Karl Garnitschnig Karl Garnitschnig (2004)

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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
Die Entwicklung der psychischen Operationen als Basis der
Lernorganisation
(Erste Fassung Garnitschnig, Karl (1998). Die Entwicklung der psychischen Operationen als
Basis der Lernorganisation. Nichtveröffentlichtes Manuskript (Linz: TPO))
1
Lernen als aktive, ganzheitliche, bedeutungsvolle Aneignung von Welt, das vom Kind
aus geplant ist ______________________________________________________________ 4
1.1
Wie kann TPO für die Unterrichtsgestaltung eingesetzt werden? ___________________5
1.2
Übersetzung der Lernziele in psychische Operationen ____________________________8
1.3
Genaue, sensible Beobachtung der Schüler als Grundlage für die Gestaltung von
Lernsituationen __________________________________________________________________11
1.4
Exemplarität und fächerübergreifendes Lernen ________________________________12
1.5
Die Lebenswelt des Schülers und die vorbereitete Umgebung _____________________14
1.6
Individualisierung oder die Notwendigkeit einer entwicklungsdynamisch orientierten
Förderdiagnostik _________________________________________________________________16
1.7
2
Offenes Lernen als angemessene Methode für diese Form des aktiven Lernens ______17
Psychische Funktionen - Begriffsbestimmung _______________________________ 25
2.1
3
Operationen als Bausteine psychischer Funktionen ______________________________26
Entwicklungsdynamische Darstellung der psychischen Operationen _____________ 27
3.1
Bewegen__________________________________________________________________28
3.2
Empfinden und Wahrnehmen _______________________________________________30
3.3
Denken ___________________________________________________________________32
3.3.1
3.3.2
Die Entwicklung des Zahlenbegriffs _________________________________________________ 36
Die Entwicklung des räumlichen Denkens, dargestellt am Beispiel der spontanen Zeichnung _____ 38
3.4
Die Entwicklung des Sprechens im Hinblick auf verbales Verstehen und Erklären ___39
3.5
Fühlen ___________________________________________________________________39
3.5.1
3.5.2
3.5.3
3.5.4
3.5.5
Die Übernahme von Rollen und gegenseitige Zusammenarbeit _____________________________ 40
Die Entwicklung der Objektbeziehung________________________________________________ 41
Unbewältigte Entwicklungsphasen und daraus resultierende Konsequenzen ___________________ 45
Die Entwicklungsstufen des Selbstempfindens _________________________________________ 46
Das Weltbild des Kindes - Die emotionale Besetzung der Umwelt __________________________ 47
3.6
Wollen ___________________________________________________________________50
3.7
Intuieren oder kreatives Denken _____________________________________________52
3.8
Merken oder Erinnern ______________________________________________________53
3.8.1
3.8.2
4
4.1
Synapsendifferenzierung als Grundlage des Gedächtnisses ________________________________ 54
Die Makroebene - Das Zusammenspiel von Körper und Seele _____________________________ 54
Beobachtung der Entwicklungsdynamik als Grundlage der Lernplanung _________ 55
Planung von fächerübergreifendem Unterricht _________________________________57
-1-
Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
Die Geschichte der Pädagogik ist reich an Ideen, die die Schule zu einem idealen Lernort für
Kinder und Jugendliche machen könnten, wenn sie umgesetzt würden. Überblicken wir nur
die jüngere Geschichte seit der Reformpädagogik, dann lassen sich für den pädagogischen
Auftrag in Schulen nach dem „Handbuch der reformpädagogischen und alternativen Schulen
in Europa“ zumindest fünf gemeinsame Orientierungen der innovativen Schulkonzepte
erkennen:
1. Das Kind/der Jugendliche steht im Zentrum aller organisierenden Überlegungen. Die
Gestaltung von Schule und die Planung von Lernen erfolgt „vom Kinde aus“ und berücksichtigt die Bedürfnisse aller am Schulgeschehen Beteiligten. Ihre Würde ist die Leitidee
für die gesamte Gestaltung des Schullebens. Der Lehrer geht von dem aus, was der Schüler
kann, hat eine positive Leistungserwartung und fordert die Schüler zu intelligenten
Handlungen, zu Fragen und Einsicht über einen Gegenstand aus seinen Wurzeln im Sinne der
genetisch-sokratisch-exemplarischen Methode Martin Wagenscheins (1991) heraus (vgl.
Altrichter 1995, S. 10).
2. „Die Schule ist eine aktive Schule. ... Oberstes Ziel ist dabei die Entfaltung der
Eigenaktivität und Selbstverantwortung des Schülers“ (Klaßen/Skiera/Wächter 1990, S. VIII)
als Ziel aller pädagogischen Interaktionen. Alle dürfen am Schulleben teilnehmen, es
mitgestalten und mitplanen. Dadurch nehmen die Kinder und Jugendlichen am Ganzen teil
und übernehmen auch Verantwortung, was alle ihre psychischen Kräfte und Funktionen
aktiviert. Musisch-kreative Bildung und Spiele verschiedenster Art (vor allem auch das
darstellende Spiel) werden als grundlegende Selbstbildungsmittel in das Lernen integriert. Der
Lehrer hilft den Schülern, ihr Lernen selbst zu organisieren. Lernen erfolgt aus der Gegenwart
des Kindes und nicht für seine Zukunft. Hermann Röhrs, der langjährige Präsident der
deutschsprachigen Sektion des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung, will das
Eigenrecht des Kindes auf das „Eigengesetz jeder Lebensstufe“ (Röhrs 1995, S. 17) erweitert
wissen. Es muss darauf geachtet werden, dass das Kind zu einem freien Ausdruck kommt und
zu einer „zweckmäßigen Wahrnehmung“ (Jacoby 1992), wodurch es zu einer genaueren
Darstellung und Erfassung seiner Welt gelangt.
3. „Die Schule erstrebt eine Erziehung des ganzen Menschen.“ (Klaßen/Skiera/Wächter 1990,
S. VIII) Dies folgt direkt aus der aktiven Teilnahme an einem offenen Schulleben, das die
Gesamtwirklichkeit des Schülers einbezieht. Dadurch kann er alle seine psychischen Kräfte
und Funktionen aktivieren.
4. Die Achtung vor dem Kind erfordert eine funktionierende Schulgemeinde, in der alle
gleichberechtigt sind. „Schule als Lebensgemeinschaft“ bedeutet auch, „daß die das
Schulleben bestimmenden Kommunikations- und Aktionsformen von Lehrern, Schülern und
Eltern gemeinsam gestaltet werden“ (ebd.). Beim Lernen wird die Kompetenz und Kapazität
der gesamten Gruppe ausgeschöpft. Lernen erfolgt aktiv und kooperativ. Der deutsche
Pädagoge Hartmut von Hentig, der angesichts des tödlichen Fremdenhasses die Schule neu
denken will, schreibt ihr in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Wenn
„Schule heute für den größten Teil der Kindheit für den größten Teil ihrer Zeit der einzige
Aufenthaltsort geworden ist, sollte er auch ihr Lebensort sein können“ (1993, S. 184), an dem
sie wie in einer Polis Mitträger aller Entscheidungen sind und so demokratisch-politisches
Bewusstsein lernen.
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5. „Das Selbstverständnis der Schule kann mit dem Leitsatz ... Lernen aus dem Leben für das
Leben“ gekennzeichnet werden, das sich „um den Anschluß an die Lebens- und Arbeitswelt“
bemüht und „eine Erweiterung des Lernraums über das Klassenzimmer hinaus auf die
konkrete soziale Wirklichkeit außerhalb der Schule“ erstrebt. Den Schülern wird durch
Öffnung der Schule eine Welt vielseitiger Erfahrungen ermöglicht und Lernen setzt bei den
Interessenszentren der Kinder an (Klaßen/Skiera/Wächter 1990, S. VIII, vgl. dazu auch
Skiera 1995, S. 13, Hentig 1993, S. 214 - 232).
Über diese fünf Grundorientierungen hinaus müssten wir alle seit der Gestaltpädagogik und
der Themenzentrierten Interaktion gelernt haben, das gesamte Lernumfeld zu beachten. Das
Lernumfeld einer Klasse steht in der Umwelt einer individuellen Schule, diese wieder in der
Umwelt eines Landes oder Staates und diese wieder in der Umwelt von Gesellschaften.
Bleiben wir im Bereich des Staates, dann muss beachtet werden, dass eine Schule dann
innovativ und reformfreudig, eine gute Schule sein wird, wenn in ihr - im Gegensatz zu
Isolation - Kooperation und Kommunikation, über die allein die zur Verfügung stehenden
Ressourcen bei Lehrern, Schülern und Eltern genützt werden können, vorherrschen. Schule
wird also als eine Schulgemeinde verstanden, in der es ein verbindliches Verhältnis zum
Elternhaus gibt (vgl. Röhrs 1995, S. 41).
Kooperation und Kommunikation auf allen Ebenen, die für Innovation Bedingung sind, legt
eine kollegiale Schulleitung nahe, zumindest eine solche, die, wenn es nur einen Schulleiter
noch dazu ohne Rotation gibt, kollegial ist. Ausgeprägte Hierarchie trägt nicht zu Innovation
bei, sondern nur vielfache, freie Kooperation, eine autonome, kooperative Organisation aller
Beteiligten. Man bleibt dann auch freiwillig länger in der Schule (vgl. Röhrs 1995, S. 41).
Lehrer beginnen sich auf diese Weise selbst zu professionalisieren. Wir können diesen
Prozess als innere Professionalisierung bezeichnen, deren Bedeutung viel zu wenig beachtet
wird.
Im Mikrobereich des Unterrichts ist bedeutsam, dass in der Klasse ein offenes Lernklima
herrscht, in dem sich alle als Lernende verstehen, der Lehrer als Organisator und Berater bei
der Gestaltung und Planung von Lernprozessen, der für ein entspanntes, anerkennendes Klima
sorgt.
Mit diesen Orientierungen und ihren Ergänzungen sind die Kriterien guter Schulen, wie sie
Herbert Altrichter aus der Schulqualitätsliteratur zusammenfasst, nicht nur erfüllt, sondern es
ist auch angedeutet, wie diese Kriterien praktisch werden können:
„1. positive Leistungserwartung und intellektuelle Herausforderung
2. transparente, stimmige und ‘berechenbare’ Regeln
3. positives Schulklima mit Engagement für Schülerinnen
4. Mitsprache und Verantwortungsübernahme durch Schülerinnen (dadurch wird auf der
Schülerseite Punkt 2 praktisch umsetzbar, KG)
5. Zusammenarbeit und pädagogischer Konsens im Lehrkörper
6. wenig Fluktuation von Lehrer/innen und Schüler/innen
7. zielbewusste, kommunikations- und konsensorientierte Schulleitung
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8. reichhaltiges Schulleben (ein solches wird möglich, wenn das Schulleben in den Mittelpunkt der Schul- und Lernorganisation gerückt wird und die Schule geöffnet wird,
KG)
9. schulinterne Lehrerfortbildung (ergänzt durch das Konzept innerer Professionalisierung,
KG)
10. Einbeziehung der Eltern
11. Unterstützung durch die Schulbehörde“ (1995, S. 10)
Nur dieser Punkt ist oben nicht genannt. Er ergibt sich aus einer makroorganisatorischen
Betrachtung der Schule, von der her es unzweifelhaft ist, dass Schulen im genannten Sinn
besser funktionieren, wenn sie dazu Unterstützung von außen bekommen.
Es erhebt sich nun die Frage, in welchem Theoriezusammenhang alle diese Orientierungen
und Kriterien gefasst und praktisch werden können. Es muss ein Begriff von einem Lernen
und seiner schulischen Umsetzung sein, aus dem heraus sich Menschen aktiv in
Auseinandersetzung mit ihrer vielfältigen Umwelt ganzheitlich erleben können. Alle
Orientierungen und Kriterien müssen sich aus einem solchen Lernen ergeben.
1 Lernen als aktive, ganzheitliche, bedeutungsvolle Aneignung von Welt,
das vom Kind aus geplant ist
Lernen ist immer dann effektiv, weil auch hoch motiviert, wenn es mit Interesse, mit allen
Sinnen, kurz mit allen psychisch-geistigen Kräften und Funktionen erfolgt. Ein solches Lernen
ist dann auch ganzheitlich. Die psychisch-geistigen Funktionen sind jene Fähigkeiten und
Fertigkeiten, mit denen wir uns unsere Welt in all ihren Dimensionen aneignen. Es sind 1.
Bewegen, 2. Empfinden und Wahrnehmen, 3. Denken oder Bilden von Bedeutungen,
4.
Sprechen, 5. Fühlen oder sozial-emotionales Handeln, 6. Wollen, 7. Intuieren oder unser
schöpferisches Handeln und 8. Merken oder Erinnern. Diese Funktionen können wieder in
einzelne Operationen aufgegliedert werden, die die letzten Einheiten darstellen, die wir bei der
Aneignung unserer Welt aktivieren. So verstandenes Lernen vermag die genannten
Grundorientierungen praktisch werden zu lassen.
Jean Piaget betont bei der Entwicklung der Intelligenz, dass man, um diese beschreiben zu
können, „den Standpunkt der Handlung einnehmen“ müsse. Erst dadurch dränge „sich auch
die Kontinuität auf, welche die Operationen mit der wirklichen Tätigkeit als Ursprung und
Nährboden der Intelligenz verbindet“ (1984, S. 38). Er fasst seine Überlegungen so
zusammen: „Kurz: der wesentliche Charakter des logischen Denkens besteht darin, daß es
operativ ist, d. h. aus dem Tun hervorgeht, indem es dieses verinnerlicht.“ (a. a. O., S. 40) Wir
eignen uns unsere Welt nicht wirklich an, wenn wir sie uns nicht in direktem Austausch
operierend - und das heißt dann - verstehend und erklärend aneignen. Wissen aus zweiter
Hand ist kein wirkliches Wissen. Jene psychischen Operationen, die dazu dienen, dass wir uns
eine bedeutungsvolle Welt aufbauen, aktivieren wir, wenn wir uns mit ihr handelnd
auseinandersetzen. Es wäre für das Lernen äußerst kontraproduktiv, würden wir wichtige
Funktionen, die unseren psychisch-geistigen Apparat bilden, nicht aktivieren. Genau solche
fatale Ereignisse passieren aber, wenn wir uns Wissen oder besser unsere Welt nicht
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ganzheitlich, d. h. mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln aneignen, sondern wir von
Wissen und Welt nur hören, vielleicht das Gehörte auch noch aufschreiben. Das, was niemand
für sich selbst tut oder kann, nämlich eine abstrakte Welt, abstrakte Begriffe ohne
Anschauungen und Vorstellungen zu verstehen und sich dann auch zu merken, wird immer
noch Schülern aller Schultypen, trotz anders lautender Lehrplanforderungen, zugemutet. Es
könnte aber ganz anders sein (vgl. dazu für viele Rumpf 1988, 1973, Kükelhaus/Lippe 1991).
Die Theorie dieses ganzheitlichen Lernens, bei dem alle unsere psychisch-geistigen Kräfte
und Funktionen aktiviert werden, wollen wir im Weiteren zum leichteren Gebrauch als
Theorie psychischer Operationen (= TPO) bezeichnen.
Mit TPO wird der Anspruch verbunden, die progressiven pädagogischen Ideen der
Vergangenheit und die heutigen pädagogischen Innovationen praktisch umzusetzen. Über
TPO sind die wesentlichen reformpädagogischen Ideen konkret umsetzbar und Lernen kann
auf ihrer Basis optimal gefördert werden. TPO ist höchst innovativ bzw. kann über sie die
Innovation, die durch die derzeit innovativsten schulpädagogischen Maßnahmen, nämlich
Integration (Garnitschnig 1994) und Leistungsbeurteilung ohne Noten, eingebracht worden
sind oder zumindest eingebracht werden könnten (Vierlinger 1993a, 1994, Garnitschnig 1991,
Zangerl 1995), umgesetzt werden. Sie bietet dazu ein geeignetes Instrumentarium. Es mag der
Eindruck entstehen, dass der Anspruch überzogen sei, dass es unmöglich sei, dass eine
Theorie das leisten könne. TPO ist aber tatsächlich sehr komplex und doch wieder so
fundamental, dass es innerhalb dieser Theorie gut gelingt, diverse Ansprüche einzulösen. Über
eine Bewegung der Augen oder des ganzen Körpers wendet man sich jemandem zu. Wenn
man sich dabei seiner inne wird, – aufmerksame Zuwendung zu sich selbst (= Wille, Intuition)
– fühlt man, wie der andere auf einen selbst wirkt. Dieses Fühlen wird nur durch ein
aufmerksames (= Wille) Wahrnehmen seines inneren Gefühlszustandes (= Wahrnehmung)
bewusst. Dabei kommen bisherige Erfahrungen ins Spiel (Erinnerung), die man mit Personen
ähnlichen Aussehens usw. hatte und bringt das auch innerlich zur Sprache.
1.1 Wie kann TPO für die Unterrichtsgestaltung eingesetzt werden?
Beim Lernen als Aneignung von Welt in direkter Auseinandersetzung mit ihr werden
psychische Operationen aktiviert. Es werden natürlich andere psychische Operationen
aktiviert, wenn ein Inhalt z.B. nur zu Gehör gebracht wird, oder wenn der Schüler sich einen
Inhalt in direkter Auseinandersetzung aneignet. Im zweiten Fall werden jedenfalls mehr
psychische Funktionen aktiviert, woraus folgt, dass der Inhalt auch besser gemerkt wird, weil
man sich unter dieser Bedingung mit ihm intensiver auseinandergesetzt hat und er auf diese
Weise für den Schüler existentiell bedeutsam werden kann. Für die Lernplanung bedeutet
dies, dass zu überlegen ist, mit welchen Lernmaterialien und welchen Lernsituationen Schüler
konfrontiert werden müssten, durch die sie jene psychischen Operationen aktivieren, die sie
aufgrund ihres Entwicklungsstandes zur weiteren Förderung aktivieren sollten.
TPO versucht die Entwicklung der psychischen Operationen so genau wie möglich in ihrer
entwicklungspsychologischen Abfolge zu erfassen, zumindest so genau, dass über die
einzelnen Elemente der Aufbau der Welt des Kindes und natürlich dann des Jugendlichen in
allen Facetten genau beschrieben werden kann. Es ist ihr also nicht primär um die Inhalte zu
tun, sondern darum, über welche Operationen sie angeeignet werden. Es geht auch beim
Lernen nicht darum, sich alle Inhalte anzueignen, was völlig unmöglich ist, sondern um das
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Lernen jener Operationen, über die wir uns die spezifischen Inhalte aneignen können. Dies ist
der eigentliche Sinn von Lernen lernen. Die grundlegende Frage ist also, welche psychischen
Operationen jeweils aktiviert werden müssen, um sich bestimmte Inhalte aneignen zu können,
sie zu erfassen, zu verstehen, mit seinen Elementen operieren zu können, ob die Inhalte nun
Zahlen oder Daten über Bienen oder das Weltgeschehen sind, ob das schöpferische
Tätigkeiten sind oder der Zugang des Menschen zu Gott. Genau dieses intelligente Handeln zu
lernen, was den intelligenten Erwachsenen im Gegensatz zum Intellektuellen ausmacht, der
nicht weiß, was er weiß und daher auch nicht, was er nicht weiß und demnach bloßer
Skeptiker oder Agnostiker ist, ist nur über genetisches Lernen möglich, wie es vorbildlich
Martin Wagenschein beschrieben hat.
In seinem Sinn ist es zu begrüßen, dass im neuen Lehrplan der Volksschule von 1986 die
Tendenz erkennbar ist, nicht vordergründig Wissensinhalte sondern Aktivitäten und
Fähigkeiten anzugeben. Auf eine Anregung von Martin Wagenschein formulierte der
Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen in seinen Empfehlungen und
Gutachten schon in den 60er Jahren nicht inhaltliche Lernziele, sondern Funktionsziele. Dort
heißt es, dass Funktionsziele „an nahezu jedem Gegenstand erreicht“ werden könnten.
Allerdings sollte dieser Gegenstand bzw. sollten jene Themenkreise, zu denen der Gegenstand
gehört, bestimmte Kriterien erfüllen. Dies gelte im besonderen dann, wenn nach der
exemplarisch genetischen Methode vorgegangen wird. Verfährt man nach ihr, sollte man
„solche Themenkreise bevorzugen, die
a) geistesgeschichtlich und philosophisch bedeutsam sind,
b) in möglichst viele Teilgebiete <eines Fachbereichs> übergreifen,
c) möglichst wenige Vorkenntnisse erfordern.“ (1966, S. 52)
Für den mathematischen Bereich betont der Deutsche Ausschuß, was für jeden Unterricht
notwendig ist, „daß die Schüler das Erfaßte wirklich verstehen und von seiner notwendigen
Geltung überzeugt sind.....Daß die Schüler mathematisch anschauen und denken lernen, hat
auch den absoluten Vorrang vor dem Umfang der erworbenen Kenntnisse.“ Es sei also zu
fragen, ob der große Umfang mathematischer Bildung, wie ihn der Lehrplan vorsieht, nicht
„eher hindert als fördert“, das Funktionsziel mathematischen Anschauens und Denkens zu
lernen. In diesem Zusammenhang zitiert er die Empfehlungen des Wissenschaftsrates, in
denen es heißt, dass es auch für die Hochschule „auf die an wenigen Gegenständen der
Elementarmathematik erlernbare Denkfähigkeit“ ankomme (Empfehlungen des
Wissenschaftsrates, Teil I, 1960, S. 26, zit. nach a. a. O. S. 50).
Alle Lehrplanziele sind als psychische Funktionen bzw. psychische Operationen darstellbar.
Jene steuern den spezifischen Inhalt bei. Ein gutes Kriterium, ob ein Lernziel im geläufigen
Sinn ein solches ist, oder ob es sich um ein Funktionsziel handelt, ist, dass letzteres mehreren
Lernzielen zugeordnet werden kann.
TPO erspart nicht die Frage nach den Inhalten zu stellen, also bildungstheoretische Fragen
nach dem, was gelernt werden soll. Sie relativieren sich aber auf die Frage, an welchen
Inhalten denn exemplarisch jene psychischen Operationen gelernt werden sollen, über die alle
anderen verwandten Inhalte als generalisierte Operationen angeeignet werden können. Wir
können auch von exemplarischen Austauschprozessen zwischen Individuum und Umwelt
sprechen.
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Nach der genetisch-sokratisch-exemplarischen Methode von Martin Wagenschein ist immer
von einem Problem auszugehen, das die Fragebereitschaft und Spontaneität der Schüler
herausfordert. Im Sinne der genetischen Methode sollten Gegenstände, Begriffe und
Sachverhalte erst dann eingeführt werden, wenn sie sich der Gruppe aufdrängen und sie sich
ganz dem Bedenken der Sache überlassen können. Es verlangt ein intensives und dauerndes
einfühlsames Beobachten und Verstehen der Kinder, wenn man folgende Empfehlung, die der
Deutsche Ausschuß wiederum auf Anregung von Martin Wagenschein gibt, beachten möchte.
Es „sollte darauf geachtet werden, daß ein Begriff, eine Operation, eine Begriffserweiterung
immer dann erst eingeführt werden, wenn eine konkrete Fragestellung den Schüler so weit
geführt hat, daß er von sich aus nach der Erweiterung verlangt“ (1966, S. 52), denn erst dann
wird es zu einem lebendigen Wissen.
Folgende methodische Hinweise möchte Wagenschein im Besonderen beachtet wissen:
„a) Die Gründung auf Anschauung darf nie verloren gehen, und der Zusammenhang mit der
naiven Erfahrung des Schülers ... darf nicht zerrissen werden.
b) Der Umgang mit Kalkülen darf nie in leeren Formalismen ausarten, d.h. man muss sich
vergegenwärtigen können, was man tut.
c) Die Themenkreise müssen auch vom Schüler in ihrem Zusammenhang erkannt werden.“ (a.
a. O., S. 53) Ist dieser Lebenszusammenhang für den Schüler nicht gegeben, wird Lernen nur
zu schnell zu einer intellektuellen Anstrengung und hört auf intelligentes Handeln anzuregen
und zu sein, operativer und für die Schüler bedeutungsgeladener Umgang mit spezifischen
Inhalten.
Es kann nicht genug betont werden, dass man sich, um die Funktionsziele des Sachunterrichts
erreichen zu können, gründlich und ernsthaft auf ein Arbeiten am Phänomen einlassen muss,
wenn man Verstehen erreichen will. Jede abstrakte Form der Aneignung von Wissen führt
nur dazu, dass das Kind eine eigene Phantasiewelt aufbaut. Auch wenn diese die richtige
Welt sein sollte, bleibt sie für das Kind so lange in der bloßen Vorstellung oder in der
Phantasie, bis es diese Welt selbst erfahren kann. Sonst passiert das, was Martin Wagenschein
von sich selbst berichtet: „Von diesen vielen Jahren mit über tausend Schulstunden weiß ich
merkwürdig wenig. Es ist als blickte ich in einen schwach beleuchteten Raum und fast so, als
wäre ich nicht dabei gewesen.“ (a. a. O., S. 15) Der genetische Unterricht leitet also Aussagen
von den Phänomenen her und baut auf dem Wissen der Schüler auf. Alles andere Lernen
produziert nur Scheinwissen, das schnell vergessen wird, und zu „‘imposanten
Schotterhaufen’“ und „‘Angstneurosen’“ führt (a. a. O., S. 106, S. 144). Wir müssen also sehr
wohl darauf achten, welche Verhaltenseinschränkungen und Aggressionen die Schule durch
ihre Lernarrangements selbst produziert, bevor man sie voreilig dem Elternhaus oder der
negativ beeinflussenden sozialen Umwelt eines Schülers zuschiebt. Darauf hat schon Maria
Montessori aufmerksam gemacht, die unter schwierigen Bedingungen scheinbar nicht
entwicklungsfähige Kinder in ihre Häuser aufgenommen hat (Montessori 1988, vgl. auch
Mann 1978).
Man muss also direkt an die Phänomene selbst herankommen, sonst bleibt die Welt
unverstanden. Ein verstehender Aufbau der Welt geschieht über das, was der Fall ist. Aber sie
muss unsere Wirklichkeit werden, sonst ist sie nicht für uns. Man kann im eigentlichen Sinn
auch nur etwas benennen, was für uns da ist. Man wird die Formel H2O erst verstehen, wenn
man eine Elektrolyse von Wasser gemacht hat und dann ausprobiert, wie unterschiedlich die
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beiden Gase reagieren und was passiert, wenn man sie wieder zusammenführt und dass das
Ergebnis davon wieder Wasser ist. Sonst kann H2O nur den alltäglichen Sinn von Wasser
haben oder die Formel bleibt abstrakt.
1.2 Übersetzung der Lernziele in psychische Operationen
Für die schulische Lernplanung im besonderen bedeutet dies, dass die Lernziele – ausgehend
von den spezifischen methodischen Zugängen der Fächer (Wissenschaften) – erst einmal in
psychische Operationen übersetzt werden müssen, um dann jene Lernsituationen planen zu
können, in denen die Schüler genau diese psychischen Operationen aktivieren können. Auf
diese Weise wird dann Lernen zu einem ganzheitlichen Prozess, was im Besonderen durch die
Gestaltpädagogik (Petzold/Brown 1977) und die themenzentrierte Interaktion (Cohn 1980)
immer wieder forciert wurde. Es ist dies ein Merkmal effektiven Lernens, das schon von
Johann Amos Comenius (1592 - 1670) als Bedingung, dass alles leicht und mit Freude gelernt
werde (Große Didaktik, 1657, 1993), gefordert wurde.
Wenn Lernen Austausch mit der Wirklichkeit ist (Garnitschnig 1993, 1994), dann muss
Lernen in spezifischen Situationen erfolgen, in denen der Schüler sich tatsächlich mit
Umwelt, Gegenständen, Ereignissen austauscht. Solange er noch im Stadium der konkreten
Operationen steht, also seine Denkstrukturen noch nicht unabhängig von realen Situationen
aufbauen kann, ist es notwendig, Lernen an realen Gegenständen und Ereignissen zu
vollziehen. Erkenntnis ist also als eine "Konstruktion von Realität", als "eine aktive
Transformation der Umwelt mittels der [bisher gewonnenen, KG] Struktur des Erkennenden"
(Baumgartner 1994, S. 405) aufzufassen, die sich im aktiven Austausch mit der Umwelt
dynamisch hält. Effizientes und signifikantes Lernen erfolgt also über Anpassungsprozesse
des Individuums in der Form der Assimilation und Akkomodation (vgl. Piaget 1984). Lernen
bedeutet also Erweiterung der Strukturen des Repräsentationssystems einer Person, um ein
höheres Gleichgewicht zwischen den Repräsentationsstrukturen und der Außenwelt zu
erreichen.
Die übliche Form der Unterrichtsvorbereitung verläuft auf einer Oberflächenstruktur (vgl.
Oser/Patry 1994), die auf Unterrichtsmethoden und Medien ausgerichtet ist, die der Lehrer
umsetzt und verwendet und nicht auf die Operationen der Lernenden zur Aneignung der
Inhalte zentriert ist. Unterrichtsmodelle, bei denen der Lehrer nur Auswähler von Werkzeugen
ist, sind problematisch. Lehrer als Steuerer oder Erleichterer von Lernprozessen müssen
jedenfalls den Entwicklungsstand der Kinder beachten. Ist dies nicht integraler Bestandteil
eines Unterrichtsinstruments, ist es problematisch. Es bleibt abstrakt. TPO geht davon aus,
dass (1) die Lernziele nicht unabhängig vom Schüler formuliert werden und (2) im
Besonderen die Lernziele nicht unabhängig von der Möglichkeit des Schülers, jene
psychischen Operationen zu aktivieren, die er zu ihrer Erreichung braucht, bestimmt werden.
Wenn Lernen Austausch mit der Umwelt ist, dann sind auch Lernsituationen bedeutsam und
vom Lehrer zu planen, die sich aber nicht in einen eindeutigen Zusammenhang mit den
Lernzielen bringen lassen, weil sie in der Regel über mehrere Lernsituationen anzusteuern
sind, wenn es auch bisweilen eindeutige Zuordnungen geben mag.
Es fordert analytisches Vorgehen, um aus einem Lernziel die Operationen herauszufiltern, die
Schüler aktivieren müssen, um sich das Lernziel aneignen zu können. Z. B. sind im Lernziel
"Sich in der neuen Gemeinschaft zurechtfinden und das Gemeinschaftsleben mitgestalten"
Erstellt: 2008-08-26
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viele Operationen enthalten. Man würde verkürzt vorgehen, wollte man gleich auf
Lernsituationen lossteuern, sondern man muss zunächst fragen, was denn die Bedingungen
dafür sind, dass sich ein Schüler in der neuen Gemeinschaft zurechtfindet. Das liegt an
Personfaktoren, wie z. B. dem eigenen Selbstwert, an der Vertrautheit mit den Personen, dem
Finden einer Position in der Gemeinschaft und an Situationsfaktoren, wie denn die neue
Gemeinschaft beschaffen ist. Sind die neuen Mitschüler z. B. aggressiv; wie hoch ist der
Anteil der Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache, der Kinder mit besonderen
Bedürfnissen? Als Lehrer wird man zunächst einzuschätzen versuchen, wie diese Faktoren
nach ihrer Bedeutsamkeit zu reihen sind. Für das Erlernen des genannten Lernziels gibt es im
täglichen Schulleben derartig viele Situationen, dass dafür keine besondere Situation
arrangiert zu werden braucht. Jedenfalls muss der Schüler im Bereich des sozial-emotionalen
Handelns sich geborgen fühlen können, er muss sich Personen zuwenden, zu ihnen Kontakt
suchen, er muss Erwartungen anderer vorwegnehmen können und eigene Erwartungen
artikulieren, er muss sich auf andere einlassen, Frustrations- und Angsttoleranz aufbringen,
ein stabiles Gefühl von Einheitlichkeit haben, Gefühle ausdrücken, sich einfühlen, sich einem
Gruppenprozess eingliedern, Regeln befolgen, seine Wünsche aufschieben, Verantwortung
übernehmen, seine Position in der Gruppe wahrnehmen, Zugehörigkeit fühlen, die
Perspektiven anderer übernehmen, sich zu anderen in Beziehung setzen, Regeln bilden,
zusammenarbeiten, Regeln verinnerlichen, aufeinander hören, andere anerkennen, sie achten,
sie als gleich sehen, Vorstellungen über ein wünschenswertes Zusammenleben bilden. Im
Bereich des Wollens muss der Schüler bereit sein, neue Situationen aufzusuchen, seine
Aufmerksamkeit von Personen und Situationen steuern lassen, seine Wünsche äußern, planen
und entscheiden, eine Sache zu Ende führen, Grenzen erkennen und sie erweitern wollen,
Raum ausfüllen, sich Raum schaffen, anderen Raum geben, Zeit strukturieren, sich selbst
darstellen, sich selbst verantworten, sich gegenüber Ansprüchen von außen behaupten. Im
Bereich des Sprechens muss er zumindest von Aktionen begleitete Hinweise verstehen, sich
mit anderen auf sie teilweise eingehend unterhalten, Erfahrungen in einer spontanen Form
erzählen, handlungsbezogen sprechen, eigene Gedanken und Vorstellungen mitteilen, neue
Ideen über freies Assoziieren einbringen, Ideen anderer folgen. Im Bereich des Denkens wird
der Schüler für dieses Lernziel symbolisches Handeln aktivieren, durch Experimentieren
Probleme lösen, Ideen vergleichen und sie nach ihren Folgen abwägen, planen, Situationen in
ihrer Ganzheit erfassen, einzelne Elemente von Situationen in ihrem Zusammenhang erfassen,
Zusammenhänge intuitiv herstellen. Der Bereich des schöpferischen Denkens ist mit dem
Entwickeln von neuen Ideen schon berücksichtigt. Natürlich werden alle die Handlungen an
sich und an anderen auch wahrgenommen, Situationen und Ereignisfolgen, Regeln müssen
gemerkt werden und alle diese Prozesse sind auch von Bewegungen begleitet, die aber in
diesem Zusammenhang von nicht so großer Bedeutung sind (vgl. dazu Garnitschnig u.a. 1995,
S. 11 - 15).
Deutlich ist jedenfalls geworden, dass erst eine genaue Analyse von Lernzielen auf der Basis
der grundlegenden Operationen, die aktiviert werden müssen, um ein bestimmtes Lernziel zu
erreichen, klar erkennen lässt, was mit einem bestimmten Lernziel gemeint ist. Sonst bleibt es
in der Regel viel zu komplex. In den einzelnen Handlungen der Schüler fließen ohnehin die
Operationen der einzelnen psychischen Funktionen zusammen. Wenn dies so ist, dann taucht
die Frage auf, ob für die Konstruktion von Lehrplänen nicht von den psychischen Operationen
ausgegangen werden sollte. Eine Lehrplankonstruktion unter anderen Gesichtspunkten bleibt
willkürlich, wie sich leicht nachweisen ließe. Dies zeigt ja schon die oben durchgeführte
Aufschlüsselung eines Lernziels.
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
Die aufgezählten Operationen sind auf die Inhaltsstruktur bezogen und sind Resultat ihrer
Analyse. Die Inhaltsstruktur meint die gegenstandsbezogenen (Subjekte, Objekte,
Sachverhalte, Ereignisse, Theorien, ...) Begriffe und Relationen, um einen Sachverhalt
erfassen zu können. Die Operationen der Inhaltsstruktur sind die Elemente und Relationen,
mit denen sich die verschiedenen Logiken beschäftigen bzw. zum Inhalt haben: Begriffslogik,
Relationenlogik, Prädikatenlogik, Aussagenlogik und Speziallogiken wie die deontische
Logik. Diese wiederum sind die formalisierten Methodenkonzepte der einzelnen
Wissenschaften.
Die inhaltlichen Operationen der Lernziele werden vom Kind über psychische Funktionen
bzw. Operationen angeeignet. Diese werden vom Kind über Lernsituationen und
Lernmaterialien aktiviert, die wiederum in sich die entsprechenden inhaltlichen Operationen
enthalten müssen, damit sich das Kind auch wirklich durch sie die gewünschten Lernziele
aneignen kann.
Von den Lernsituationen ist gefordert, dass sie den Kriterien aktiven Lernens genügen, d. h.
sie müssen reales Leben sein, bzw. das Kind zu realen Handlungen auffordern. Sie können
ganz unterschiedlich komplex sein. Somit werden durch sie immer mehrere Ebenen
psychischer Funktionen angesprochen. Diese sind durch unterschiedliche Grade der
Ausprägung der Entwicklung, ihrer Koordination gekennzeichnet. Die Lernsituationen sollten
alle diese Unterschiede zulassen, was heißt, dass sie in der Regel nicht auf eine psychische
Funktion mit einem bestimmten Ausprägungsgrad zugeschnitten sein sollten, außer es soll
eine bestimmte psychische Operation für sich geübt werden. Wird Lernen an das Schulleben
angebunden, dann erfüllen die Lernsituationen selbstverständlich dieses Kriterium.
Abbildung 1: Planungsmodell
Lernziel
Inhaltsstruktur
Lernvoraussetzungen
Methoden des
Faches
Psychische Funktionen/
Operationen
Lernsituation
Lernmedien
Am Beispiel des Lernziels "Sich in der neuen Gemeinschaft zurechtfinden" kann für ein
autistisches Kind schon viel bedeuten, wenn es sich auf jemanden zubewegen kann, ohne mit
diesem Kontakt - und sei es nur Augenkontakt - aufzunehmen. Für ein anderes Kind kann es
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bedeuten, dass es zur Einsicht kommt, es müsste sich gegenüber anderen zurücknehmen, um
auch ihnen eine Chance zu geben, sich in die Gruppe integrieren zu können. Lernziele wären
also jeweils differenziert nach der Entwicklung eines Kindes zu sehen, aber auch nach der
Gesamtgruppe und den Subgruppen in ihr. Dies ist wieder nur durch eine Analyse der
Lernziele auf der Basis der Entwicklung der psychischen Operationen bei den einzelnen
Schülern erkennbar. Was dem einen zugemutet werden kann, muss noch lange nicht von allen
bewältigt werden können. In diesem Sinne ist Unterricht auf dieser Basis integrativ. Auf
Situationen bezogen können Kinder an diese je nach ihren entwicklungsbedingten
Möglichkeiten herangehen. Außerdem ist es gut möglich, dass Kinder gemeinsam eine und
dieselbe Situation je nach ihren Möglichkeiten bewältigen. Um gerade das Moment der
Zusammenarbeit an einer Sache zu betonen, empfiehlt der Sozialpädagoge Georg Feuser, der
kompromisslos Integration als Menschenrecht vertritt, konsequent durchgängig
Projektunterricht (Feuser 1987, 1993, Feuser/Meyer 1987). Im Zusammenhang dieser Arbeit
wird der Situationsbegriff vorgezogen, weil er analytisch brauchbar ist, und weil Situationen
von ganz unterschiedlicher Komplexität sein können. Sie können von ganz einfachen
Handlungen, die eine Person durchführt, bis zu Ereignissen reichen, die äußerst komplex sind
und in die eine ganze Klasse oder sogar die ganze Schule eingebunden sein kann. In solchen
Situationen wird eine Arbeitsteilung mit unterschiedlich schwierigen Verrichtungen, in die
alle Schüler je nach ihren Fähigkeiten eingebunden werden können, vorzunehmen sein. Aus
diesen Überlegungen ergibt sich das oben dargestellte Planungsmodell.
1.3 Genaue, sensible Beobachtung der Schüler als Grundlage für die Gestaltung von
Lernsituationen
Jede Beobachtung kann wichtig sein, weil sich Lern- oder Handlungseinschränkungen in
kleinsten Äußerungen zeigen, die später enorme Auswirkungen haben können, wenn nicht
gleich auf sie reagiert wird. Gute Lehrer achten primär auch darauf, ob sich die Schüler wohl
fühlen. Sie versuchen die Schüler möglichst tief zu verstehen. Daher werden sie z. B. bei
Aufsätzen weniger „auf Ausdrucks- und Rechtschreibfehler und unlogische
Schlußfolgerungen“ achten als vielmehr darauf, „welche Erfahrung das Kind im Aufsatz zum
Ausdruck bringt, welche Wünsche und Ängste“ (Mann 1978, S. 117).
Es liegt nun die Frage auf der Hand, welche Anforderungen eine Schule an die Schüler stellt,
wie weit ihre psychischen Funktionen bei Schuleintritt entwickelt sein müssten oder sollten.
Aber genau diese Frage ist nicht zu stellen, wenn Integration ernst genommen wird. Diese
geht nicht von einem Erfolgskonzept, sondern von einem Konzept des Zusammenlebens aus
(Feuser 1992, Preuss-Lausitz 1990, Garnitschnig 1994). Vielmehr ist zu fragen, was alle
Kinder aus diesem Zusammenleben lernen können und was auch die Kinder mit dem größten
Entwicklungsrückstand zu diesem und natürlich auch zu den gemeinsamen Aufgaben, die
durch die spezifische Institution Schule gestellt werden, beitragen können.
Auf Selektion wird zugunsten von Integration in jeder Hinsicht verzichtet. Anstelle von
äußerer Differenzierung wird eine innere Differenzierung angestrebt. Diese ist wegen der
offenen Lernformen in einer vorbereiteten Umgebung sogar individualisiert möglich. Das
Lernen wird über Jahres-, Monats- oder Wochenpläne je nach der Eigeninitiative und der
Aufmerksamkeitsspanne der Schüler gesteuert. Auf Noten kann verzichtet werden. An ihre
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Stelle tritt eine genaue, dauernde Rückmeldung über die Beobachtung der Entwicklung der
Schüler.
1.4 Exemplarität und fächerübergreifendes Lernen
Es sei noch darauf verwiesen, dass durch die Analyse von Lernzielen nach ihren Operationen
inhaltlicher und psychischer Art die Frage der Exemplarität und des fächerübergreifenden
Lernens erst wirklich bestimmt werden können. Bei der Analyse zeigt es sich nämlich, dass
durch die Lernziele immer viele Operationen aktiviert werden, die ebenso auch in anderen
Lernzielen enthalten sind. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Kinder auch dann alle zum
Austausch mit Welt in unserer Kultur nötigen psychischen Operationen erlernen werden,
wenn von ihren Interessen ausgegangen wird und ad hoc Probleme der Kinder aufgegriffen
werden. Natürlich dürften dabei vom Lehrer keine Lösungen angeboten oder gar
vorgeschrieben werden, sondern die Lösungen müssten von den Kindern selbst gefunden und
evaluiert werden. Kinder beherrschen sehr bald die Operationen des Dazugebens oder
Zusammenzählens, des Wegzählens und des Teilens, wenn man sie diese konkret durchführen
lässt und nicht von der Konkretisierung trennt. Wenn man also von Situationen und
Ganzheiten ausgeht und erkennt, über welche Operationen man eine bestimmte Zahl erreichen
kann.
Auszugehen wäre von der Vorstellung, dass Wissen auf Zusammenhängen zwischen
Begriffen und Theorien basiert und dass die Lösung von Problemen nicht in Fächer sektioniert
wird. Eine Sektionierung würde bestimmte Methoden der Problemlösung vorschreiben. Es
wären nicht Methoden der Problemlösung vorzugeben, sondern es wären Problemlösungen zu
versuchen und der Prozess, der dabei durchlaufen wird, zu reflektieren oder zu analysieren.
Dann wird sich sekundär zeigen, ob dafür ein anderes Vorgehen (= eine andere Methode)
nötig oder günstiger als das gewesen wäre, das angewendet wurde. Dadurch, dass der Schüler
die Wurzeln der Differenzierung des Wissens aus den zugrunde liegenden unterschiedlichen
Operationen erfährt, wird er besser für den nachfolgenden Fachunterricht vorbereitet. Auf
diese Weise lernt er nicht ein Wissen, das die Tendenz hat, in Vergessenheit zu geraten,
sondern Denk- und Verstehensstrukturen.
In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, nicht von einem fächerübergreifenden, sondern
von einem themenübergreifenden Lernen zu sprechen. Es gibt viele Themen und
Fragestellungen, die mit einer überschaubaren Menge von Denkstrukturen erörtert werden
können. So gesehen wäre es wichtiger, die Denkstrukturen (= Denkmethoden) an vielen,
unterschiedlichen Themen zu üben (vgl. De Bono 1994, S. 39), als Themen zu erörtern, ohne
die dabei verwendeten Denkmethoden bewusst zu machen, um auf sie bei der Erarbeitung von
weiteren Themen zurückgreifen zu können. Auf diese Weise würde selbständiges Denken
gefördert, und Lernen würde beginnen, Spaß zu machen. Es ist also das Ziel,
„Denkfähigkeiten aufzubauen, und nicht nur eine interessante Diskussion in Gang zu bringen,
in der ein wenig Denken stattfindet“ (De Bono 1994, S. 40). Dabei könnten die Kinder auch
lernen, auf Zeit und Konzentration zu achten und nicht abzudriften.
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Jedes Thema wäre nicht von den für es nötigen Informationen ausgehend aufzuschlüsseln,
sondern von den mit ihm verbundenen Fragen. Denn erst Fragen regen zum Denken und
damit zum Eindringen in das Thema an (vgl. Wagenschein 1991). Es wird dann auch im Sinne
der Descartschen Methode deutlich und klar, warum man bestimmte Informationen braucht,
wozu sie gut sind, d. h., warum man sie sich aneignen sollte - man beginnt zu verstehen, zu
begreifen. Fragen wir nochmals zusammenfassend, wodurch sich TPO auszeichnet:
 TPO geht von einem Lernbegriff aus, der einen aktiven Austausch mit Welt über
Lernmaterialien und Lernsituationen aus dem privaten und schulischen Lebensbereich forciert.
 TPO ist ganzheitlich orientiert, indem sie die Handlungen von Individuen in den
Mittelpunkt stellt, bei denen immer alle psychischen Funktionen in spezifischen
Modellierungen zusammenspielen.
 TPO richtet das Augenmerk auf den Lernprozess. Der Lehrprozess wird jenem
untergeordnet.
 TPO legt den Schwerpunkt auf die lernenden Individuen, nicht auf die zu lernenden
Inhalte.
 TPO strebt generalisierte Operationen solcher Art an, die für viele Situationen anwendbar
sind, nicht spezialisiertes Wissen.
 TPO achtet auf eine Lernatmosphäre, in der sich die Lernenden frei äußern können und ihre
psychischen Funktionen leicht aktivieren können.
Daher übt der Lehrer keine Macht aus, sondern versteht sich auch als Mitlerner mit den
Schülern (vgl. Mann 1978). Er achtet bei der Organisation von Lernprozessen auf die
Bereitstellung von Lernmaterialien und Lernsituationen, über die und in denen sich die Kinder
ihr Lernen selbst organisieren. Die Hauptaufgabe des Lehrers beim aktiven Lernen der Schüler
ist, diesen eine entspannte, vorbereitete Lernumgebung zu schaffen und die genaue
Beobachtung ihrer Tätigkeiten, um zu erkennen, wie weit sie die psychischen Operationen
aktivieren (können), um für die Schüler jene Lernumwelt individualisiert gestalten zu können,
die ihr Lernen, ihre Entwicklung fördert, was heißt, dass es ihnen gelingt, Probleme auf immer
komplexerer Operationsbasis zu lösen.
Es ist ermutigend von Lehrerinnen, die mit TPO arbeiten, zu hören, sie böte eine
Rechtfertigung für das, was sie immer schon machten, sie könnten nun ohne Scheu mit den
Kindern spielen, Geburtstagsfeste und Klassenfeste vorbereiten, weil die Kinder dabei eine
Menge lernen, was aber im Grunde doch - aber nur anders im Lehrplan steht, was sie für
Deutsch, Mathematik, Sachkunde und natürlich für die Unterrichtsprinzipien, z. B. das soziale
Lernen bräuchten. Man müsste nur tatsächlich die Kinder in die Planung und Umsetzung und
Gestaltung einbeziehen. Damit wagen sie es, das Schulleben in den Schulalltag einzubringen.
Für Iris Mann steht im Zentrum einer emanzipatorischen Pädagogik, dass Individuen von
Fremd- zu Selbsterfahrung kommen. In unserer Gesellschaft, im Besonderen in der Schule,
die unsere Gesellschaft widerspiegelt, sind strukturell Situationen vorhanden, die den
Übergang von Fremd- zu Selbsterfahrung verhindern (1978, S. 7). Lernen wäre so zu
organisieren, dass Erfahrung mit der Welt zu einer direkten Erfahrung wird, bei der Welt als
nach Gesetzen, sofern sie natürliche Welt ist, und als nach Maximen des guten Handelns,
sofern es die soziale Umwelt betrifft, machbar und veränderbar erscheint. Dazu ist es nötig,
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dass die Schüler selbst tätig werden, selbst schöpferisch handeln. „‘Lernen kann man alles.
Man muß es sich nur vorstellen können.’“ (Mann 1978, S. 34)
Lernen als Austausch mit der Umwelt kann unbewusst, automatisch, instinktiv,
gewohnheitsmäßig oder bewusst, geplant, aktiv, methodisch erfolgen. Diese zweite Form des
Lernens ist anzustreben, bei dem das Kind sich aktiv fragend, planend, hantierend
auseinandersetzt. Dieser Austausch mit der Umwelt steht unter Bedingungen, die wiederum
entwicklungsbedingt sind:
1. Abgestimmtheit des Organismus mit der Umwelt - unter Umständen Veränderung der
Umwelt
2. Wendung des Organismus zur Umwelt hin, instinktiv oder triebhaft, passiv, organisch
bedingt oder aufgrund von Bedürfnissen oder Interessen, aktiv, psychisch-noetisch bedingt Bewegung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit als eine Willensmodalität
3. Erkundung, Beobachtung und Erfassung - Wahrnehmung, Beobachtung: Sammeln von
Informationen, Daten - Verwendung von Registriertechniken - Klassifikationen, Schätzen und
Messen der Daten nach komparativen und quantitativen Größenverhältnissen Schätzverfahren, Messtechniken
4. Systematisieren von Informationen, Daten - Herstellen von Zusammenhängen, Relationen
zwischen den Daten - Hypothesen-, Theoriebildung
5. Evaluieren, Bewerten - Angabe von Kriterien für die Güte von Theorien
6. Kreativität: Kann vielfältig eingesetzt werden: beim Bilden von Hypothesen, Finden von
Kriterien, Sammeln von Vorschlägen und Ideen bei Entscheidungen und Problemlösungen
7. Metadenken: Denken über Denken, Lernen lernen, Merktechniken
1.5 Die Lebenswelt des Schülers und die vorbereitete Umgebung
Der einzige Weg, Intelligenz zu erwerben, ist, intelligent zu handeln. Genau solche
Lernsituationen sind also gefragt, in denen der Schüler intelligent handeln kann. Das gilt für
alle Handlungen, in denen er sich aktiv mit seiner Umwelt auseinandersetzen kann. Dabei soll
er Erfahrungen auf seinem höchsten intellektuellen Niveau machen können. Es macht einen
wesentlichen Unterschied aus, ob der Schüler z. B. eine Rechnungsart mechanisch nach
regelhaften Anleitungen des Lehrers durchführt oder ob er genau verstanden hat, wie die
einzelnen Operationen, die zur Lösung führen, zu machen sind. Dies wird aber erst dann
möglich sein, wenn ihm Zeit gelassen wird, die einzelnen Operationen - wenn nötig unter
vorsichtigen Frageimpulsen oder Aufforderungen des Lehrers, es in einer bestimmten Weise
einmal anders zu versuchen, die ihm die Lust des selbst Entdeckens nicht nehmen - selbst zu
entdecken. Etwas Vorgezeigtes nachzumachen fördert nicht intelligentes Handeln, wenn auch
bei vielen Lernprozessen v. a. in jungen Jahren dieser mit der Nachahmung beginnt.
Ziel des Lernens ist es, sich die universellen Schemata der Weltdeutung in den
unterschiedlichen Bereichen anzueignen, damit der Schüler zu einer differenzierten Weltsicht
kommt. Dabei ist darauf zu achten, dass der Schüler mit Objekten und in Situationen operativ
umgehen kann, sonst kann er nicht verstehen. Er soll also aktiv handeln können und die
Schüler merken bald, dass diese Tätigkeiten ihren Lohn in sich selbst tragen. Anspruchsvolle
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Tätigkeiten sind an sich selbst lohnend. Solche lassen sich aber nicht in einer abstrakten Welt,
sondern nur in realen Situationen, mit konkreten Materialien erleben. Daher ist es die
vornehmlichste Aufgabe des Lehrers, unter Ausnutzung des Schullebens, das in sich viele
Möglichkeiten bietet, aber auch noch durch Öffnung angereichert werden kann, für die
Schüler eine nach ihrem Entwicklungsstand anregende Lernumwelt zu gestalten, in der sie
nach ihrem Tempo individuell lernen können. Normale Pädagogik glaubt, einen Prozess
verkürzen zu können, der aber je nach der Individualität des Schülers seine Zeit braucht. Im
Endeffekt führt dies allerdings dazu, dass das, was Schüler zur gegebenen Zeit in sehr kurzer
Zeit lernen können, auf Jahre verteilt wird, weil Lehrer ohne dieses Bewusstsein zu wenig auf
den inneren Entwicklungsplan und die Eigenmotivation der Schüler vertrauen. Schon
Rousseau hat gemeint „Man soll nicht Zeit einsparen, sondern verlieren“ (zit. nach Dennison
1976, S. 23). Und Wagenschein bemerkt: „Eile verdirbt alles.“ (1983, S. 150) Lehrer glauben
immer wieder, sie müssten in die Schüler viel Stoff hineinpressen. Eigentlich kann es nur
darum gehen, dass diese ihre psychischen Operationen intelligent anwenden können. Wenn
jemand glaubt, diesen Prozess beschleunigen zu müssen, dann gelingt das effektiv nur, wenn
dem Schüler eine anregende Umwelt zur Verfügung gestellt wird, in der er seine psychischen
Operationen aktivieren kann. Am deutlichsten zeigt es sich bei Behinderten, wie sehr man bei
all ihrem Tun und ihren (ehrgeizigen) Zielen auf die Kräfte der Schüler angewiesen ist.
Eine derartig organisierte Schule ist eine Entwicklungsschule, die auf folgenden Grundsätzen
aufbaut:
1. Die Entwicklung psychischer Funktionen ist an sich wertvoll.
2. Die organisierten Handlungen des Lehrers sollen die Entwicklung der psychischen
Operationen des Schülers und so seine Selbsttätigkeit fördern, die eine Grundbedingung für
eine gesunde psychische Entwicklung ist.
3. Dies geschieht durch eine vorbereitete Umgebung, die dem Aktivierungsniveau der
psychischen Operationen der Kinder entspricht.
4. Wenn der Schüler frei ist, dann lässt er sich von den Dingen und Ereignissen der Umwelt
zentrieren (vgl. Jacoby 1991) und arbeitet engagiert und geschickt an der eigenen
Entwicklung. Er wird lernen, seinen Maßstab in sich zu haben, seine Möglichkeiten
einzuschätzen und zu einer freien Beziehung zu sich selbst kommen. Der Schüler zentriert
sich auf sich selbst und auf die Dinge - im Sinne einer „sachbezogenen Aufmerksamkeit“
(Furth/Wachs 1978, S. 67) - und nicht auf den Lehrer als die einzige Quelle des Wissens.
Wissen wächst ihm vielmehr aus der Auseinandersetzung mit Welt zu. Der Lehrer bietet
Möglichkeiten an und überlässt es den Kindern, daraus Nutzen zu ziehen.
5. Das Lernen läuft in einem sozialen Kontext ab. Schüler arbeiten immer wieder in
unterschiedlichen sozialen Gruppen und Konstellationen zusammen. Bei dieser
Zusammenarbeit kommt die sehr effektive Form des Lernens durch Lehren zum Tragen.
6. Der Lehrer ist Modell für einen emotional offenen, sozialen, denkenden und kreativen
Menschen. Er erfüllt die Aufgabe, die Schüler bei der Entwicklung ihrer psychischen
Operationen zu beobachten und daraus ableitend eine Umwelt bereitzustellen, die diese
Entwicklung fördert. Der Lehrer beurteilt die Schüler nicht, sondern meldet ihnen seine
Beobachtungen über die Entwicklung ihrer psychischen Operationen zurück und plant die
jeweils nächsten Angebote. Auf diese Weise entsteht ein gutes Klima, in dem die Schüler sich
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frei fühlen können. Dies führt „zur Überwindung unkontrollierter emotionaler
Verhaltensweisen“ (a. a. O., S. 82) wie z. B. Einnässen in Stresssituationen (a. a. O., S. 65 ff.)
Das Denken kann nicht als Unterrichtsfach gelehrt werden und ist kein Wissen, das man
erinnern oder vergessen kann. Intelligenz ist die Totalität der verfügbaren Denkschemata.
„...das Denken ist in den Handlungen, in den Wahrnehmungen, Bildern, in der Sprache
anwesend.“ (Furth/Wachs 1978, S. 46) Intelligenz ist unter diesem Gesichtspunkt die
„schrittweise Produktion neuer Denkschemata“ (a. a. O., S. 47). Wie Kinder beim Erlernen
der Sprache mit unglaublicher Sicherheit Generalisierungen vornehmen und auf diese Weise
die Grammatik richtig anwenden lernen, so koordinieren und systematisieren sie von selbst
ihre Erfahrungen.
Mit diesen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, wie die eingangs genannten Ideen die
Organisation von Lernprozessen in der Schule tragen können und auch sollten, damit nach den
Ideen ein ganzheitliches Lernen vom Kinde aus in einer aktiven Schule als
Lebensgemeinschaft aller Beteiligten als ein Lernen aus dem Leben für das Leben geschehen
kann.
1.6 Individualisierung oder die Notwendigkeit einer entwicklungsdynamisch orientierten
Förderdiagnostik
Nur zu häufig wird von der Vorstellung der Komplementarität des Verhältnisses von Lehrer
und Schüler ausgegangen und eine abstrakte Beziehung postuliert, nach der der Schüler von
seiner Funktion als Schüler, der bestimmte Aufgaben zu erfüllen hat, und nicht als
individuelle Person verstanden wird. Vielmehr ist dem Schüler mit Achtung und in
Anerkennung seiner Individualität zu begegnen. Was der Lehrer dafür braucht, ist eine
entwicklungsdynamisch fundierte Theorie, die es ihm ermöglicht, den Schüler in seiner
Individualität mit seiner spezifischen Lebens- und Lerngeschichte, die auch von traumatischen
Erfahrungen oder von leiblich-seelisch-geistigen Besonderheiten gekennzeichnet sein mag.
Damit der Lehrer nun den Schüler in seiner Individualität zu erkennen vermag, wird die
teilnehmend verstehende Beobachtung eine der wichtigsten Aufgaben des Lehrers sein. Diese
wird sich auf die Ganzheit der Äußerungen des Schülers beziehen, auf seine leiblich-seelischgeistige Einheit. Schon von Ganzheit zu sprechen – wie dies üblich geworden ist –, wenn zur
kognitiven auch der sozial-emotionale und der psychomotorische Bereich einbezogen wird,
reicht nicht aus. Denn zur Ganzheit des Menschen gehören alle seine psychischen Funktionen,
auch das Wahrnehmen, Sprechen, Intuieren oder sein Kreativsein und das Erinnern. Erst im
Zusammenspiel all dieser Funktionen in ihrem spezifischen Zugriff auf die Vielgestaltigkeit
unserer Welt und unseres Handelns in ihr wird die Ganzheit des Menschseins sichtbar.
Die Planung von Lernen beruht also auf zwei Voraussetzungen: Es ist einerseits die
Entwicklungsdynamik des Schülers, sein erreichter Zustand der Entwicklung der psychischen
Funktionen und andererseits die Struktur lebensweltlicher Phänomene und Prozesse, die er
sich aneignen will und soll. Diese sind vom Lehrer in Lernsituationen so zu übersetzen, dass
der Schüler an ihnen genau jene psychischen Operationen aktivieren kann, die bei ihm zu
einem gegebenen Zeitpunkt entwicklungsdynamisch an der Reihe sind. Somit haben die
Lernsituationen wieder das rückkoppelnde Merkmal, das wir schon oben bei der Beschreibung
des Lernprozesses hatten, einerseits in ihnen den nächsten Lernschritt als Aneignung eines
Stücks Welt zu vollziehen und andererseits ist dieser Aneignungsprozess der Anlass, jene
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psychischen Operationen zu erlernen, über die wir uns unsere Welt aneignen (vgl.
Garnitschnig 1995, S. 9 f.; 1996, S. 16 f.; 1997, S. 14 f.).
Der Lehrer hat also eine sehr komplexe Aufgabe zu erfüllen, will er wirklich professionell
fördernd vorgehen. Im Blick auf die Dynamik der Entwicklung der psychischen Operationen
bei der Aneignung von Welt und beim Handeln in ihr erfährt der Lehrer, welche nächsten
Schritte für den Schüler an der Reihe sind. Auf der Basis dieser Beobachtung kann der Lehrer
jene Lernsituationen planen, die genau für diesen bestimmten Schüler passen.
1.7 Offenes Lernen als angemessene Methode für diese Form des aktiven Lernens
Offenes Lernen als eine von vielen Lehrern besonders in alternativen Schulen aber auch in
Regelschulen erprobte Methode ermöglicht dem Lehrer die vielen Lehrern unwahrscheinlich
vorkommende Leistung, einerseits Zeit für die Beobachtung der Schüler als Basis für die
Individualisierung zu haben und andererseits einzelne Schüler individuell zu fördern. Dem
widerspricht nicht, dass der Lehrer zeitweise für alle oder für einen Teil der Schüler einer
Klasse kursartige Informationseinheiten gibt.1 Außerdem sollte beim offenen Unterricht nicht
auf die Lehrkompetenz der Gleichaltrigen vergessen werden. Dabei kann man sich das
Faktum vergegenwärtigen, dass durch Lehren gelernt wird. Bei einem solchen Unterricht
können alle Schüler, auch die Hochbegabten gefördert werden, zumal dadurch höchste
Eigenaktivität gefordert ist.
Durch die individuelle Arbeit mit Schülern, die bei offenem Unterricht möglich wird, kann die
aktuelle Entwicklungsdynamik bei den einzelnen Schülern erfasst werden. Dazu bedarf es
einer Entwicklungsdiagnostik, die für schätzungsweise etwa 95% der Schüler durch die
folgende Tabelle gegeben ist. Hat ein Schüler in irgendeiner Funktion oder in mehreren
Funktionen besonders schwere Einschränkungen, dann müsste der Entwicklungsverlauf in
noch kleineren Schritten beschrieben werden, um 1. gezielter fördern und um 2. auch kleine
Lernfortschritte erkennen zu können.
1
Derartige Formen sind in kleinen Schulen mit Abteilungsunterricht gang und gäbe.
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Abbildung 2: Tabelle der Entwicklung der psychischen Funktionen
EntwicklungsPhase
Bewegen
Empfinden, Wahrnehmen
Denken
Modalitäten
Pulsieren, Atmen, Saugen, Schlucken,
Strecken, Beugen, Strampeln, Greifen,
Halten Ziehen, Dehnen, Drehen,
Federn, Schwimmen, Krabbeln,
Robben, Sitzen, sich Aufrichten,
Klettern, Gehen, Springen
Modalitäten
Riechen, Hören, Schmecken, Tasten,
Sehen, Schmerz-/Wärme-Empfinden,
Raum-/Lage-Empfinden,
Gleichgewicht, Körpersinn,
Rhythmus-/Harmonie-Empfinden,
Energiefluss Spüren
Modalitäten
digitales, analytisches, logisches
Denken
analoges, ganzheitliches, synthetisc
Denken
sensomotorische 1. reflektorisches, instinktives
Phase
Bewegen
2. Betätigen und Üben der Reflexe
egozentrische
3. Differenzieren v. Bewegungen
Rollenüber4. Koordinieren v. Bewegungen
nahme
5. spontanes, autonomes Bewegen
6. Koordination v. Bewegungen und
Wahrnehmung
7. Fließen der Bewegung
8. Beweglichkeit
9. Automatisierung von Bewegungen
10. Kombinationen von Bewegungen
11. über Wahrnehmung
ausgelöstes/gesteuertes Bewegen
12. Übernahme visuell oder akustisch
wahrgenommener Bewegung in
die eigene Bewegung
13. Gleichgewicht halten
14. Überkreuzen der Mittellinie
1. an den Augenschein gebundenes
Wahrnehmen
2. Wahrnehmen v. Ganzheiten
3. kreuzmodales Wahrnehmen
4. Zentriertheit der Wahrnehmung
auf nur ein Merkmal
5. Gliederung von Wahrnehmungen
6. intermodales Wahrnehmen
7. Integrieren von Wahrnehmungen
aus verschiedenen
Sinnesmodalitäten
1.
2.
3.
4.
5.
EntwicklungsPhase
Bewegen
Empfinden, Wahrnehmen
Denken
Symbolisches/
vorbegriffliches
Denken
15. einzelne Bewegungsverläufe als
Gesamthandlung empfinden
16. Aneignung v. komplexer
werdenden Bewegungsabläufen
17. Automatisierung von
Bewegungsabläufen
18. Vorgegebenes und Vorgestelltes in
Bewegung umsetzen
19. Bewegungen nach Tempo, Kraft,
Spannung ausführen und variieren
20. einzelne Bewegungsabläufe in
unterschiedliche Handlungen
integrieren
21. Lateralität/Seitigkeit ausbilden
8. zwei Merkmale miteinander
verbinden/aufeinander abstimmen
9. Körperwahrnehmung
10. Körperschema aufbauen
11. Raumwahrnehmung
12. Isolieren und verfeinern von
Wahrnehmungen
13. Sequentieren von Wahrnehmungen
14. abgestimmt auf Außenreize
reagieren
8. vorstellungsmäßiges
Vergegenwärtigen v. bildhaften
Symbolen
9. topologische Ordnung: benachb
getrennt, eingeschlossen,
umschlossen
10. Sortieren nach unterschiedlichen
Merkmalen
11. Gegensätze bilden
12. Bewerten nach wesentlichen/
unwesentlichen Eigenschaften
13. symbolisches Handeln
14. durch Experimentieren Problem
lösen
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Wahrnehmungsschemata bilden
Generalisieren, Diskriminieren
Permanenz der Person
Permanenz des Objekts
zwei Verhaltensschemata so
kombinieren, dass daraus eine
neue Handlung entsteht
6. zielgerichtetes/intentionales
Handeln
7. Kombination von
Verhaltensschemata
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15. sich Gegenstände vorstellen
16. Symbole gebrauchen
17. Gegenstände/Ereignisse nach
mehreren Merkmalen vergleiche
18. intentionales Kausaldenken
Erstellt: 2008-08-26
Update: 2016-05-13
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EntwicklungsPhase
Bewegen
Anschauliches
Denken
22. weiteres Isolieren und Verfeinern
von Bewegungen
23. Verfeinern der Koordination
Subjektive
24. bewusstes Steuern von komplexen
Rollenübernahm
Bewegungen
e
25. sich selbst über Bewegung,
Atmung regulieren
26. adäquat, schnell reagieren
27. Kraft dosieren, lenken
28. Bewusstsein von Körperhaltung
und Gleichgewicht
Erstellt: 2008-08-26
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Empfinden, Wahrnehmen
Denken
15. weiteres Verfeinern und Isolieren
von Wahrnehmungen
16. anschauliche Beziehungen eines
Systems in ihrem Zusammenhang
sehen
17. gleich bleibende Einheiten
unabhängig von der Zahl der
Merkmale erfassen
18. Erhaltung des Ganzen
19. serielles Wahrnehmen
19. die funktionelle Abhängigkeit
zweier Merkmale erfassen
20. assoziative/transitive/reversible
Komposition
21. euklidische Formen Erfassen:
Gerade, Kreis, Winkel, Quadrat
Dreieck
22. Transformation verstehen
23. Invarianz der Menge/Anzahl
24. Invarianz des Gewichts
25. Invarianz der Substanz
26. Zahlbegriff
27. Ziele planen, für die es mehrere
Lösungswege gibt
28. Realitätsbewusstsein
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EntwicklungsPhase
Bewegen
konkrete
Operationen
29. Muskeltonus gezielt aufbauen
20. innere Vergegenwärtigung von
Wahrnehmungen
30. Bewegungen reflektieren
21.
rein vorstellungsmäßige
31. Körperhaltungen/Bewegungen bei
Vergegenwärtigung von inneren
sich und bei anderen als Ausdruck
und äußeren Wahrnehmungen
seiner/ihrer selbst erfahren
32. Bewusstheit von Körperhaltung
und Gleichgewicht
33. Körpergefühl und
Körperbewusstsein in Bewegungen
umsetzen
28. Reihenfolgen: räumlich, zeitlich
29. Erfassen von Größenverhältniss
30. Ordnen bildhaft dargestellter
Objekte und Situationen
31. Mengen und Ordnungsverhältni
32. umfassendes Ursache-Wirkungs
Schema
33. Strategien entwickeln
34. Bildung interner, reversibler
Handlungsschemata
35. Operationen variabel kombinier
34. mentales Vergegenwärtigen von
Bewegungsabläufen
35. Bewegungsabläufe frei zu
Gestalten kombinieren
36. universelles Klassifikationssche
37. Invarianz des Volumens
38. Operieren mit Operationen
39. vernetzt denken
40. hypothetisch-deduktives Denken
von Annahmen ausgehend folge
41. dialektisches Denken
42. mehrere Lösungswege nach
Qualitätskriterien erkennen und
bewerten
43. systematisches Testen mögliche
Ursachen unter kontrollierten
Bedingungen
44. Reflexion des Erkenntnisprozes
45. Geschichtsverständnis
selbstreflexive
Rollenübernahme
formale
Operationen
wechselseitige
Rollenübernahme
Empfinden, Wahrnehmen
Erstellt: 2008-08-26
Update: 2016-05-13
22. innere Vergegenwärtigung von
Wahrnehmungen
23. rein vorstellungsmäßige
Vergegenwärtigung von inneren
und äußeren Wahrnehmungen
Denken
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K. Garnitschnig
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
EntwicklungsPhase
Sozial-emotionales Handeln
Wollen
Intuieren
Modalitäten
Lieben - Hassen, Sicherheit spüren ängstlich Sein, sich Fürchten, sich
Freuen - Trauern, offen Sein gedrückt, verschlossen Sein,
interessiert Sein, überrascht Sein, sich
Ekeln, sich Ärgern, Schuld Fühlen
Modalitäten
aufmerksam Sein,
sich Konzentrieren, sich Zuwenden,
Streben
Modalitäten
Phantasieren, freies Assoziieren,
kreativ Sein, Erfinden/Entwerfen vo
Vorstellungen und Ideen, Neues
Entwickeln, sich Einfällen Öffnen,
sich Einfällen Öffnen
sensomotorische 1. von Körperempfindungen und Phase
wahrnehmungen ausgelöstes
Fühlen
2. Personen mit libidinöser Energie
egozentrische
besetzen
Rollenübernahme
3. Prägung durch Bezugspersonen/
direkte Übernahme von
Verhaltensschemata
4. reagieren, nachahmen
5. sich geborgen fühlen/Ur-Vertrauen
6. teilnehmen, sich einer
Bezugsperson zuneigen
7. Kontakt suchen
8. sich hingeben
9. Gefühle anderer übernehmen
1. innen und außen unterscheiden
2. sich von Unangenehmem
abwenden
3. sich Personen zu-/von Personen
abwenden
4. sich selbst zuwenden
5. sich Gegenständen zuwenden
6. nachahmen
7. neue Situationen aufsuchen
8. Aufmerksamkeit von
Personen/Gegenständen gesteuert
9. nach seinen Bedürfnissen handeln
10. Wünsche äußern
11. sich als Urheber von Handlungen
wahrnehmen
1. (reflektorische) Bewegungen an
Gegebenheiten anpassen
2. inneren Impulsen folgen
3. einem inneren Erleben unmittelb
Ausdruck geben
4. ein inneres Bild von einer Perso
haben
5. ein inneres Bild von einzelnen
Gegenständen/Abläufen haben
6. Bilder kombinieren
7. Entdecken neuer Mittel durch
aktives Ausprobieren
EntwicklungsPhase
Sozial-emotionales Handeln
Wollen
Intuieren
symbolisches/
vorbegriffliches
Denken
10. erste Loslösung
11. Ich-Bildung
12. Beziehung aufnehmen, um seine
Bedürfnisse zu befriedigen
13. Erwartungen haben
14. Erwartungen anderer
vorwegnehmen
15. Verinnerlichung eines Bildes von
anderen Personen
16. Perspektiven von
Beziehungspartnern teilweise
übernehmen
12. Handlungen anderer innerlich
nachahmen
13. Handeln auch gegen den Willen
von Bezugspersonen
14. Phantasie- und Rollenspiele,
expressive Spiele
15. Bewusstsein eines eigenen
unabhängigen Ich
16. voll aufmerksam Prozessen folgen
17. voll aufmerksam Prozesse
ausführen
18. bereit sein, sich aktiv mit
Berührung auseinander zu setzen
8. sich auf neue Mittel einlassen
9. schöpferische Erfindungsakte, z
B. Wortschöpfungen
10. Ahnungen haben, wie Prozesse
ablaufen könnten
11. Gestaltungsvariationen zulassen
12. Vorstellungen mit Hilfe
verschiedener Mittel eine Gesta
geben
13. Erfinden von Regeln, gebunden
vorgegebene Inhalte
14. Probehandeln
Erstellt: 2008-08-26
Update: 2016-05-13
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K. Garnitschnig
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
EntwicklungsPhase
Sozial-emotionales Handeln
Wollen
Intuieren
17. die Abwesenheit einer
Bezugsperson aushalten
18. Frustration und Angst ertragen
subjektive
19. stabiles Gefühl der Einheitlichkeit
Rollenübernahm
- Selbstgrenzen
e
20. Gefühle ausdrücken
21. Zuneigung zeigen
22. sich in jemanden einfühlen
23. Regeln wörtlich befolgen
24. sich in die Gemeinschaft
einordnen
25. sich einem Gruppenprozess
eingliedern
26. seine Wünsche aufschieben
27. sich gegenüber Ansprüchen von
außen behaupten
28. Verantwortung übernehmen
29. seine Position in der Gruppe
wahrnehmen
30. affektives Erfassen von psychophysischen Zuständen
19. sich selbst einschätzen/behaupten
20. sich selbst einen Wert geben
21. Pläne umsetzen, entscheiden
22. eine Sache zu Ende führen
23. Grenzen erkennen
24. Grenzen erweitern
25. Raum ausfüllen
26. sich Raum schaffen
27. Zeit strukturieren
28. sich selbst darstellen/ausdrücken
29. psycho-physische
Spannungszustände selbst
regulieren
30. sich selbst verantworten
31. ausgleichen, rhythmisieren
32. auf ein stabiles Gefühl der
Einheitlichkeit - Selbstgrenzen
achten
33. volle Aufmerksamkeit
34. sich selbst als Bezugspunkt seines
Handelns sehen
15. neue Ideen über freie
Assoziationen entwickeln
16. Gestaltungsvariationen aktiv
umsetzen
17. mehrere Tätigkeiten variabel
kombinieren
18. Assoziationsketten herstellen
EntwicklungsPhase
Sozial-emotionales Handeln
Wollen
Intuieren
konkrete
Operationen
31. Zugehörigkeit fühlen
32. seine Position in einer Gruppe
einnehmen/ausfüllen
33. Perspektiven anderer ohne
Einschränkung übernehmen
34. sich zu anderen in Beziehung
setzen
35. sich um andere sorgen, sie
begleiten
36. Regeln bilden
37. Zusammenarbeiten
38. Regeln verinnerlichen
39. aufeinander hören
35. Identifikation mit einem >Helden< 19. freies Erfinden von zu einem
System gehörenden Regeln
36. sich selbst strukturieren
20. bewusstes freies Fluktuieren von
37. anderen Raum geben
Vorstellungen
38. für sich selbst und für andere
21.
einem inneren Erleben unmittelb
Verantwortung übernehmen
Ausdruck geben
22. einem inneren Erleben mittelbar
über Medien Ausdruck geben
23. Relationen von Elementen als
Ganzheit erkennen
24. Elemente einer Ganzheit variier
25. neue unbekannte Beziehungen
zwischen Elementen und
anschauliches
Denken
selbstreflexive
Rollenübernahme
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Update: 2016-05-13
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
40. affektives Erfassen von
Körperzuständen
formale
Operationen
wechselseitige
Rollenübernahme
41. Einheit in sich selbst erleben
39. sich selbst voll aktualisieren
42. sich gegenseitig anerkennen/
40. sein eigenes Handeln von sich aus
achten
bewerten
43. sich als gleichberechtigt gegenüber 41. selbst bestimmt nach Prinzipien
anderen sehen
handeln
44. Identität bilden über ein eigenes
Wertesystem, eigenen Sinn
45. solidarisch sein
46. gerecht sein, wie es jeder braucht
47. universelle Vorstellungen über ein
gutes Zusammenleben bilden
48. sich der Bewertungsgrundlage in
sich bewusst sein
49. Intimität leben
50. universelle Liebe
Erstellt: 2008-08-26
Update: 2016-05-13
Ganzheiten herstellen
26. sich bewusst für neue Einfälle le
machen
27. intuitives Herstellen von potenti
universellen Zusammenhängen
28. Ideen, Vorstellungen konstruktiv
umsetzen
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K. Garnitschnig
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
2 Psychische Funktionen - Begriffsbestimmung
Schon William James hat das geistige Leben in seiner dynamischen Einheit als ein Gefüge von
Funktionen definiert, das auf die Anpassung des Organismus an seine Umwelt zur Befriedigung
seiner Bedürfnisse gerichtet ist (vgl. Arnold u. a., 1991, S. 651). Die psychischen Funktionen
sind gewissermaßen das menschliche Potential, das es zu entwickeln gilt. Sie gehören zur
Ausstattung des soziophysischen Organismus’ des Menschen. Ihre Ausbildung und Entfaltung
erfolgt über den Austausch mit der sozialen und natürlichen Umwelt. Zu diesem gehört auch
das Erlernen der in unserer Kultur entwickelten Techniken verschiedenster Art (vom Schreiben,
Lesen, Rechnen bis hin zur Bedienung hochkomplexer Apparaturen) oder Formen sozialer
Kommunikation und auch der Fertigkeiten, die zum Aufbau von Technik und Kultur geführt
haben, bis hin zur metatheoretischen, philosophischen Reflexion und Theoriebildung über
unser Erkennen. Alle diese Fähigkeiten und Fertigkeiten, so komplex sie sein mögen, bauen
durch Kombination auf grundlegenden psychischen Funktionen auf. Lernziele wären also im
didaktischen Prozess zunächst nach den psychischen Funktionen, die für ihre Realisierung nötig
sind, zu analysieren und diese wären primär anzueignen. Lernziele wären also zunächst durch
Funktionsziele zu ersetzen, um eine gesicherte Basis für Lernziele zu haben.
Im Anschluss daran ist die wesentliche didaktische Frage, in welcher Umwelt oder
vorbereiteten Umgebung, über welche Austauschprozesse mit welcher Umwelt diese
Funktionen vom Kind bzw. dem Individuum wahrgenommen, erfahren und geübt werden
können. Wir sprechen zunächst einmal von einer vorbereiteten Umgebung und meinen damit
sowohl Lernmaterialien als auch Lernsituationen schulischer und außerschulischer Art sowie
das Lernklima, um die Fragestellung nicht vorschnell eng zu führen. Konkret wird es in dieser
Untersuchung um die Analyse einzelner geeigneter Lernmaterialien und Lernsituationen gehen
müssen, die für das Wahrnehmbar- und Erfahrbarmachen und Üben bestimmter psychischer
Funktionen geeignet sind.
C.G. Jung unterscheidet vier Grundfunktionen der Psyche: Denk-, Fühl- und
Empfindungsfunktionen und das Intuieren (vgl. Arnold u. a. 1991, S. 652). Es wird unsere
Aufgabe sein zu zeigen, wie sich diese im Laufe der Entwicklung im sich erweiternden
Austausch mit der Umwelt differenzieren. Feldenkrais verwendet eine seinem praktischen
Hintergrund entsprechend andere Einteilung. Für ihn sind an jedem Tun, an jeder Handlung
Bewegung, Sinnesempfindung, Gefühl und Denken beteiligt (1978, S. 33 f.)
Für die gegenständliche Untersuchung unterscheiden wir Bewegen, Empfinden und
Wahrnehmen, Denken oder Bilden von Bedeutungen, dazugehörig die Sprachentwicklung,
Fühlen, Wollen, Intuieren und Merken oder Erinnern. Theoretisch stellt die Theorie psychischer
Funktionen den Anspruch, dass aus diesen psychischen Funktionen das gesamte menschliche
Handeln abgeleitet oder dargestellt werden kann. So entsteht das Wahrnehmen aus dem
Zusammenspiel von Empfinden, Denken und Erinnern. Das Denken bildet die Schemata der
Anschauung, die Empfindungen deutend zusammenfasst und aus der Erinnerung kommen
Erfahrungen hinzu, die die Wahrnehmungen entsprechend unserer Lebensgeschichte und
unseren Motiven selektiert. Durch die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt in
Assimilations- und Akkomodationsprozessen gelingt es dem Menschen, immer komplexere
Schemata der Wahrnehmung zu bilden, die schließlich von der konkreten Anschauung gelöst
werden können und zu abstrakten Begriffen werden, zu Kategorien des Denkens und des
Erstellt: 2008-08-26
Update: 2016-05-13
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
Verstandes, mit deren Hilfe wir die Welt deuten. Durch Kombination von einfachen
Denkschemata können wir sehr komplexe Denkstrukturen aufbauen (vgl. Rapoport 1972).
Das Sprechen ist ein komplexer Vorgang, bei dem wir Symbole benützen, die wir mit Hilfe
unseres Sprechapparates verbunden mit Gefühlsausdruck, der sich in Mimik, Gestik und
metasprachlichen Elementen äußert, artikulieren. Erinnern spielt natürlich dabei wieder eine
bedeutende Rolle.
2.1 Operationen als Bausteine psychischer Funktionen
Piaget betont in seiner Darstellung der Psychologie der Intelligenz, dass man, um diese
beschreiben zu können, „den Standpunkt der Handlung einnehmen“ müsse. Erst dadurch dränge
„sich auch die Kontinuität auf, welche die Operationen mit der wirklichen Tätigkeit als
Ursprung und Nährboden der Intelligenz verbindet“ (1984, S. 38). So bezeichne jedes Glied
eines mathematischen Ausdrucks eine Handlung.
Zeichen
Handlung
=
Substitution
+
Verbindung
-
Trennung
xx
reproduzieren
x-malige Erzeugung von x
Was für das mathematische Denken gilt, gilt auch für die Logik. „Der Begriff einer Klasse ist
psychologisch nichts anderes als der Ausdruck der identischen Reaktion des Subjekts
gegenüber den Gegenständen, die er in einer Klasse vereinigt; logisch drückt sich diese
Assimilation in der qualitativen Äquivalenz aller Elemente einer Klasse aus.“ (a. a. O., S. 40)
Piaget fasst diese Überlegungen zusammen: „Kurz: der wesentliche Charakter des logischen
Denkens besteht darin, daß es operativ ist, d. h. aus dem Tun hervorgeht, indem es dieses
verinnerlicht.“ (ebd.) Dies bestätigt voll obige Aussagen, dass, wenn das Denken operativ ist, es
über Operieren, d.h. den Umgang mit Welt angeeignet wird oder es entsteht eine künstliche,
unverstandene Welt.
Das Denken baut sich aus Senso-Motorik auf (vgl. dazu auch Frostig 1980, S 224). Alle
intelligenten Operationen, die Jugendliche in der Form formaler Operationen also rein
gedanklich unabhängig von konkretem Material etwa ab dem 12. Lebensjahr benutzen, ruhen
auf konkreten Handlungen als ihren Grundelementen oder Grundgesamtheiten auf. Es sollte so
betrachtet möglich sein, alle Lernziele oder Lernaufgaben über solche Grundoperationen zu
beschreiben.
Als psychische Funktionen werden alle psychischen Leistungen im engeren Sinn verstanden,
die dazu beitragen, dass es uns gelingt, im Austausch mit der Umwelt ein Bild der Welt und
von uns selbst zu entwickeln, Bilder, die dynamisch gehalten werden können und sollen. Die
Wiener Psychologin Sindelar, deren praktischer Schwerpunkt Legasthenie ist, spricht von
„Teilleistungen als die grundlegenden Fähigkeiten, die notwendig sind, um höhere psychische
Funktionen, wie z.B. Sprache und Denken, aufzubauen und auszudifferenzieren“ (1988 S. 63).
Erstellt: 2008-08-26
Update: 2016-05-13
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
Wir werden auch diese Teilleistungen als psychische Funktionen bezeichnen, betrachten es aber
als sinnvoll, die komplexen psychischen Funktionen in psychische Operationen aufzugliedern,
um ihre Entwicklung besser verfolgen und fördern zu können.
Zu beachten ist, dass Kinder vor Schuleintritt in der Regel schon sehr komplexe Denkprozesse
und andere Handlungen unmittelbar ausüben können. Sie haben die hochkomplexe psychische
Funktion „Sprechen“ schon erlernt, sind aber noch nicht in der Lage, Sprache zu reflektieren
oder mit Sprache reflexiv umzugehen. Wird dies zu früh verlangt, dann kann sich Versagen
einstellen und Kinder fallen unter ihr erreichtes Niveau zurück. Tatsächlich ist es so, dass
Lesebücher unter dem erworbenen Sprachniveau des Kindes sind und trotzdem können sie für
Kinder schwierig sein, weil oder wenn sie zu früh das Reflektieren auf Sprache erwarten. Das
Kind beherrscht die Grammatik unmittelbar, kann sie auch anwenden, aber nicht bewusst.
Dafür ist es nötig, dass weitere psychische Operationen auf der Basis der erworbenen
Operationen manifest werden, als Bedingung dafür, dass sie das Kind auch reflexiv gebrauchen
kann. Daher ist es von eminenter Bedeutung, dass Kinder nicht zu bestimmten Leistungen
gezwungen werden, sondern dass sie diese angeboten bekommen, dass sie selbst wieder zu
Aufgaben oder Tätigkeiten zurückkehren dürfen, die sie bereits beherrschen. Sie müssen die
Gelegenheit haben, immer wieder auf ihren vertrauten Positionen zu stehen, damit sie ihr
Selbstvertrauen nicht verlieren. Selbstvertrauen und Selbstwert sind zu wichtige Lernmotive,
als dass sie verschleudert werden dürften.
3 Entwicklungsdynamische Darstellung der psychischen Operationen
In der Entwicklung fördern sich die psychischen Funktionen gegenseitig. Das Handeln oder der
Austausch mit der Umwelt sind ganzheitliche Prozesse, bei denen grundsätzlich alle
Funktionen zusammenspielen. Jeder Austausch mit Welt hat die willentlich hinwendende und
hantierende Bewegung, die Wahrnehmung über verschiedene Sinne, Denkoperationen sowie
Erinnerung zur Grundlage, welche Funktionen ihrerseits immer auch von Gefühlen begleitet
sind.
Vor allem für die kindliche Entwicklung bis zu der Zeit, zu der die Kinder eine einigermaßen
sichere Ichstruktur aufgebaut haben (9 - 13 Jahre) ist die emotionale für die kognitive
Entwicklung von größter Bedeutung. Denn zuerst erzeugen Kinder ihre Welt zum Großteil in
Beziehungen zu Personen. Z. B. wird die so wichtige Objektkonstanz zunächst über die Mutter
oder eine andere Bezugsperson erfahren.
Für die Untersuchung ist es sinnvoll, die Entwicklung der psychischen Funktionen ab der
Geburt zu skizzieren, weil schon ganz früh Störungen verschiedenster Art möglich sind. Das
Feld reicht von ausgeprägten körperlichen Symptomen, wie verschiedene Spasmen, bis hin zu
sehr unauffälligen Entwicklungshemmungen, die oft nicht bemerkt, allzu leicht falsch
interpretiert, in der Regel personalisiert werden. D. h. dem Kind werden negative
Charaktereigenschaften zugeschrieben, wo es sich um leichte angeborene oder erworbene
Wahrnehmungsstörungen, Bewegungsanomalien usw. handelt.
Normalerweise haben sich die psychischen Funktionen bis zum 7. Lebensjahr entwickelt. Dann
folgt ihre weitere Differenzierung und Ausformung. Ein Sprung findet dann noch ungefähr
beginnend mit dem 11. Lebensjahr statt, wenn die Operationen formal, losgelöst von Objekten,
ausgeführt werden können.
Erstellt: 2008-08-26
Update: 2016-05-13
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K. Garnitschnig
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
3.1 Bewegen
Wie schon betont, ist keine psychische Funktion und im Besonderen keine spezifische
Tätigkeit, die wir lernen, isoliert. Alles, was das Kind tut, trägt zu seiner Entwicklung bei. So
ist es nicht abwegig mit Furth/Wachs (1978) von „Bewegungsdenken“ zu schreiben. Durch
Bewegungen lernt das Kind zuerst sich selbst zu empfinden. Wenn es sich auch zunächst nur
reflexhaft und instinktiv bewegt, so beginnt es doch schon in den ersten Tagen nach der Geburt
- möglicherweise schon vor ihr - im Wechselspiel von Reflexbewegungen und eigener
Empfindung, diese zu verändern. Schon sehr bald lernt es auch, Bewegungen zu isolieren, was
die Bedingung für die Koordination von Tätigkeit und Wahrnehmung ist. Es bildet
Handlungsschemata (Piaget), die ohne direkten Bezug zu Verallgemeinerungen nicht denkbar
sind. Über die Tätigkeiten bilden sich die ersten kognitiven Strukturen aus und Operationen
bilden die Basis der Intelligenz und des Bewusstseins. Von einer Bewusstseinstheorie aus wäre
zu sagen, dass keine Tätigkeit ohne Bewusstsein erfolgt oder dass es prinzipiell unmöglich ist,
irgendein menschliches Verhalten von Bewusstsein zu isolieren. Es lässt sich an Handlungen
auch feststellen, ob sie zweckmäßig, intelligent und bewusst und im weitesten Sinn kreativ, d.h.
aus dem Eigensein der Person entspringend, ausgeführt worden sind. Grundsätzlich lässt sich
an allen Modalitäten der Bewegung und der Empfindung arbeiten und sind alle für die
Entwicklung von Bedeutung.
Es hat noch einen weiteren Sinn, der eigentätigen Bewegung des Kindes einen großen
Stellenwert zuzumessen. Denn: „In dem Maße, wie es dem Kind gelingt, seine
Körperbewegungen mit Leichtigkeit zu steuern, wird es ihm möglich, sich mehr auf die
abstrakten Aspekte einer Aufgabe zu konzentrieren.“ (Furth/Wachs, 1978. S. 89) Daher darf die
erforderliche Koordination von Fingern, Hand, Arm und Augen beim Schreiben nicht als
spezialisierte Schreibbewegung gelernt werden, sondern als ein Bewegungsablauf, der variabel
eingesetzt werden kann, so dass „Schreiben oder Schnitzen eher die Anwendung eines
internalisierten Wissens über die angemessenen Bewegungen als das mechanische Erlernen
einer spezifischen Fähigkeit“ ist (a. a. O., S. 90). Die Geläufigkeit und Selbstverständlichkeit
der Bewegungen ermöglichen es dem Kind, seine Energie und Aufmerksamkeit auf die
Aufgabe selbst zu richten. Kleinste Fehler in der Bewegung z.B. der Augen können den Leseoder Schreibfluss empfindlich stören. Daher muss der Lehrer auf die Beobachtung kleinster
Fehler spezialisiert sein.
Furth/Wachs unterscheiden „fünf Hauptkomponenten des allgemeinen Bewegungsdenkens ...:
1.
Reflexkontrolle
2.
Geistige Vorstellung vom Körper
3.
Koordination der Körperachsen
4.
Gleichgewichtssinn
5.
Koordiniertes Handeln“ (a .a. O., S. 93)
Bewegung für sich betrachtet entwickelt sich aus reflektorischen und instinktiven Bewegungen.
Durch ihren Gebrauch werden sie aber sehr bald verfeinert und verlieren ihre ursprüngliche
Fixierung. Die Reflexbewegungen müssen soweit als möglich verschwinden, um nicht „das
zielbewußte Bewegen in ungelegenen Momenten“ zu stören (Kohnstamm 1985, S. 34). Die
Beherrschung der Muskel beginnt in zweiten Monat. Vorher ist die Beugehaltung
vorherrschend. Die Muskeln, die dem Gehirn an nächsten liegen, können zuerst beherrscht
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Update: 2016-05-13
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
werden. Der Säugling beginnt zu lernen, den Kopf gerade zu halten, dann die Schultermuskeln
einzusetzen und die Aufrichtung aus der Bauchlage wird möglich. Auf den Zehen können
Kinder erst zwischen drei und fünf Jahren stehen, auf einem Bein erst mit sechs Jahren. Mit
Schulbeginn also „beherrschen die meisten Kinder die grundlegenden Fertigkeiten (der
Grobmotorik, KG)“ (a. a. O., S. 37). Die Entwicklung der Bewegung wird durch die
Möglichkeit der Isolierung von Bewegungen gefördert, z.B. dass man nicht die ganze Hand,
sondern nur einzelne Finger bewegt. Durch die Koordination von Bewegung und
Wahrnehmung, vor allem dem Sehen und der Eigenwahrnehmung können Bewegungen immer
feiner auf Erfordernisse von außen und von innen abgestimmt werden, bis es zu einem
harmonischen Fluss der Bewegungen kommt. Eine neue Stufe wird erreicht, wenn
Bewegungsschemata verinnerlicht werden, sie also ohne äußeren Anlass für sich geübt werden
können. Dies wird durch Wiederholungen in Spielen und später vor allem im Rollenspiel
angebahnt, bis sie in einfachen Präsentationsspielen für sich geübt werden. Gelingt es dann
auch noch die Bewegungen, ausgehend von einfachen Rückmeldeschleifen, bewusst zu
reflektieren und zu verinnerlichen - dies gelingt mit sechs/sieben Jahren - dann ist das Ende der
Entwicklung der Bewegung erreicht. Es sind nur noch Verfeinerungen des harmonischen
Flusses, der Kombination, Koordination und des Einsatzes von Energie möglich.
Getragen wird diese Entwicklung - und das darf nicht außer acht bleiben - von einer bergenden
Umwelt, die Sicherheit gibt. Ist diese gegeben, kann das Kind sich mehr zutrauen, mehr nach
außen gehen und dies hängt mit der Entwicklung des Wollens zusammen. Je sicherer sich das
Kind fühlt, desto eher und intensiver kann es sich Personen, sich selbst und Gegenständen
zuwenden. Dadurch kann das Kind positive Erfahrungen machen und seinen Selbstwert
erhöhen. In besonderer Weise, weil verhältnismäßig leicht zugänglich, kann über Bewegung
Bewusstheit gefördert werden (Feldenkrais, 1978). Dabei kommt der Eigentätigkeit eine
besondere Bedeutung zu.
Furth/Wachs geben viele Beispiele an, wie das Bewegungsdenken geübt werden kann und legen
darauf aus den genannten Gründen größten Wert, dass es zumindest in der Grundschule auch
geübt wird (a. a. O., S. 94 - 193). Sie zitieren Newell Kephart, einen der ersten, der
Bewegungsspiele eingeführt hat: „’Das Kind muß lernen, sich zu bewegen, bevor es daran geht
zu lernen!’“ (a. a. O., S. 126) Das Spiel und im besonderen Bewegungsspiele haben für die
allseitige Entwicklung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. „Spiel kann als eine
spezifische Form des Lernens und geradezu als eigene Lernmethode aufgefaßt werden, bei der
vor allem subjektive Momente wie Entscheidungsfreiheit, Freude, Genuß, Spannung, Lösung
und imaginatives Denken zum Tragen kommen.“ (Kluge 1981, S. 9)
Die Bedeutung des Gleichgewichtssinns ist einleuchtend. Ist dieser nicht genügend ausgebildet,
ist es schwierig, sein Körpergleichgewicht zu bewahren. Auf diese Weise muss viel Energie
von anderen Tätigkeiten abgezogen werden. Kinder mit Gleichgewichtsproblemen neigen dazu,
„funktionale und strukturelle Schwächen zu entwickeln wie Sehschwächen,
Knochenverformungen, Haltungsschäden und sogar Zahnschäden“ (Furth/Wachs, 1978, S.
113). Sein eigenes räumliches Körperschema zu internalisieren, ist Bedingung dafür, dass „man
wirksam mit dreidimensionalen Begriffen und räumlichen Transformationen operieren“ (a. a.
O., S 102) kann (z.B. geometrische Körper und ihre Drehung, Entstehung von geometrischen
Körpern aus der Drehung von Flächen, dreidimensionale geistige Schemata wie die Bildung
von Gruppen mit mehr als drei Variablen).
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
Es sei noch auf die diskriminierende und koordinierende Bewegungstätigkeit von Fingern,
Augen, Lippen, Zunge für das Erlernen der Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Zeichnen, aber
auch für die Artikulation fremdsprachlicher Laute hingewiesen. Nochmals sei abschließend
betont, dass das Versagen bei einer Problemlösung „oft auf eine zu geringe Integration der
diskriminierenden Subsysteme zurückzuführen“ ist (a. a. O., S. 153). Sie ist mit einer
unscharfen Focuseinstellung oder mit einem Rauschen in der Leitung zu vergleichen, so dass
das Bild bzw. der Ton nicht klar ist.
Bewegung ist auch Ausdruck der Person. Sie begleitet alles mit Bewegung. Im Besonderen ist
das Sprechen der Kinder von Bewegungen, Gestik und Mimik begleitet. Eine besondere
Ausdrucksform ist die Gebärde in den verschiedenen Riten religiöser oder profaner Art und der
Tanz. Bewegung hat auch mit dem Bewusstwerden der Person zu tun, der Entwicklung ihres
Selbstwerts. In der freien Bewegung fühlt sich der Mensch lebendig, kann sich spüren, erlebt
sich, lernt sich selbst zu vertrauen und auch kreativ zu sein. Dies ist aber nur dann der Fall,
wenn das Kind sein Handeln wirklich frei bestimmen kann. Das so wichtige pädagogische Ziel
freier Handlungsfähigkeit entwickelt sich, wenn es frei handelt. Wenn nun nur jenes Handeln
erlaubt wird, das von jemand anderem geplant wurde, dann handelt eine Person, die Objekt
dieses geplanten Aktionsraumes ist, nicht im eigentlichen Sinn. Es fällt das wichtige Element
der Selbstentscheidung weg und damit auch die das Handeln begleitende Reflexion, wie weit
diese Entscheidung gut, sinnvoll, zweckmäßig, nützlich war. Die Person ist dann nur
ausführend und nicht handelnd. Darauf sind Schüler zum Großteil reduziert. Es sollte nicht so
sehr um die Aneignung von Wissen, sondern von Fähigkeiten gehen.
3.2 Empfinden und Wahrnehmen
Als „Empfinden“ kann - wenn man es von „Wahrnehmen“ unterscheiden möchte - die
Aufnahme von Reiz-Informationen bezeichnet werden, die der Organismus über die Sinne von
außen bzw. vom Körper bekommt. Diese Unterscheidung ist allerdings abstrakt, denn wir
können nicht empfinden, ohne dass die Empfindungen nicht schon mit Gefühlsanteilen
aufgeladen wären, sie nicht schon für das momentane Interesse emotional und gedanklich
gefiltert wären und durch unsere Intuition ergänzt und durch unsere Erinnerungen aufgeladen
wären. All das wird aber dem Wahrnehmen zugesprochen. Es wäre also nur dann erlaubt, von
Empfinden zu sprechen, wenn physiologische Vorgänge oder in behavioristischer Manier
ausgedrückt nur Reiz-Reaktionsprozesse zur Frage stehen. Im Weiteren interessieren daher die
Prozesse der Wahrnehmung (vgl. Arnold/Eysenck/Meili, 1991, Sp. 456 - 460).
Die Sinnesorgane funktionieren schon vorgeburtlich, so dass der Embryo schon viele
Wahrnehmungen macht. Das Baby ist aktiv und verarbeitet auch schon aktiv Reize, aber es
braucht anregende Bedingungen, damit sich seine Verarbeitungsprozesse verfeinern. „Eine
Umwelt, die reich an Reizen ist, macht ein Baby aktiv. Und eigene Aktivität ist ein Motor der
Entwicklung.“ Ein stimulierendes Klima „dient weniger der Übung bestimmter Fertigkeiten, für
die das Kind ein bestimmtes Sinnesorgan gebrauchen muß, sondern der Vermittlung einer
bestimmten Lebenseinstellung.....Das Kind muß von klein auf die Erfahrung machen, daß es
selbst etwas in Gang bringen kann.“ (Kohnstamm2 1985, S. 26 f.) Dabei ist aber darauf zu
2
Rita Kohnstamm war Chefredakteurin einer großen holländischen Elternzeitschrift und dann Chefredakteurin von
„Psychologie“. Sie gibt eine Buchreihe „Erziehen als Beruf“ heraus und betreut die Loseblatt-Sammlung über
„Problemkinder“. Sie rezipiert die Forschungen von Piaget ebenso wie die der kognitiven Psychologen. Ihr Ansatz
im Behaviorismus schlägt durch.
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achten, dass das Maß für Stimulation in sensibler Abstimmung mit dem Säugling erfolgt. Ein
zuviel kann auch schädlich sein und dazu führen, dass das Kind sich abwendet (vgl. Stern 1994,
S. 141 - 158)
Die meisten Sinne sind schon bei der Geburt voll ausgebildet. Es sind vor allem die Nahsinne
wie der Geschmacks-, der Tast- und der Geruchssinn, die bereits vorgeburtlich funktionsfähig
sind. Wohl ist auch schon das Hören bei der Geburt voll ausgebildet, es wird aber durch
entsprechende Sensibilisierung von außen noch erstaunlich verfeinert. Was das Sehen betrifft,
gibt es in der Literatur sehr unterschiedliche Aussagen. Durch genauere
Untersuchungsmethoden rücken die Zeitangaben näher zur Geburt. Jedenfalls kann das Kind
nach einer Woche das Sehen bis zu 20 cm scharf einstellen. Dies entspricht genau dem Abstand
zu den Augen der Mutter beim Stillen. Daran erkennt man, wie die Ausbildung der Sinne mit
ihrer funktionalen Bedeutung für die sozial-emotionale Entwicklung des Kindes
zusammenhängt (vgl. dazu Stern 1994). Nach vier Wochen beginnt die Akkomodation zu
wirken und mit drei Monaten wird das Kind auf sich bewegende, dreidimensionale Objekte
aufmerksam. Dies ist die Bedingung für die Befähigung zum räumlichen Sehen. Mit etwa vier
Monaten ist auch die Entwicklung der Farbwahrnehmung praktisch abgeschlossen.
Ist zunächst die Wahrnehmung völlig an den Augenschein gebunden, kann sich die
Wahrnehmung sehr bald auf Merkmale zentrieren, zunächst einmal nur auf ein Merkmal, mit
etwa zwei Jahren können zwei Merkmale miteinander verbunden werden. Mit etwa vier Jahren
können Beziehungen von Merkmalen, die zusammengehörig sind, gruppiert gesehen werden.
Dies ist die Voraussetzung dafür, dass gleich bleibende Einheiten unabhängig von Merkmalen
erfasst werden und die Erhaltung des Ganzen möglich wird. Parallel dazu verläuft die
Entwicklung der Fähigkeit, Wahrnehmungen zu isolieren und zu verfeinern.
Bildet sich schon mit etwa zwei Jahren das Körperschema aus, womit die Raumwahrnehmung
mit ihren Dimensionen von unten-oben, vorne-hinten und innen-außen verbunden ist, bedarf
die Zeitwahrnehmung der Bedingung, dass Einheiten als Ganzheiten aufgefasst werden. Die
Raumwahrnehmung ergibt sich aus einer Verbindung von Wahrnehmungen aller
Sinnesmodalitäten. Sie entwickelt sich aus dem Körpergefühl und bildet die Grundlage für das
Rechnen. Die Zeitwahrnehmung baut auf dem Vorstellungsvermögen und der
Abstraktionsfähigkeit auf. Ein Kind mit zwei Jahren lebt noch völlig in der Gegenwart. An die
Zeitperspektiven Vergangenheit und Zukunft kann es sich nur über die Raumwahrnehmung
herantasten. Zeiteinheiten werden an räumlichen Einheiten gemessen. So fährt ein Auto, das
schneller fährt und daher eine längere Wegstrecke zurücklegt, als ein Auto, das langsamer fährt
auch länger (Piaget 1955). Bei Kindern ist die Zeitwahrnehmung noch viel stärker als bei
Erwachsenen an das Zeitgefühl gebunden. Ein Zeitraum, der angenehm verbracht wird, wird als
kurz, der Unangenehmes brachte, als lange empfunden.
Das volle Verständnis von Zeit baut nach Piaget/Inhelder (1980, S. 109 f.) auf drei Operationen
auf: 1. dem Aneinanderreihen von Ereignissen, 2. der Einschließung der Räume zwischen den
Ereignissen, wodurch der Eindruck einer Kontinuität, also einer Dauer gegeben ist, 3. der
Erfassung von gleichen (zeitlichen) Maßeinheiten. Die Uhrzeit wird zwar mit etwa sieben
Jahren richtig angegeben, aber der Zeitbegriff in seiner vollen Dimension wird erst später
erworben. Ein Verständnis für geschichtliche Zeiträume sowohl der Vergangenheit als auch der
Zukunft, erwirbt das Kind erst ab dem 12. Lebensjahr (vgl. Schraml, 1990 S. 164).
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3.3 Denken
Lange vor dem Operieren mit Begriffen, begreift das Kind im Sinne von „betasten“. Diese
Chance müssen wir auch dem Schulkind lassen, dass es wirklich begreifen kann, bevor es
begreifen soll. Auch Erwachsene begreifen besser, wenn sie Begriffe aus ihrer Genese, dem
tatsächlichen Austausch oder Umgang oder Operieren mit den Phänomenen selbst entwickeln.
Die Basis allen Begreifens liegt in der Einheit von tätiger sinnlicher Wahrnehmung, der
Vorstellung, dem Vergleichen von Wahrnehmungen und Vorstellungen und dem Entwerfen
von Hypothesen wie etwas ist oder sein könnte. Für den Säugling gilt zunächst einmal die
Hypothese: Alles, was ich begreifen kann, ist zum Essen. Er führt zunächst alles in den Mund.
Aber sehr bald differenziert er.
Unter Denken und Sprechen als dem geistigen Potential des Menschen könnte mehr zusammen
gefasst werden, nämlich alle seine Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Welt in ihren
verschiedenen Aspekten zu verstehen, beginnend von unseren alltäglichen Theorien bis hin zu
den hochkomplexen Erklärungsversuchen, die nur noch wenige Menschen beherrschen, mit den
unterschiedlichen Formen der Verarbeitung von Informationen und ihrer Darstellung bzw.
Vermittlung. Dazu gehören auch alle metatheoretischen Versuche, den Prozess des Erkennens
selbst zu beschreiben.
Das Besondere des Menschseins liegt wohl darin, dass wir Fragen stellen können, die am
Anfang jedes Denkprozesses stehen. Ludwig Wittgenstein hat mehr Fragen gestellt als
beantwortet, und ist vielleicht deshalb zum bedeutendsten Philosophen des Jahrhunderts
geworden. Fragen entstehen aus der Neugierde und deshalb ist es bedeutsam, die Kinder nicht
mit fertigen Antworten zu beschäftigen, die sie nur noch zu reproduzieren brauchen. Dadurch
ginge das geistige Potential verloren. Daher ist es so wesentlich, genetisch vorzugehen, nämlich
von Fragen auszugehen, den Fragen der Kinder - und diese von den Phänomenen selbst her zu
lösen und nicht vorzugeben. Es ist „Gängelung“, wenn der Lehrer sagt, welchen „Ablauf man
machen muß“ (Wagenschein 1991, S. 153), ohne ihn ganz verstanden zu haben. Ganz verstehen
heißt, eine solche Einsicht in eine Sache zu haben, dass man sie selbst entdeckend vollziehen
kann. „Zur Lösung des ...Problems ist nichts nötig als: daß wir bewußt machen, was wir getan
haben.“ (a. a. O., S. 155) Suchen und Finden macht klüger als Nachvollziehen. „Die Fragen
halten das Denken in Bewegung, die Antworten führen gewöhnlich seinen Stillstand herbei.“
(Freese 1990, S. 9) Der Fortschritt der Wissenschaft passiert großteils dadurch, dass
Selbstverständliches in Frage gestellt wird. Eine Antwort oder eine Aussage hat nur soweit
Gültigkeit als gezeigt wird, über welche Operationen sie gewonnen wurde.
Der Schweizer Psychologe Jean Piaget, der bislang am differenziertesten die Entwicklung von
Denkprozessen untersucht hat und aktives Lernen als Motor der Entwicklung fordert (1972c),
unterteilt die Entwicklung des Denkens Piaget (1972) in fünf aufeinander folgende Perioden:
1. Die sensomotorische Intelligenz (0 bis 2 Jahre)
2. Das symbolische und das vorbegriffliche Denken (2 bis 4 Jahre)
3. Das anschauliche Denken (4 bis 7 Jahre)
4. Die konkreten Operationen (7 bis 11 Jahre)
5. Die formalen Operationen (ab ca. 11 Jahren)
Die den jeweiligen Entwicklungsstufen zugeordneten Altersangaben stellen lediglich
Richtwerte dar. Die Abfolge der Perioden sieht Piaget (1972) allerdings als invariant an. Sein
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zentrales Anliegen liegt im Aufzeigen der Gesetzmäßigkeiten, nach denen die einzelnen
kognitiven Strukturen der jeweiligen Entwicklungsperiode auseinander hervorgehen und
aufeinander folgen.
1. Die sensomotorische Intelligenz (0 bis 2 Jahre)
Piaget (1975) nennt die erste Periode der kognitiven Entwicklung sensomotorische Intelligenz.
Mit diesem Begriff möchte er verdeutlichen, dass das Kind in dieser Phase im wesentlichen
Intelligenz mit Hilfe von motorischen und Empfindungs-Aktivitäten aufbaut. Das Kind trachtet
aufeinander folgende Empfindungen oder einander folgende reale Bewegungen miteinander zu
koordinieren. Ziel dieser kognitiven Tätigkeiten ist ihre praktische Erfüllung selbst, also der
Erfolg der Handlung. Damit dienen sie noch nicht der Erkenntnis als solcher.
Die sensomotorische Intelligenz wird gelebt und nicht bewusst reflektiert. Sie bildet aber die
Basis des späteren logischen Denkens. Aus dem konkreten Begreifen dieser ersten Periode wird
ein verinnerlichtes Begreifen der späteren Stufen. Zunächst kommt das Kind durch Ausweitung
des Reflex- und Instinktverhaltens zu neuen Verhaltensweisen, die es ständig zu wiederholen
versucht und damit stabilisiert. Diese primären und später sekundären Zirkulärreaktionen, die
die Umwelt einbeziehen, bilden die erste Vorform und damit die exakte Nahtstelle zwischen
vorintelligenten, von Reflexen und der Anschauung gesteuerten Handlungen und intelligenten
Operationen.
Intentionales Verhalten wird möglich, wenn das Kind in der Lage ist, zwei Verhaltensschemata,
die bis jetzt getrennt blieben, zu einem Handlungskomplex zu koordinieren und neuartige
Kombinationen zu bilden. Das Kind lernt, Objekte von sich selbst zu trennen, was mit der
Ausbildung des Wahrnehmungsraumes im Zusammenhang steht. Ein typisches Verhalten wäre
z.B. das Suchen nach versteckten Gegenständen, die nur nach Beseitigung eines Hindernisses
gefunden werden können. Der Gegenstand wird in Beziehung zu wahrgenommenen Dingen und
nicht in Relation zum eigenen Handeln gesehen. Somit beginnt das Kind seine Umwelt als von
sich selbst unabhängig zu erleben. Das Kind will alles Neue „erforschen“. Neu erzielte Effekte
werden mit der Absicht modifiziert, deren Eigenart zu erfassen. Das Kind kann nun durch
Experimentieren Probleme lösen. Handlungsschemata werden zunehmend verinnerlicht.
Anstelle äußerer sensomotorischer Handlungen tritt die Fähigkeit der inneren geistigen
Kombination. Folgende Voraussetzungen für die Entwicklung einer bewussten Ebene des
Denkens lassen sich festhalten: „Geistige Kombination der Verhaltensschemata mit der
Möglichkeit, deduktive Prozesse zu vollziehen, die über das äußere Experimentieren
hinausführen; schöpferische Erfindungsakte und vorstellungsmäßige Vergegenwärtigungen
durch bildhafte Symbole, das sind alles Hinweise, dass die Entwicklung der sensomotorischen
Intelligenz abgeschlossen ist. Diese Eigenschaften machen sie fähig, in den Rahmen der
Sprache eingespannt zu werden und sich so mit Hilfe sozialer Einflüsse und Anregungen in die
rationale Intelligenz zu verwandeln.“ (Piaget, 1975, S. 358)
2. Das symbolische und das vorbegriffliche Denken (2 bis 4 Jahre)
Am Ende des zweiten Lebensjahres beginnt das Kind, die Sprache systematisch zu benutzen.
Das Erlernen der Sprache fällt mit der Bildung von Symbolen zusammen. Die Symbolfunktion
erlaubt es, die Wirklichkeit durch Zeichen auszudrücken, wobei Bezeichnendes von
Bezeichnetem sowohl unterschieden als auch aufeinander bezogen werden kann. Ein Symbol
wird vom Kind geschaffen (symbolisches Spiel) - ein Zeichen wird vom sozialen Leben
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erzeugt. Die Sprache ist ein System kollektiver Zeichen, die Bedeutungen haben, also Symbole
für Bezeichnetes sind. Sprache setzt daher die Fähigkeit der Symbolbildung voraus.
Piaget (1972) sieht die Entstehung der individuellen Symbole im Zusammenhang mit der
Entwicklung der Nachahmung. Auf der Stufe der sensomotorischen Intelligenz gibt es ein
Nachahmungsspiel, das primär eine akkomodatorische Funktion aufweist. Erst im Symbolspiel,
das eine innere Nachahmung voraussetzt, wird das Gleichgewicht zwischen Akkomodation und
Assimilation zugunsten der Assimilation verschoben (z.B. ein Holzstück wird zu einem Auto).
Dazu ist ein bereits verinnerlichtes Schema vorausgesetzt. Die Bildung der Symbole fasst
Piaget folgendermaßen zusammen: „Die aufgeschobene Nachahmung, d.h. die Akkomodation,
die sich in nachahmenden Entwürfen verlängert, schafft die Bedeutungsträger, die das Spiel
oder die Intelligenz auf die verschiedenen Bedeutungen anwendet, je nach der freien oder
angepassten Assimilation, die diesen Verhaltensweisen eigen ist. Das symbolische Spiel setzt
immer ein Element der Nachahmung voraus, die als Symbol fungiert, und ebenso benutzt die
Intelligenz in ihren Anfängen die bildliche Vorstellung als Symbol oder als Bezeichnung.“
(Piaget, 1972, S. 143) Die Assimilation der Wirklichkeit herrscht vor. Das Phantasiespiel ist
eine Form dieses symbolischen Denkens, das wiederum notwendig dafür ist, dass das Kind sich
von der Nachahmung löst und zu Eigentätigkeit kommt.
In dieser Phase des symbolischen Denkens besitzt das Kind noch keine Begriffe. Piaget (1972)
spricht von Vorbegriffen. Das sind Vorstellungen, die das Kind an die ersten sprachlichen
Zeichen anknüpft. Ein solcher Begriff, der zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen
steht, entspricht noch nicht unserer Logik (z.B. bleibt der Berg, der sich während des Ausflugs
verändert, nicht ident). Schlussfolgerungen, die solche Vorbegriffe miteinander verbinden,
bezeichnet Piaget (1972) als Transduktionen. Sie sind nicht reversibel, sondern noch an den
Augenschein gebunden. Oft sind sie auf ihre sehr individuelle Verwirklichung praktischer Ziele
ausgerichtet.
3. Das anschauliche Denken (4 bis 7 Jahre)
In dieser Phase befindet sich das Kind noch immer auf einer prälogischen Stufe; Operationen
sind noch unvollkommen. Das anschauliche Denken kontrolliert die Urteile durch anschauliche
Regulierungen.
Ein Experiment soll dies verdeutlichen: Ein Kind ordnet eine Perle nach der anderen in jeweils
zwei verschieden geformte Gläser. Nachdem alle aufgebraucht sind, stellt es fest, dass in dem
höheren Glas mehr Perlen sind. 4 - 5-jährige behaupten, dass sich die Menge verändert, wenn
man ein Glas mit Perlen in ein anders geformtes Glas schüttet. Diese Denkweise erinnert an den
bildlichen Charakter der Vorbegriffe und die oben besprochenen transduktiven Urteile. Es
handelt sich nicht um eine Wahrnehmungstäuschung, sondern das Denken ist noch sehr stark
von momentanen Wahrnehmungen beeinflusst. Piaget (1972) spricht daher von anschaulichem
Denken. Er unterscheidet zwischen anschaulicher Zentrierung und Dezentrierung. Bei dem
Beispiel mit den Perlen zentriert das Kind zunächst sein Denken auf die Höhenbeziehung.
Werden die Perlen in ein noch höheres und schmäleres Gefäß geschüttet, meint es: „Da sind
weniger, denn es ist zu schmal“. Die Zentrierung auf die Höhe wird berichtigt durch eine
Dezentrierung der Aufmerksamkeit auf die Breite. Wenn beide Beziehungen gleichzeitig
berücksichtigt werden, findet eine wirkliche Operation statt. Die Wirkung der Anschauung ist
noch zu groß und daher irreführend.
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Folgende typische Eigenschaften anschaulichen Denkens lassen sich zusammenfassen: Die
transitive, reversible und assoziative Komposition fehlen noch. Die Identität der Elemente und
die Erhaltung des Ganzen ist noch nicht gegeben. „Man kann auch sagen, daß die Anschauung
phänomengebunden bleibt, da sie die Umrisse der Wirklichkeit nachahmt, ohne sie zu
berichtigen, und daß sie egozentrisch bleibt, weil ihre Zentrierung immer von der
augenblicklichen Tätigkeit abhängt. Es fehlt ihr daher das Gleichgewicht zwischen der
Assimilation der Gegenstände der Umwelt an die gedanklichen Schemata und der
Akkomodation dieser Schemata an die Wirklichkeit.“ (Piaget, 1972, S. 156) Je mehr ein Kind
in der Lage ist, noch gegliederte Anschauungen als Ganzes zu sehen und ihre Reversibilität zu
begreifen, desto mehr nähert es sich der Möglichkeit der konkreten Operation.
4. Die konkrete Operation (7 bis 11 Jahre)
In dieser Phase wird das Kind fähig, anschauliche Beziehungen eines Systems gruppiert zu
sehen, also als einzeln für sich und als zusammengehörig. Es erfasst die Erhaltung eines
Ganzen. Bei dem Beispiel, bei dem es um das Umfüllen von Perlen in verschieden geformte
Gläser ging, wird dem Kind klar, dass es sich jeweils um die gleiche Menge Kugeln handelt.
Die Invarianz steht außer Zweifel. Zwei Merkmale können gleichzeitig in ihrer funktionellen
Abhängigkeit berücksichtigt werden, ohne von einem hervorstechenden Wahrnehmungsaspekt
in die Irre geleitet zu werden.
Reversibilität ist ein anderes wichtiges Merkmal operatorischen Denkens. Eine Handlung kann
in beiden Durchlaufsrichtungen gesehen werden. Die Erklärung dafür liegt darin, dass sich erst
in diesem Stadium der kognitiven Entwicklung zum ersten Mal ein Gleichgewicht zwischen
Assimilation und Akkomodation einstellt.
Piaget (1972) fasst folgende kognitiven Transformationen zusammen, die er als Vorraussetzung
für dieses Gleichgewicht ansieht: „1. zwei aufeinander folgende Handlungen können zu einer
einzigen koordiniert werden; 2. das Handlungsschema, das bereits beim anschaulichen Denken
mitwirkte, wird reversibel; 3. ein und derselbe Punkt kann, ohne dadurch verändert zu werden,
auf zwei verschiedenen Wegen erreicht werden; 4. bei der Rückkehr zum Ausgangspunkt wird
dieser verändert vorgefunden; 5. wenn die gleiche Handlung wiederholt wird, fügt sie entweder
nichts zu sich selbst hinzu, oder aber sie ist eine neue Tätigkeit, die kumulativ wirkt.“ (Piaget,
1972, S. 160)
Das Kind wird nun fähig, einzelne Handlungsschemata als Gesamthandlung zu begreifen. Die
Zentrierung auf Wahrnehmungsaspekte wird durch die vollkommene Dezentrierung abgelöst.
Ein Ganzes kann gesehen werden. Klassifikation beginnt schon sehr früh, aber das universelle
Klassifikationschema hat das Kind erst mit zehn Jahren. Es wird von Handlungen abstrahiert,
die es in bezog auf Objekte setzt: „Vergleichen, Gegensätze bilden, Hinzufügen, Wegnehmen,
Sortieren, Beobachten von Ähnlichkeiten und Unterschieden und Bewerten dessen, was eine
wesentliche und unwesentliche Eigenschaft ist.“ (Furth/Wachs, 1978, S. 38)
5. Die formalen Operationen (ab ca. 11 Jahren)
Sind im vorangehenden Stadium kognitive Operationen noch weitgehend von konkreten
Inhalten abhängig, gewinnt das Kind ungefähr im Alter von 11 - 12 Jahren die Fähigkeit,
hypothetisch-deduktiv zu denken. Piaget (1972) bezeichnet das auf die unmittelbare
Wirklichkeit bezogene Schließen als eine operative Gruppierung ersten Grades. Das formale
Denken besteht im Gegensatz dazu im Schaffen von Operationsgruppierungen zweiten Grades.
Sowohl Reflexion über die Operationen als auch Schlussfolgerungen aufgrund von Annahmen
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sind möglich. Die Stufe formaler Logik und mathematisch-deduktiven Denkens wird daher erst
nach dieser Entwicklung erreicht. Das Kind kann nun Handlungen aufgrund von Zeichen
setzen, die von der Wirklichkeit losgelöst sind. Piaget (1972) sieht in diesem Stadium den
Endpunkt der kognitiven Entwicklung, die Erreichung des höchsten Gleichgewichtszustandes,
zu dem schon die konkreten Operationen streben. Die Errungenschaften des Stadiums der
konkreten Operationen können nun reflektiert und beliebig kombiniert werden.
Es bleibt nun noch die Aufgabe, die Entwicklung psychischer Funktionen in einigen
wesentlichen Teilbereichen des Denkens zu verfolgen.
3.3.1 Die Entwicklung des Zahlenbegriffs
Piaget sieht die Invarianz des Zahlenbegriffs als unbedingt notwendige Voraussetzung für
mathematisches Verständnis an.
„Eine Zahl ist nur in dem Maße verständlich, wie sie sich selber gleichbleibt, unabhängig von
der Disposition der Einheiten, aus denen sie zusammengesetzt ist.“ (Piaget, 1972, S.15-16)
Seine Untersuchungsergebnisse lassen den Schluss zu, dass die kontinuierlichen Quantitäten
(z.B. Flüssigkeitsmenge) erst nach und nach als konstant betrachtet werden. Zunächst verändert
sich nach Aussagen des Kindes die Menge je nach Form und Größe des Gefäßes (siehe
anschauliches Denken). In einer Übergangsphase wird Invarianz entdeckt, jedoch nicht auf alle
Fälle verallgemeinert. Schließlich setzt das Kind von vornherein die Invarianz der Quantitäten
voraus (siehe konkrete Operation). Das Konstantbleiben der Mengen fällt zusammen mit der
Fähigkeit des Kindes, Ganzheiten zu bilden.
Um die Entstehung der Quantifikationen zu analysieren, wirft Piaget (1972) in seinen
Versuchsreihen die Frage der Korrespondenz auf. Zwei Quantitäten miteinander zu vergleichen
bedeutet, ihre Elemente Stück für Stück zuzuordnen, was als unmittelbares Maß zur
Entdeckung der Gleichheit der Mengen angesehen wird. Zwecks genauerer Erläuterung soll im
Folgenden auf einige Untersuchungen eingegangen werden. Drei Stadien, die zur Lösung der
Aufgabe führen, sechs Flaschen sechs Gläsern zuzuordnen, lassen sich unterscheiden:
1. Weder genaue Korrespondenz noch Äquivalenz: Das Kind ist weder fähig, genau
zuzuordnen, noch wird die Menge der zuzuordnenden Gegenstände als konstant angesehen.
2. Stück für Stück Korrespondenz, jedoch ohne dauernde Äquivalenz der korrespondierenden
Gruppen: Die Kinder glauben nicht mehr an die Äquivalenz, sobald die korrespondierenden
Paare voneinander getrennt werden, oder die Dichte der Elemente einer Gruppe verändert
wird. Die richtige Lösung ist anschauungsgebunden.
3. Stück für Stück Korrespondenz und dauerhafte Äquivalenz der korrespondierenden
Gruppen: Die Anzahl der Gläser und Flaschen bleibt nach Ansicht der Kinder unabhängig
von ihrer Anordnung konstant. Es entwickelt sich ein Zahlbegriff unabhängig vom
beanspruchten Raum.
In einer weiteren Untersuchungsreihe möchte Piaget (1972) den Mechanismus der
Korrespondenz selbst analysieren. Er gibt dabei Situationen vor, in denen die Kinder
gezwungen werden, spontan Zuordnungen zu finden. Die Methoden, die dazu führen sind von
Interesse. Das Untersuchungsmaterial soll dafür aus inhaltlich nicht zusammenpassenden
Elementen, also nicht wie im letzten Beispiel Glas und Flasche, bestehen. Es werden Kärtchen,
auf denen Spielmarken in verschiedenen Anordnungen (Kreis, Quadrat, Kreuz usw.) gezeichnet
sind, verwendet. Dazu folgt die Instruktion, jeweils gleichviel Münzen zu legen.
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Wieder werden drei Stadien unterschieden:
1. Die verschiedenen Konfigurationen werden global wiedergegeben. Die Figur, welche die
Kinder darstellt, ist der des Modells ähnlich. Der Begriff der Kardinalszahl fehlt, es wird
noch keine quantitative Wertung vorgenommen. Die Wertung ist lediglich global durch
Vergleiche mit „mehr“ oder „weniger“ entstanden.
2. Eine qualitative Korrespondenz wird auf anschauliche Art wiedergegeben, das heißt, alle
Teile der Figur werden richtig wiedergegeben. Die Zahl der Spielmarken der beiden Figuren
ist gleichwertig. Eine Stück für Stück-Korrespondenz, die von größerer Genauigkeit ist,
findet statt. Es handelt sich noch immer um einen Wahrnehmungsvergleich, der nicht
unbedingt numerisch ist. Die Äquivalenz der beiden Gruppen von Elementen wird nämlich
dann von den Kindern bestritten, wenn eine Figur verändert wird.
3. Beim dritten Stadium wird eine Zuordnung aufgrund einer operatorischen Korrespondenz
hergestellt. Die Äquivalenz zweier Gruppen wird grundsätzlich erkannt. Die Herstellung
einer dem Modell ähnlichen Figur ist nicht mehr notwendig, die richtige Anzahl der
Spielmarken wird in beliebiger Weise dazugelegt. Das bedeutet, der Äquivalenzbegriff steht
offensichtlich im Zusammenhang mit dem Erfassen der Reversibilität.
Im folgenden Versuch wird die Frage der Reihenbildung, der Korrespondenz zwischen zwei
Reihen asymmetrischer Relationen (relative Ähnlichkeit) und der ordinalen Korrespondenz
(numerisch gewordene Ähnlichkeit) aufgeworfen. Das Untersuchungsmaterial bestand daher
aus zwei Gruppen von Elementen, die sich durch Merkmale unterscheiden, die eine
Reihenbildung im Kind provozieren. Die Rangordnung der Gruppen korrespondiert aufgrund
derselben Merkmale. Z. B. verwendet Piaget (1972) zehn Holzmännchen in verschiedenen
Größen und zehn Spazierstöcke, die durch ihre verschiedene Länge mit den Puppen
korrespondieren.
Wiederum findet Piaget drei Etappen, die das Kind bei der Herstellung der ReihenKorrespondenz durchläuft:
1. Ein globaler Vergleich ohne genaue Reihenbildung und ohne genaue Stück für StückKorrespondenz,
2. progressive und auf die Anschauung gründende Reihenbildung und Korrespondenz und
3. unmittelbare und operatorische Reihenbildung und Korrespondenz.
Andere Ergebnisse zur Problemstellung der Herstellung der Reihen-Korrespondenz sollen
zusammengefasst werden: Weder die Konstruktion jeder einzelnen Reihe noch die Herstellung
einer Stück für Stück-Zuordnung kann als leichter oder schwerer bezeichnet werden. Wenn das
Kind eines von beiden beherrscht, gelingt auch das andere. Die Reihenbildung bezeichnet
Piaget (1972) lediglich als eine innere Korrespondenz und die Reihen-Korrespondenz als eine
äußere Korrespondenz zwischen zwei Reihen. Wichtig zur Herstellung einer ReihenKorrespondenz ist die Fähigkeit der Relativierung. Anfangs verfährt das Kind nach Qualitäten
wie groß und klein, später nach den Relationen größer und kleiner und erst im letzten Stadium
wird die Gesamtheit der Verhältnisse zwischen allen Bestandteilen betrachtet. Es wird bei jeder
Relation das größte Glied von allen herausgesucht.
Wenn die Elemente einer Reihe dichter zusammen geschoben werden oder eine der beiden
Reihen durcheinander gebracht wird, verliert das Kind zunächst jede Vorstellung von
Korrespondenz und ordnet meist untereinander liegende Elemente zueinander. Mit
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zunehmendem Alter beginnt das Kind zu zählen oder aber verwechselt die gesuchte Rangstufe
mit der des vorhergehenden Gliedes. Die Schwierigkeit liegt hier bei der Übersetzung eines
Ordinalwertes in einen Kardinalwert. Erst wenn verstanden wird, dass jeder Ordinalwert einem
Kardinalwert entspricht, d. h., wenn eine Zahl als eine Ganzheit erfasst werden kann, gelingt
die sichere Zuordnung.
Wann kommt es also zu einer Koordinierung zwischen Kardinierungsoperationen und
Reihenbildungsoperationen? Wenn das Kind in der Lage ist, die Ordnung der einzelnen
Elemente bestimmen zu können und somit diese als eine Gesamtheit zu erkennen. Jedes
Element hat seinen bestimmten fixen Platz in der Reihe. Der Rang eines Elementes wird von
einem Kardinalwert der Gesamtheit, die das in Frage kommende Element wie auch die ihn
vorangehenden Elemente umfasst, bestimmt.
3.3.2 Die Entwicklung des räumlichen Denkens, dargestellt am Beispiel der spontanen
Zeichnung
Nach einem bloßen Kritzelstadium unterscheidet Piaget (1971) drei Stufen der Entwicklung der
Kinderzeichnung. Die Zeichnung eines dreieinhalbjährigen Kindes, die ein Männchen darstellt,
sieht etwa folgendermaßen aus: An einem Kopf sind zwei Linien (Arme), zwei andere Linien
(Beine) und ein Rumpf ohne Verbindung zu den Gliedmaßen angehängt. Im Kopf sind zwei
Augen, eine Nase und ein Mund - dieser liegt über der Nase - gezeichnet.
Piaget (1971) ist der Ansicht, dass die Zeichnung keinerlei Information über die Wahrnehmung
gibt. Sie ist eine Vorstellung und gelingt aus Mangel an Raumvorstellung nicht. Das Kind ist zu
einer Synthese noch nicht fähig. Damit ist gemeint, dass es eine Raumvorstellung bildet, „die
die euklidischen (Proportionen und Entfernungen) und projektiven Relationen (Perspektiven
mit Projektionen und Schnitten) vernachlässigt und in der Konstruktion der topologischen
Relationen gerade die ersten Schritte tut, sie aber nicht beherrscht, sobald es sich um komplexe
Figuren handelt.“ (Piaget/Inhelder, 1971, S. 74) Elemente werden einfach aneinandergereiht
anstatt sie miteinander zu verbinden. Topologische Relationen werden als ein erster wichtiger
Entwicklungsschritt beherrscht.
Dann folgt ein Stadium des intellektuellen Realismus. Es wird nicht das Visuelle, was vom
Gegenstand sichtbar ist, gezeichnet, sondern alles was drinnen ist. Topologische Relationen
werden schon richtig angewandt. Zum Beispiel: Benachbartes wird dargestellt, Getrenntes wird
gezeichnet, eine Reihenfolge berücksichtigt und Relationen wie Umgebensein,
Umschlossensein und Innensein gewinnen an Bedeutung. Der Vorstellungsraum ist hinsichtlich
der Perspektiven oder Entfernungen noch nicht strukturiert. Der Blickwinkel kann etwa auf
einer Zeichnung hinsichtlich verschiedener Gegenstände ganz verschieden sein (z.B. ein Pferd
im Profil, ein Wagen von vorne auf einer Ebene liegend mit heruntergeklappten Rädern).
Die Kinder beginnen, einfache euklidische Formen (Kreise, Winkel, Quadrate, Geraden) richtig
zu zeichnen. Maße und Proportionen stimmen noch nicht. Projektive Relationen finden ihren
Anfang, jedoch die perspektivische Gesamtkoordination fehlt noch. Dann erst zeigt die
Kinderzeichnung Perspektiven, Proportionen und Maße oder Entfernungen. Diese Form der
Darstellung entwickelt sich im Alter von acht bis neun Jahren. Projektive Relationen
(Perspektive) und euklidische Relationen (Koordinaten und Proportionen) treten gleichzeitig
auf. Sowohl Figuren im Verhältnis zueinander, als auch ihre gegenseitigen Entfernungen
werden berücksichtigt. Ein Gesamtbild im Gegensatz zu mehreren Einzelbildern innerhalb
einer Zeichnung ist entstanden.
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3.4 Die Entwicklung des Sprechens im Hinblick auf verbales Verstehen und Erklären
Das Sprechen baut physiologisch betrachtet auf der Motorik, dem Atmen, Schreien, Saugen und
Schlucken auf. Es entwickelt sich außerdem nur in sozialen Interaktionen, beginnend mit
nachahmenden Lauten bis hin zu sozial reiferen Formen im Alter von sechs bis sieben Jahren
und bis zu Zusammenarbeit und gegenseitiger Anerkennung. Piaget (1972) unterscheidet zwei
Typen, den handlungsbezogenen und den verbalen Gesprächstypus. Im handlungsbezogenen
Gespräch wird die Diskussion von Gesten begleitet oder Gegenstände zur Erarbeitung zu Hilfe
genommen. Diese Bewegungssprache bezeichnet Piaget (1972) als die wahre soziale Sprache
der Kinder. Beim verbalen Gespräch erfolgt eine Erzählung oder Erklärung auf rein verbaler
Ebene.
Kinder untereinander verstehen sich im handlungsbezogenen Gespräch gut. Dies hat zur
Konsequenz, dass, wenn Kinder anderen etwas erklären, sie die Möglichkeit haben sollen,
Anschauungsmaterial zu verwenden. In dieser Altersstufe liegt das Verstehen zwischen
Kindern nicht so hoch wie das zwischen Kindern und Erwachsenen, allerdings nur unter der
Voraussetzung, dass Erwachsene bemüht sind, kindgemäß zu sprechen. Grundsätzlich handelt
es sich bei der Fähigkeit zu verstehen um folgendes Phänomen: Von den Wörtern, die
gesprochen werden, trifft der kindliche Gesprächspartner immer eine Auswahl, bzw.
modifiziert sie nach seinen Interessen und Vorstellungen. Jeder Gesprächspartner bleibt in
seiner Welt, gleichgültig ob er sich bemüht, einen Gedanken oder eine Erklärung
wiederzugeben oder den anderen zu verstehen. Die Kinder gehen jedoch davon aus, immer zu
verstehen oder verstanden zu werden. Sie sprechen daher mehr zu sich selbst als zum
Gesprächspartner. Piaget (1972) sieht hier auch den Grund vieler Ungenauigkeiten in der
Sprache der Kinder. Beispielsweise werden häufig zeitliche oder kausale Beziehungen in den
Erzählungen vernachlässigt. Die Betonung liegt bei den Geschehnissen selbst. So wirkt das
Gespräch sprunghaft, von eigenen Gedankenassoziationen geprägt.
Die Fähigkeit, Erzählungen zu ordnen, dürfte um das siebente bis achte Lebensjahr erfolgen.
Vor dieser Entwicklungsstufe wird eine Geschichte eher in fragmenthafte Einzeldarstellungen
zerlegt und aneinandergereiht. Das wird auch durch den häufigen Gebrauch des Wortes „und“
deutlich. Selten erklärt das Kind „wie“ und „warum“ es etwa zu einem Ereignis gekommen ist,
obwohl es dies verstanden hat. Es glaubt entweder, der Gesprächspartner wisse diese
Zusammenhänge auch, oder es empfindet Desinteresse an gewissen Einzelheiten.
Zum Schluss soll noch der Frage der Objektivität in den Berichten der Kinder nachgegangen
werden. Laut Piagets Ergebnissen zeigt sich diesbezüglich im Alter von ca. sieben bis acht
Jahren eine Tendenz zur Genauigkeit bei der Wiedergabe einer Geschichte. Jüngere Kinder
fabulieren mehr, sind sich dessen aber nicht bewusst. Erst wenn eigene Gedanken objektiv
mitgeteilt werden, entsteht das Bemühen, auch die anderen zu verstehen.
3.5 Fühlen
Wie Bewegen und Wahrnehmen hat das Fühlen viele Modalitäten, die einerseits mit physischen
Empfindungen verbunden sind, insofern Empfindungen von Schmerz, Gleichgewicht usw.
Gefühle auslösen oder mit ihnen verbunden sind, und andererseits mit Situationen verbundenen
Gefühlen wie Vertrauen, Trauer, Heiterkeit, Dankbarkeit bis hin zu weitgehehend von
Situationen abgehobenen geistigen Repräsentationen wie Ehrfurcht und Liebe. Zunächst aber
sind alle Gefühle an Objekte oder Situationen gebunden. Im Grunde sind alle Tätigkeiten mit
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Gefühlen verbunden. Es wäre darauf zu achten, dass es angenehme Gefühle sind, denn ein
Kind, das sich wohl fühlt, verhält sich auch wohl.
Die kognitive ist eng mit der sozialen und affektiven Entwicklung des Kindes verbunden. Die
Affektivität stellt die Energetik der Verhaltensweisen dar, deren Strukturen den kognitiven
Funktionen entsprechen. Soziale Reife steht im Zusammenhang mit der Entwicklung eines
Regelbewusstseins bzw. der moralischen Urteilsfähigkeit. Piaget (1979) unterscheidet drei
Stadien des Regelbewusstseins:
Die Regeln sind noch nicht zwingend, es besteht kein Bewusstsein von Regelhaftigkeit, die
Regel ist motorisch festgelegt.
Am Höhepunkt des egozentrischen und der ersten Hälfte des Stadiums der Zusammenarbeit
„wird die Regel als heilig und unantastbar angesehen, sie ... hat ewigen Bestand“ (Piaget, 1979,
S. 24). Wird von den Erwachsenen Zwang auf das Kind ausgeübt, so erzeugt dieser beim Kind
einen „moralischen Realismus“, der durch Heteronomie, wörtlicher Befolgung der Regeln und
durch eine objektive Verantwortlichkeit gekennzeichnet ist. Gehorsam gegenüber den Regeln
und den Erwachsenen, die sie aufstellen, wird als gut angesehen. „In dem Maße, wie die Eltern
gerecht sein können und besonders soweit das Kind mit zunehmenden Alter den Reaktionen der
Erwachsenen sein eigenes Gefühl entgegensetzt, vermindert sich die Bedeutung der objektiven
Verantwortlichkeit (a. a. O., S 145). Dies setzt voraus, dass die Erwachsenen den Kindern keine
Regeln aufzwingen, sondern „gegenseitige Sympathie“ vorherrschen lassen. Erst wenn das
Kind lernt, vom anderen aus zu handeln und zu denken, fängt es an, nach den Absichten des
Handelns zu urteilen. Vom anderen aus zu denken, wird gefördert, wenn die Bezugspersonen
dem Kind ein Gefühl der Gleichheit geben.
Schließlich wird die kollektive Regel verinnerlicht und „erscheint in gleichem Maße als das in
Freiheit geschaffene Erzeugnis wechselseitiger Übereinstimmung und autonomen
Bewußtseins“. Die auf „gegenseitigem Übereinkommen“ beruhende Regel kann beliebig
umgestaltet werden, sofern man dafür ein allgemeines Einverständnis erhält (a. a. O., S. 23 f.).
Die Wandlung von Heteronomie zu Autonomie ist erfolgt. Die Regelhaftigkeit beruht auf
gegenseitiger Achtung. Besteht eine spontane Zuneigung der Eltern zum Kind, so wird dieses
„Handlungen der Großmut und sogar der Aufopferung“ setzen. „Hier ist zweifellos der
Ausgangspunkt jener Moral des Guten, die sich später neben derjenigen der Pflicht entwickelt
und bei gewissen Individuen völlig siegen wird. Das Gute ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit
(a. a. O., S. 221) .
Aus diesen Überlegungen verlangt Piaget vom Lehrer im Sinne seiner Auffassung der
Entwicklung der autonomen Moral aus der gegenseitigen Achtung und Zusammenarbeit, dass
er „für die Kinder ein älterer Mitarbeiter, und, wenn er das Zeug dazu hat, ein einfacher
Kamerad“ sei (a. a. O., S. 413).
3.5.1 Die Übernahme von Rollen und gegenseitige Zusammenarbeit
Mit dem Konzept von Piaget, der die Moralentwicklung eng im Zusammenhang mit der
Beziehungskultur sieht, was vor allem in seinen Vorschlägen zur Moralerziehung zum
Ausdruck kommt, ist das Konzept der Entwicklung der sozialen Rollenübernahme von
Selman/Byrne (1990) verwandt. Auch sie nehmen eine Parallelität der Entwicklung der
kognitiven und sozialen Denkstrukturen an.
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Auf der sensomotorischen und präoperationalen Stufe ist das Kind noch nicht in der Lage,
zwischen verschiedenen Standpunkten zu unterscheiden. Es geht auch bei seinen Rollenspielen
völlig in den einzelnen Rollen auf. Die Normen der Erwachsenen befolgt es zwar, aber es kann
sich von ihnen nicht lösen. Das Kind löst also weder sich noch die anderen von seinem
unmittelbaren Erleben ab. Eine Loslösung kann erst auf der Grundlage von Reversibilität
erfolgen.
Reversibilität schafft die Möglichkeit, immer wieder zum Ausgangspunkt einer Operation
zurückzukehren. Dies erlaubt es, die Lösung eines Problems verschieden anzugehen, also ein
bestimmtes Ereignis vor anderen herauszuheben, dem Lauf der Ereignisse zu entrinnen. „Das
Kind kann sich in die Situation einer anderen Person versetzen und den Standpunkt eines
anderen einnehmen.“ (Muuss 1980, S. 99). Der andere oder das Ereignis müssen ihm aber
gegeben sein, real vorliegen. Es ist die Stufe der selbstreflexiven Rollenübernahme, in der das
Kind seine Vorstellungen in konkreten Situationen mit denen anderer vergleichen kann. Es
kann verschiedene Standpunkte nacheinander einnehmen, es kann sie aber noch nicht
koordinieren. Erst, wenn es verschiedene Standpunkte koordinieren kann, kommt es zu einer
echten Zusammenarbeit.
Die Möglichkeit, unterschiedliche Standpunkte gleichzeitig aufeinander zu beziehen, setzt kognitiv ein formales Denken allein aufgrund verbaler Repräsentation voraus. So wird es möglich,
die reale, objektive Welt hinter sich zu lassen und in das Reich der Ideen einzutreten (Muuss
1980, S. 101). Die Umkehrung von Wirklichkeit und Möglichkeit kann auftreten und das Kind
kann sich zu sich und zur Umwelt reflexiv verhalten, zu sich selbst und anderen wie anderem in
Beziehung treten. Volle Zusammenarbeit und wechselseitige Rollenübernahme werden
möglich. Gegenseitigkeit ist Bedingung für Autonomie. Wie weit sie von Individuen real
umgesetzt wird, ist äußerst fraglich. Umso wesentlicher sind zwei Prinzipien für den Erzieher
zu beachten: „1. Die wirklichen Wahrheiten sind einzig jene, die man frei selbst erarbeitet, und
nicht jene, die man von außen empfangen hat.
2. Das moralisch Gute ist im Wesentlichen autonom und kann nicht vorgeschrieben werden.“
(Muuss, 1980, S. 108)
3.5.2 Die Entwicklung der Objektbeziehung
Die Psychoanalyse hat die Bedeutung der ersten Lebensjahre für das spätere Leben aufgezeigt.
Parallel dazu lieferte die vergleichende Verhaltensforschung mit dem Begriff der Prägung
frühkindlicher Verhaltensmuster beim Gänseküken (Lorenz 1935) in Kombination mit der
systematischen Beobachtung der Kontaktaufnahme zwischen Neugeborenem und Mutter
aufschlussreiche Informationen. Bowlby (1969), Mahler (1968) und Spitz (1980) haben aus
psychoanalytischer Sicht die symbiotische Phase beschrieben. Sie sind sich darüber einig, dass
die frühe Mutter-Kind-Bindung eine phylogenetisch angelegte Entwicklungsphase darstellt,
deren Reifung nach einem bestimmten Plan verläuft. Bedingung für die gesunde Entwicklung
des reifenden Kindes ist die adäquate Reaktion einer Umwelt, die sich in dieser Zeit fast nur auf
die Mutter beschränkt. Die Reifung der kindlichen Fähigkeiten weist bestimmte Wendepunkte
(Spitz, 1980) auf, an denen sich die Art der Kommunikation grundlegend ändert.
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Abbildung 3: Ätiologische Klassifizierung von psychogenen Erkrankungen im
Säuglingsalter entsprechend den Einstellungen der Mütter
_______________________________________________________________
Ätiologischer Faktor,
Einstellung der Mutter
Krankheit des Säuglings
_______________________________________________________________
Psychotoxizität
Primäre unverhüllte
Ablehnung
Koma des Neugeborenen
(Ribble)
Primäre ängstlich übertriebene Besorgnis
Dreimonatskolik
Feindseligkeit in Form
von Ängstlichkeit
Neurodermatitis des
Säuglings
Kurzschlägiges Oszilieren
zwischen Verwöhnung
und Feindseligkeit
Hypermotilität
(Schaukeln)
Zyklische Stimmungsverschiebungen
Koprophagie
Bewusst kompensierte
Feindseligkeit
Aggressiver Hyperthymiker (Bowlby)
_______________________________________________________________
Mangelerscheinungen
(Quantität)
Partieller Entzug
affektiver Zufuhr
Anaklitische
Depression
Völliger Entzug
affektiver Zufuhr
Marasmus
_______________________________________________________________
Auf zweierlei Art kann der kommunikative Prozess gestört werden. Durch Mangel an Dialog
(die Mutter fehlt ganz oder teilweise) oder durch gestörten Dialog, wenn die Mutter nicht in der
Lage ist, auf die Reize des Kindes adäquat zu reagieren oder ihm adäquate Reize zu bieten.
Mangel an Dialog führt zu anaklitischer Depression, Marasmus und Hospitalismus, gestörter
Dialog zu psychotischen Störungen (siehe Abb.2).
Zwischen dem 6. und 12. Monat ist zwischen Kind und Mutter die volle symbiotische
Beziehung hergestellt. Die Achtmonatsangst zeigt das Erscheinen des zweiten Organisators der
Psyche an. Ein neuer Abschnitt in der Entwicklung des Säuglings beginnt. Das Kind lebt in
seelischer Einheit mit seiner Mutter. Es reagiert mit Unbehagen, wenn sie weggeht und mit
Freude, wenn sie wieder erscheint. Die Teilnahme am Selbst der Mutter setzt die Fundamente
des späteren eigenen Selbst. Treten im Selbst der Mutter Störungen auf, so werden sie sich im
Selbst des Kindes spiegeln. Sie werden Teil seines Selbst und später seines Ichs, als ob sie
vererbt wären.
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„Eine aggressive ablehnende oder ambivalente Haltung der Mutter zum Kind schafft die
Voraussetzungen für einen zwar sehr bekannten, aber deswegen nicht leicht verstehbaren
Prozeß der Umkehrung der Aggression nach innen, die bis zur bewußten oder unbewußten
Selbstzerstörung führen kann. Durch ihre positive uneingeschränkte Zuwendung setzt damit die
Mutter in dieser Zeit die Grundlagen für das spätere Ich des Kindes und gibt ihm das
Selbstwertgefühl, das zur Realisierung dieses Ichs und seiner Potenzen notwendig ist.“
(Liacopoulos 1976, S. 9)
Mit ca. 10 Monaten ist das Kind an seiner Umwelt sehr interessiert. Es zeichnet sich durch
erhöhten Bewegungsdrang, verstärkte Rezeption und Lernen aus. Das Kind geht daran, aktiv
eine Erfüllung seiner emotionalen Ansprüche zu fordern. Erste Schritte in die Außenwelt
erfolgen, wenn sein Tätigkeitsdrang seitens der Umgebung ermutigt wird. Es entdeckt das Nein
und praktiziert es stets (Einsetzen des dritten Organisators der Psyche).
Im Laufe der ersten Jahre entsteht eine Ich-Struktur. Kommt es aber zu einer psychischen
Erkrankung im Säuglingsalter, so kann man von der Annahme ausgehen, dass sich in
irgendeinem Anteil des rudimentären Ich gewisse Störungen ereignet haben. Es ist ein Mangel
an denjenigen Faktoren entstanden, die für diese Entwicklung notwendig sind. Psychische
Störungen sind eine Folge unzureichender Befriedigung kindlicher Bedürfnisse, die sowohl
somatischer als auch emotioneller Art sein können. Das Kind hat Freude daran, Situationen zu
suchen, die von der vertrauten Umgebung etwas abweichen, und erlebt sie als lustvoll. So führt
das Beschäftigen mit einer wohldosierten Menge neuer Reize zu immer neuen Informationen.
Neue Bewegungen, Gegenstände oder Spiele erwecken das Interesse des Kindes.
Eltern sind oft gar nicht erfreut darüber, dass ihre Kinder Tätigkeiten setzen, die sie noch nicht
richtig können. Solche Tätigkeiten sind aber nach dem Inkongruenzprinzip nötig, dass Kinder
zu neuen Erkenntnissen kommen.
Mit einer Rückkehr zur Mutter fängt die Zeit der Loslösung an. Mit ca. 18 Monaten wird das
Kind auf einmal ängstlich und verlangt verstärkt emotionelle Zuwendung, es scheint abhängiger
als zuvor zu sein. Nun fängt das Kind an, sich als getrennte Person zu erleben. Dieser
desillusionierende Vorgang bringt die große Gefahr des Zusammenbruchs eines Selbstgefühls
mit sich. Die Verarbeitung der Frustrationen, die dieser Übergang mit sich bringt, ist nur durch
die stabile, positive Zuwendung der Mutter möglich. Diese Zeit ist durch eine ambivalente
Haltung zur Mutter gekennzeichnet. Das Kind braucht die Zuwendung der Mutter, um sich aus
der Symbiose zu lösen. Symbiotisch fixierte Mütter versuchen diesen Prozess zu hemmen und
die Aggressionen zu unterdrücken. Sie drohen dem Kind mit Liebesentzug und mit der
Vernichtung der Mutter als Folge der kindlichen Aggression. Das Kind kann die Grenzen der
Möglichkeiten seines Verhaltens nicht erfahren. Es erlebt stattdessen Angst und Schuldgefühle,
sobald sich aggressive Impulse melden.
Das Ergebnis des Abgrenzungsprozesses ist die Ich-Bildung und die Fähigkeit des Ichs,
kommunikative Beziehungen herzustellen, um seine Bedürfnisse befriedigen zu können. Die in
dieser Zeit erfolgten Bindungen bleiben teilweise lebenslang bestehen. Sie bilden das Muster
für die spätere soziale und sexuelle Interaktion des Erwachsenen. Die Bindung an die Mutter
entsteht erst durch die kommunikative Interaktion zwischen Mutter und Kind. Unabhängig
davon, ob die Mutter das Kind annimmt oder ablehnt, ob sie seine Bedürfnisse befriedigt oder
nicht, die Bindung findet statt. Allerdings hängt von der individuellen Art der Bindung der
Erfolg der nachfolgenden Ich-Bildung im Prozess der Loslösung ab. Mit der Beendigung des 3.
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Lebensjahres hat das Kind die „libidinöse Objektkonstanz“ (Mahler, 1968) erreicht. Die
symbiotische Entwicklungsphase ist abgeschlossen.
Die Entwicklung der Objektbeziehung steht also in engem Zusammenhang mit dem Auftreten
von Krisen-, Spannungs- oder Beruhigungsphasen. Es entstehen Voraussetzungen zu einem
Trennen aus der Mutter-Kind-Dyade, einem Gewahrwerden dieser Trennung. Dadurch erst ist
es möglich, dass sich eine eigenständige Persönlichkeit entwickeln kann. Mahler spricht davon,
dass die biologische und die psychische Geburt des Menschenkindes zeitlich nicht
zusammenfallen. Als psychische Geburt wird ein sich langsam entfaltender intrapsychischer
Prozess angesehen. „Wir bezeichnen die psychische Geburt des Individuums als den
Loslösungs- und Individuationsprozess: die Entstehung eines Gefühls des Getrenntseins von
einer realen Welt und einer Verbundenheit mit ihr, insbesondere im Hinblick auf das Erlebnis
des eigenen Körpers und auf den im Empfinden des Kindes wichtigsten Vertreter der Welt - das
primäre Liebesobjekt ... Doch die hauptsächlichen psychischen Errungenschaften dieses
Prozesses fallen in die Zeit zwischen dem 4. oder 5. und den 30. oder 36. Lebensmonat. Diese
Periode nennen wir die Loslösungs- und Individuationsphase.“ (Mahler 1982, S. 13)
Mahler benutzt „die Termini Loslösung oder Getrenntheit, um den intrapsychischen Erwerb
eines Gefühls des Getrenntseins von der Mutter und dadurch von der Welt im allgemeinen zu
bezeichnen.“ Von Symbiose spricht sie als „von einem Merkmal primitiven, kognitivaffektiven Daseins, in dem es keine Unterscheidung zwischen dem Selbst und Anderem
differenzierten Zustand stattgefunden hat (der die symbiotische Phase kennzeichnete).“ (Mahler
1982, S. 19)
Den Terminus Identität verwendet sie, „um die früheste Wahrnehmung eines Daseinsgefühls,
einer Einheit zu beschreiben - ein Gefühl, das unseres Erachtens eine partielle Besetzung des
Körpers mit libidinöser Energie umfaßt.“ (Mahler 1982, S. 19)
Die Individuation schreitet schnell voran. Doch das Kind erlebt auch die Getrenntheit von der
Mutter immer stärker und versucht sich dagegen zu wehren. Man spricht von der
charakteristischen Ambivalenz der Wiederannäherungsphase. Bei Kindern, deren Entwicklung
nicht optimal verlief, zeigt sich der Ambivalenzkonflikt in rasch wechselndem Anklammern
und negativistischem Verhalten.
Im dritten Lebensjahr sind zwei Aufgaben zu bewältigen: 1. Die Erringung von Individualität
und 2. die Erlangung von Objektkonstanz. Es kommt zu einer weit reichenden Strukturierung
des Ichs. Die elterlichen Gebote werden verinnerlicht, was auf Bildung von Überich-Vorläufern
hinweist. Wird ein beständiges, positiv besetztes innerliches Mutterimago allmählich
verinnerlicht, kann eine emotionale Objektkonstanz errichtet werden. Die Mutter kann, zum
Teil, während ihrer Abwesenheit durch ein verlässliches inneres Bild ersetzt werden.
Renggli (1982), Portmann-Schüler und Psychoanalytiker, versuchte die soziokulturellen Folgen
der Mutter-Kind-Beziehung genauer zu klären. Über die Verhaltensforschung, Psychoanalyse
und Ethnologie kam er zu einem neuen Modell der Entwicklung des Kleinkindes. Das
Heranreifen seiner individuellen Bindung an die Mutter ist eine der wichtigsten Etappen des
Kindes im ersten Lebensjahr. In der Verhaltensforschung wurde dieses Phänomen von Lorenz
(1935) entdeckt. Er bezeichnet es als „Prägung“. Diese Prägung erfolgt in einer sensiblen
Phase. Danach ist sie nur schwer oder überhaupt nicht mehr nachholbar. Nach erfolgter
Prägung besteht ein enges Band zwischen Mutter und Kind. Dies bezeichnet Renggli als
Bindung (1982, S. 61). Zwei Verhaltensweisen des Kindes beinhaltet dieser Begriff: Der
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Kontakt mit der Mutter wird bevorzugt oder ausschließlich gesucht, bzw. der bestehende
Kontakt will aufrecht erhalten werden. Das Kind kann zwischen seiner Mutter und anderen
Individuen unterscheiden. Ist es einem Kind gelungen, zu seiner Mutter eine starke Bindung
aufzubauen, neigt es dazu, auch zu anderen Personen Beziehungen zu knüpfen. Ist das Kind
unsicher in seiner Bindung, so sind seine Bestrebungen blockiert, zu anderen Beziehungen
aufzubauen.
3.5.3 Unbewältigte Entwicklungsphasen und daraus resultierende Konsequenzen
In der ersten Lebenszeit bezieht sich die intensive Angst des Kindes auf den Verlust von
Körperkontakt. Eine andere genau so wichtige Angstquelle besteht darin, dass eine Mutter ihr
Kind nicht in einer adäquaten Art und Weise im Arm halten kann oder eine ängstlich
überbesorgte Mutter manipuliert ununterbrochen an ihrem Kind herum. Solch ein ständiger
Wechsel in der Behandlungsweise wirkt auf das Kind immer fremdartig und somit bedrohend.
Nur ein Verhalten der Mutter, das ihrem Kind einen beruhigenden Körperkontakt gewährt, kann
vom Kind als „Ich“ erlebt werden.
Die Empfindung von Körperkontakt beruhigt ein Kind optimal. Ein Kind braucht die gesamten
neuartigen und somit befremdlichen Umweltreize nicht als bedrohlich erleben, wenn es sich im
Körperkontakt mit der Mutter befindet. Je mehr Körperkontakt ein Kind erleben darf, umso
vertrauender wendet es sich der gesamten Umwelt zu. Es wendet sich mit einem desto größeren
Misstrauen der Umwelt zu, je weniger Körperkontakt ihm gewährt wird, da ihm alle neuartigen
Reize und Empfindungen als unheimlich erscheinen. Gerade, wenn sich das Kind der Welt
vertrauend zuwenden will, so braucht es neben dem Körperkontakt ein Konstanzerleben. Schon
durch geringe Verhaltensänderungen der Pflegeperson wird es erschreckt und geängstigt.
Welche Folgen hat es, wenn das Klima frühester emotionaler Beziehungen nicht positiv ist?
Das Kind, das ein solches Klima erlebt, leidet später an einem mangelnden
Geborgenheitsgefühl, seine Zuwendung zu sich selbst und zur Welt ist gestört. Zwischen ihm
und seiner Umwelt besteht eine Kontaktlücke. Die Welt wird voll bedrohlicher und feindlicher
Kräfte erlebt. Sobald Wünsche auftreten, folgt der Gegenimpuls, die Hemmung. Es will nicht
mehr von einer Person abhängig sein und hat große Angst vor Nähe und Hingabe. Es ist gestört
in seinem Hergeben von Besitz, es kann nicht nein sagen, aber ebenso wenig kann es das
Besitzstreben mit allen seinen Konsequenzen bejahen. So wie es die Welt zuerst präsentiert
bekommen hat, so erlebt es sie wieder.
Hat das Kind die intentionale Phase positiv erleben können, so wendet es sich nicht nur
aufmerksam der Welt zu, sondern es erlebt alle möglichen Sinneswahrnehmungen immer
positiver und lustvoller. Es lernt allmählich zwischen eigenem Körper und Umwelt zu
unterscheiden. Das Kind lernt nun auch zu trennen zwischen sich selbst und einem davon
unabhängigen Wesen, seiner Pflegeperson. Es entwickelt sich eine Ich-Du-Beziehung. Je besser
es zwischen sich selbst und seiner Mutter unterscheiden kann, umso mehr sucht es zu dieser
durch Nachblicken, Lächeln oder Arme Entgegenstrecken Kontakt.
Sein Ich-Du-Bewusstsein wird desto stärker, je ausgeprägter und lustvoller das Kind solche
Kontakte sucht, abhängig von der Antwort der Mutter darauf. Das Kind lernt allmählich auch
seine Wirkung auf den Partner kennen. Es erfährt so, dass es in der Mutter-Kind-Beziehung
eine aktive Rolle spielt. Das kann aber nur dann geschehen, wenn die Mutter seine Äußerungen
adäquat beantwortet. Ist die Mutter dabei konstant, kann sich beim Kind aus dieser Erfahrung
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der eigenen Wirkung ein erstes primitives Machtgefühl entwickeln. Antwortet sie hingegen
inadäquat auf Schreien und Lächeln und Plaudern des Kindes, so befällt das Kind ein tiefes
Ohnmachtsgefühl. Die Bindung des Kindes an seine Mutter wird zwiespältig oder schwach, so
dass sie im Extremfall ganz ausfallen kann. Diesem Kind wurde auch die Möglichkeit
genommen, zu anderen Personen (sekundären Bindungspartnern) eine affektive Beziehung
herzustellen.
Damit sich das Kind aber selbstsicher zu fühlen beginnt, darf die Mutter den Kontakt zu ihm
nicht nur nicht abbrechen lassen, sondern muss möglichst intensiv auf dieses Kontaktsuchen
eingehen, indem sie zurückplaudert, zu ihm hingeht, sich mit ihm beschäftigt. Je sicherer sich
das Kind im Besitz seiner Mutter weiß, umso sicherer und mit größerem Vertrauen wird es
diesen Besitz loslassen und aufgeben. Es kann sich sogar lustvoll von seiner Mutter ablösen,
um die Umwelt zu erkunden. Ein solches Kind kann sich viel selbständiger entwickeln, es ist
fähig expansiv zu werden. Kinder, die keine konstante Zuwendung erfahren dürfen, kleben
ständig an ihrer Mutter. Sie durften sie nie voll in Besitz nehmen und müssen ständig Angst
haben, den wenigen Besitz, den sie beanspruchen durften, auch noch zu verlieren.
Welche Folgeerscheinungen treten auf, wenn es dem Kind nicht ermöglicht wurde, eine
Bindung an seine Mutter zu entwickeln? Später hat das Kind bzw. der Erwachsene Angst vor
Selbständigkeit und Ich-Werdung. Jedes aufkeimende Bedürfnis, jede Ablösungstendenz wird
als Verlust erlebt, so dass jeder Wunsch nach Ablösung sofort unterdrückt wird. Besitz- und
Machtanspruch kann nicht befriedigt werden.
Auch die gesamte Denkentwicklung kann dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden.
Hemmung und Ängstlichkeit verhindern die Informationsaufnahme und verzögern die
Denkentwicklung. Die Denkhemmung tritt besonders im Zusammenhang mit Verstimmungen
auf. Die Ursachen können auch in mangelnden Erfolgserlebnissen und zu geringem
Anregungsgehalt der Umgebung liegen.
3.5.4 Die Entwicklungsstufen des Selbstempfindens
In neuen Untersuchungen, die als Methode die Babybeobachtung verwenden, wird der Säugling
im Unterschied zu früheren Untersuchungen auch von Piaget als aktiv und als „kompetent“
betrachtet (Stern 1994, Dornes 1996). Dies zeigt sich im Besonderen bei Stern, der das
Selbstempfinden des Kindes prinzipiell mit 18 Monaten als gegeben, wenn auch als
unabschließbar differenzierbar betrachtet. Es entwickelt sich nach Stern in Stufen und ist ein
organisierendes Prinzip, aus dem heraus der Säugling sich und die Umgebung erfährt und
ordnet.
1. Das auftauchende Selbstempfinden (sens of an emergent self) entwickelt sich zwischen 0
und 2 Monaten. Schon in diesem Alter stellen Säuglinge Verbindungen zwischen
verschiedenen Ereignissen her. Ein erstes Gefühl von Regelmäßigkeit und Geordnetheit
(emergent organisation) wird erlebt.
2. Das Kernselbstempfinden (sens of a core self) herrscht zwischen 2/3 und 7/9 Monaten vor.
Säuglinge dieses Alters machen die Erfahrung, dass sie und der andere physisch getrennte
Wesenheiten sind, zwei Körper, die miteinander in Beziehung treten können, ohne
miteinander zu verschmelzen. Diese Konzeption nimmt von der alt vertrauten und fest
verwurzelten psychoanalytischen Vorstellung Abschied, dass die Anfangsgründe des
menschlichen Daseins symbiotisch seien. Stern postuliert als anfänglichen Zustand eine
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Trennung von Selbst und Objekt (self versus other), die als solche auch empfunden werde.
Was bisher in der Psychoanalyse in Begriffen wie Symbiose und Verschmelzung
beschrieben
wurde,
diskutiert
er
unter
dem
Titel
„self-with-other“:
Gemeinsamkeitserlebnisse mit dem anderen sind möglich, und in diesem Zeitraum auch
reichlich vorhanden, aber ihnen gehen die gefühlten Grenzen zwischen Selbst und Objekt im
Normalfall nicht verloren, sondern bleiben intakt.
3. Die Phase des subjektiven Selbstempfindens (sens of a subjectiv self) wird von 7/9 bis
15/18 Monate datiert. Kinder dieses Alters merken, dass es auch andere als ihre eigenen
„minds“ gibt. In Bezug auf das menschliche Objekt, das Stern den Anderen (other) nennt,
entsteht beim Kleinkind die Vermutung, dass es ein Wesen mit einer Psyche ist, und weiter,
dass psychische Zustände des Subjekts (Affekte, Absichten, Aufmerksamkeit) und solche
des Objekts „teilbar“ sind, d. h. mitgeteilt und ausgetauscht werden können. Es entsteht die
Idee von Psychen, die getrennt sind, sich aber „überschneiden“ können, indem sie bestimmte
Erfahrungen gemeinsam haben und miteinander kommunizieren. Stern nennt diese Ahnung
des Kleinkindes eine „theory of interfacable separate minds“. Sie ist der Beginn von
Intersubjektivität im psychologischen Sinn.
4. Das verbale Selbstempfinden beginnt mit 15/18 Monaten und ist nie abgeschlossen. Kinder
entdecken, dass sie persönliches Wissen und Erfahrungen haben, die sie mit Hilfe von
Sprache kommunizieren können. Es gibt jetzt nicht mehr nur Gefühle und gemeinsame
subjektive Zustände, sondern gemeinsames und symbolisch kommuniziertes Wissen um
dieselben.
3.5.5 Das Weltbild des Kindes - Die emotionale Besetzung der Umwelt
Der Mensch erwirbt ein umfassendes Wissen von der Welt in den ersten sieben bis zehn Jahren.
Es wird zunächst über die Sinne erworben (Tast-, Geschmacks-, Gesichts-, Geruchs-,
Temperatur-, Gehör- und auch Gleichgewichtssinn). Um diese Welterkundung durchführen zu
können, ist die Bezugsperson als feste Basis unerlässlich. Erlebt das Kind in seiner Beziehung
keine Geborgenheit, richtet es alle Sinne auf die Erhaltung der Existenz und ist nicht offen für
die Welt. Konkretes Erfassen ist die Voraussetzung für das abstrakte Denken. Oft wird es
Kindern erschwert, sich mit der stofflichen Welt auseinanderzusetzen. Werden ihre
Erkundungstouren ständig eingeschränkt, verlieren sie die Neugierde. Ihr Weltbild entwickelt
sich einseitig. In der frühen Kindheit wird das Leben durch Tun und Handeln bestimmt.
„Dieser Form des Denkens entsprechen auch die Märchen: Wir hören vom Handeln der
Personen, das Geschehen steht im Vordergrund. Auch die Gefühle der Helden werden uns als
Handlungen vor Augen geführt. So heißt es nicht, ‘sie war traurig’, sondern ‘da setzte sie sich
hin und weinte’. In den Schlußanwendungen wird ebenfalls keine gedankliche Verarbeitung
angeboten, es heißt lediglich: ‘sie feierten ein Hochzeitsfest’ oder ‘sie lebten lange und mit
Freude’. Das Märchen begründet und erklärt also nicht im rationallogischen Sinn. Der alte
Mann oder die alte Frau kennen ‘den Jammer’ schon, es wird aber nicht gesagt, woher. Ähnlich
geht das Kind zunächst mit der Welt um, und in einem weiteren Entwicklungsschritt kommt es
dazu, nach dem Warum und Woher zu fragen.“ (Diergarten/Smeets 1987, S. 16)
Das Weltbild des Kindes beruht auf einer eigenen Logik, die dadurch gekennzeichnet ist, dass
das Kind an die Wahrnehmung gebunden ist und noch keinen Zeitbegriff hat. Es befindet sich
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in einem Prozess von Umorientierungen und hat starke Emotionen, weil es nicht in der Lage ist,
seine unmittelbaren Bedürfnisse zu distanzieren. Es ist gekennzeichnet durch ein unbeständiges
Verhältnis zur objektiven Welterfassung. „Jede Entwicklungsstufe enthält spezifische Wagnisse
und aktiviert ganz bestimmte, damit in Verbindung stehende Ängste. Diese werden jedoch erst
dann zum Problem, wenn sie uns überschwemmen und wir keine Fähigkeiten entwickeln
konnten, mit ihnen umzugehen.“ (Diergarten/Smeets 1987, S. 11)
Die Entwicklungspsychologinnen Anne Diergarten und Friedericke Smeets betonen, daß sich
die Kinder in den ersten acht bis zehn Lebensjahren „ein eigenes Bild von der Welt machen und
sich mit ihr auseinandersetzen. Gerade das Spiel mit der Phantasie dient der geistigen
Gesundheit. Denn das magische, vorwissenschaftliche, vorlogische Denken ist kein
vereinfachtes Denken, sondern eine qualitativ völlig anders geartete Form der Welterfassung:
intensiv, spontan, sprunghaft und assoziativ, ein komplexes Bilddenken, so wie wir es in den
Märchen wiederfinden.“ (Diergarten/Smeets 1987, S.13 f.)
Beim Kind erfolgt die Deutung und gefühlsmäßige Einordnung der Umwelt in den Kategorien,
die es an sich selbst erfahren hat, wie lieb - böse, angenehm - unangenehm... . Im
Zusammenhang mit Bedürfnisbefriedigung ergeben sich positive emotionale Besetzungen.
Fühlt sich das Kind geborgen, erlebt es die Welt freundlich. Sie wird unfreundlich und
feindlich, wenn Kinder sich verlassen fühlen oder in einer bedrückenden Situation leben. Ein
positives Erleben der Umwelt in frühester Zeit bedeutet Lebensfreude und Zuwendung zur
Welt. Ein negatives Erleben bedeutet vermehrte Angst, abwartendes Verhalten bis hin zum
Rückzug.
„Ein erreichbares Lebensziel für jeden Menschen ist es, erwachsen zu werden. Dies ist kein
Prozess, der sich nur in körperlicher Reife oder durch die Summierung von gelebten Jahren
ausdrückt. Es ist ein psychischer Prozeß, der sich darin zeigt, daß ein Mensch nach gelungener
Symbiose und Loslösung seine Autonomie erlangt, die in die Individuation mündet. Dies ist
nicht nur Thema der ersten Beziehung zwischen Mutter und Kind, sondern ein lebenslanger
Prozeß. In jeder Beziehung, die wir eingehen, liegt schon die Notwendigkeit, zwar eine gute
Symbiose zu leben, aber auch die folgende spätere Trennung und Selbstwerdung, die für die
Differenzierung der Persönlichkeit notwendig ist, gedanklich miteinzubeziehen.“
(Diergarten/Smeets, 1987, S. 50).
Kinder, die den Loslösungsprozess nicht oder nur teilweise bewältigen konnten, können durch
Märchen eine Hilfestellung erfahren. Es erzählt von Gefahren und Begebenheiten, ähnlich wie
das Kind sie erlebt. „Auf die Bedeutung der Märchen zum Verständnis der Welt mit ihren
Licht- und Schattenseiten, kann in diesem Zusammenhang gar nicht nachdrücklich genug
hingewiesen werden.“ „Märchenhelden werden oft schweren Prüfungen unterworfen, die sie
immer bewältigen - eine tröstliche Erfahrung in Situationen, in denen ein Kind den Eindruck
hat, daß ‘gar nichts mehr geht’. Märchen vermitteln aber auch die Erkenntnis, daß Entwicklung
nicht von alleine geschieht: Bewährungsproben und Kampf gehören unvermeidlich dazu. Sie
präsentieren also keine ‘heile Welt’, sondern im Gegenteil, sie schildern die menschliche
Existenz ganz so, wie auch das Kind sie erlebt: chaotisch, unüberschaubar, oft ungerecht und
voller existentieller Ängste. Die Furcht vor dem Tod und Krankheit, das Bedürfnis geliebt zu
werden, die Furcht, als schwach, unwissend oder dumm hingestellt zu werden, sind seine
Themen. Aber - und das ist entscheidend - das ‘Gute’ siegt immer. Der Held mag noch so viele
Gefahren bestehen müssen, er geht immer siegreich aus der Geschichte hervor. In Zeiten, wo
keine Lösung möglich zu sein scheint, kommt sie von völlig unerwarteter Seite - aber nie ohne
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sein Zutun. Die Wunder, die in Märchen geschehen, sind keine Wunder - der Held hat zuvor
immer etwas getan, damit sich die Situation zu seinen Gunsten verändern kann. Damit geben
sie dem Kind die Gewißheit, daß es auch eine Chance hat und aktiv zu der Veränderung seiner
Situation beitragen kann. ‘Es gibt für alles eine Lösung - mag die Situation auch noch so
ausweglos erscheinen’ und ‘du selbst kannst diese Lösung finden’, sind die Erfahrungen, die
das Kind dort machen kann.“ (Wüthrich/Gauda 1990, S. 40 f.)
Jede kindliche Aktivität hat eine symbolische Bedeutung, die einerseits im Bereich der
Phantasie liegt und andererseits einen kognitiven Wert besitzt. Persönliche Wünsche und
Ängste werden vom Kind auf Spielgegenstände projiziert. So schafft das phantasievolle Spiel
Situationen, die ein Eigenleben gewinnen und zu neuen Entdeckungen, verbalen Urteilen und
Überlegungen führen. Der Ausgangspunkt wird vom symbolischen Wert der Spielgegenstände
gebildet und führt als Brücke zur aktiven Erforschung der Gegenstände und zur realen
Funktionsweise.
„Das Puppenspiel ist ein wichtiges Moment innerhalb der Entwicklung von Kindern.“ (Ammon
1982, S. 60) Isaacs (1933) bezeichnet die Symbolbildung als die tiefste Wurzel kindlichen
psychischen Lebens, reale Gegenstände und Ereignisse sind im Vergleich dazu nur von relativer
Bedeutung. Beim kleinen Kind drückt sich in der Symbolbildung die Beziehung zu seinen
Eltern in allen Facetten aus. Später wird die Gruppe der gleichaltrigen Kinder bedeutsam als
Bündnispartner gegenüber der Übermacht der Erwachsenen. Im Spiel mit den Handpuppen
verarbeiten Kinder ihre Sorgen. „Und auf der Bühne ist dann (fast) alles erlaubt und (fast) alles
möglich: das unter Minderwertigkeitsgefühlen leidende kleine Mädchen wird zur schönsten
Prinzessin. Der kleine unterdrückte und scheue Junge zum bösen Räuber. Die böse Königin
darf alle negativen Gefühlsregungen offen äußern, der Seeräuber räubern soviel er will und die
ganze tiefe Trauer über den Verlust oder ein unbewältigtes Ereignis kann sich in schwarze
Raben verwandeln. Das Baby ist klein und hilflos und der freche Kaspar darf sowieso Dinge
laut sagen, die man sich sonst nicht trauen würde zu äußern. Die Symbolsprache der Kinder
kann sich voll und ungehindert entfalten - die Puppe bietet Schutz vor direktem Zugriff und
doch gleichzeitig die Möglichkeit, alles auszudrücken.“ (Wüthrich/Gauda, 1990, S. 25 f.)
In einer Integrationsklasse finden sich:
 gut begabte, psychisch ausgeglichene Kinder
 Kinder mit unterschiedlichen speziellen Bedürfnissen (sprachlich, körperlich, geistig ...)
 aggressive, depressive, misshandelte, ängstliche, neurotische, psychotische Kinder
 Kinder aus anderen Kulturkreisen
Kreative Tätigkeiten wie Spielen, Gestalten, Darstellen, Formen, Malen, Musizieren, Märchen
erzählen und/oder hören, sowie das Einbeziehen von Entspannungsübungen leisten wertvolle
Hilfe zur Bewältigung vielfältiger Probleme.
Mit der Einführung von Integrationsklassen hat sich rasch gezeigt, daß im Integrationsgedanken
eine große Herausforderung liegt, die der Pädagogik neue Wege eröffnet. Das Miteinander in
heterogenen Klassen führt zu einer Erweiterung und bedeutenden qualitativen Verbesserung der
Entwicklungschancen jedes einzelnen Kindes, weil alle menschlichen Aspekte gefördert
werden.
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3.6 Wollen
Wir nehmen mit dem humanistischen Psychologen Abraham Maslow (1977, 1973) an, daß
jeder Mensch eine Tendenz zur „Selbstaktualisierung“ in sich trägt, oder, wie Carl R. Rogers
(1984) diese bezeichnet, eine formative Tendenz (Rogers 1984). Nach den Biologen Humberto
Maturana und Francisco J. Varela (1991) ist jeder Organismus durch Autopoiese
gekennzeichnet. Nach Homöostase strebt nur ein Organismus, der sich in einem bedrohlichen
Ungleichgewicht befindet. Sonst strebt er einen Zustand höheren Gleichgewichts an, d. h. er
sucht neue Situationen auf. Das Wollen ist also darauf ausgerichtet, daß der Organismus zu
seiner höchstmöglichen Ausformung kommt. Dabei ist er in der Lage, starke Gegenkräfte zu
überwinden (Mierke 1980).
Erhält das Kind entsprechend viel Raum für seine Selbsterfahrung, spürt es in sich die
Möglichkeit, sein Leben eigenständig gestalten zu können. Zu seiner höchsten Ausformung
kommt der Mensch, wenn er mit vollem Bewusstsein handelt, dass er sich in seinem Handeln,
in seinem Tun im Idealfall dauernd gewahr ist und wenn er so Sicherheit spürt, dass er sich in
diesem Gewahrsein seiner selbst von den Dingen „zentrieren“ lassen kann, um sie in ihrem
Sosein zu erfassen (Jacoby 1991). Die Lenkung der Aufmerksamkeit ist von eminenter
Bedeutung, allerdings nur, wenn das Kind von einer Sache selbst angezogen wird und nicht
durch den Lehrer aufmerksam gemacht wird. Das Kind verdient auch insofern Achtung, als der
Lehrer auf seine innere Entwicklung achtet, sie anerkennt und es auch in Ruhe lässt. Auch in
der Schule, wie in jedem sozialen Zusammenhang braucht das Kind seinen eigenen Freiraum,
um sich erfahren zu können und aus seinem eigenen Wollen tätig zu sein, zu lernen. Die
„Polarisation der Aufmerksamkeit“ wie sie Maria Montessori (1972) beschreibt, hat eine nicht
zu unterschätzende Funktion für den Erkenntnisprozess in all seinen Facetten und für die
Entwicklung der Person. Mit Polarisation der Aufmerksamkeit meint Montessori ein bei
Kindern auftretendes Phänomen äußerster Konzentration im Umgang mit einem für sie
momentan interessanten Material.
Folgendes Schlüsselerlebnis hat Maria Montessori die Bedeutung dieses Begriffs erkennen
lassen. Sie beobachtete in ihrem ersten Kinderhaus „ein etwa dreijähriges Mädchen, das tief
versunken war in der Beschäftigung mit einem Einsatz-Zylinderblock, aus dem es die kleinen
Holzzylinder herauszog und wieder an ihre Stelle steckte. Der Ausdruck des Mädchens zeugte
von so intensiver Aufmerksamkeit, daß es für mich eine außerordentliche Offenbarung war. Die
Kinder hatten bisher noch nicht eine solche auf einen Gegenstand fixierte Aufmerksamkeit
gezeigt. Und da ich von der charakteristischen Unstetigkeit der Aufmerksamkeit des kleinen
Kindes überzeugt war, die rastlos von einem Ding zum anderen wandert, wurde ich noch
empfindlicher für dieses Phänomen.
Zu Anfang beobachtete ich die Kleine, ohne sie zu stören, und begann zu zählen, wie oft sie die
Übung wiederholte, aber dann, als ich sah, daß sie sehr lange damit fortfuhr, nahm ich das
Stühlchen, auf dem sie saß, und stellte Stühlchen und Mädchen auf den Tisch; die Kleine
sammelte schnell ihr Steckspiel auf, stellte den Holzblock auf die Armlehnen des kleinen
Sessels, legte sich die Zylinder in den Schoß und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Da forderte ich alle
Kinder auf zu singen; sie sangen, aber das Mädchen fuhr unbeirrt fort, seine Übung zu
wiederholen, auch nachdem das kurze Lied beendet war. Ich hatte vierundvierzig Übungen
gezählt; und als es endlich aufhörte, tat es dies unabhängig von den Anreizen der Umgebung,
die es hätte stören können; und das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus
einem erholsamen Schlaf.“ (zit. nach Oswald/Schulz-Benesch 1967, S. 17 f.) Diese psychische
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Reaktion auf eine adäquate Anregung, durch die eine Polarisation der Aufmerksamkeit möglich
wird, kann durch äußere Bedingungen erleichtert werden.
In der Entwicklung der Methode wurde daher nach Gegenständen gesucht, die diese
Konzentration hervorrufen bzw. sollte eine Umgebung, die besonders günstige äußere
Bedingungen für diese Konzentration bietet, geschaffen werden. Dazu gehört, dass das Kind
nicht dazu gezwungen wird zu tun, was es von Erwachsenen angesagt oder anbefohlen
bekommt. Die Ausbildung einer willkürlichen oder beständigen Aufmerksamkeit wird als
Wurzel der Intelligenz- und Persönlichkeitsbildung bezeichnet. Die Aufrechterhaltung einer
aktiven Reaktion ist eine Anregung zur inneren Bildung. In der Stärke des Wollens drückt sich
die Freiheit aus, die demnach wiederum nur durch eigengesteuerte Aktivität erfahren werden
kann. Der Erwachsene, der, statt das Kind bei seinen Aktivitäten zu unterstützen, sie durch
seine Fertigkeiten ersetzen zu müssen glaubt, stört die Entwicklung des Kindes. Es wäre also
darauf zu achten, daß die Kinder nicht durch die Aktivitäten von Erwachsenen gestört werden.
Montessori findet dafür scharfe Worte: „Wer hätte je vermutet, daß jenes törichte >>dem Kind
zu Hilfe kommen<< die erste Wurzel aller Verdrängungen und damit der gefährlichsten
Schädigungen ist, die der Erwachsene dem Kinde zufügen kann?“ (1988, S. 96 f.). Man kann da
nicht sensibel genug sein, um nicht das Kind durch den Erwachsenenwillen zu substituieren
und damit zum Nichtdenken zu verurteilen.
Es ist eine selbstverständliche Voraussetzung, daß jeder Organismus, um sich entwickeln zu
können, einen gewissen Freiraum braucht. Die Schaffung von Entwicklungsfreiheit bedeutet die
Befreiung von Hindernissen, die die normale Entwicklung hemmen könnten. Dem Kind wird
ein dem Entwicklungsstand entsprechender Freiheitsradius gewährt. Dabei ist es wichtig, eine
geeignete Umgebung zu schaffen, um den Kindern eine freiwillige Selbstregulierung und
Selbstkontrolle zu ermöglichen und zwar immer in Abstimmung auf ihre sich entwickelnde
innere Organisation. Auch die Möglichkeit zur spontanen Bewegung und zu spontanen
Wahlmöglichkeiten
innerhalb
der
organisierten
Anregungsumwelt
gehört
zur
Entwicklungsfreiheit.
Montessori (1972) bezeichnet den Weg der Freiheit in der Entwicklung einen
Normalisierungsprozess, gewissermaßen eine Genesung. „Das Hauptkennzeichen bleibt immer
das gleiche: ‘Das Aufgehen in einer Arbeit’, einer interessanten, frei gewählten Arbeit, die die
Kraft hat zu konzentrieren und, anstatt zu ermüden, die Energien, die geistigen Fähigkeiten und
die Selbstbeherrschung erhöht.
Um eine solche Entwicklung zu unterstützen, genügen nicht Gegenstände irgendwelcher Art,
sondern es muss eine Umgebung von ‘progressiven Interessen’ gestaltet werden. Daraus ergibt
sich dann eine Erziehungsmethode, die sich auf die Psychologie der Entwicklung des Kindes
stützt.“ (Montessori, 1972, S. 185)
Im Mittelpunkt der Methode aktiven Lernens steht die Freiarbeit. So kann jeder Schüler gleich
nach Betreten der Klasse seine Arbeit wählen. Wichtig ist, daß die Umgebung, der Klassenraum
bzw. die Funktionsräume, gut vorbereitet sind. Jedes Material hat seinen festen Platz.
Gleichgültig ob in Einzel- oder Gruppenarbeit sollen spontane Äußerungen und eine
individuelle Lebhaftigkeit gestattet sein und gefördert werden.
Der Lehrer soll die Aktivität des Kindes in dem Sinne achten, daß es selbst weiß, was es im
Moment braucht, um seinem inneren Entwicklungsplan zu folgen. Die Aktivität des Kindes
wird sonst zerstört. Gelobt soll es nur werden, wenn es das wünscht. Ein Ziel ist allerdings „die
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Unabhängigkeit des Willens durch die eigene und freie Wahl; die Unabhängigkeit des
Gedankens durch eine Arbeit, die ohne Unterbrechung von selbst geleitet wurde. Die Kenntnis
der Tatsache, daß die Entwicklung des Kindes einen Weg aufeinander folgender
Unabhängigkeitsgrade durchläuft, muß uns Richtlinie im Verhalten ihm gegenüber sein. Wir
müssen dem Kind dazu verhelfen, von sich zu handeln, zu wollen und zu denken.“ (Montessori,
1972, S. 254) Diese Methode ist dann sichtbar erfolgreich, wenn die Kinder arbeiten, als wäre
der Lehrer nicht vorhanden.
Bei allem echten Lernen kann es nur darum gehen, den Kindern zu helfen, es selbst zu tun.
Kinder, die selbst handeln dürfen, zeigen nicht nur ein intelligenteres Verhalten, sondern sind
bei ihrer Arbeit auch genauer und disziplinierter. Im Besonderen zeigt sich dies beim sozialen
und moralischen Handeln, bei dem ein Minimum an freier Selbstbestimmung geradezu
vorausgesetzt ist, daß Menschen ihr Verhalten in einer konstruktiven Weise verändern.
Mit dem Wollen entwickelt sich ein weiterer wesentlicher Bereich des Menschen, nämlich sein
Werten. Unser Handeln ist von Trieben, Bedürfnissen und Werten motiviert. Zu häufig wird
das Kind gezwungen sein inneres Spüren dessen, was für es gut ist, den Erwartungen
Erwachsener opfern. Es wird so gezwungen, seine innere Bewertungsgrundlage aufzugeben.
Die Folge ist, daß es sich nach den Erwartungen und Normen von außen richtet, die häufig
seiner inneren Entwicklung entgegenstehen. Es wird so in die Heteronomie getrieben. So ist das
von Piaget (1983) empirisch festgestellte Stadium der Heteronomie oder der konventionellen
Moral nach Lawrence Kohlberg (Kohlberg/Turiel 1978) kein notwendiges Stadium kindlicher
Entwicklung, sondern von Erwachsenen induziert. Mühsam müssen dann die Jugendlichen ihre
Autonomie wieder zurückgewinnen, wollen sie sich nicht in neue Abhängigkeiten begeben.
Ziel des gesamten Prozesses der Willensbildung ist, daß die Individuen zu einer eigenen
Identität kommen und daß es ihnen gelingt, alle Erwartungen und Ansprüche von außen nach
einem inneren Repräsentationssystem eigenständig ihrer Identität entsprechend zu gestalten.
3.7 Intuieren oder kreatives Denken
Mit dieser psychischen Funktion sind alle unsere schöpferischen Fähigkeiten gemeint, all das,
was mit bloßer Logik nicht zu machen ist, wo es um den kreativen Einfall geht. Die Intuition ist
die komplementäre Seite des Denkens zum analysierenden Aspekt. Sie geht sinnvollerweise der
Ausbildung des logischen, konvergenten Denkens voraus. Für den kreativen Prozess sind nicht
nur Personmerkmale wie Neugier, Sensibilität, Flexibilität, Bereitschaft, sich mit Ideen anderer
auseinanderzusetzen, Frustrationstoleranz, aber auch die Fähigkeit, sich von Dingen,
Sachverhalten, Ereignissen ansprechen zu lassen, verantwortlich, sondern auch
Umweltmerkmale von eminenter Bedeutung. Erwachsene können die Neugierde und das
sensible Verhalten von Kindern fördern, indem sie viele nicht-dirigierende Tätigkeiten setzen
oder zerstören, wenn sie lenkend eingreifen (Tausch/Tausch 1977, S. 162 f.).
Zu den wesentlichsten Umweltfaktoren zählt wieder die Achtung, die Kinder von den
Erwachsenen für ihre Aktivitäten - auch wenn manchmal etwas schief oder daneben geht -,
erfahren. Dies hängt auch damit zusammen, ob Kinder fragen und Fehler machen dürfen. Jede
unterdrückte Frage des Kindes und jede unechte Frage des Lehrers sind eine Missachtung der
Würde des Schülers. Eine solche Frage ist jede, die nicht zugleich mit der Frage den Schüler
selbst meint, in seiner Stellung zum befragten Gegenstand: Wie könnte er sich die Frage selbst
beantworten? Welche Schritte logischer und emotionaler Art muss er setzen, d.h. welche
Funktionen muss er erwerben, um die Antwort selbst geben zu können? Die Schüler müssen
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Fragende bleiben können, was sie in der Regel noch waren, bevor sie in die Schule kamen.
Durch Missachtung und teilweise tägliche psychische Verletzungen, der Missachtung ihrer
Bedürfnisse haben sie es aufgegeben zu fragen. Kinder sollen weniger funktionieren müssen
als sich frei äußern können und sie sollen auch die Möglichkeit bekommen, ihren Freiraum in
der Schule zu gestalten. Die Kraft der Gestaltung sollte erhalten bleiben.
Der Gegensatz vom linkshirnigen Nachdenken und Grübeln ist es, still und offen dafür zu
werden, ob etwas einfallen, auftauchen kann. Heinrich Jacoby, ein Meister der Förderung
kreativer Prozesse zeigt, wie kontraproduktiv häufig das Denken ist. „Wenn man nur zu
Erlauben braucht, daß einem etwas geschieht, ist es zweifellos unzweckmäßig, sich
anzustrengen, etwas zu ‘machen’.“ (1991, S. 36) So ist es beim Schauen zweckmäßig, daß wir
gelassen etwas auf uns einwirken lassen. „Wo es stimmt, wird der Mensch durch die Aufgabe,
die er akzeptiert hat, konzentriert, durch sie verwandelt und sogar festgehalten! Es
gehört zu den Begleiterscheinungen des wirklichen Kontaktes mit einer Aufgabe, daß die
akzeptierte Aufgabe den Menschen zu konzentrieren vermag.“ (a. a. O., S. 42, gesperrt im
Original)
Diese Formulierungen erinnern an die genetische Methode von Martin Wagenschein, die
ebenso das Ansprechen durch die Phänomene in den Vordergrund stellt. Wenn wir uns wirklich
für eine Sache interessieren, dann kann sie uns in einer Weise gefangen nehmen, daß sie uns
verwandelt, und daß sie uns darauf so einstellt, „wie wir sein müssen, damit ihre optimale
Lösung gelingt“ (Jacoby 1991, S. 42). Setzt man sich wirklich mit einer Sache, mit einem
Phänomen auseinander, dann erkennt man, daß die Beantwortung einer Frage immer nur
weitere Fragen aufwirft. Wie arm ist ein Unterricht und wie verfehlt ein Lernen, das endgültige,
abprüfbare Antworten gibt, und nicht den Fragehorizont erweitert.
3.8 Merken oder Erinnern
Um diese Funktion beschreiben zu können, ist es wichtig, auch jene neurophysiologischen
Vorgänge zu skizzieren, die das Speichern von Lerninhalten begleiten. Nach neueren
Untersuchungen wird die Theorie des Gedächtnisses mehr mit Einbeziehung der selbständigen
Verhaltensorganisation der Zellen und Zellpopulationen gesehen, aber es spielen auch
psychische Befindlichkeiten eine wesentliche Rolle.
Neurophysiologisch erfolgt der Speichervorgang in vier Stadien:
„1. Entstehen zirkulierender Erregungen in Neuronennetzen;
2. hierdurch induzierte Synthese spezifischer Proteine und von RNS (Ribonukleinsäure) in
den Neuronen und ihre strukturelle Umbildung;
3. Wachstum neuer und die Umbildung alter Synapsen;
4. Entstehung strukturell fixierter Neuronen-Konstellationen, auf denen neu bildende
Systemreaktionen fußen.“ (Jantzen 1990, S. 86)
Strukturveränderungen werden als Resultat wie Voraussetzung der Tätigkeit der Neuronen
begriffen.
Jede Aktivität von Nervenzellen führt zu einer Steigerung des RNS-Stoffwechsels, die RNSKonzentration nimmt also zu. Wenn die nervöse Aktivität etwa durch Narkose oder
pharmakologische Einwirkungen herabgesetzt wird, kommt es zu einer Abnahme des RNSGehaltes der Zelle. Lernprozesse finden jedoch nur statt, wenn die RNS nicht nur quantitativ,
sondern auch qualitativ verändert wird. Hydén konnte zeigen, daß bei Ratten, die längere Zeit
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in einer Drehtrommel rotiert wurden, in der Schaltstation des Vestibulärsystems die RNS
zunimmt, jedoch diese keine qualitative Veränderung zeigt. Also erst bei aktiven Lernprozessen
kommt es zu einer Strukturveränderung in der RNS, nämlich der Mengenanteile der einzelnen
Basen, nicht aber bei passiver Stimulation (Guttmann 1974, S. 219). Interessant ist auch, daß
die Gliazellen, die rund um die Nervenzellen angeordnet sind, scheinbar im Lernprozess eine
Rolle spielen. Nach der Stimulation einer Nervenzelle treten im Neuron und seinen
benachbarten Gliazellen genau spiegelbildlich ablaufende biochemische Veränderungen auf:
der RNS-Gehalt in der Nervenzelle nimmt zu und in den Gliazellen ab. In diesem
Zusammenhang haben Untersuchungen ergeben, daß die Dicke der Hirnrinde bei Ratten, die in
einem anregenden Milieu, das reiches Angebot an Aktivitäten und Gelegenheit zu
Lernprozessen birgt, zunimmt (Guttmann 1974).
3.8.1 Synapsendifferenzierung als Grundlage des Gedächtnisses
Als Beweis dafür, daß die Synapsendifferenzierung die hardware-Grundlage für ein Dauergedächtnis sein könnte, wird die Zunahme von Synapsenendigungen mit höherem Alter angesehen. Diese Differenzierung ist weniger eine entwicklungsbedingte Veränderung, als von
einlaufenden Reizen abhängig. Wenn ein Sinnesgebiet von Geburt an ausgeschaltet wird, treten
in seinem kortikalen Projektionsfeld viel geringere neuronale Strukturveränderungen als im
Normalfall auf. Als neuronale Ursache der Konsolidierungsphase als Abschluss eines
Lernprozesses wird eine Stärkung der Synapsenverbindungen angenommen. Die Grundlage für
diese erhöhte Funktionsbereitschaft konnte eine Vergrößerung des Synapsenkopfes oder eine
Vermehrung der bereitliegenden Transmittersubstanz sein (Guttmann 1974)
3.8.2 Die Makroebene - Das Zusammenspiel von Körper und Seele
An Gedächtnisbildung, Wiedererkennen und Neuigkeitsverarbeitung sind sowohl die Großhirnrinde als auch subkortikale Strukturen beteiligt. Der Mechanismus des Wiedererkennens
und der Gedächtnisbildung dürften unterschiedlich organisiert sein. Der Hippokampus ist eine
wichtige Schaltstelle zur Übersetzung vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis. Er bewertet
Wahrnehmungsmuster und steht in enger Verbindung zur Realisierung adäquater und
inadäquater Erfolgs- und Vermeidungsstrategien. An diesem Ort wird entschieden, wie weit
Information verarbeitet wird oder nicht. Über Verstärkermechanismen des limbischen Systems
findet dann der Übergang ins Langzeitgedächtnis statt. Bei zu hohem Neuigkeitsgrad reagieren
diese Mechanismen der subkortikalen Verarbeitung mit der emotionalen Note Furcht oder
Angst (Jantzen 1990).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass kognitive Entwicklung aus neurophysiologischer Sicht
ganz eng im Zusammenhang mit ständiger Aktivierung durch Anregung von außen und
motivational von innen steht. Interzelluläre Strukturveränderungen, Ausbildung von
Verzweigungen zwischen den Neuronen und das Schaffen von Verbindungen zwischen
verschiedenen Gehirnteilen sind notwendig, um dem Kind eine positive Entwicklung auf
kognitiver Ebene zu ermöglichen. Lernen sollte mehrkanalig erfolgen, d. h. ein und dieselbe
Information sollte über mehrere psychische Funktionen laufen, z. B. das Sehen, Sprechen,
Hantieren und Fühlen, damit sie in mehreren Hirnregionen gespeichert wird. Daher ist es für
Speicherprozesse von Bedeutung darauf zu achten, wie weit die Aufnahme einer Information
entweder durch psychische oder physische Faktoren gestört ist. So ist beispielsweise die Folge
von Defekten des Visuellen eine Verminderung der Schreibleistung. Ist das auditive Gedächtnis
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beeinträchtigt, werden bei mündlichen Übungen Schwierigkeiten auftreten. Das Kind kann etwa
im Rechenunterricht bestimmte Zahlen nur schwer behalten, was ein verbales Schnellrechnen
unmöglich machen kann.
Da die Merkfähigkeit auf das Lernen bzw. die Reproduktion von Gelerntem auf allen Ebenen
einen bedeutsamen Einfluss hat, ist es daher für die Beobachtung des Lernens der Kinder für
den Lehrer von Bedeutung, die Gedächtnisleistung, also die Merkfähigkeit, individuell und
differenziert zu betrachten. Mängel liegen meist nicht in allen Bereichen vor
(Johnson/Myklebust 1980). Auf der psychischen Ebene ist für das Speichern und Abrufen von
Informationen wesentlich, daß sie vorstellungsmäßig gut verankert sind. Dies ist dann
selbstverständlich gegeben, wenn eine Information an Materialien erarbeitet bzw. wenn an den
Phänomenen selbst gearbeitet wird. Andernfalls wäre es günstig, eine Information nicht nur
digital, sondern auch analog, d. h. bildhaft zu speichern. Eine Information wird dann sowohl in
der linken als auch in der rechten Hirnhälfte (Eccles 1989, S. 206 - 229) gespeichert. Jede
Information, die nicht auch analog = bildhaft vorgestellt wird, gleicht einer sinnlosen Silbe, die
zu lernen wir eine längere Zeit brauchen, bis wir sie auch wiedergeben können, als sinnhafte
Silben (vgl. dazu Birkenbihl 1992, 1991).
4 Beobachtung der Entwicklungsdynamik als Grundlage der Lernplanung
Bei der Beobachtung ist besonders darauf zu achten, wie die psychischen Funktionen
aufeinander aufbauen und sich einander stützen. Innerhalb aller psychischen Funktionen werden
im Entwicklungsprozess Schemata gebildet, über die wir die Welt und unsere Wahrnehmungen
und Vorstellungen strukturieren. Ursprünglich sind Schemata ganz an Bewegungen und
Wahrnehmungen gebunden und werden mit dem Erlernen von Symbolen für Dinge und
Ereignisse immer komplexer. Sie verschachteln sich ineinander, ordnen sich hierarchisch an.
Dies möge an einem Beispiel demonstriert werden. Für alle Schüler in gleichem Maße gilt, dass
bei der Förderung von Lernprozessen jeder Art jeweils auf die diese fundierenden Operationen
zurückgegriffen werden muss. Ein Fördern auf der Ebene der Schwierigkeiten greift zu kurz.
Kann etwa ein Schüler beim Schreiben nicht die Zeile halten und schreibt er die Buchstaben
unregelmäßig, dann hätte es keinen Sinn den Schüler durch Schreibaufgaben fördern zu wollen.
Er würde nur weitere Misserfolge erleben und dies könnte sich auch auf seine Motivation und
sein Verhalten negativ auswirken. Es muss auf die Ursachen zurückgegangen werden, die
erfasst werden können, wenn eine Leistung nach den sie fundierenden Operationen analysiert
wird. Dabei ist zunächst zu erfassen, welche Operationen für die Ausführung einer Leistung
vorausgesetzt werden, welche Operationen z. B. beim Schreiben nötig sind, um die Zeile halten
und die Buchstaben regelmäßig schreiben zu können:
Abbildung 4: Für eine Leistung vorausgesetzte und sie fundierende Operationen
für eine Leistung
vorausgesetzte
Operationen
fundierende Operationen
Bewegen
ein klares Körperschema
Denken
Isolieren von GleichgePermanenz
Bewegungen wicht halten, der Person
sich selbst
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Wahrnehmen
Fühlen
Wollen
Ur-Vertrauen,
sich selbst
zuwenden,
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wahrnehmen
- Propriozeption
Koordination von Auge
und Hand
Koordinieren Gliederung
v. Bewegung von Wahrund Wahrnehmungen
nehmung
Fließen der
Bewegung
gute Raumwahrnehmung
einzelne
Bewegungsschemata als
Gesamthandlung
empfinden
zwei
Merkmale
miteinander
verbinden
Ich-Bildung
intentionales Erwartungen Aufmerksam
Handeln
haben
-keit von Gegenständen
Kombination Erwartungen
(Zeichen) gevon Verhal- vorwegnehsteuert
tensschemata men
Permanenz
des Objekts
teilnehmen,
sich einer
Bezugsperson
zuneigen
sich Gegenständen zuwenden
Verinnerlichung v. Bewegungsabläufen
Innerhalb der Funktion des Sprechens, die in der Tabelle aus Platzgründen, und weil sie in
diesem Zusammenhang weniger bedeutsam ist, nicht angeführt ist, fundiert das Schreiben:
Silben bzw. Wörter nachsprechen und Gegenstände und Handlungen im freien Spiel mit Lauten
und sprachlichen Symbolen begleiten zu können. Dazu kommt noch die Fähigkeit, sich der zu
schreibenden Zeichen (Buchstaben) zu erinnern. Ideal wäre es, wenn nicht nur die Zeichen
isoliert, sondern Wortkombinationen erinnert würden. Aus der Analyse soll deutlich geworden
sein, wie sich die einzelnen Operationen gegenseitig stützen. Wer sich nicht selbst zuwenden
kann, was einschließt, dass eine Person sich als solche erfassen kann (Permanenz der Person),
dem wird es nicht gelingen, Gleichgewicht zu halten und Bewegungen zu isolieren.
Andererseits kann sich eine Person ohne Propriozeption sich nicht selbst zuwenden. Eine
Person aber, die kein Ur-Vertrauen erfahren hat, wird sich selbst weniger bis - im Extremfall
von Deprivation - überhaupt weder Gegenständen noch Personen zuwenden, wird sich
sprachlich nicht äußern, und somit kommt die Propriozeption nicht zur Anwendung. Diese trägt
aber ihrerseits wieder dazu bei, sich selbst etwas zutrauen zu können und damit zur IchBildung. Dies gilt für alle weiteren fundierenden Operationen.
Für die Förderung bedeutet dies, dass man auf jene Operationen zurückgreift, die zu einem
gegebenen Zeitpunkt eine Person am besten aktivieren kann, und darauf vertraut, dass die sich
stützenden Operationen latent geübt werden. Vielleicht braucht ein Kind zu einem gegebenen
Augenblick nur vermehrt Zuwendung, um von sich absehen und sich Gegenständen zuwenden
zu können, sprich den Schriftzeichen. Diese Zuwendung fördert auch die Verinnerlichung von
Bewegungsabläufen und das Erinnern, d. h., was innen ist, auch nach außen (zur Darstellung)
bringen zu können.
Wegen des Raums, den ein Aufsatz einnehmen kann, muss auf weitere Beispiele verzichtet
werden. Aber das Prinzip dürfte deutlich geworden sein, so dass jede/r Leser/in sich selbst
helfen kann, Förderpläne zu entwickeln: Man analysiert die für die Durchführung einer
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
komplexen Tätigkeit oder Handlung vorausgesetzten Operationen und sieht dann im
Entwicklungsschema der psychischen Funktionen nach, welche spezifischen die
vorausgesetzten Operationen fundieren.
Förderung setzt also bei den Operationen an, über die wir uns unsere Welt aneignen. Dies gilt
generell für jede Person, für die mit Entwicklungshemmungen ebenso wie für einen
Hochbegabten. Unterschiede kann man auf der Ebene der Inhalte, was ihre Menge und ihre
Komplexität betrifft, planen. Grundsätzlich gilt dieses Fördermodell allgemein. Benützt man es
und beachtet dabei zugleich auf der Interaktionsebene die entwicklungsfördernden
Einstellungen (vgl. Rogers 1984, Tausch/Tausch 1977), kann Förderung professionell erfolgen.
Auf der Basis einer genauen Beschreibung der Operationen, die ein Schüler zu einem
gegebenen Zeitpunkt in unterschiedlichen Fachbereichen aktualisiert bzw. aktualisieren kann,
erfolgt die Rückmeldung an den Schüler. Diese ist dann sehr differenziert, bleibt auf der Ebene
der Beobachtung und ist so reiner Lernentwicklungsbericht ohne diskriminierende Äußerungen.
4.1 Planung von fächerübergreifendem Unterricht
Das Merkmal „fächerübergreifend“ kann unter verschiedenen Gesichtspunkten gesehen werden.
Der wohl bedeutsamste Aspekt ist der des ganzheitlichen Lernens als einer ganzheitlichen
Auseinandersetzung mit unserer Welt mit all unseren Fähigkeiten. Diese lassen sich als
psychische Operationen ausdrücken, womit wir wieder bei unserem Ausgangspunkt bzw.
Ansatz für die Beschreibung von Lernen wären. Es kann sinnvoll sein, einen Gegenstand, ein
Phänomen unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt zu betrachten, um ein besonderes
Merkmal an ihm genauer in den Blick zu bekommen. Wir können dies wieder ganzheitlich tun
oder aber unter einer bestimmten Abstraktion, wenn wir ein Merkmal isolieren wollen, um es
messen oder deuten zu können. Jeder Versuch einer genauen Bestimmung eines Merkmals setzt
eine bestimmte Methode voraus oder kreiert eine solche. Ein methodisches Arbeiten bedarf nun
auch wieder bestimmter Operationen, die sich letztlich, mögen sie noch so komplex sein, in
jene fundamentalen Operationen aufgliedern lassen, die im Entwicklungsraster enthalten sind.
Zur Demonstration möge wieder das oben angeführte Beispiel des registrierenden Beobachtens
und des Klassifizierens dienen. Dabei sind folgende drei Techniken, die für „wissenschaftliches
Arbeiten“ in unterschiedlichen Fächern gebraucht werden: 1. Beobachten, 2. Registrieren und
3. Klassifizieren nach ihren grundlegenden psychischen Operationen zu analysieren.
Abbildung 5: Für Beobachten, Registrieren und Klassifizieren fundierende Operationen
Beobachten
Bewegen
Wahrnehmen
Denken
Sprechen
Isolieren und
feines Koordi-
Isolieren und
feines Koordi-
Kombination
von
gegenstandsund
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Sozial-emotio- Wollen
nales Handeln
stabiles Gefühl Aufmerksamder
keit von
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
nieren von
Bewegungen
nieren v. Wahr- Verhaltenssche handlungsbezo Einheitlichkeit Gegenständen
nehmungen
mata
genes Sprechen – Selbstgrenzen gesteuert
BewegungsZentrieren der
schemata als
Wahrnehmung
Gesamthandlun
Merkmale
g empfinden
miteinander
Beherrschen
verbinden
von komplexen
Beziehungen
Bewegungseines Systems
abläufen
gruppiert sehen
intentionales
Handeln
Bewerten von
Eigenschaften
eigene
Gedanken
objektiv
mitteilen
Regeln wörtlich planen,
befolgen
entscheiden
seine Wünsche
aufschieben
topologische
Ordnung
eine Sache zu
Ende führen
sich selbst
strukturieren
planen
Reihenfolgen
Registrieren
Bewegen
Wahrnehmen
Denken
Sprechen
siehe oben
siehe oben
siehe oben
siehe oben
Raumwahrneh- sich
mung
vorstellungsmä
ßig Gegleich
genstände
bleibende
vergegenwärtig
Einheiten
en
unabhängig von
Merkmalen
reversible
erfassen
Komposition
Erhaltung des
Ganzen
Invarianz der
Anzahl, der
Substanz
Ereignisfolgen
berücksichtigendes
Erzählen
sozial-emotio- Wollen
nales Handeln
siehe oben
siehe oben
Regeln bilden
Situationen in
ihrem Kontext
beschreiben
zeitliche
Sequentierung
beachten
Zahlbegriff
Erfassen von
Größenverhältnissen
Erfassen von
Mengen und
Ordnungsverhältnissen
Klassifizieren
Bewegen
Wahrnehmen
Denken
Sprechen
siehe oben
siehe oben
siehe oben
siehe oben
sozial-emotio- Wollen
nales Handeln
siehe oben
siehe oben
vergleichen,
Gegensätze
bilden,
sortieren
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
Es muss bewusst sein, dass bei jedem methodischen Herangehen an die Wirklichkeit eine
bestimmte Abstraktion gesetzt wird, die Wirklichkeit also aus einem bestimmten Blickwinkel
angesehen wird. Ein solches Vorgehen ist sinnvoll, um ein Phänomen genauer bestimmen zu
können. Es muss nur klar sein, welche bestimmte Abstraktion es ist. Nach diesen Abstraktionen
sind auch die unterschiedlichen Fachdisziplinen zu bestimmen. Für den fächerübergreifenden
Unterricht wäre jeweils zu reflektieren, welche Operationen von Fach zu Fach übertragbar sind.
Es ist hier die Frage zu stellen, an welchen Themen, bei welchen Fragestellungen und welchen
methodischen Zugängen sich bestimmte Operationen exemplarisch für andere Zusammenhänge
ergeben. Werden diese Fragen originär von den Schülern gestellt und wird mit ihnen auch die
Methode besprochen, wie diese Fragen zu beantworten wären, bekommen sie unmittelbar mit,
welcher Typ von Fragen welchem Fach zuzuordnen ist. Es sollten grundsätzlich alle Fragen
zugelassen werden, weil dadurch der zu erkundende Sachverhalt unter verschiedenen
Gesichtspunkten gesehen und untersuchbar wird. Ausgehend von den Fragen an den
Sachverhalt kann erarbeitet werden, wie sie methodisch beantwortet werden können. Auf diese
Weise können die Schüler/innen unmittelbar aus dem eigenen Fragen verstehen, was
zusammenschauendes, vernetzendes Denken, „zusammenschauender Wissenserwerb“ bedeutet.
Durch ein solches Vorgehen kann für die Schüler/innen „die Komplexität der realen Umwelt
leichter begreifbar und analysierbar und damit rational zugänglicher“ werden.3 Im
fächerübergreifenden Unterricht wäre also zu zeigen, welchen Ausschnitt der Wirklichkeit ein
Fach wegen des Zugangs zu den Phänomenen wählt, um dadurch diese nicht zu verlieren.
Letztlich sind es unsere Interessen, die unser Fragen leiten. Das Interesse an einer genauen
Messung der Temperatur führte zur Erfindung des Thermometers, das Interesse um die
Erforschung des Lebens und unserer Umwelt lässt uns chemische Analysen machen und
Biotope erforschen.
Die Komplexität unserer Welt wird nur erfassbar, wenn sie als solche erlebt wird, d. h. wenn
die Schüler/innen mit realen Problemen ihrer Lebenswelt4 konfrontiert werden und nicht mit für
den Fachunterricht zubereiteten Abstraktionen. Es sollte für die Schüler/innen deutlich werden,
dass und wie an Situationen der Lebenswelt in unterschiedlicher Weise herangegangen werden
kann, um sie zu begreifen. Das Wie des Herangehens differenziert die unterschiedlichen Fächer
aus. Primär sind also nicht die Fächer und ihre Methoden, sondern die Situationen der
Lebenswelt, an die eben in verschiedener Weise herangegangen werden kann. Rational
erfassbar wird etwas durch das klare methodische Herangehen, indem die Operationen genau
nachvollziehbar sind. Dadurch wird auch für die Schüler/innen ihre Welt klar und verständlich.
Erfolgt Lernen auf diese Weise, dann ist gewährleistet, dass jede Behandlung einer Situation
der Lebenswelt
(= Themen des Unterrichts) weitere Fragen aufwirft. Ein solches Lernen
ist genetisch in dem Sinn, dass jeweils fragend bis auf die Wurzeln zurückgegangen wird, so
dass für die Schüler/innen Wissen vor ihren Augen durch ihr Fragen und Operieren entsteht.
Ein anderer Aspekt des fächerübergreifenden Unterrichts bezieht sich darauf, dass für
unterschiedliche Fächer gleiche Operationen, wenn auch jeweils spezifisch, gefragt sind. So
werden Beobachten, Messen, Gruppieren, Klassifizieren in mehreren Fächern angewandt. Für
den fächerübergreifenden Unterricht wäre jeweils zu reflektieren, welche dieser Operationen
3
Schulversuchsbeschreibung „Mittelschule“, Anhang, S. 1
4
lebensweltlicher Ansatz der Didaktik
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Karl Garnitschnig (2004) Die Entwicklung der psychischen Operationen
von Fach zu Fach übertragbar sind. Es ist hier die Frage bedeutsam, an welchen Themen, bei
welchen Fragestellungen und welchen methodischen Zugängen sich bestimmte Operationen
exemplarisch auf andere Zusammenhänge übertragen lassen.
Ein dritter Aspekt bezieht sich auf die Unterrichtsmethoden, insofern manche Methoden ein
größeres Naheverhältnis zu den beschriebenen Aspekten des fächerübergreifenden Unterrichts
haben als andere. So wird z. B. bei projektartigen Formen des Unterrichts oder beim Teamteaching fächerübergreifendes Lernen wahrscheinlich mehr gefördert als bei einer fachbezogenen
Lehrerdarbietung. Obwohl zu fordern ist, dass die Lehrer grundsätzlich fächerübergreifend
unterrichten, werden auch diese durch die besagten Methoden dazu mehr angeregt. Werden
Themen „projekthaft, ganzheitlich“ behandelt, werden sie „von mehreren Aspekten beleuchtet
werden und tiefergreifende Auseinandersetzung der Schüler mit ihnen“ wird ermöglicht.5 Der
Zugang zu den Phänomenen über Fragen und das Erkennen der Unterschiedlichkeit dieser
Fragen, sofern sie zu ihrer Beantwortung unterschiedliche Methoden erfordern, ist
entdeckendes Lernen. Forschen ist es dann, wenn sich die Schüler über diese Methoden mit den
Phänomenen selbst auseinandersetzen, ihnen also Wissen nicht vorgekaut wird, sondern sie in
den Prozess des Wissenserwerbs einbezogen werden.
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Aufgaben
1. Die der Entwicklung vorausgesetzten und voran treibenden Faktoren erfassen.
2. Die für die Entwicklung nach Lebensaltern strukturierenden (vorherrschenden) psychischen
Funktionen erkennen.
3. Analysieren von selbst gewählten Lernsituationen
4. Die Wissensstruktur eines Faches angeben und in psychische Operationen übersetzen.
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