sorgerecht ist daher aus meiner Sicht keine formalorganisatorische, sondern die inhaltliche Frage, ob sich das Konfliktniveau zwischen den Eltern nach der Trennung dauerhaft niedrig gestalten lässt. Falls dies gelingt, wird der familiäre Prozess der Triangulierung wieder ermöglicht und damit günstige Verarbeitungsmöglichkeiten für die betroffenen Kinder und Jugendlichen geschaffen. 12 Literaturhinweise Balloff, R., 1993: Die Regelung der elterlichen Sorge nach Trennung oder Scheidung. Neuere Tendenzen und Entwicklungen. In: Menne, K.: Kinder im Scheidungskonflikt. Weinheim und München. Bauers, B., 1993: Psychische Folgen von Trennung und Scheidung für Kinder. In: Menne, K., Kinder im Scheidungskonflikt. Weinheim, München. Bauriedl, T., 1984: Beziehungsanalyse. Das dialektisch-emanzipatorische Prinzip der Psychoanalyse und seine Konsequenzen für die psychoanalytische Familientherapie. Frankfurt. Beal, E. und Hochman, G., 1994: Wenn Scheidungskinder erwachsen sind. Psychische Spätfolgen der Trennung. Frankfurt am Main. * Benedek, E, Brown, C 1995: Scheidung: wie helfe ich unserem Kind? Stutgart * Bernhardt, H., Hasse, W., Kloster-Harz D., Tauche, A., 1995: Wir bleiben Eltern trotz Scheidung. Das gemeinsame Sorgerecht als Chance. München. Bohleber, W. 1996: Adoleszenz und Identität. Stuttgart. Bojanovski, J. J., 1983: Psychische Probleme bei Geschiedenen. Stuttgart. Borneman, E., 1977: Psychoanalyse des Geldes. Eine kritische Untersuchung psychoanalytischer Geldtheorien. Frankfurt am Main. Bowlby, J., 1983: Verlust, Trauer und Depression. Frankfurt. Cierpka, M., 1992: Die Entwicklung des Familiengefühls. In: Forum der Psychoanalyse, Heft 8/92. Berlin, Heidelberg. Cremerius, J., 1995: Die Zukunft der Psychoanalyse. Frankfurt am Main. Dolto, F., 1990: Scheidung – wie ein Kind sie erlebt. Stuttgart. Dornes, M., 1995: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt am Main. Etter, E., 1996: Sorge- und Umgangsrecht, Niedernhausen. * Figdor, H., 1994: Kinder aus geschiedenen Ehen: Zwischen Trauma und Hoffnung. Mainz. Figdor, H., 1997: Die psychischen Folgen des Trennungstraumas am Beispiel des Scheidungskindes. In: Familie, Partnerschaft, Recht. Heft 02/97. Freiburg und Berlin. Freud, S., 1924: Der Untergang des Ödipuskomplexes. Studienausgabe Band V. Frankfurt am Main 1980. Freud, S., 1916 – 1917: Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse. Studienausgabe Band I. Frankfurt am Main 1980. Freud, S., 1930: Das Unbehagen in der Kultur. Studienausgabe Band IX. Frankfurt am Main 1980. Fthenakis, W. E., 1995: Umgangsmodelle zur kindgerechten Gestaltung der Beziehung zwischen Eltern und Kindern in der Nachscheidungsphase. In: Familie, Partnerschaft, Recht. Heft 4/95. Freiburg und Berlin. Furstenberg, F. F. und Cherlin, A. J., 1993: Geteilte Familien. Stuttgart. Jopt, U.-J., 1992: Im Namen des Kindes. Plädoyer für die Abschaffung des alleinigen Sorgerechts. Hamburg. Kaiser, P., 1989: Familien-Erinnerungen. Zur Psychologie der Mehrgenerationenfamilie. Heidelberg. Kernberg, O. F., 1996: Narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart und New York. 13 Kernberg, P. F., 1996: Narzisstische Persönlichkeitsstörungen in der Kindheit. In: Kernberg, O. F., 1996. Narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart und New York. Klußmann, R. W. und Stötzel, B., 1995: Das Kind im Rechtsstreit der Erwachsenen. München und Basel. Koechel, R., 1995: Kindeswohl im gerichtlichen Verfahren. Neuwied, Kriftel und Berlin. * Kloster-Harz, D, Haase, W., Krämer, G 1988: Handbuch Sorgerecht. München. Laplanche, J. und Pontalis, J.-B, 1977: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main. Lichtenberg, J. D., 1991: Psychoanalyse und Säuglingsforschung. Berlin, Heidelberg und New York. Lohmann, H.-M., 1983: Das Unbehagen in der Psychoanalyse. Frankfurt und Paris. Lohmann, 1986: Die Psychoanalyse auf der Couch. Frankfurt. Lorenzer, A., 1976: Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Frankfurt am Main. Lütkehaus, L., 1996: Psychoanalyse ohne Zukunft? Frankfurt am Main. Mahler, M., Pein, F. und Bergmann, A., 1993: Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Frankfurt am Main. Menne, K., Schilling, H., Weber, M., 1993: Kinder im Scheidungskonflikt. Beratung von Kindern und Eltern bei Trennung und Scheidung. Weinheim und München. Mertens, W., 1981: Psychoanalyse. Stuttgart. Mertens, W., 1994: Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität. Stuttgart. * Moeller, M. L., 1989: Die Wahrheit beginnt zu zweit. Das Paar im Gespräch. Reinbek. Nagera, H., 1978: Psychoanalytische Grundbegriffe. Eine Einführung in Sigmund Freuds Terminologie und Theoriebildung. Frankfurt am Main. Peschel-Gutzeit, L. M., 1995: Immer wiederkehrende Probleme des Umgangsrechts. In: Familie, Partnerschaft, Recht. Heft 4/95. Freiburg und Berlin. Reich, G., 1988: Partnerwahl und Ehekrisen. Eine familiendynamische Studie. Heidelberg. * Richter, H.-E., 1986: Patient Familie. Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in der Ehe und Familie. Reinbek. Rohde-Dachser, C., 1987: Die ödipale Konstellation bei narzisstischen und Borderline-Störungen. Psyche 9/87. Stuttgart. Rohde-Dachser, C., 1989: Das Borderline-Syndrom. Bern, Stuttgart und Torronto. Schilling H., 1996: Wege aus dem Konflikt. Von Therapie bis Mediation: Professionelle Unterstützung von Kindern und Eltern bei Trennung und Scheidung. Mainz. Schon, L., 1995: Entwicklung des Beziehungsdreiecks Vater – Mutter - Kind. Triangulierung als lebenslanger Prozess. Stuttgart, Berlin, Köln. Schwab, D., 1989: Familienrecht. München. Sperling, E., Massing A., Reich G., Georgi, H., Wöbbe-Mönks, E., 1982: Die Mehrgenerationen-Familientherapie. Göttingen. 14 Steindorff, C., 1994: Vom Kindeswohl zu den Kindesrechten. Neuwied, Berlin, Kriftel. Stork, J., 1991: Wege der Individuation. Beiträge über die Dialektik in der Psychoanalyse. Weinheim. Stork, J., 1986: Das Vaterbild in Kontinuität und Wandlung. Stuttgart und Bad Cannstadt. Tyson, P, Tyson, R 1977: Lehrbuch der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie. Stuttgart, Berlin und Köln. Vidermann, S., 1996: Die Psychoanalyse und das Geld. Frankfurt. Wallerstein, J. u. Blakeslee, S., 1989: Gewinner und Verlierer. Frauen, Männer, Kinder nach der Scheidung. Eine Langzeitstudie. München. Weiss, R. S., 1980: Trennung vom Ehepartner. Stuttgart. Wendl-Kempmann, G. u. Wendl, P., 1986: Partnerkrisen und Scheidung. Ursachen, Auswirkungen und Verarbeitung aus psychoanalytischer und richterlicher Sicht. München. *Willi, J., 1982: Die Zweierbeziehung. Reinbek. * Diese Texte sind besonders für betroffene Elternteile geeignet 15