Document

Werbung
Antikapitalismus – Theorie und Praxis
Chris Harman
2000
Inhalt:
Einleitung
Standhaft gegen die neoliberale Welle
WTO, IWF, die Multis und die Wirkung von Seattle
Die Debatten von Seattle und danach
Sozialklauseln, Kinderarbeit und gewerkschaftliche Rechte
Reichen Schuldenerlasskampagnen aus?
Armut, Entwicklung und Umweltzerstörung
Neoliberalismus, Globalisierung und Kapitalismus
Marx und Antikapitalismus
Der Höhepunkt der Staatsintervention
Die Geburt des Neoliberalismus
Die Frage nach dem Subjekt
Arbeiter und Antikapitalismus
Die Frage der Organisation
Fußnoten
Einleitung
Die Massenmedien entdeckten 1999 ein neues Wort: “Antikapitalismus”. Zum ersten Mal tauchte es in
den britischen Schlagzeilen aufgrund der Proteste gegen die Finanzinstitutionen der Londoner City am
18. Juni auf. In einem viel größeren Maßstab ging das Wort um die Welt, als am 30. November in
Seattle die Proteste gegen die Welthandelsorganisation (WTO) stattfanden. Voller Schmerz entdeckte
man etwas sehr Reales. Zehn Jahre nach dem vermeintlich endgültigen Triumph des
Marktkapitalismus mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der UdSSR lehnt eine
wachsende Zahl von Menschen ihr System ab.
Zehntausende, die in Seattle, Paris, London, Washington und zahlreichen anderen Städten rund um
den Globus demonstrierten, waren der sichtbarste Ausdruck dieses antikapitalistischen Gefühls. Es
war jedoch auch auf einer weitaus breiteren Ebene auszumachen: bei den tausenden Unterstützern
des ATTAC-Aufrufs in Frankreich und der knappen Million, die dort bei den Europawahlen für die
trotzkistische Liste stimmte; bei vielen Anhängern Ken Livingstones in der Londoner
Bürgermeisterwahl, insbesondere bei den 15 Prozent, die bei den Wahlen zum Londoner
Stadtparlament links von Labour wählten; in Umfragen, die zeigten, dass das Wort “Kapitalismus” bei
58% der Menschen in Polen, 63% in Ostdeutschland und 51% in Italien negative Assoziationen
hervorruft; im langen Studentenstreik in Mexiko und in einer Reihe von Streiks und Protesten, die in
verschiedenen Teilen Lateinamerikas aufflammten. Der Antikapitalismus der an den Protesten
Beteiligten ist jedoch nur die Spitze eines viel größeren, noch halb verborgenen Eisbergs der
Unzufriedenheit mit dem System.
Auf diese Spitze des Eisbergs haben sich die Medien konzentriert – und sei es nur im Versuch, sie zu
verunglimpfen. Dadurch schufen sie jedoch, ähnlich wie bei den Anti-Vietnamkriegs- und
Studentenprotesten der späten sechziger Jahre, einen Fokus für mehr Menschen, die ihrer
Unzufriedenheit Ausdruck verleihen wollen.
Ausgangspunkt jeder Darstellung des neuen Antikapitalismus muss die Demonstration von Seattle
sein. Die Demonstration selbst muss hier nicht mehr beschrieben werden; dies ist im International
Socialism Journal und anderswo bereits gut gemacht worden.1 Es genügt zu sagen, dass Seattle das
Ergebnis des Zusammenkommens einer ganzen Anzahl von Gruppierungen war, die bis dahin nichts
mit einander zu tun hatten. Jede einzelne begann zu verstehen, dass Zusammenkünfte wie die der
Welthandelsorganisation eine Bedrohung all dessen darstellten, woran sie glaubten. Luis Hernandez
Navarro, Journalist der radikalen mexikanischen Tageszeitung La Jornada, beschrieb die
Anwesenden: “Umweltschützer, Bauern aus der Ersten Welt, Gewerkschafter, Schwule und lesbische
Aktivisten, nichtstaatliche Entwicklungsorganisationen, Feministinnen, Punks,
Menschenrechtsaktivisten, Vertreter von eingeborenen Völkern, junge und nicht mehr ganz so junge
Menschen aus den USA, Kanada, Europa, Lateinamerika und Asien.”2 Was sie einte, so Navarro, war
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
-2die Ablehnung “des Slogans ‚Alle Macht den transnationalen Konzernen!‘, der auf dem Banner des
Freihandels steht.”
Spontaneität war ein wichtiges Element der Proteste. Viele Menschen hatten einfach davon gehört
und beschlossen hinzugehen. Aber da war noch mehr als nur Spontaneität. Viele Demonstranten
kamen als Mitglieder lokaler Gruppen, die sich mehrere Monate auf das Ereignis vorbereitet hatten.
Und die Tatsache, dass das Ereignis überhaupt zum Fokus wurde, ergab sich erst aus den
gemeinsamen Anstrengungen eines Kerns von Aktivisten, die in der WTO den gemeinsamen Feind
der verschiedenen Kampagnen sahen. Das hatte intensive Organisationsarbeit bedeutet, die sich über
den größten Teil eines Jahres erstreckte, wobei Gruppen über das Internet miteinander Kontakt
aufnahmen. Die Grundlage war jedoch ein längerer Prozess der Propaganda. Noam Chomsky, von
Haus aus eigentlich Anarchist, betont ganz zu Recht dieses organisatorische Element: “Die äußerst
erfolgreiche Demonstration gegen die Welthandelsorganisation ist ein beeindruckender Beleg dafür,
wie effektiv langfristige Aufklärung und Organisation, hartnäckig und mit Hingabe ausgeführt, sein
können.”3 Paul Hawken spricht von “Meinungsführern”, die viele der Demonstranten motiviert hätten:
Martin Khor vom Third World Network in Malaysia, Vandana Shiva aus Indien, Walden Bello von
Focus on the Global South, Maude Barlow von Council of Canadians, Tony Clarke vom Polaris
Institute, Jerry Mander vom International Forum on Globalisation (IFG), Susan George vom
Transnational Institute, Daven Korten vom People-Centred Development Forum, John Cavanagh vom
Institute for Policy Studies, Lori Wallach von Public Citizen, Mark Ritchie vom Institute for Agriculture
and Trade Policy, Anuradha Mittal vom Institute for Food and Development Policy, Helena NorbergHodge von der International Society for Ecology and Culture, Owens Wiwa vom Movement for the
Survival of the Ogoni People, Chakravarthi Raghavan vom Third World Network in Genf, Debra Harry
von der Indigenous Peoples Coalition Against Biopiracy, José Bové von Confederation Paysanne
Europeenne, Tetteh Hormoku vom Third World Network in Afrika.4
Man könnte noch weitere Namen in diese Liste aufnehmen, wollte man über die direkt an der
Mobilisierung für Seattle Beteiligten hinausgehen. Noam Chomsky selbst wäre einer. Oder die Gruppe
von Autoren, die in Frankreich mit der Zeitung Le Monde Diplomatique zusammenarbeiten und, mit
letzteren teilweise zusammenfallend, die Organisation ATTAC und Raisons d’Agir, die Gruppe von
Intellektuellen um den Soziologen Pierre Bourdieu. In England würde man den Guardian-Kolumnisten
George Monbiot, die Organisation Jubilee 2000 und die College-Gruppen von People and Planet
hinzufügen, in Belgien Eric Toussaint, Gerard de Selys und Nico Hirtt und in Canada Naomi Klein,
Autorin des Bestsellers No Logo.
Einige der Genannten sind ältere Aktivisten aus den 70er oder sogar den 60er-Jahren. Dies gilt für
Chomsky und Susan George. Andere, wie Naomi Klein, sind im Lauf der 90er-Jahre bekannt
geworden. Allen gemeinsam ist, dass sie aus verschiedenen Blickwinkeln eine bittere Kritik an der
Ideologie entwickelt haben, die rund um den Globus die Regierungspolitik in den 90er-Jahren
bestimmt hat – das, was man heute üblicherweise Neoliberalismus nennt (manchmal wird in
Kontinentaleuropa auch einfach der Begriff Liberalismus verwendet, so verwirrend dies in den
angelsächsischen Ländern auch wirken mag).
Standhaft gegen die neoliberale Welle
Neoliberale Grundsätze fanden ihren ersten Ausdruck im Thatcherismus und Monetarismus der 80erJahre.5 Heutzutage haben sie Eingang in die Ideen des “Dritten Weges” gefunden, die sich führende
europäische Sozialdemokraten wie Tony Blair und Gerhard Schröder zu eigen gemacht haben. Sie
sind verkörpert in der Politik großer internationaler Institutionen wie IWF, Weltbank und WTO. Sie
liegen all den “Wirtschaftsreformen” und “Modernisierungsprogrammen” zugrunde, die von Politikern
und Verfechtern gängiger Wirtschaftstheorien vorangetrieben werden, sowie dem, was
Kommentatoren in Presse und Fernsehen als “gesunden Menschenverstand” darstellen.
Die Grundidee, die der Neoliberalismus predigt, lautet, der Staat solle in der modernen Gesellschaft
keine wirtschaftliche Rolle spielen. Es bedürfe einer Rückkehr zu jener Wirtschaftslehre, die bis zur
Krise der Dreißiger Jahre vorherrschte – der “laissez-faire”-Doktrin, die Adam Smith um 1776 predigte
(tatsächlich taten dies mehr die Verbreiter und Vereinfacher seiner Anschauungen, wie etwa JeanBaptiste Say). Diese Lehre war bekannt als “Wirtschaftsliberalismus” – seine Wiedergeburt ist der
“Neoliberalismus”. In dessen Zentrum steht die “Freiheit” des Kapitalisten von “Einmischung”. Dazu
kamen über die Jahre dann Steuersenkungen für Unternehmensgewinne und hohe Einkommen,
Privatisierung von staatlichen Industrien und Dienstleistungen, ein Feuerwerk der “Deregulierung” für
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
-3private Unternehmen, ein Ende der Kontrolle der internationalen Finanzströme und die Aufgabe des
Versuchs, Importe durch Zölle und Mengenbeschränkungen zu begrenzen.
Die Versuche staatlicher Intervention seit den späten 20er Jahren hätten bloß zu Ineffizienz und
Verschwendung geführt, so wird behauptet. Der wirtschaftliche Zusammenbruch des Ostblocks,
Stagnation und Armut in Lateinamerika und Afrika bezeugten, zu welchen Katastrophen staatliche
Kontrolle führen könne. Um Armut und “Rückständigkeit” zu überwinden, müsse man hartnäckig daran
arbeiten, die verbliebenen Begrenzungen zu beseitigen. Dafür seien die Aktivitäten von WTO, IWF
und Weltbank notwendig.
Diese “Befreiung” des “Unternehmertums” von “künstlichen” Beschränkungen soll angeblich das Los
der gesamten Menschheit verbessern. Der freie Fluss des Kapitals werde dazu führen, dass Güter
dort produziert werden, wo es am effektivsten geschieht. Akkumuliertes Kapital wird nicht mehr in
“uneffizienten, alten” Industrien lahmgelegt sein. Privatisierung und “interne Märkte” werden
verhindern, dass “bürokratische” Kontrollen oder “Gewerkschaftsmonopole” “dynamische”
Produktivitätszuwächse hemmen. Bestimmte Regionen der Erde werden sich spezialisieren können
auf das, was sie am besten können. Bei diesem Prozess werden die Reichen möglicherweise immer
reicher. Aber das spielt keine Rolle. Der Wohlstand wird bis zu den Ärmsten “durchsickern”, da ein
Wachstum der weltweiten Produktion allen zugute kommt.
“Neoliberale” Ansichten sind gewöhnlich mit “Globalisierungstheorien” verknüpft. Diese behaupten
nicht nur, dass die Welt nach den Erfordernissen des freien Kapitalverkehrs, ohne jegliche
Regierungsintervention, organisiert werden müsse, sondern dass dies bereits der Fall sei. Wir leben
im Zeitalter des multinationalen (oder manchmal transnationalen) Kapitals. Staaten sind demnach
archaische Institutionen, unfähig, Unternehmen davon abzuhalten, die Produktion willkürlich dorthin zu
verlagern, wo sie am effizientesten ist. Regierungen sollten nicht versuchen, dies zu verhindern, weil
das zu “Belagerungsökonomien” wie in Nordkorea oder gar in Kambodscha unter Pol Pot im “Jahr
Null” führen würde – allein, Regierungen können das ohnehin nicht, da die Unternehmen immer
schlauer sind. Alles, was Regierungen tun können, die sich um das Wohl ihrer Bevölkerung sorgen,
ist: Unternehmen bestmögliche Arbeitsbedingungen bereitzustellen – niedrige Steuern, einen
“flexiblen Arbeitsmarkt”, schwache Gewerkschaften, minimale Regulierung – in der Hoffnung,
Investitionen von anderswo anzulocken.
Einige Neoliberale mit angeblich sozialdemokratischer Gesinnung wie Tony Blairs Hofsoziologe
Anthony Giddens räumen ein, dass es einst Zeiten gab, da Staatsintervention eine vorteilhafte Rolle
spielen konnte. Die Entstehung einer globalen Wirtschaft hat das jedoch alles verändert, so
behaupten sie. Egal wie es früher war, heute bedeutet der Einsatz staatlicher Kontrollen Ineffizienz,
und Ineffizienz führt zu Verarmung. “Globalisierung” und “Neoliberalismus” werden so zu eng
verbundenen Konzepten.
Für bestimmte sehr einflussreiche Versionen der Globalisierungstheorie ist die Beweglichkeit des
Kapitals absolut geworden. Sie behaupten, wir leben in einer Welt der “schwerelosen” Produktion.
Computersoftware und das Internet seien viel wichtiger als “altmodische metallbearbeitende”
Industrien. Unternehmen könnten sich der Kontrolle sowohl des Staates als auch ihrer Arbeiter
entziehen, indem sie die Produktion über Nacht von einem Land ins andere verlagern. Die
entwickelten Länder seien “postindustriell” und die alte Arbeiterklasse keine bedeutende Kraft mehr,
weil die verarbeitende Industrie in neu industrialisierte und Drittweltländer abwandere. Übrig bleibe
eine Zwei-Drittel-Gesellschaft mit einer einerseits sehr großen Mittelklasse, die über genügend
“Humankapital”-Fähigkeiten verfügt, um weiterhin Spitzeneinkommen zu beziehen, und andererseits
einem verkümmerten Sub-Proletariat der “gesellschaftlich Ausgeschlossenen”, die bestenfalls
vorübergehende, “flexible”, ungelernte Jobs finden können, zu Löhnen, die durch den Wettbewerb mit
Drittweltprodukten niedrig gehalten werden müssten.
Zugleich haben die Menschen in der Dritten Welt und in neu industrialisierten Ländern, so wird
behauptet, keine andere Wahl, als sich den multinationalen Konzernen zu günstigsten Bedingungen
anzubieten. Die Regierungen können lediglich die Menschen ermuntern, den Weltmarkt anzunehmen.
Landwirtschaft muss so zugeschnitten werden, dass sie Produkte hervorbringt, die multinationale
Konzerne auf dem Weltmarkt verkaufen können. Arbeiter müssen für die passenden Löhne und unter
den entsprechenden Bedingungen schuften. Steuern, die für Gesundheit, Wohlfahrt und Bildung
verwendet werden, müssen auf ein Minimum beschränkt bleiben.
Die Kritiker von Neoliberalismus und Globalisierung haben in diesen Lehrmeinungen reihenweise
Fehler aufgedeckt. Sie haben gezeigt, dass Anpassung an den Markt in Drittweltländern üblicherweise
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
-4nicht zu irgendwelchen Verbesserungen führt. Über zwei Jahrzehnte haben sich die
Lebensbedingungen der meisten Völker Afrikas und Lateinamerikas nicht verbessert, sondern
verschlechtert. Die Umstellung auf den Anbau eines einzigen landwirtschaftlichen Produkts auf
riesigen Flächen (“Monokultur”) für die multinationalen Konzerne erhöht die Einnahmen nicht (weil die
Preise auf dem Weltmarkt fallen, da dasselbe Produkt auf die gleiche Art in mehreren anderen
Ländern angebaut wird). Die Einkünfte werden von Zinszahlungen für die Anleihen aufgefressen und
ökologischer Verfall ist allzu oft die Folge.
Diejenigen, die das Land verlassen und in die Städte ziehen, leben in Slums unter schlechtesten
Bedingungen und können bestenfalls Jobs finden, bei denen sie täglich zehn, zwölf oder gar 16
Stunden unter den ungesündesten Bedingungen schuften – und sie können sich in der Regel noch
nicht einmal darauf verlassen, diese Jobs auch angesichts des Auf und Ab des Weltmarkts zu
behalten. Gleichzeitig mögen Arbeiter in entwickelteren Ländern einen höheren Lebensstandard
haben, sie “profitieren” dennoch kaum von einem System, das ihnen längere und unsozialere
Arbeitszeiten (ein männlicher US-Amerikaner arbeitet heute im Durchschnitt jährlich einen ganzen
Monat mehr als vor 25 Jahren) und einen stagnierenden oder gar sinkenden Lebensstandard bereitet
(erst während der letzten paar Jahre sind die amerikanischen Reallöhne wieder in die Nähe ihres
Werts aus den 70ern angestiegen).
Zugleich haben die Kritiker gezeigt, wie die Weigerung von Regierungen, Unternehmen zu regulieren,
dazu führt, dass ökologische Zerstörung nunmehr nicht nur bestimmte Teile des Planeten bedroht,
sondern die globale Ökostruktur als Ganzes.
WTO, IWF, die Multis und die Wirkung von Seattle
Die Hohepriester des Neoliberalismus fordern den Abbau aller wirtschaftlichen Aktivitäten der Staaten,
aller Beschränkungen des freien Verkehrs von Waren, Finanzen und Kapital, und aller Hindernisse für
die Ausübung von Eigentumsrechten. Die Welthandelsorganisation (WTO) unterstützt solche
Forderungen. Sie droht all jenen Staaten mit Wirtschaftssanktionen, die Dienstleistungen wie die
Telekommunikation nicht für ausländische Investoren und Konkurrenz öffnen. Sie verbietet – als
“geistige Piraterie” – die Herstellung von beispielsweise pharmazeutischen Produkten oder
Computersoftware ohne massive Preiserhöhung durch die Patentgebühren an die Multis, die die
entsprechenden Patente besitzen.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht mit seinen Strukturanpassungsmaßnahmen noch
weiter. Diese schreiben Staatsregierungen vor, Ausgaben für Gesundheit und Bildung zu reduzieren
und so viel wie möglich zu privatisieren.
Die Verfechter des Neoliberalismus bemühen sich neben Zwang auch um Überredung. Ein Geflecht
aus Veranstaltungen, Konferenzen und “think tanks” [Experten] der Repräsentanten der
multinationalen Konzerne entwirft Pläne für eine ihren Erfordernissen entsprechende Gestaltung der
Regierungspolitik, um diese dann in die Diskussionen bei IWF, Weltbank, WTO und
zwischenstaatlichen Organisationen wie der Organisation für Europäische Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD) und der Europäischen Kommission einzuspeisen. Typisch in diesem
Zusammenhang war die Art und Weise, wie der European Round Table of Industrialists diese
Institutionen drängte, “Reformen” der Bildungssysteme6 zu unterstützen (einschließlich
Studiengebühren), wie das World Water Council Pläne schmiedete, um die Privatisierung der
Wasserversorgung7 durchzusetzen oder wie der Transatlantic Business Dialogue, eine Arbeitsgruppe
der hundert mächtigsten westlichen Vorstandsvorsitzenden, mit Vertretern der Vereinigten Staaten
und der Europäischen Union zusammenarbeitet, um die Tagesordnung der Welthandelsorganisation
zu erstellen8. Solcherlei Zusammenkünfte waren immer wichtig, um die “öffentliche Meinung” zu
manipulieren. Über Zeitungsberichte, Nachrichten, Fernsehkommentare, “think tank”-Berichte,
akademische Schirmherrschaften und Universitätsfakultäten werden die jüngsten neoliberalen Pläne
im großen Rahmen verbreitet.
Dies freilich paßt den multinationalen Konzernen. Sie haben Propaganda gebraucht gegen
“Überregulierung”, “Handelsbarrieren” und “Protektionismus”, um Hindernisse bei der Expansion in
neue profitable Zonen für Investment und Marketing zu beseitigen – seien diese Hindernisse nun
Gewerkschafter, rivalisierende einheimische Kapitalisten, Kleinproduzenten oder ökologische
Vorbehalte. Und während eines großen Teils des letzten Jahrzehnts schien die neoliberale
Propaganda damit durchzukommen. Das ist der Grund, weshalb sie Seattle als so einen großen
Rückschlag betrachteten.
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
-5Der Erfolg der Proteste in Seattle war teilweise das Resultat anhaltender Gegenpropaganda von den
oben erwähnten Aktivisten. Über Bücher, Seminare, Zeitungsartikel, die auf den inneren Seiten von
ansonsten neoliberalen Blättern versteckt waren, gelegentliche Fernsehdokumentationen und
akademische Alternativzeitungen versuchten sie, die Unrichtigkeit der neoliberalen Behauptungen zu
entlarven. Ihre Bemühungen verliefen parallel mit den unseren auf der marxistischen Linken. Genau
wie wir fühlten sie sich zu Beginn der 90er-Jahre wie in einer intellektuellen Einöde, gegen die
scheinbar übermächtigen Strömungen anschwimmend, die den Zusammenbruch des Ostblocks zum
Zusammenbruch jeder Alternative zum Marktkapitalismus erklärten. Doch gegen Ende des Jahrzehnts
hatten die sie eine riesige neue Zuhörerschaft gefunden für das, was sie zu sagen hatten. Wenn
unsere Zuhörerschaft sich zahlenmäßig verdoppelt oder vervierfacht hatte, so war die ihre um das
Zehn- oder gar Hundertfache angewachsen.
Dies war natürlich nicht nur das Resultat ihrer eigenen Bemühungen. Die 90er-Jahre blieben völlig
hinter den Versprechungen der Neoliberalen zurück. Die “Neue Weltordnung” zerbrach in einem Krieg
gegen den Irak zu Beginn und in Kriegen gegen Serbien und Tschetschenien zu Ende des
Jahrzehnts, dazwischen lagen dutzende von Bürgerkriegen auf dem Balkan, im Kaukasus, in
Zentralasien und Afrika. Aus dem “Wirtschaftswunder”, das neoliberale Berater den Ländern des
ehemaligen Ostblocks versprochen hatten, wurde ein wirtschaftlicher Zusammenbruch in der
ehemaligen UdSSR und in Südosteuropa, wie er in der Geschichte des kapitalistischen Systems nie
dagewesen war. Die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, Japan, fand keinen Weg aus der
Rezession, die sich in den Jahren 1991/92 entwickelt hatte, und Westeuropa litt unter einer
beständigen Arbeitslosigkeit von etwa zehn Prozent. In den USA ging es den meisten Menschen nach
acht Jahren wirtschaftlicher “Erholung” schlechter als ein Vierteljahrhundert zuvor. In Afrika schienen
Hungersnöte so alltäglich wie die Bürgerkriege, die sie entflammen halfen. In Lateinamerika gab es
keine Erholung vom “verlorenen Jahrzehnt” der Achtziger. Und dann stürzte auch noch die einzige
sichtbare Erfolgsstory, die der Kapitalismus in der ersten Hälfte der 90er vorzuweisen hatte,
Südostasien, urplötzlich in die Krise von 1997 und rief gewaltige Risse innerhalb des neoliberalen
Lagers hervor: Namhafte Finanzfachleute wie George Soros und vormalige Autoritäten des IWF wie
Jeffrey Sachs wandten sich erbittert gegen jene, die sie für den Schlamassel in Südostasien und der
ehemaligen UdSSR verantwortlich machten.
Hinzu kam der Treibhauseffekt: Eine Gefahr für das Weltklima und für die Lebensgrundlage der
Menschen, die Mitte der 80er-Jahre nur von einer kleinen Minderheit besorgter Wissenschaftler
erkannt worden war, wurde gegen Ende der 90er-Jahre von allen wichtigen Regierungen als eines der
schwerwiegendsten Probleme betrachtet – auch wenn sie nicht bereit waren, angemessene
Maßnahmen dagegen zu treffen.
Die von Paul Hawken erwähnten “Meinungsführer” waren deshalb so wichtig, weil sie Kritik an den
Folgen neoliberaler Praxis vorbrachten, sie als Fassade für die Gier der Konzerne bloßstellten und
dadurch viele verschiedene Gruppen von Menschen erreichten, die von den Wirkungen des
Neoliberalismus enttäuscht worden waren. Sie konnten dies tun, weil sie für gewöhnlich nicht nur mit
theoretischer Kritik befasst waren, sondern auch mit der praktischen Arbeit, Gegenbewegungen
aufzubauen. So spielten sie eine Rolle, die zum Beispiel mit der des Historikers Edward Thompson
beim Aufbau der Anti-Atomraketen-Bewegung in England in den frühen 80er-Jahren vergleichbar ist.
Aber während diese Kampagne sich mit einem einzigen Thema beschäftigte, lief die
Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus darauf hinaus, dass verschiedene Ein-PunktBewegungen sich zu einer facettenreichen Herausforderung vereinigten, einer Herausforderung
dessen, was die Menschen als zusammenhängendes System zu sehen begannen. Seattle war
wichtig, weil es den Höhepunkt dieser Entwicklung darstellte, den Punkt, an dem man anfing, die
vielen Teile als Einheit zu sehen, in der aus quantitativer Zusammenfügung etwas qualitativ Neues
wurde.
Dabei tauchten jedoch auch wichtige Fragestellungen auf, die jene, die beim Aufbau der neuen
Bewegung eine so wichtige Rolle gespielt haben, diskutieren müssen. Diese Fragen betreffen die
Alternativen, die entwickelt werden müssen, die Kräfte, die diese umsetzen können, die erforderliche
Taktik, um diese Kräfte zu mobilisieren und, all diesen Punkten zugrundeliegend, das Verhältnis von
Neoliberalismus und Globalisierung zum System im weiteren Sinne.
Die Debatten von Seattle und danach:
Reform oder Abschaffung
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
-6Die Frage, die sich unvermeidlich in den verschiedenen Teach-ins und Diskussionen in Seattle stellte,
war die Frage, ob man für die Reform oder für die Abschaffung der Welthandelsorganisation kämpfen
solle.
Die allgemeine Sichtweise innerhalb des amerikanischen Gewerkschaftsbundes, der AFL-CIO, war
der Vorschlag einer “Sozialklausel”, durch die in zukünftige Handelsverträge zentrale Arbeitsstandards
eingebaut würden, unter anderem das Verbot von Kinder- und Häftlingsarbeit, von Diskriminierung
und Verletzung des Rechts des Arbeiters auf gewerkschaftliche Organisation und Tarifverhandlungen.
Die Macht der WTO, derzeit eingesetzt zum Schutze der Möglichkeit für die transnationalen Konzerne,
Investitionen und Produktion frei über die Grenzen hinweg zu bewegen, könnte dann auch zum
Schutze der Rechte der Arbeiter genutzt werden.9 Steven Shrybman brachte ein ähnliches Argument
vom Standpunkt des Umweltschutzes vor: Ziel sollte sein, die WTO so zu verändern, dass sie sich
fortan “um Klimaveränderung genauso kümmert wie um das Wachstum transnationaler
Arzneimittelkonzerne.”10 Einige Aktivisten haben sogar empfohlen, die Weltbank und den IWF durch
ein “alternatives Sehen” zu reformieren, das “von Institutionen wie Weltbank und transnationalen
Konzernen größere Offenheit und mehr Verantwortlichkeit einfordert.”11
Im Gegensatz dazu bestanden Leute wie der Dritte-Welt-Wirtschaftswissenschaftler Walden Bello
darauf, dass “es falsch ist, die WTO zu reformieren.”12 Dies bedeutete nicht unbedingt, dass sie auch
ihre Abschaffung forderten, aber sie verlangten “eine Kombination aus aktiven und passiven
Maßnahmen, um ihre Macht radikal einzudämmen und sie schlichtweg zu einer weiteren
internationalen Einrichtung zu machen, die neben anderen Institutionen existiert und von diesen
gezügelt wird.”13 Der Ruf nach Abschaffung wurde lauter, nachdem die WTO die Anliegen der
Seattle-Demonstranten abgewiesen hatte.
Ähnliche Debatten entstanden während der großen Proteste in Millau, Frankreich, im Juni 2000.
Redner, die sich für die “Zerschlagung” von Institutionen wie der WTO aussprachen, wurden von den
Verfechtern begrenzter Reform nicht nur des “Utopismus” bezichtigt, sondern auch des praktischen
“Schulterschlusses” mit Verfechtern des Freihandels, die überhaupt gar keine Regulierung wollen14.
Der Streit über Reformierung oder Abschaffung steht in Verbindung mit einer anderen Debatte: Was
wären die Ziele einer Alternative zum jetzigen Handelssystem?
Sozialklauseln, Kinderarbeit und gewerkschaftliche Rechte
Die US-Gewerkschaften behaupten, “Sozialklauseln” würden Arbeiter in den Ländern der dritten Welt
davor bewahren, in sklavereiähnliche Bedingungen getrieben zu werden und gleichzeitig
multinationale Konzerne davon abhalten, ihre Produktion auf andere Kontinente zu verlagern, nur um
die Lohnkosten zu verringern und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Der Journalist William
Greider schreibt: “Eine Reform des Handels kann diejenigen Nationen belohnen und ernähren, die
versuchen, sich vom ‚Sog nach unten‘ zu befreien”15. Leute wie Greider versuchen, solche
Handelsreformen bei Regierungen zu erreichen, aber viele seiner Argumente tauchen ebenfalls in den
“No Sweats” und “Fair Trade” Bewegungen auf, die in den letzten zwei, drei Jahren viele
amerikanische Unis erfaßt haben. Diese Bewegungen beziehen ihre Motivation aus moralischer
Entrüstung über die Bedingungen der Arbeiter der Dritten Welt, die für Firmen wie Nike und
Starbucks16 produzieren. Sie verfolgen das Ziel, solche Firmen durch Verbraucherboykott dazu zu
zwingen, Kinderarbeit abzuschaffen und “faire Löhne zu zahlen”17.
Diese Herangehensweise wird von verschiedenen anderen Aktivisten kritisiert – aus zweierlei
Gründen. Erstens unterschätze man die Fähigkeit der multinationalen Konzerne, einen Weg zu finden,
sowohl Regulierungen durch die Regierung als auch Verbraucherproteste zu umgehen. David Bacon
beispielsweise erläutert:
Die Clinton-Regierung, die zunächst nicht gewillt war, auch nur irgendeinen Schutz der Arbeiter zu
diskutieren, hat nun eine gewisse Tatsache erkannt: die schlimmsten Mißstände in ausländischen
Fabriken aufzugreifen (sei es im ernsthaften oder nur im PR-Sinne) ist eine Möglichkeit, den Druck,
der im eigenen Land herrscht, abzulenken. Das Weiße Haus hat jedoch kein Interesse daran, sich mit
den Grundlagen der Armut und mit der Rolle, die die US-Politik bei ihrer Aufrechterhaltung spielt, zu
beschäftigen. Wenn überhaupt, dann ist Clintons neugefundenes Interesse an Arbeitsstandards ein
Weg, die Ausführung genau dieser Politik zu ermöglichen. So schlägt das Arbeitsministerium
Verhaltensregeln für die Bekleidungsindustrie vor, die unfreiwillige und unbezahlte Überstunden nach
regulären 60 Stunden oder die Beschäftigung von Kindern unter 14 in mittelamerikanischen
Textilfabriken verbieten … Die Konzerne, die den Kodex verletzen, werden geächtet, und die anderen
hält man für okay. Die Vorschläge für Standards und Verhaltenskodizes belassen eine grundlegende
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
-7Frage unberührt: Wo kommt die Armut her, die die Arbeiter durch die Fabriktür zwingt? Welche Politik
der US-Regierung hält diese Armut aufrecht?18
Naomi Klein ist in ihrer Kritik an Forderungen nach “Sozialklauseln” und “fair trade” nicht so
unverblümt wie David Bacon. Sie sieht, dass man Menschen dazu bringen kann, “das gesamte
System … unters Mikroskop zu legen”, wenn man die Aufmerksamkeit auf das Verhalten bestimmter
Firmen wie Nike oder Starbucks richtet. Sie warnt jedoch, “wenn einem Logo die gesamte
Aufmerksamkeit zuteil wird, werden ohne Zweifel andere laufen gelassen … Chevron hat Verträge
erhalten, die Shell verlor, und Adidas feierte ein massives Comeback auf dem Markt, indem es die
Arbeits- und Marketingstrategien von Nike imitierte und dabei der Kontroverse auswich.”19 Weiter
schreibt sie, “während es den Kodizes nicht gelingt, Missbrauch zu beseitigen, so gelingt es ihnen
doch ziemlich effektiv, die Tatsache zu verschleiern, dass multinationale Konzerne und normale
Bürger nicht wirklich gemeinsame Ziele verfolgen, wenn es um die Entscheidung über Gesetze gegen
den Mißbrauch von Arbeitskräften und Natur geht … Hinter dem Gerede von Ethik und Partnerschaft
befinden sich die zwei Seiten noch immer in einem ganz gewöhnlichen Klassenkampf.”20
Doch die Debatte geht nicht nur um die Wirksamkeit von Sozialklauseln. Es gibt auch einen
tiefergehenden Streit – darüber, ob sie prinzipiell richtig sind. Einige Aktivisten argumentieren, ihre
einzige Wirkung könne sein, dabei zu helfen, arme Länder arm zu halten. David Bacon beispielsweise
behauptet:
Die von der AFL-CIO propagierten Sozialklauseln spiegeln die institutionellen Bedürfnisse von
Gewerkschaften in einem reichen Industriestaat wider. Gewerkschaften und Arbeiter in anderen
Ländern sehen noch andere Notwendigkeiten, insbesondere die der wirtschaftlichen Entwicklung.
Kleinbauern aus Landarbeiterfamilien auf den Philippinen oder in Mexiko zum Beispiel sind sich
ausgesprochen einig, dass sie es vorzögen, ihre Kinder hätten die Möglichkeit eine Schule zu
besuchen anstatt zu arbeiten. Doch ein simples Verbot von Kinderarbeit stellt diese Möglichkeit nicht
her. Es verringert lediglich das Einkommen, das die Familie zum Überleben braucht.21
Bacon behauptet, dass der wahre Grund für Armut eher in der globalen Politik des Imperialismus liegt
als nur in der Existenz von Kinderarbeit und Beschränkungen der Rechte der Arbeiter. Seine
Argumentation ähnelt jedoch in einigen Punkten der von Leuten wie der Labour-Ministerin Clare Short,
die neoliberale Ansichten mit dem ungebremsten Enthusiasmus der frisch Bekehrten vertritt. Die
Bedingungen einzuschränken, unter denen Firmen Menschen ausbeuten, zerstöre Arbeitsplätze und
verschlechtere die Lage der Menschen, behaupten sie. Bacon scheint auch davon auszugehen, dass
Aktivisten in hochentwickelten Ländern sich eher mit Regierungen und regierungsgesteuerten
Gewerkschaften der Drittweltländer identifizieren sollten als mit den dortigen Arbeitern:
Arbeiterrechte sind zwar wichtig, doch eine größere Auseinandersetzung findet darüber statt, wer die
Ökonomien der Entwicklungsländer kontrolliert … US-Gewerkschaften müssen mit Arbeitern in
Entwicklungsländern einen gemeinsamen Aktionsplan aushandeln und dabei unterschiedliche
Perspektiven und Meinungen anerkennen und respektieren. Zu sagen, der Gesamt-Chinesische
Gewerkschaftsbund sei keine legitime Gewerkschaft, weil sie nicht mit dem Handelsprogramm der
AFL-CIO überein stimmt, ist beispielsweise eine Form von nationalem Chauvinismus.22
So gibt es einerseits den Ruf nach Klauseln in Handelsabkommen, die wahrscheinlich bestenfalls
unwirksam sind – im schlechtesten Fall decken sie die multinationalen Konzerne und können von
westlichen Politikern für deren Politik benutzt werden (etwa wenn irgendwelche RechtsaußenRepublikaner in den USA Handelssanktionen gegen China fordern). Andererseits gibt es Argumente,
die jenen auffällig ähneln, die vor eineinhalb Jahrhunderten in England von Senior, einem Ökonomen
der freien Marktwirtschaft, gegen die Beschränkung der Kinderarbeit gebraucht wurden – dass
dadurch Wachstum verlangsamt und Armut gefördert würde.23 Die Tatsache, dass Leute wie Bacon
von “wirtschaftlicher Entwicklung” durch die Dritte Welt selbst sprechen, und nicht durch die Erste
Welt, dort herrschende Klassen und Staaten, ändert nichts Grundlegendes daran.
Die eine Position überläßt die Entscheidungen den Regierungen der entwickelten Länder, die die
WTO dominieren und die jede “Sozialklausel” als Werkzeug benutzen würden, die Interessen ihrer
eigenen multinationalen Konzerne zu fördern. Die andere endet schnell dabei, Ausbeutung der
Arbeiter durch Firmen und Regierungen der Dritten Welt als einzigen Weg zur “Entwicklung” zu
rechtfertigen. Die Art und Weise, wie beide Seiten plausible Argumente gegen die jeweils andere in
Stellung bringen, legt den Verdacht nahe, dass keine der beiden die Wurzel des Problems betrachtet,
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
-8mit dem sie sich beschäftigen – eine Wurzel, die tiefer geht als die Diskussion um Welthandel oder um
den Versuch industrieller Entwicklung in Drittweltländern.
Reichen Schuldenerlasskampagnen aus?
Ähnliche Auseinandersetzungen finden innerhalb von Schuldenerlasskampagnen wie Jubilee 2000
statt. Die Kampagnen haben insofern Wunder bewirkt, als das sie die Obszönität herausstellten, dass
die Menschen in den ärmsten Ländern Geld in die Tresore der reichsten Banken schaufeln. Doch
gerade ihr Erfolg hat eine Reihe von Fragen aufgeworfen. Stellt man “gemäßigte” Forderungen und
versucht so, Regierungen zu beeinflussen, oder steht man für kompletten Schuldenerlass? Und bleibt
man beim Thema Schulden stehen, oder erweitert man die Agenda um Fragen, die das System im
weiteren Sinne betreffen? Susan George, die wahrscheinlich mehr als jede andere Person getan hat,
um die Belastung der Armen dieser Welt durch Verschuldung hervorzuheben, erklärt die Problematik:
Viele gute Leute fordern kompletten Schuldenerlass als einzig möglichen Weg. Ich fürchte, diese
Lösung wäre eine Falle … Wenn die Schuldner im Süden sich zusammentun und gemeinsam
erklären, dass sie die Staatsschulden nur teilweise oder gar nicht anerkennen, dann applaudiere ich.
Ich fürchte aber, so etwas ist sehr unwahrscheinlich …
Wenn eine gemeinsame Aktion des Südens nicht zu Stande kommt, sollten wir dann Kampagnen im
Norden organisieren, die den einseitigen Schuldenerlass durch unsere eigenen Regierungen
einfordern? … Ein Schuldenerlass würde jedoch genau dem System zum Vorteil gereichen, das zur
Zeit nie dagewesenen Hunger und Armut überall in der Dritten Welt verbreitet. Inwiefern?
Erstens riskierte man, die schlimmsten und verschwenderischsten Regierungen zu belohnen …
Zweitens würde ein Erlass die begünstigten Länder für die nächste Zukunft zu finanziell
Ausgestoßenen machen … Ein Erlass würde diese Länder zunächst etwas wohlhabender machen.
Bald darauf jedoch würden sie ohne massive neuerliche Hilfe … in die Autarkie gedrängt, ohne die
Möglichkeit grundlegenden Bedarf zu importieren und mit einer Kreditwürdigkeit, die gleich Null ist.
Drittens wäre ein Schuldenerlass, wenn er nicht hundert Prozent beträgt, eine Illusion bzw.
richtiggehend schädlich für die breiten Massen in der Dritten Welt.24
Viele Länder sind bereits heute nicht in der Lage, viel von ihren Schulden zurückzuzahlen. Ein
teilweiser Schuldenerlass würde schlichtweg bedeuten, dass sie hundert Prozent von, sagen wir, der
Hälfte der existierenden Schuld abbezahlen, anstatt wie heute die Hälfte von hundert Prozent.
George bringt diese Argumente nicht, um die Kritiker der Banken zu entmutigen. Sie versucht
vielmehr, die Agenda zu erweitern, das Thema des “Gesamt-Ressourcen”-Flusses in die
Drittweltländer und das Verhalten der dortigen Eliten sowie der Banken der Ersten Welt und der
multinationalen Konzerne mit einzubeziehen. Sie zeigt sehr überzeugend, dass aus der Konzentration
allein auf Schulden nicht die Lösungen hervorgehen, nach denen die Menschen suchen.
Die Stärke ihrer Argumentation zeigt sich praktisch in den Erfahrungen von Jubilee 2000. Deren
erfolgreiches Aufzeigen der verkrüppelnden Auswirkungen, die Schulden auf die Völker der Dritten
Welt haben, führt zu Debatten unter den Aktivisten. Einige ihrer führenden Personen hatten geglaubt,
“moderate” Annäherung verfolgen zu müssen, wollte man Regierungen für ihre Sicht der Dinge
“gewinnen". Sie erhofften sich Unterstützung von Leuten wie dem ehemaligen Bluthund des IWF,
Jeffrey Sachs (obwohl der noch immer neoliberale Maßnahmen gutheißt, wie etwa die des
Präsidenten von Ecuador, Jamil Mahaud, der durch einen Beinahe-Aufstand von eingeborenen
Völkern im Januar 2000 aus dem Amt gejagt wurde25). Auch gratulierten sie dem G8-Gipfel von Köln
1999, weil dort die Führungen der stärksten Industrienationen Schuldenerleichterung versprachen.
Doch das Versagen der Regierungen bei der Umsetzung des Versprechens führt nun dazu, dass man
vieles überdenkt. So erzählt ein Aktivist: “Ich bedaure, dass wir den Versprechen der G8 Glauben
geschenkt haben … Aber es war wunderbar, für Jubilee 2000 zu arbeiten. Die Kampagne hat die
Leute dazu gebracht, nach den Wurzeln der Armut zu fragen.”26
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
-9Armut, Entwicklung und Umweltzerstörung
Mit den Debatten um Handel und Schulden ist eine dritte eng verflochten – welche Entwicklung sollte
in den ärmeren Ländern eigentlich stattfinden? Viele der Aktivisten von Seattle, die sich mit der
“Drittwelt”-Thematik befassen, haben keine Zweifel darüber, was nötig ist. Den Ländern der Dritten
Welt, sagen sie, sollte es möglich sein, sich zu industrialisieren, um die fortgeschritteneren Länder
“einzuholen”. Das ist die logische Grundlage von David Bacons Position. Sie wird von William Greider
geteilt, der zustimmend über “industrielle Entwicklung in Niedriglohnökonomien”27 schreibt, sowie von
Juliette Beck und Kevin Danaher: Sie wollen “junge, heimische Industrien schützen, bis sie
international konkurrenzfähig sind”28. Danaher geht soweit, Südkorea als mögliches Modell
auszuweisen, weil es dem Land “während der 60er-, 70er- und 80er-Jahre … trotz langjähriger
Repression durch die Regierung wirtschaftlich sehr gut ging.”29 Walden Bello nimmt weitgehend
dieselbe Haltung ein. Er identifiziert sich mit der Strategie der Industrialisierung der Drittweltländer auf
Basis von Importkontrolle und steht mit der UNO-Einrichtung UNCTAD und deren langjährigem Leiter
Raul Prebisch in Verbindung – wenngleich er anregt, dass deren “Modell der Integration in die
Weltwirtschaft … hinterfragt werden muss.”30
Andere Aktivisten jedoch wollen den Industrialisierungsansatz in Frage stellen und suchen nach
“lebensfähigen Alternativen zum vorherrschenden Modell der Entwicklung durch Wirtschaftswachstum
und Exportorientierung”31. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die die Rechte eingeborener Völker
verteidigen oder für Umweltaktivisten wie Vandana Shiva aus Indien.
Dass auf diese Weise die vorherrschende Vorstellung von “Entwicklung” infrage gestellt wird, gründet
auf der Erkenntnis, dass die Industrialisierung in der Dritten Welt – und übrigens auch in der Ersten
Welt und den ehemaligen kommunistischen Ländern – unzählige Übel mit sich gebracht hat. Sie
zerstörte die alten Lebensformen der Menschen, stürzte viele in Armut und verschmutzte die Umwelt.
Susan George bemerkt in ihrem Aufruf zur Suche nach einem neuen wirtschaftlichen Modell sehr
zutreffend, das “herrschende Paradigma” von Entwicklung bedeute, dass “viele ihr Land verlieren, ihre
Dörfer verlassen müssen, ihre Kinder zugrunde gehen sehen, 14-Stunden-Tage für so gut wie keinen
Lohn arbeiten oder gar keine Arbeit haben, verunreinigtes Wasser trinken, an Hunger und
vermeidbaren Krankheiten leiden und, wenn sie aufbegehren oder versuchen, ihr Schicksal zu
ändern, inhaftiert oder gefoltert oder ermordet werden”32.
Doch diejenigen, die zu Recht das alte “Paradigma” angreifen, gehen selten weiter und liefern eigene
überzeugende Alternativen. Die Genetikerin Mae-Wan Ho beispielsweise verbindet ihre vernichtende
Kritik an den Methoden, mit denen genmanipulierte Organismen entwickelt werden, mit der Forderung
nach Rückkehr zu “traditionellen Formen der Landwirtschaft”. Vandana Shiva zeigt die zerstörerische
Wirkung, die der von den großen multinationalen Konzernen verfolgte Umgang mit der Landwirtschaft
auf das Leben der Menschen hat, auf. Sie geht jedoch nicht darauf ein, dass “traditionelle” Methoden
der bäuerlichen Landwirtschaft ihrerseits darauf beruhten, dass eine riesige Zahl von Kleinbauern und
landlosen Feldarbeitern, aus der untersten Kaste stammten und die meisten Frauen fürchterlich
unterdrückt wurden. Indische Intellektuelle einer früheren Generation haben sich ausreichend mit den
Bauernmassen identifiziert, um diese Dinge festzustellen – besonders der Autor Premchand, dessen
Geschichten und Erzählungen niemals vor der Realität der Klassen, Kasten und des religiösen
Fanatismus zurückschreckten.33 Im Gegensatz dazu schwärmt Vandana Shiva von “Frauen, die auf
dem Feld arbeiten und die biologische Vielfalt bewahren, die unsere Nahrung herstellen und unsere
Mahlzeiten kochen.”34
Mit “traditionellen Methoden” allein hätte man niemals die Menge an Nahrung produzieren können, die
nötig war, um mit dem Wachstum der indischen Bevölkerung während der letzten drei Jahrzehnte
Schritt zu halten. Als Vandana Shiva kürzlich nach einer Vorlesung in Reith nach der Ernährung einer
so stark wachsenden Bevölkerung gefragt wurde, war ihre Reaktion, einfach von “nicht tragbarem
Bevölkerungswachstum” zu sprechen, für das sie eine “nicht nachhaltige Entwicklung” verantwortlich
machte:
Sehen Sie sich die Zahlen an. Die indische Bevölkerung war stabil bis 1800. Kolonisation und
Landraub führten dazu, dass unsere Bevölkerung wuchs. In England gab es die höchsten Raten beim
Bevölkerungswachstum nach den ‚enclosures‘ … Bevölkerungswachstum ist das Resultat von nicht
nachhaltiger Entwicklung.35 [Mit den “enclosures” (Einzäunungen) wurden im 18. Jahrhundert in
England große Flächen Gemeindeland in Privatbesitz verwandelt und ein großer Teil der
Landbevölkerung seiner Lebensgrundlage beraubt. Anmerk. d. Übers.]
In Wirklichkeit war Armut in Indien auf dem Land weit verbreitet, lange bevor die Briten kamen: Der
indische Wirtschaftshistoriker Irfan Habib hat die Verarmung großer Teile der Landbevölkerung zu
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 10 Zeiten der Moguln dokumentiert, als “Hungersnöte massenhafte Wanderungsbewegungen
hervorriefen”36. Und natürlich gab es in England lange vor den “enclosures” bittere Hungerperioden –
zum Beispiel im frühen 14.Jahrhundert. Nostalgie für die Vergangenheit ist Nostalgie für
Klassengesellschaften, wenngleich es keine kapitalistischen waren, in denen das Leben der großen
Mehrheit der Menschen in schier endloser Plackerei bestand, allzu oft begleitet von Hunger und
wiederkehrenden Hungersnöten.37
Wesentlicher ist jedoch, dass “traditionelle Landwirtschaft” keine Antwort bietet, wie eine
Weltbevölkerung ernährt werden soll, von der man im Allgemeinen in den nächsten dreißig Jahren
eine Verdoppelung erwartet. So sehr die Methoden, die mit der “Grünen Revolution” in Indien über die
letzten drei Jahrzehnte verbunden waren, auch von der Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse in
der Landwirtschaft begleitet waren (und damit von der Vertreibung vieler Kleinbauern von ihrem Land)
und wie groß auch immer ihr langfristiger Schaden für die Umwelt war – sie haben doch zu einem
erhöhten Ertrag geführt, der es dem Land ermöglichte, seiner Bevölkerung ein Mindestmaß an
Nahrung zu gewährleisten, ohne auf Importe angewiesen zu sein. Die Getreideproduktion stieg in den
80er-Jahren um 3,2 Prozent pro Jahr (schneller als die Geburtenrate) – gegenüber 1,8 Prozent
Wachstum in den 70ern (geringer als das Bevölkerungswachstum).38 Auch Vandana Shiva kommt
nicht umhin, ganz nebenbei “die kleinen Erfolge der Grünen Revolution”39 anzuerkennen. Wenn die
Masse der Bevölkerung wenig oder nichts dabei gewonnen hat (einige Statistiken beschreiben eine
geringe Erhöhung der durchschnittlichen Kalorienversorgung und eine geringe Abnahme der Armut,
andere beschreiben jeweils keine Veränderung), so liegt das an der ungleichen, klassenabhängigen
Verteilung der gewachsenen Menge an Nahrungsmitteln zum Vorteil der reicheren Teile der
Bevölkerung (entweder direkt in Form von mehr Nahrung oder indirekt als Einkommensquelle für den
Kauf von importierten Luxusgütern).
Ein nachhaltiges Entwicklungsmodell muss den in den letzten Jahrzehnten erreichten
Nahrungsmittelertrag mindestens auf dem gleichen Niveau halten und zudem die gerechte Verteilung
sicherstellen – tatsächlich muss es eigentlich mehr als nur das Niveau halten, wenn die Mehrheit der
Bevölkerung irgendwann über das Minimum von etwa 2.000 Kalorien, das sie derzeit täglich erhält,
hinauskommen soll. Das ist unmöglich, wenn man sich auf “traditionelle” Methoden verläßt. Es
müssen wissenschaftliche Forschung eingesetzt und Kapital investiert werden – allerdings auf andere
Art, als dies zur Zeit geschieht. Tatsächlich muss ein Kritikpunkt am derzeitigen Entwicklungsmuster in
Indien darin bestehen, dass der Anteil der Investitionen in die Nahrungsmittelproduktion rückläufig und
die Forschung nach Wegen zu nachhaltiger Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung
unzureichend ist.
Diejenigen, die zu Recht die derzeitigen Modelle für “Entwicklung” angreifen, meinen oft, es bedürfe
eines massiven Aufbruchs hin zu “lokaler Produktion” oder “lokaler Nutzung”. Doch wenn man sich auf
lokale Nahrungsmittelproduktion verläßt, kann das ebenso schlimme Folgen haben, wie wenn man
sich auf das Produzieren für einen schwankenden Weltmarkt verläßt. Lokale Produktion nämlich war
in der Vergangenheit immer mit lokalen Hungersnöten verbunden, wenn Wetter oder Insektenplagen
der örtlichen Ernte schadeten.
Die internationale Bewegung von Nahrungsmitteln, die durch moderne Technik möglich gemacht wird,
bedeutet, dass Hungersnöte in allen Teilen der Welt längst der Vergangenheit angehören könnten.
Wenn sie hauptsächlich in großen Teilen Afrikas vorkommen, dann nicht deshalb, weil es falsch ist,
dass Menschen in einem Teil der Welt anderswo produzierte Nahrungsmittel verbrauchen, sondern
weil die internationale Verteilung von Nahrungsmitteln nach Profitüberlegungen und nicht gemäß
menschlichen Bedürfnissen funktioniert.
Es gibt Länder, deren Volkswirtschaften seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten abhängig von der
Nahrungsmittelproduktion für weit entfernte Märkte sind – kubanischer Zucker beispielsweise, oder
Bananen aus Mittelamerika und der Karibik. Die Menschen dieser Länder müssten Hunger leiden,
wenn der Rest der Menschheit sich von einem Tag auf den anderen weigerte, ihre Produkte zu
kaufen. Wir leben in einem globalen System, das sich nicht erst in den letzten zwei Jahrzehnten,
sondern mindestens seit dem 16. Jahrhundert entwickelt hat. Die Antwort auf die schrecklichen Fehler
dieses Systems ist nicht, einzelne Länder oder Regionen vom Rest der Welt abzuschneiden, sondern
den weltweit existierenden Wohlstand für alle Menschen dieses Planeten zu nutzen.
Und schließlich verwenden diejenigen, die das kapitalistische Entwicklungsmodell angreifen, oft ein
sehr schlechtes Argument. Sie behaupten, der Fehler dieses Modells sei nicht, dass es die Menschen
endlos schuften lässt, sondern dass es nicht “arbeitsintensiv” genug sei. So führt beispielsweise die
Environment Research Foundation als Fehler gegenwärtiger landwirtschaftlicher Methoden auf, dass
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 11 “Arbeitsplätze verlorengehen, weil menschliche Arbeit und Zugtiere durch Maschinen ersetzt
werden”40. Damit akzeptiert man, dass menschliches Mühsal irgendwie eine gute Sache ist und dass
Menschen leiden, weil nicht genügend Arbeit für sie da ist. Das wiederum heißt jedoch, die Dinge
komplett auf den Kopf zu stellen. In einer gesunden Gesellschaft würde es umso leichter für
jedermann, seinen Lebensunterhalt ohne übermäßige Plackerei zu sichern, je mehr Maschinen es
gibt. Wenn die derzeitige Gesellschaft nicht so aussieht, so liegt das daran, dass an ihr etwas
grundsätzlich verkehrt ist. Es bedeutet nicht, dass Methoden, die mehr Arbeit erfordern, besser sind
als die, für die man weniger benötigt. Wie sagte Brendan Behan einmal: “Wenn Arbeit etwas so Gutes
ist, warum behalten die Reichen sie dann nicht für sich?”
Neoliberalismus, Globalisierung und Kapitalismus
Im Hintergrund jeder Diskussion steht eine andere, grundsätzliche Frage. Wogegen kämpfen wir? Ist
es ein seit langem bestehendes ökonomisches System ? Oder sind es nur eine Reihe institutioneller
und ideologischer Veränderungen, die im letzten Jahrzehnt eingetreten sind, und mit Begriffen wie
“Globalisierung” und “Neoliberalismus” bezeichnet werden?
Diese Ausdrücke sind manchmal einfach Code-Wörter für ein umfangreicheres System. Der Angriff
auf Globalisierung und Neoliberalismus ist dann die Form, mit der ein Angriff auf den Kapitalismus als
System eröffnet wird – und auf die vielen Ideologien, mit denen er gewöhnlich verteidigt wird.
“Corporate greed”, die “Habgier der Konzerne” steht als Synonym für das Profitsystem, “die
Transnationalen” für kapitalistische Unternehmen, “Globalisierung” dafür, wie der internationale
Kapitalismus die Hoffnungen der kleinen Leute vernichtet. Das alles dient dann dazu, den Menschen
für die umfassende Unmenschlichkeit des Kapitalismus die Augen zu öffnen.
Doch oft stellen die Kritiker Globalisierung und Neoliberalismus als eigenständige Kräfte dar, die nicht
auf irgendein umfassenderes System zurückgehen. So schreibt z.B. Ignacio Ramonet in Le Monde
diplomatique “Die Menschen wollen nicht mehr die Globalisierung wie ein unvermeidliches Schicksal
akzeptieren … sie fordern im Angesicht der Schäden, die von der Globalisierung verursacht werden,
die Herausbildung neuer Rechte – kollektiver Rechte.”41 In einer BBC Sendung erklärte Vandana
Shiva, die “Globalisierung” und “die neue globale Wirtschaft” hätten schreckliche Auswirkungen auf
das Leben der kleinen Leute und erzeugten in Ländern wie Indien “Katastrophen”, “ insbesondere in
der Nahrungsmittelversorgung und Landwirtschaft”..42 Für Pierre Bourdieu sind “Globalisierung” und
“Neoliberalismus” der Feind. “Der Hauptpunkt,” sagt er “ist Neoliberalismus und der Rückzug des
Staates. In Frankreich ist die neoliberale Philosophie in alle gesellschaftlichen Verfahrensweisen und
politische Entscheidungen des Staates eingebettet.”43 Einige Führer von ATTAC in Frankreich sagen
sogar, dass ihre Bewegung nicht “antikapitalistisch” sei, sondern nur Schluss damit machen wolle,
dass kurzfristige Finanzflüsse nationale Wirtschaften sprengen.44
Das jüngste Buch von Susan George, The Lugano Report: Preserving Capitalism in the 21st Century,
bezieht sich im Titel auf den Kapitalismus.45 Dennoch schrieb sie nach Seattle von Menschen die
“gegen die schädlichen Folgen der Globalisierung” mobilisieren, als ob diese etwas vom Kapitalismus
Getrenntes und eigentlich Schlimmeres seien. Vivian Forresters Bestseller, Der Terror der Ökonomie,
sieht Dinge wie die Arbeitslosigkeit manchmal nicht als Ergebnisse des Kapitalismus, die eine lange
Geschichte haben, sondern als “sekundäre Folgen” der “Globalisierung”46 – und deshalb vermutlich
als ein Produkt der letzten zehn oder zwölf Jahre: “Eine wahre Revolution stand und steht auf dem
Spiel und hat es fertig gebracht, das neoliberale System zu errichten, ihm Gestalt zu geben, es zu
aktivieren und in die Lage zu versetzen, jede andere Logik als seine eigene zu entwerten … Ohne
irgendeine spektakuläre oder auch nur sichtbare Erhebung hat eine neues Regime die Macht
übernommen”.47
Daraus kann man leicht den Schluß ziehen, dass “Neoliberalismus” und “Globalisierung” negative
Eigenschaften sind, die einem System aufgedrückt wurden, das eigentlich erträglich sein könnte.
Toussaint tut das z.B., indem er ein früheres Stadium in der Geschichte des Kapitalismus dem
heutigen gegenüberstellt: “Obwohl der fordistische gesellschaftliche Konsens im Norden, der
Entwicklungskonsens im Süden und die bürokratische Kontrolle im Osten weit davon entfernt waren,
die Anwendung von Gewalt durch diejenigen, die in den Machtpositionen waren, zu beseitigen, rief
jeder dieser Wege echten gesellschaftlichen Fortschritt hervor.”48
Cassen, der Direktor von Le Monde diplomatique verfolgt eine ähnliche Argumentation, wenn er
darauf drängt, zu einem “protektionistischen” Modell nationaler Wirtschaft, die nach kapitalistischen
Kriterien organisiert ist, zurückzukehren. So auch Colin Hines, wenn er predigt, dass man auf “lokale
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 12 Produktion”, die von “lokalen” Geschäftsleuten und Unternehmen durchgeführt wird, vertrauen soll.49
Der Eindruck entsteht, dass ein brauchbares und zumindest teilweise humanes Modell des
Kapitalismus von den Neoliberalen im Auftrag der multinationalen Konzerne zerstört wurde. Doch
deren Anstrengungen können nicht ausreichend sein, um die Schrecken zu erklären, die so
anschaulich in den Schriften der Kritiker von Globalisierung und Neoliberalismus beschrieben werden.
Die meisten dieser Gräuel sind so alt wie der Kapitalismus selbst und nicht einfach ein Ergebnis der
paar Jahrzehnte. Die Reduzierung der Menschen auf Waren, die Herstellung der elegantesten
Produkte im Hungerlohn, die langen Arbeitszeiten, die das Leben von Frauen, Männern und Kindern
zerstören, die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen, die als Bauern vom Land vertrieben
und als Arbeiter plötzlich auf die Straße geworfen werden, die Verwüstung der Umwelt – keines dieser
Phänomene ist erst in den vergangenen 20 oder 30 Jahren entstanden. Man kann darüber in Schriften
lesen, die 100, 150 oder sogar 200 Jahre alt sind – in den Artikeln von Cobbett, in den Hard Times
von Charles Dickens, in Frau Gaskells North and South, Emile Zolas Germinal, Upton Siclairs Der
Dschungel, Engels Die Lage der arbeitenden Klasse in England und im Kapitel “Das allgemeine
Gesetz der kapitalistischen Akkumulation” im Kapital von Karl Marx. Sie sind charakteristische
Auswirkungen des Kapitalismus während seiner ganzen Geschichte.
Was in den besten Schriften der heutigen Kritiker der Globalisierung so beeindruckt, ist genau das,
was sie mit so vielen dieser frühen Schriften gemeinsam haben – ein verdammender, gefühlsmäßig
bewegender Angriff auf die Entmenschlichung des Systems, auf die Unterordnung des Lebens der
Menschen unter blinde, jenseits ihrer Kontrolle stehender Kräfte, auf die Zerstörung der Umwelt, in der
sie leben müssen. Sie zeigen, dass hinter den schönen Sätzen der neoliberalen “Modernisierer” die
grausame Wirklichkeit zerbrochener Leben liegt – und ökologischer Zerstörung, die das bloße
Überleben der Menschheit bedroht.
Neoliberalismus- und Globalisierungs-Theorien: Die Welt wird auf den Kopf gestellt
Die meisten Kritiker von Neoliberalismus- und Globalisierungs-Theorien gehen in einer wichtigen
Hinsicht nicht weit genug, denn sie akzeptieren viele der diesen Theorien eigenen Behauptungen über
die Art, wie das globale System funktioniert. Diese Theorien verschreiben nicht bloß völlig
verheerende Heilmittel für die Probleme, vor denen die große Mehrheit der Menschen dieser Welt
steht. Sie beruhen auch auf einem vollkommen oberflächlichen Verständnis des Weltsystems.
Vor langer Zeit hat Marx darauf hingewiesen, dass die Art, wie der Kapitalismus funktioniert, allzu
leicht vor den Menschen verbirgt, was tatsächlich geschieht. Diejenigen, die auf dem Markt kaufen
und verkaufen, sehen nur die Wechselwirkung der Waren auf diesen Märkten, nicht die menschlichen
Tätigkeiten, die hinter diesem Wechselspiel liegen. Diejenigen, deren Einkommen aus Dividenden und
Zinsen stammt, oder die auf den Geldmärkten spielen, glauben, dass das Geld selbst magische
Fähigkeiten hat zu wachsen – es habe nichts zu tun mit der Plackerei der Menschen in den Fabriken,
auf den Feldern, in den Bergwerken und Büros. Die Kapitalisten, die von der Arbeit der Arbeiter leben,
glauben, sie verschaffen ihnen Arbeit. Arbeitslosigkeit wird als Folge irgendeiner Verringerung der
gesamten Arbeit, die getan werden muss, gesehen, und nicht als Folge der Absurdität eines Systems,
das von der blinden Konkurrenz zwischen den rivalisierenden Eigentümern der Produktionsmittel
getrieben wird.
Marx nannte diese verkehrte Sicht der Welt, wie sie der Kapitalismus hervorbringt, den
“Fetischcharakter der Ware” – ein Vergleich mit der religiösen Vorstellung, dass Gott die Menschen
schuf, nicht die Menschen Gott. In dieser Sicht sind die Mühe, der Schweiß und die Ausbeutung, die
zur Schaffung neuen Reichtums notwendig sind, kaum vorhanden.
Neoliberale und Globalisierungs-Theorien treiben diese auf dem Kopf stehende Sicht der Welt zum
Äußersten. Wie der Mainstream der “neoklassischen” oder der “Grenznutzen”-Version der
Wirtschaftstheorien, mit denen sie verwandt sind, so sehen sie die Dinge vom Standpunkt des Finanzund Handelskapitalisten. Das ist ein Standpunkt, der praktisch ignoriert, was in der wirklichen Welt der
Produktion und Ausbeutung geschieht.
Am deutlichsten ist das der Fall, wenn beschrieben wird, was wirklich während des letzten Viertels des
Jahrhunderts mit der Struktur der Weltwirtschaft geschehen ist. Transaktionen, die staatliche Grenzen
überschritten, haben eine wachsende Rolle gespielt. Doch war das viel häufiger bei finanziellen
Transaktionen der Fall als bei der materiellen Organisation der Produktion. Ich habe dafür in zwei
anderen Artikeln, die ich in dieser Zeitschrift geschrieben habe50, eine Menge empirischer Beweise
geliefert. An dieser Stelle will ich nur einige wenige Punkte zusammenfassen.
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 13 Während internationale Finanzleute täglich Billionen Dollar über nationale Grenzen bewegen, stellen
die multinationalen Konzerne den größten Teil ihrer Produktion weiterhin in einem, in wenigen Fällen
in zwei, Ländern her. Das Führungspersonal der größten multinationalen Konzerne zeigt ähnlich
unverändert eine “nationale Schieflage”. Keinem Multi ist es gleichgültig, was der Staat tut: darüber
hinaus rechnet jeder multinationale Konzern mit “seinem” Staat, wenn es darum geht, bei der
Beeinflussung von Zinssätzen und Wechselkursen und bei internationalen wirtschaftlichen und
finanziellen Verhandlungen für seine Interessen zu kämpfen. Und wenn es knirscht, werden die Multis,
die ihren Standort in einem bestimmten Land haben, sogar dafür eintreten, dass die Regierung des
Landes eingreift, um Großunternehmen zu verstaatlichen, deren Bankrott ihre gemeinsamen
Interessen bedroht (das geschah mit den US-Sparkassen unter Reagan und Bush, mit
skandinavischen und japanischen Banken im Verlauf der 90er-Jahre und erst vor kurzem mit dem
koreanischen Riesen Daewoo).
Die multinationalen Konzerne sind also alles andere als “schwerelos”. Sie können nicht im
Handumdrehen riesige Produktionsanlagen aus einem Land in ein anderes verlagern.
“Metallbearbeiten” ist immer noch für fast alle von ihnen wesentlich. Autos, Lastwagen, Stahl für
Träger, Brücken und Fahrgestelle, Kühlschränke, Waschmaschinen, Pharmazeutika, selbst Computer
und Microchips müssen nach wie vor in sehr teuren Fabriken produziert werden, die nicht mit einem
Federstrich von einem Ort zum andern bewegt werden können. Die Industrien, die leicht verlagert
werden können – insbesondere die Bekleidungsherstellung, die billige Nähmaschinen benutzt – sind
die Ausnahme, nicht die Regel. Bei 90 Prozent der Industrie dauert jede Verlagerung Jahre, nicht
Tage (Ford z.B. geht davon aus, dass sie mindestens zwei Jahre brauchen, um die Produktion von
Dagenham nach Deutschland zu verlagern). Und wenn Verlagerungen vorkommen, dann sind es in
der überwältigenden Zahl der Fälle Verlagerungen aus einem entwickelten Land in ein anderes.
Anfang der 90er konzentrierten sich drei Viertel der weltweiten Überseeinvestitionen auf diese Länder
und weitere 16,5 Prozent gingen in die zehn wichtigsten Schwellenländer. Nur 8,5% aller
Auslandsinvestitionen erreichten die Dritte Welt.
Jüngere Zahlen, die die relative Größe der Wirtschaften der amerikanischen Kontinente und einzelner
US-Staaten zeigen, verraten, wo das Herz des Systems der Weltproduktion schlägt. Wenn man die
ganze westliche Hemisphäre als 100 Prozent setzt, dann umfassen die USA als Ganzes davon 76
Prozent. Im Vergleich dazu entfallen auf Brasilien als größtes der lateinamerikanischen Länder nur 8
Prozent (weniger als Kalifornien mit 10%); auf Kanada entfallen nur 6 Prozent (nur soviel wie der
Staat New York); auf Mexiko 4 Prozent (so viel wie Illinois und weniger als die 5 Prozent von Texas);
auf Argentinien nur 3 Prozent (so viel wie Ohio und weniger als Florida mit 4 Prozent). Chile, Peru,
Ecuador, Kolumbien, Guatemala, Uruguay und Venezuela zusammen summieren sich nur zu 3
Prozent.51
Armut besteht in weiten Gebieten von Lateinamerika, Afrika und Asien nicht nur, weil das Kapital,
wenn es dort investiert, niedrige Löhne zahlt, sondern auch, weil dort zu investieren überhaupt nur
selten mit seinem Verlangen nach ständigem Profit zusammenpaßt.
Wie Unternehmen nicht auf geographisch verwurzelte Produktionsmöglichkeiten verzichten können,
so können sie auch nicht auf Arbeiter verzichten. Trotz allen Geschreis über ,Globalisierung’ ist die
Zahl der Industriearbeiter in den fortgeschrittenen Industriestaaten viel größer als vor einem halben
Jahrhundert und sie ist im letzten Jahrzehnt kaum gefallen. Die Anzahl der Industriearbeiter in den 24
führenden Wirtschaften betrug 1900 51,7 Millionen, 1950 88 Millionen, 1971 waren es 120 Millionen
und 1998 112,8 Millionen. In den USA waren es 1900 8,8 Millionen, 1950 20,6 Millionen, 1971 26
Millionen und 1998 31 Millionen.52
Die Zahlen für die Industrie sind nur ein Teil der Geschichte. Eine sehr große Anzahl der Arbeitsplätze
im ,Dienstleistungsbereich’ ist hinsichtlich der Arbeitsbedingungen nicht von ,industriellen’
Arbeitsplätzen zu unterscheiden. Das gilt für Gruppen wie Müllarbeiter und viele Büroangestellte. Das
gilt auch für Transportarbeiter und Auslieferungspersonal – Gruppen, die wichtiger, nicht unwichtiger
werden, wenn der E-Commerce abhebt (denn sie werden gebraucht, um Güter auszuliefern, selbst
von der ,gewichtslosesten’ Firma). Und das Wachstum der Fast-Food-Ketten und Call-Center fügt Tag
für Tag weitere in fabrikähnlichen Bedingungen arbeitende Beschäftigte hinzu.
Keine dieser Gruppen ist eigentlich machtlos, wenn es dazu kommt, den Multis entgegenzutreten.
Ford in Großbritannien brachte beim letzten Streik 1988 Ford in ganz Europa zum Stillstand. Einzelne
Fabriken von General Motors hatten 1998 die gleiche Wirkung in Nordamerika. Erst vor kurzem haben
Postarbeiter und Sicherheitsleute in Frankreich ihre potentielle Macht gezeigt.
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 14 Bedauerlicherweise mangelt es Kritikern des Neoliberalismus zu oft am Verständnis solcher Irrtümer
der Globalisierungstheorie. So schreibt Viviane Forrester:
Nun ist diese Welt, in der die Orte der Arbeit und die der Wirtschaft zusammenfielen, wo die Arbeit
vieler Akteure für die Entscheidungsträger unersetzlich war, aber wie weggezaubert … Die völlig neue
Welt, die im Zeichen der Kybernetik, der Automatisierung, der revolutionären Technologien entsteht
und die nun die Macht ausübt, … ist … auch ohne wirklichen Bezug zur ‚Arbeitswelt’, die ihr nicht
mehr vertraut ist.53
Naomi Klein klingt oft ähnlich, wenn sie schreibt, dass sich viele Multis auf “ein System von
freischwebenden Fabriken, die freie (unbehinderte) Arbeiter beschäftigen,” gründen, “die nicht mehr in
ihrer traditionellen Rolle als Massenarbeitgeber leben können.”54 Sie schreibt, dass General Motors
“seine Produktion in die maquilodoras [den Fabrikgürtel südlich der Grenze USA-Mexiko] und dessen
Klone rund um den Erdball” verlagert.55 Das erweckt den Eindruck, als ob es einen riesigen Aderlass
von Arbeitsplätzen aus den USA nach Mexiko gäbe. Doch an anderer Stelle gibt Klein die Gesamtzahl
der in den maquilodoras Beschäftigten mit 900 000 an56– das ist weniger als ein Fünfundzwanzigstel
der Beschäftigten in den Vereinigten Staaten. In den USA sind bei GM 200 000 beschäftigt, viel mehr
als für GM in Mexiko arbeiten.
David Bacon, der oft eine marxistische Terminologie benutzt, macht den gleichen Fehler, wenn er in
der Bewegung des Kapitals in Länder der Dritten Welt den Hauptgrund für Arbeitsplatzverluste in den
Vereinigten Staaten sieht: “Der Unterschied im Lebensstandard zwischen reichen und armen Ländern
… ist die Ursache des Verlustes von Arbeitsplätzen in den USA, da die Konzerne ihre Produktion
örtlich neu festlegen.”57
Tatsächlich ist die wesentliche Ursache für den Verlust von Arbeitsplätzen in allen fortgeschrittenen
Ländern die Umstrukturierung, die innerhalb der bestehenden industriellen Komplexe die Produktivität
steigern soll, nicht der Umzug nach Übersee. Dort wo es eine Verlagerung von Industrie gegeben hat,
war es in der Regel eine Verlagerung innerhalb der Vereinigten Staaten, nicht über nationale Grenzen
hinweg. Die größten Niederlagen, die britische Arbeiter hinnehmen mussten – die der Bergarbeiter
1985 und der Drucker 1987 – waren nicht das Ergebnis einer Produktionsverlagerung ins Ausland.
Das sind keine geringfügigen Schwächen in der Argumentation von Forrester, Klein oder Bacon. Eine
der Funktionen der neoliberalen Theorien ist, den Eindruck zu vermitteln, dass das System nicht nur
außer staatlicher Kontrolle geraten ist, sondern auch, dass es für diejenigen, die in ihm arbeiten,
unmöglich ist, es herauszufordern. Das Argument, dass Unternehmen willkürlich den Standort
wechseln können, ist eine Entschuldigung für Regierungen, die sich deren Diktaten beugen, und für
Gewerkschaftsführer, die es ablehnen, sie zu bestreiken. Ihr Argument ist “Wir können sie nicht
schlagen, also müssen wir uns mit ihnen verbinden.” Es ist ein Fehler, wenn Widersacher des
Neoliberalismus auf diese Behauptung hereinfallen.
Globalisierung, Neoliberalismus und Krieg
Schließlich gibt es noch ein Merkmal der modernen Welt, über das Neoliberalismus und
Globalisierungstheorien nichts zu sagen haben, das aber von enormer Bedeutung für ihre Kritiker sein
sollte. Es ist der Hang zum Krieg.
Die Logik der Globalisierungstheorien besteht darin, dass Unternehmen sich nicht darum kümmern, in
welchem Staat sie tätig sind und/oder wie mächtig dieser Staat ist. Freier Handel und freie Bewegung
des Kapitals bedeuten danach das Ende der Kriege. Oder, wie sie behauptet haben, “Keine zwei
Länder, in denen es McDonalds gibt, haben jemals Krieg geführt.”
Die Wirklichkeit der Welt in den jüngsten Jahrzehnten hat solche Behauptungen Lügen gestraft.
Kriege sind mit schrecklicher Regelmäßigkeit ausgebrochen und haben das innere Leben ganzer
Weltregionen in Verwirrung gestürzt – der Krieg des Westens gegen den Irak, die Folge von Kriegen
und Bürgerkriegen in Afrika, die Kriege im früheren Jugoslawien, der Krieg des Westens gegen
Serbien, die Kriege Russlands gegen Tschetschenien. Dazu kamen noch Kleinkriege oder
Kriegsdrohungen zwischen Indien und Pakistan, Griechenland und der Türkei, China und Taiwan,
Ecuador und Peru. Viele dieser Länder haben McDonalds-Filialen – Kroatien und Serbien, Indien und
Pakistan, Ecuador und Peru, Griechenland und die Türkei, die NATO-Mächte und Rest-Jugoslawien.
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 15 Solche Zusammenstöße zwischen bewaffneten Staaten sind genauso Teil des gegenwärtigen
Systems wie Strukturanpassungsprogramme und Verhandlungen über freien Handel. Das liegt daran,
dass das Schicksal der einzelnen Kapitalisten nach wie vor in hohem Grade mit der Macht und dem
Einfluss eines Staates verbunden ist. Unternehmen wie Boeing, Monsanto, Microsoft, Texaco und
General Motors würden nicht dort stehen, wo sie sind, wenn sie nicht seit langem bestehende
Verbindungen mit dem US-Staat im Allgemeinen und dem US-Militär im Besonderen hätten. Doch
hängen die Macht und der Einfluss eines Staates von seinem Potential ab, sich militärisch mit anderen
Staaten zu schlagen – oder zumindest mit einem Bündnissystem, welches das kann.
Zu Beginn der 90er-Jahre haben wir gesehen, wie die von den USA geführte Koalition Bagdad
vernichtete, um ihren Einfluss auf die Ölquellen Kuwaits zu sichern. Am Ende der 90er-Jahre
vernichtete eine andere von den USA geführte Koalition Belgrad, um die “Glaubwürdigkeit” der NATO
aufrechtzuerhalten – das bedeutet, die strategische Kontrolle eines US-dominierten Bündnisses über
die Südostflanke Europas und den Zugang zu den ölreichen Regionen des Mittleren Ostens und des
Kaspischen Meers durchzusetzen. Welche Entschuldigungen auch immer im Propaganda-Sperrfeuer,
das die Kriege begleitete, benutzt wurden, die Rationalität solcher Aktionen bestand für das USAußenministerium darin, dass sie zeigten, dass die USA in der Lage sind, überall auf der Welt ihre
Macht durchzusetzen. Sie verteidigten eine Hegemonie, die verhindern soll, dass Regierungen der
Dritten Welt Interessen der US-Kapitalisten beschädigen, und die sicherstellen soll, dass sich die
europäische Staaten und Japan der amerikanischen Führung im Handel, den Investitionen und den
Verschuldungsverhandlungen unterwerfen.
Thomas Friedman, ein Journalist, der dem amerikanischen Außenministerium nahe steht, fasste die
Beziehung zwischen Big Business und Militär zusammen:
Die unsichtbare Hand des Marktes kann nie ohne die unsichtbare Faust arbeiten. McDonalds kann
nicht blühen ohne McDonnell Douglas. Die unsichtbare Faust, die die Welt in Schach hält, damit die
Technik des Silicon Valley blühen kann, hat den Namen US Army, Air Force, Navy und Marine
Corps.58
Meistens versuchen Regierungen und Vertreter des Neoliberalismus, solche Verbindungen zu
verheimlichen und den Eindruck zu erwecken, dass sie nur aus Sorge um die Menschenrechte in den
Krieg zögen. Auf diesen Vorwand sollten die Widersacher des Neoliberalismus nicht hereinfallen. Der
IWF, die Weltbank, Welthandelsorganisation (WTO), das Pentagon und die NATO sind nur
verschiedene Aspekte desselben Systems. Man kann nicht gegen den einen kämpfen und die
anderen unterstützen.
Die Ursprünge des Neoliberalismus
Neoliberalismus und Globalisierungstheorien sind Ideologien, die die tatsächliche Funktionsweise der
Welt, in der wir leben, verschleiern, einschließlich der tatsächlichen Beziehungen zwischen
Unternehmen und Staaten und zwischen Industrie und Finanzen. Eine wirksame Kritik daran darf nicht
dabei stehen bleiben, die Unmenschlichkeit aufzuzeigen. Sie muss auch benennen, wie diese
Theorien die Widersprüche in ihrem eigenen System verschleiern, und sie muss die Möglichkeiten
zeigen, wie dagegen gekämpft werden kann.
Das steht in Verbindung mit einem anderen Punkt – nämlich der Frage, warum es dem
Neoliberalismus gelingen konnte, so einflussreich zu werden. Viele seiner Gegner neigen dazu, darin
ein Ergebnis multinationaler Verschwörungen und ideologischer Taschenspielertricks zu sehen. Die
Verschwörungen sind real genug – wenn man unter einer Verschwörung ein geheimes Treffen
interessierter Parteien versteht, um Dinge zu ihrem eigenen Vorteil zu manipulieren. Kapitalisten
haben das immer getan und werden es immer tun. Wie Adam Smith vor mehr als 200 Jahre bemerkte,
“Wer annimmt, dass Meister sich selten zusammensetzen, weiß genauso wenig von der Welt wie von
den Untertanen”.59 Aber das allein reicht nicht aus, um den Einfluss des Neoliberalismus heute zu
erklären, wenn vor nur 30 Jahren ziemlich verschiedene Lehrmeinungen gleichwertigen Einfluss in
den herrschenden Kreisen hatten.
Auch nicht besser sind Erklärungen, die von der reinen Macht der Ideen ausgehen. So spricht Pierre
Bourdieu von der “Auswirkung eines gemeinsamen Glaubens … Die Arbeit der “neuen Intellektuellen”,
die ein Klima geschaffen hat, das den Rückzug des Staates begünstigt und so die Unterwerfung unter
die Werte der Wirtschaft.”60
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 16 Marx und Antikapitalismus
Wenn man diese Dinge wirklich verstehen will, dann gibt es keine andere Wahl als zu Marx
zurückzukehren. Viele Kritiker des Kapitalismus halten sich von Marx fern, einmal wegen der
verzerrten Darstellung seines Denkens, die sich auf der Höhe des Stalinismus durchsetzte, und dann,
in bestimmten intellektuellen Kreisen, wegen des gewundenen akademischen Marxismus der 70er
Jahre. Trotzdem legte Marx den Grundstock für eine Analyse des Systems, die einen Schlüssel liefert
zum Verständnis all der unmenschlichen Merkmale, die von den Kritikern der Globalisierung und des
Neoliberalismus heute hervorgehoben werden – und zum Kampf dagegen.
Der junge Marx begann als ein liberaler demokratischer Gegner der halbfeudalen Unterdrückung, die
in den späten 1830ern und frühen 1840ern das kontinentale Europa kennzeichnete. Aber er erkannte
bald: Die neue kapitalistische Art, die Gesellschaft zu organisieren, die neben der alten Art hervortrat
und die schon auf der anderen Seite der Nordsee in England triumphiert hatte, war von eigenen
Formen der Ausbeutung und Unterdrückung gekennzeichnet. Er begann tastend nach einem
Verständnis dafür zu suchen, wie dieses neu entstehende System funktionierte und wie es bekämpft
werden konnte, ganz ähnlich wie die “Meinungsführer” von Seattle tastend nach einer Erklärung
suchen für die Probleme, die heute durch das weltweite System des globalen Kapitalismus gestellt
werden.
Sein Ausgangspunkt war die Erscheinung, die er “Entfremdung” nannte. Das was er über dieses
damals neue System zu entdecken begann, brachte ihn dazu, dessen bekannteste Verfechter kritisch
zu lesen – politische Ökonomen wie Adam Smith und David Ricardo. Er kam zu der Schlußfolgerung,
dass das System zwar den Umfang des Reichtums, den Menschen herstellen konnten, ungeheuer
steigerte, es aber der Mehrheit der Menschen den Nutzen dieses Reichtums verweigerte:
Je mehr der Arbeiter produziert, er um so weniger zu konsumieren hat, dass, je mehr Werte er schafft,
er um so wertloser, und so unwürdiger wird … Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen,
aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter.
Sie ersetzt die Arbeit durch Maschinen, aber sie wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen
Arbeit zurück und macht den anderen Teil zur Maschine. Sie produziert Geist, aber sie produziert
Blödsinn, Kretinismus für den Arbeiter. … Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich
und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht
zu Hause.61
Er arbeitet, um zu leben. Er rechnet die Arbeit nicht selbst in sein Leben ein, sie ist vielmehr Opfer
seines Lebens … Was er für sich selbst produziert, ist nicht die Seide, die er webt, nicht das Gold, das
er aus dem Bergschacht zieht, nicht der Palast, den er baut. Was er für sich selbst produziert, ist der
Arbeitslohn, und Seide, Gold, Palast lösen sich für ihn auf in ein bestimmtes Quantum von
Lebensmitteln, vielleicht in eine Baumwolljacke, in Kupfermünze und in eine Kellerwohnung. Und der
Arbeiter, der zwölf Stunden webt, spinnt, bohrt, dreht, baut, schaufelt, Steine klopft, trägt usw. – gilt
ihm dies zwölfstündige Weben, Spinnen, Bohren, Drehen, Bauen, Schaufeln, Steinklopfen als
Äußerung seines Lebens, als Leben? Umgekehrt. Das Leben fängt da für ihn an, wo diese Tätigkeit
aufhört, am Tisch, auf der Wirtshausbank, im Bett.62
Wir erkennen leicht, wie sich die Worte von Marx auf die von Naomi Klein beschriebenen jungen
Textilarbeiterinnen in Indonesien oder Zentralamerika anwenden lassen, die für einen Dollar am Tag
teure Designerkleidung nähen, die sie niemals werden kaufen können, oder auf die Menschen in
Indien, die ihr Land verlieren, weil es in die Hände der Agro-Industrie kommt und Ernten hervorbringt,
von denen sie niemals einen Teil bekommen werden, oder auf die US-Stahlarbeiter, die auf die Straße
geworfen werden, weil weltweit “zu viel” Stahl produziert wird. Aber Marx hat nicht nur einfach über
diese Zustände berichtet. Das haben auch andere vor ihm getan und noch viele mehr haben das
fortgesetzt, lange nachdem er gestorben war. Er hat außerdem in einem Vierteljahrhundert
zermürbender intellektueller Arbeit den Versuch unternommen, zu verstehen, wie das System
entstanden ist und wie es Kräfte schuf, die sich ihm entgegenstellen.
Er erkannte den Ursprung des Systems darin, dass eine Minderheit die “Produktionsmittel”
monopolisiert hatte – d.h. diejenigen Produkte vergangener Arbeit wie Werkzeuge und Ausrüstungen,
zu denen die Menschen einen Zugang haben müssen, wenn sie sich einen angemessenen
Lebensunterhalt schaffen wollen. Das führte dazu, dass die Mehrheit keine andere Wahl hatte, als ihre
Arbeit (oder genauer ihre Fähigkeit zu arbeiten, ihre “Arbeitskraft”) den Angehörigen der Minderheit
feilzubieten. Die Alternative war zu verhungern. Doch das erlaubte es den Mitgliedern der besitzenden
Minderheit, für die Arbeit weniger zu zahlen als den Wert der Waren, den die Arbeiter herstellen
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 17 konnten. Sie erhielten einen Teil der Arbeit der Arbeiter umsonst. Aus diesem “Mehrwert” stammt der
Profit, die Dividenden, die Zinsen und die Mieten.
Gleichzeitig stehen die Unternehmen, die den Mitgliedern der Minderheit gehören, miteinander in
Konkurrenz. Das führt dazu, dass jeder versucht, schneller als seine Rivalen zu expandieren. Das
geht nur, wenn die Masse des Mehrwerts, die er besitzt, ständig maximiert wird, indem seine Arbeiter
so hart wie möglich angetrieben werden. Das Ergebnis ist die Absurdität eines Wirtschaftswachstums,
das nichts mit einer Verbesserung des wirtschaftlichen Wohlergehens der großen Masse der
Menschen zu tun hat. Wie Marx es im Kapital formulierte:
Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten! Also spart, spart, d.h. rückverwandelt
möglichst großen Teil des Mehrwerts oder Mehrprodukts in Kapital! Akkumulation um der
Akkumulation, Produktion um der Produktion willen, in dieser Formel sprach die klassische Ökonomie
den historischen Beruf der Bourgeoisperiode aus.63
So entstand ein ganzes System, dass die Masse der Menschen einsperrt:
Die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter ist die Herrschaft der Sache über den Menschen,
toter Arbeit über lebendige, des Produktes über den Produzenten, da tatsächlich die Waren, die zu
Mitteln der Herrschaft über den Arbeiter werden, die Produkte des Produktionsprozesses sind ... Das
ist der Entfremdungsprozeß seiner eigenen gesellschaftlichen Arbeit?64
Die einzelnen Kapitalisten sind die menschlichen Werkzeuge, die diesen Prozess der Masse der
Menschen aufzwingen. Aber sie haben keine Wahl, wenn sie Kapitalisten bleiben wollen. Wenn sie
keine Profite machen, die denen ihrer Konkurrenten vergleichbar sind, dann werden sie aus dem
Geschäft geworfen oder von ihren Konkurrenten aufgekauft. Insofern sind die Kapitalisten genauso
Gefangene des Systems wie die Arbeiter – außer dass sie enorm privilegierte Gefangene sind.
Während “von Anfang an der Arbeiter als Opfer gegen es in einer Beziehung der Rebellion steht und
den Prozeß als Versklavung wahrnimmt”, ist der Kapitalist “im Entfremdungsprozeß verwurzelt und
erfährt in ihm seine höchste Befriedigung.”65
Die Klasse der Kapitalisten hat den Vorsitz über eine ganze Welt “entfremdeter Arbeit”, eine Welt, in
der die Produkte der menschlichen Tätigkeit ein Eigenleben bekommen und sie beherrschen. Es ist
eine Welt eines nie endenden Zwangs zur Arbeit und periodischer Arbeitslosigkeit, der Überproduktion
und des Hungers, der Vertreibung der Menschen vom Land in die Städte und der Verweigerung von
Arbeitsplätzen, wenn sie dort ankommen. Dieser Prozess hat kein Ende. Je mächtiger das Kapital
wird, desto mehr Menschen sind darauf angewiesen, für es zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu
verdienen. Jedesmal wenn sie dem Kapital ihre Fähigkeit zu arbeiten verkaufen, zieht es mehr Arbeit
aus ihnen heraus und wird noch mächtiger. Selbst wenn sie in einer vorteilhaften Lage sind und es
schaffen, eine Zeitlang höhere Löhne durchzusetzen, kommt dieser Prozess zu keinem Halt: “Ist das
Kapital rasch anwachsend, so mag der Arbeitslohn steigen; unverhältnismäßig schneller steigt der
Profit des Kapitals. Die materielle Lage des Arbeiters hat sich verbessert, aber auf Kosten seiner
gesellschaftlichen Lage.” Die Lohnarbeit ist weiterhin dabei “sich selbst die goldnen Ketten zu
schmieden, woran die Bourgeoisie sie hinter sich herschleift”.66
In einer berühmten Passage im Kommunistischen Manifest beschreiben Marx und Engels, wie sich
das System von seinen ursprünglichen Grundlagen in Westeuropa ausbreitet und die Welt
vereinnahmt:
Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über
die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen
herstellen.
Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller
Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden
der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrie sind vernichtet worden
und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, … die nicht mehr
einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und
deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden …
An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein
allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander…
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 18 Die Bourgeoisie … zwingt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente … alle
Nationen, die Produktionsweisen der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn
wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu
werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem Bilde.67
Gleichzeitig ereignete sich noch etwas Anderes in Marx’ “Gemälde”. Große Kapitalisten verdrängten
kleine Kapitalisten oder übernahmen sie. Das führte zu dem, was er “Konzentration und Zentralisation
des Kapitals” nannte. Das war ein langer, ausgedehnter Prozess, und es entstanden ständig neue
kleine Kapitalisten, insbesondere in neuen Produktionszweigen, die von den alteingesessenen
Unternehmen übersehen wurden. Aber im Verlauf der Zeit wurde die Richtung klar. Auch wenn die
prokapitalistischen Wirtschaftswissenschaftler beständig auf der Rolle der kleinen Geschäftsleute
herumreiten, wird das System zunehmend von einer Handvoll Großunternehmen beherrscht.
Das führt zu einer nie endenden Unsicherheit der Arbeiter. Wie gesichert ihr Lebensunterhalt auch zu
sein scheint, nie gibt es eine Garantie, dass der Kapitalist, der sie beschäftigt, es nicht profitabler
finden könnte, sie zu entlassen und sein Geschäft anderswo aufzumachen – oder zumindest zu
behaupten, dass er das täte, wenn die Arbeiter nicht schlechteren Arbeitsbedingungen oder
Lohnkürzungen zustimmten. Und es gibt auch keine letzte Sicherheit, dass das Unternehmen nicht
von einem Konkurrenten ausgebootet wird, der irgendwo anders entstanden ist, mit einer moderneren
Ausrüstung oder mit Arbeitern, die bereit waren, niedrigere Löhne zu akzeptieren.
Es waren nicht nur die bereits vorhandenen Arbeiter, die litten. Als das Kapital stärker wurde, gewann
es die Macht, auch all diejenigen Bereiche der Produktion zu unterwandern, die ihm zuvor nicht
unterworfen waren. Marx beschreibt im Kapital, wie der Aufstieg des Kapitalismus in jedem Stadium
zu einem Wandel der Beziehungen auf dem Land führte. Die alte Bauernschaft wurde zerstört und
wurde einerseits durch eine kleine Minderheit kapitalistischer Bauern ersetzt und auf der anderen
Seite durch eine riesige Menge Menschen, die ihren Lebensunterhalt nur verdienen konnten, indem
sie für andere arbeiteten. Er zitiert ausführlich zeitgenössische Zeugen für das, was sich in England,
Schottland und Irland auf dem Land ereignete. Die Berichte über die Entvölkerung von Dörfern, die
Zerstörung von Häusern und die Verarmung der verbleibenden Bevölkerung könnten aus Ländern der
Dritten Welt von heute stammen.68 So beschreibt er z.B., wie die Einverleibung des schottischen
Hochlands in die kapitalistische Wirtschaft einen zweifachen Prozess mit sich brachte, der das
Erscheinungsbild des Landes selbst veränderte: Zuerst die Vertreibung der Kleinbauern, um die
Felder in Schafweiden umzuwandeln, und dann die Ersetzung der Schafe durch Rehe und Hirsche,
als man es zuließ, dass sich Wälder auf dem zuvor produktiven Land ausdehnten.69
Aber Marx betonte noch etwas Anderes. Die Welt der entfremdeten Arbeit ist nicht statisch. Die
fortgesetzte Akkumulation vergangener Arbeit und die fortgesetzte Ausdehnung der Produktion
bedeuten, dass mehr Reichtum als jemals in der menschlichen Geschichte zuvor produziert wird:
Die Bourgoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere
Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der
Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt,
Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der
Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert
ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.70
Doch ein solches Anwachsen des Reichtums dient jedes Mal, diejenigen weiter zu unterdrücken,
deren Arbeit ihn geschaffen hatte. Wie Marx es formulierte ähnelte “menschlicher Fortschritt … jenem
scheußlichen heidnischen Götzen, … der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken
wollte.”71
Aber es gibt die Möglichkeit, die Kontrolle dieses Reichtums zu übernehmen und die Produktion so zu
reorganisieren, dass die Bedürfnisse der Menschen in einer Art befriedigt werden können, von der
man in der Vergangenheit nur träumen konnte. Die kapitalistische Akkumulation ist der äußerste
Ausdruck menschlicher Entfremdung, aber sie bereitet auch den Boden für eine revolutionäre
Überwindung der Entfremdung, für die Schaffung einer Gesellschaft, die Schluss macht mit Not und
Elend, die mindestens seit der Jungsteinzeit das Los des größten Teils der Menschheit gewesen sind.
Marxismus und das 20. Jahrhundert
Marx starb Anfang der 1880er-Jahre. Er hatte deshalb nur wenig Gelegenheit zu sehen, wie die
Tendenzen, die er beschrieb – wobei er sich hauptsächlich auf die Entwicklung des britischen
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 19 Kapitalismus stützte – sich mit der Zeit entfalteten. Aber die Generation von Marxisten, die im ersten
Drittel des 20. Jahrhunderts schrieb, war dazu in der Lage. Der Österreicher Rudolf Hilferding
beschrieb die wachsende Rolle, die Finanzinstitutionen wie Banken und Börsen spielten, wie damit
eine zunehmende Verbindung zwischen den Unternehmen innerhalb eines jeden Landes und dem
Staat entstand und das “Finanzkapital” hervorgebracht wurde.72 Rosa Luxemburg beschrieb, wie die
Kapitalisten Europas und der USA den Rest der Welt nach Märkten und Rohstoffen durchforsteten,
indem sie alle anderen Länder zu Kolonien und Vasallen degradierten und dabei deren Bevölkerung
aussaugten.73 Nikolai Bucharin und Wladimir Lenin analysierten die Entstehung des
,staatsmonopolistischen Kapitalismus’. Sie richteten die Aufmerksamkeit darauf, dass in jedem Land
in wachsendem Maße die kapitalistischen Unternehmen mit dem Staat verschmolzen, dass sich auf
diese Weise Imperien bildeten, um die Profite, die durch ,friedlichen Wettbewerb’ erzielt werden
konnten, zu ergänzen. Das unvermeidliche Ergebnis dieser Entwicklung waren Kriege zwischen den
Großmächten zur Neuaufteilung der Welt. Leo Trotzki zeigte, wie angesichts der großen
wirtschaftlichen Krisen und der Bedrohung durch die Arbeiterbewegungen die herrschenden Klassen
bereit waren, sich an die Führer der kleinbürgerlichen faschistischen Massenbewegungen zu wenden,
weil sie darin ein Mittel sahen, ihre Machtstellung aufrechtzuerhalten, auch wenn das ein noch nie
gekanntes Ausmaß an Unmenschlichkeit zur Folge hatte.
Die Welt, die von Hilferding, Luxemburg, Bucharin, Lenin und Trotzki analysiert wurde, war in vieler
Hinsicht sehr verschieden von der, die Marx beschrieben hatte. Staat und Krieg, die in den
ökonomischen Schriften von Marx kaum erwähnt werden, spielten eine gewaltige Rolle. So auch die
Beeinflussung der Preise durch Monopole, die Handelsverträge zwischen Nationalstaaten, die
Machenschaften der Finanzleute auf den Geld- und Warenmärkten. Und schließlich war das System,
welches zu Marx’ Zeiten fast nur in Europa und Nordamerika eine Grundlage hatte, nun dabei, die
ganze Welt in sein Netzwerk von Kauf und Verkauf und zunehmend auch der Produktion einzubinden.
Aber es gab ein wichtiges Element der Kontinuität. Treibende Kraft des Systems als Ganzes blieb das
Herauspumpen von Arbeit aus Arbeitern und ihre Umwandlung in Kapital, in “tote Arbeit”. Dessen
Zirkulation im Weltmaßstab bestimmte weiterhin die Grenzen, in denen die große Masse der
Weltbevölkerung ihr Leben führen musste. Es war der Konkurrenzkampf zwischen denjenigen, die
diese großen Anhäufungen toter Arbeit kontrollierten, der zum Ersten Weltkrieg und zur
Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre führte.
Der Höhepunkt der Staatsintervention
Der starke Trend, der von Hilferding, Luxemburg, Lenin und den anderen festgestellt wurde – die
zunehmende Integration von Industriemanagement und Staat – setzte sich während des Zweiten
Weltkriegs und danach beschleunigt fort. Angesichts von Krieg und Wirtschaftskrise griffen Staaten
ein, um nationale Unternehmen zu fusionieren und ihre Arbeitsweise mit der der staatlichen
Bürokratien zu koordinieren. Das faschistische Italien, Nazi-Deutschland und bei Ausbruch des
Krieges auch Großbritannien und die USA folgten diesem Weg. Auch schwächere kapitalistische
Klassen anderswo taten das. Sie spürten, dass sie gegen ihre internationalen Konkurrenten nur
bestehen konnten, wenn sie den Staat zur Mobilisierung von Ressourcen benutzten: Länder, die so
unterschiedlich waren wie das rechte Regime in Polen, das populistische Regime in Brasilien, die
peronistische Regierung in Argentinien, alle bekannten sich zu Verstaatlichungen und oft zu einem
gewissen Maß an “Planung”. Viele gerade unabhängig gewordene Länder der Dritten Welt schlugen in
den Jahrzehnten nach dem Krieg den gleichen Weg ein. Und sogar in Ländern wie Großbritannien
und Frankreich befanden sich wichtige Teile der produktiven Industrie, des Transportwesens, Wasser
und Energie unter staatlicher Regie. Es war die konservative Regierung von Chamberlain, die
Großbritanniens Fluggesellschaften verstaatlichte, und es war die Regierung de Gaulle, die in
Frankreich Renault verstaatlichte.
Dieser Zusammenhang ermöglicht uns, ein anderes wichtiges Merkmal der Welt in diesen
Jahrzehnten zu verstehen – den Stalinismus. Es war in der Linken üblich, den Stalinismus als eine
Form des Sozialismus zu betrachten, wenngleich mehr oder weniger entstellt. Jetzt ist es geradezu
modern, ihn als eine Gesellschaftsform zu betrachten, die sich radikal vom Kapitalismus
unterscheidet, aber schlechter ist. Der Stalinismus wird jedoch erst besser verständlich, wenn man ihn
als ein Extrem in einer Bandbreite zunehmender Verstaatlichung von Ökonomien ansieht, die allesamt
wie der altmodische Kapitalismus aus Marx’ Zeit den Zwängen der konkurrierenden Akkumulation
untergeordnet sind. Der Stalinismus war die extremste Form des Staatskapitalismus.
Die stalinistische Wirtschaft kam nicht in den frühen 1920ern auf, unmittelbar nach der russischen
Revolution, sondern in den späten 1920ern, als eine neue Ausbeuterklasse auf dem Rücken der
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 20 Konterrevolution entstand. Eine solche Klasse konnte ihre Stellung in einer Welt, die von großen
bestehenden kapitalistischen Klassen beherrscht wurde, nur aufrecht erhalten, wenn sie versuchte, zu
industrialisieren, um die anderen einzuholen. Stalin tat das, indem er innerhalb Rußlands viele der
Methoden nachahmte, die mehr als ein Jahrhundert zuvor in der englischen industriellen Revolution
benutzt wurden – die Vertreibung der Bauern vom Land, das Niederhalten der Reallöhne, den Einsatz
von Kinderarbeit, die Einrichtung eines riesigen Zwangsarbeitsystems in den Gulags. Und all diese
Dinge wurden, wie in so vielen anderen industriell unterentwickelten Ländern, vom Vertrauen
begleitet, dass der Staat eine Aufgabe durchführen würde, die private Unternehmer nicht wollten oder
nicht könnten.
Der Staat war vom Anfang der 1930er bis zur Mitte der 1970er praktisch überall zentral für den
produktiven Kern des Kapitalismus. Die Lehrmeinungen, die diese Rolle rechtfertigten, unterschieden
sich vom einem zum anderen Teil der Welt. Im Westen war die Wichtigste der Keynesianismus,
benannt nach dem Ökonomen John Maynard Keynes, der nach der großen Krise Anfang der 1930er
spürte, dass der einzige Weg, den Kapitalismus über Wasser zu halten, in der Staatsintervention
bestand. Im russischen Block – und unter denjenigen, die im Westen und in der Dritten Welt seine
Methoden bewunderten – herrschte die stalinistische Lehrmeinung vor, auch wenn sie nach 1956
verschiedene Namen erhielt. In der Dritten Welt herrschten “entwicklungstheoretische” Auffassungen
vor, nach denen die Industrialisierung mit Hilfe des Staates erreicht werden sollte, der ausländische
Konkurrenz ausschaltet und neue Industrien aufbaut.
Unabhängig von den verwendeten Lehrmeinungen gab es in der von jedem Land verfolgten Politik
einen gemeinsamen roten Faden. Unternehmen vertrauten auf den Staat, um ihrem Absatz eine
gewisse Stabilität zu verschaffen, während die Staaten auf Unternehmen vertrauten, um ihre nationale
industrielle Stärke aufzubauen. Dies in der Erwartung – zumindest in den größeren Ländern –
innerhalb der nationalen Grenzen die ganze Breite der Industrien zu haben, die nötig sind, um den
Bedarf einer modernen Wirtschaft zu decken.
In dieser Periode setzten alle, die den Kapitalismus reformieren, aber eine durchgreifende Revolution
vermeiden wollten, auf eine Intervention des Staates, um ihre Ziele zu erreichen. In den
fortgeschrittenen Ländern sagten die Keynesianer, dass eine solche Reform den Kapitalismus vor sich
selbst retten könne, und Sozialdemokraten sagten, damit könne die Notwendigkeit eines scharfen
Wechsels zum Sozialismus entfallen. In der Dritten Welt sahen Kommunisten, Sozialdemokraten,
populistische Politiker und kleinbürgerliche Intellektuelle in einer derartigen Intervention das Mittel,
welches es der einheimischen Ausbeuterklasse, Arbeitern und Bauern ermöglichte, sich miteinander
zu verbünden, um den wirtschaftlichen Zugriff der imperialistischen Mächte zu brechen und
wirtschaftliches Wachstum zu erreichen. Erst wenn das geschehen wäre, sollten die Arbeiter selbst
um die Macht kämpfen. Diejenigen der heutigen Aktivisten, die in der Erosion der Staatsmacht durch
die “Globalisierung” der Wirtschaft das zentrale Problem sehen, sehnen sich nach der Rückkehr zu
solchen Ideen.
Doch diese Sicht des Staates als einer gutwilligen Agentur zur Lenkung des Kapitalismus beruht auf
einer sehr kurzsichtigen Vorstellung davon, was dieser Staat ist. Er gründet sich auf “Formationen
bewaffneter Menschen”, deren Job das Töten ist. Die Ära der staatlichen Leitung der Industrie war
keine Zeit, in der die Bevölkerung gütig behandelt wurde. Es war der Zeitraum, in dem das
einprägsame Bild den Arbeiter als Anhängsel der Maschine darstellte, wie in Charly Chaplins
“Moderne Zeiten” oder auf Diego Riveras Wandbildern in Detroit. Dieser Zeitraum umfaßte die
Naziherrschaft in Deutschland und den äußersten Schrecken des Holocaust, das Verhungern von
ungefähr vier Millionen Menschen Anfang der 1940er Jahre im von Großbritannien regierten
Bengalen, die französischen Kolonialkriege in Indochina und Algerien, den Krieg der USA gegen
Vietnam. Er umfaßte auch die Schrecken, die mit der stalinistischen Zwangsindustrialisierung in der
früheren UdSSR verbunden sind. Es war die Zeit, in der Lateinamerika fast ausschließlich von
Militärdiktaturen beherrscht wurde, wie die am Ende der 1960er Jahre in Brasilien, und in der von
1958 bis 1960 mit dem “Großen Sprung nach vorn” eine sofortige Industrialisierung in China versucht
wurde, was zu vielen Millionen Hungertoten führte.
Der Kapitalismus beherrschte während dieser Phase die Welt, genauso wie er es vorher getan hat
und nachher tun sollte. Und mit dieser Herrschaft gingen Schrecken einher, wie sie die gesamte
vorherigen Geschichte der Menschheit nicht kannte. Jeder, der auf diese Periode des Kapitalismus
mit Nostalgie zurückblickt, läßt zu, dass die heute bestehenden Schrecken die Erinnerung an die
Schrecken, die gerade ein paar Jahrzehnte zurückliegen, verdrängt.
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 21 Es ist wahr, dass nach dem Zweiten Weltkrieg das System 30 Jahre lang in der Lage war, ein
beträchtliches Wachstum zu erleben, und dass während dieser Jahre ein Teil der Weltbevölkerung
ihren Herren Verbesserungen des Lebensstandards abringen konnte. Aber auch zu dieser Zeit
bestand der Motor des Wachstums nicht in der Gutwilligkeit oder Vernunft der Herrscher. Es war
vielmehr der Kalte Krieg, der weltweit die Rüstungsausgaben auf eine in Friedenszeiten vorher nicht
bekannte Höhe trieb.74 Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges Anfang der 1950er ging etwa ein
Fünftel des Reichtums, der im reichsten Land der Welt, den USA, produziert wurde, direkt oder
indirekt in den Militärhaushalt, und beim ärmeren militärischen Konkurrenten, der UdSSR,
wahrscheinlich ein doppelt so hoher Anteil.
Unterdessen wirkte sich weiterhin die alte Logik des Kapitalismus aus. Großunternehmen
übernahmen weiterhin kleinere Unternehmen oder drängten sie aus dem Geschäft, bis in den meisten
Ländern einige wenige “Oligopole” die wichtigsten Branchen der Wirtschaft dominierten. In
Großbritannien z.B. stellten etwa 200 Unternehmen, die insgesamt von vielleicht 600 bis 800
Direktoren geleitet wurden, mehr als die Hälfte der gesamten Produktion her. Und auf dem Land
entwickelte sich der Großteil der Welt-Landwirtschaft zunehmend nach dem Muster, das zuerst in
Großbritannien entstand – mit Masseneinwanderungen in die Städte und Vertreibungen der Bauern,
die ihr eigenen Stück Land bearbeiteten, durch eine kapitalistische Landwirtschaft, die Lohnarbeiter
beschäftigte.
Die Entwicklung ging in Europa und Nordamerika am weitesten; hier verringerte sich die Zahl der in
der Landwirtschaft Beschäftigten in Ländern wie Frankreich, Italien, Irland oder Spanien von mehr als
30-40 Prozent der Bevölkerung Anfang der 1950er auf gut unter 20 Prozent Mitte der 1970er. Aber
dieser Prozess entwickelte sich auch in vielen ehemaligen kolonialen Ländern, lange bevor jemand
von ,Globalisierung’ sprach. In Indien z.B. kam in Regionen wie dem Punjab der fruchtbarste Boden in
wachsendem Maße in die Hände mittelgroßer kapitalistischer Landwirte, die Lohnarbeiter
beschäftigen – und die sich die neue Art von Saatgut, Rohrbrunnen und Dünger, die mit der ,Grünen
Revolution’ kamen, leisten konnten. In Algerien war eine neu geschaffene Mittelklasse kapitalistischer
Landwirte, nicht die ländlichen Armen, die Hauptnutznießerin der Landreform, die nach dem Ende der
französischen Herrschaft durchgeführt wurde. Überall gestaltete der Kapitalismus die Gesellschaft
nach seinem eigenen Bilde um.
Die Geburt des Neoliberalismus
Mitte der 1970er endete das Stadium der schnellen wirtschaftlichen Expansion plötzlich. Was
Wirtschaftshistoriker als das ,Goldene Zeitalter des Kapitalismus’ bezeichnen, wich dem ,bleiernen
Zeitalter’. Land für Land erlebte eine Folge von traumatischen wirtschaftlichen Krisen. Und alle
Lehrmeinungen, die mit dem vorangegangenen Zeitalter in Verbindung gebracht wurden – der
Keynesianismus, der Stalinismus und die Entwicklungstheorie – wurden beiseite gelegt. Das war der
Zeitpunkt, an dem die herrschenden Klassen und die mit ihnen verbundenen Intellektuellen plötzlich
massenhaft zu denjenigen Lehrmeinungen übergingen, die anfänglich allgemein als Monetarismus
bekannt waren, dann als ,Thatcherismus’ oder als ,Reaganomics’ und jetzt als Neoliberalismus.
Diese Übertritte waren nicht, wie Bourdieu anzunehmen scheint, einfach das Ergebnis einer
mühsamen Wühlarbeit der Apostel des Neoliberalismus. Vielmehr spiegeln sie die verzweifelten
Versuche verschiedener Gruppen wider, die im vorhergehenden Zeitraum für das Funktionieren der
Wirtschaft verantwortlich waren und davon einen Vorteil hatten. Vor dem Hintergrund aufeinander
folgender Krisen versuchten sie so, ihr Interesse dem Rest der Gesellschaft weiterhin aufzuzwingen.
Die erste dieser Gruppen waren die Spitzen der weltgrößten Unternehmen. Nach Jahrzehnten eines
beinahe mühelosen Wachstum der Märkte wurde es plötzlich notwendig, ihre Tätigkeiten
umzustrukturieren und neue Profitquellen zu finden.
Eine Re- oder Umstrukturierung bedeutete sowohl “Rationalisierung” der Produktion – die Entlassung
von Arbeitern und die Schließung von Betrieben – als auch die Grenzen der im nationalen Rahmen
geschaffenen Basis zu überschreiten. Üblicherweise bedeutete dies, das Eindringen in fremde Märkte
gezielt zu verstärken und, etwas langsamer, damit zu beginnen, die Produktion über internationale
Grenzen hinweg zu organisieren (wenn auch nicht immer: für Chrysler und British Leyland z.B. hieß
Rationalisierung, sich aus Auslandstätigkeiten zurückzuziehen).
Neue Profite konnten nur durch das Auffinden von bisher noch nicht erschlossen Mehrwertquellen
erzielt werden. Eine dieser Quellen lag in Industrien und Dienstleistungen, die in der Vergangenheit
vom Staat aufgebaut worden waren, weil das private Kapital diese Arbeiten nicht übernehmen wollte,
auch wenn sie unmittelbar oder mittelbar für seine Tätigkeiten notwendig waren. Was davon
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 22 inzwischen zu einem lebensfähigen Geschäft geworden war, wurde als lukrativer Zusatz zum Profit
übernommen – insbesondere, wenn es Monopolgeschäfte waren, die es dem privaten Kapital
ermöglichten, in Wirklichkeit eine Steuer von denjenigen zu erheben, die ihre Produkte verbrauchten.
Eine andere Quelle bestand darin, sich mittels Handels- und Schuldenverhandlungen Ressourcen aus
den Wirtschaften schwächerer Staaten der Welt anzueignen, wobei man sich auf die Macht der
größten Staaten der Welt, insbesondere der USA, stützen konnte. Und schließlich konnten überall die
Gewinne nach Steuern gesteigert werden, wenn man die Steuerbelastung von den Gewinnen zu den
Löhnen und Konsumgütern verschob.
Obwohl sich der Neoliberalismus als Ideologie gegen Staatseingriffe stellt, hing die praktische
Durchführung dieser Politik immer vom Staat ab – oder zumindest von Verhandlungen zwischen den
mächtigsten Staaten der Welt. Das ist der Grund, warum ihre Umsetzung durch internationale
Handelskonferenzen keineswegs sanft war. Die Financial Times sorgt sich immer noch, dass etwas so
ausgesprochen Unbedeutendes wie der Streit zwischen Europa und den USA über die
Bananenimporte zu “transatlantischen Vergeltungsmaßnahmen eskalieren könnten, mit denen die
schon entkräftete WTO in die Knie gezwungen würde.”75 Es gibt vergleichbar schwer zu
handhabende Auseinandersetzungen über die Frage, welche Vorkehrungen der IWF für ein Eingreifen
bei zukünftigen internationalen Finanzkrisen wie der von 1997 in Asien treffen sollte.76 Die
“Theoretiker” des Neoliberalismus haben selbst keine einfachen Antworten für diese Konflikte. Denn
obwohl ihr Glaube die Nichteinmischung durch den Staat predigt, ist es eine Ideologie, in der sich die
Bedürfnisse der staatlich-industriellen Komplexe der USA, der europäischen Mächte und Japans mit
ihren Zusammenstößen untereinander und mit den kleineren Staaten der Welt widerspiegeln.
Die zweite Gruppe, die mit fliegenden Fahnen zum Neoliberalismus überging, waren die Regierenden.
Während der Vollbeschäftigung des langen Aufschwungs waren sie gezwungen gewesen, die Arbeiter
zufrieden zu stellen, indem sie verschiedene soziale Leistungen und Dienste zugestanden. Der
“Sozialstaat” hatte sich als Anhängsel der wesentlichen staatlichen Institutionen, die auf Formationen
bewaffneter Menschen, Massenvernichtungswaffen, Gefängnisse, Gerichte usw. gründen, entwickelt.
So lange die wirtschaftliche Expansion zu wachsenden Profiten führte, waren die kapitalistischen
Interessen bereit, das Sozialsystem als bedauerliche Notwendigkeit zu ertragen. Aber als die Profite
einmal zu sinken begannen, wandten sie jede Form von Druck an, um es wieder zu beschneiden. Die
Regierenden waren in der Zwickmühle. Sie wagten nicht, diesem Druck zu widerstehen – wo man es
versuchte, kam es zu Zahlungsbilanzkrisen, zu massiven Devisenverschiebungen über die Grenzen,
bis hin zu drohendem nationalen Bankrott. Aber sie konnten auch nicht einfach das Sozialsystem
niederreißen, denn damit wären ungeheure soziale Unruhen provoziert worden. Was sie tun konnten,
war Konkurrenzmechanismen einzusetzen, um Einzahler und Bezieher von Sozialleistungen
gegeneinander auszuspielen. So gelang es, die Ausgaben sowohl für Löhne wie für Soziales zu
kürzen.
In einigen Fällen bedeutete das Privatisierung und einen völligen “Rückzug des Staates” aus der
Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen. Oft wurde aber auch die selben Ziele mit anderen Mitteln
verfolgt: Ausgabenbegrenzungen bei staatlichen Einrichtungen, Budgetkürzungen bei städtischen
Behörden oder Bildungseinrichtungen bei gleichzeitiger Steigerung des Umfangs der Aufgaben,
Einführung von “internen” Marktmechanismen in staatlichen Strukturen (wie z.B. im britischen
Gesundheitswesen NHS und im Schulsystem). In diesen Fällen zog sich der Staat nicht zurück. Er
zielte allerdings darauf ab, die Profitabilität der Kapitalisten, die in seinem Staatsgebiet tätig waren, zu
verbessern, indem der Druck auf die Masse der Menschen erhöht wurde.
Privatisierung hat für diejenigen, die den Staat lenken, einen weiteren Vorteil. Sie können sie ähnlich
einsetzen, wie früher bei der Vergabe von Konzessionen an private Steuereintreiber. Der Staat kann
für die laufende Bereitstellung von bestimmten Dienstleistungen zahlen, indem er privaten
Unternehmen das Recht verkauft, zukünftige Erträge einzunehmen (vor kurzem ist das geschehen mit
der “Versteigerung” der Mobiltelefon-Frequenzen (UMTS-Lizenz): die britische Regierung hat ca. 20
Milliarden £, die deutsche Regierung etwa 100 Milliarden DM zusammen bekommen, indem privaten
Konzernen das Recht gegeben wurde, Monopolpreise – tatsächlich also Steuern – bei denjenigen zu
erheben, die diese Telefone in der Zukunft benutzen).
Die dritte Gruppe, die zum Neoliberalismus übertrat, waren die herrschenden Klassen außerhalb der
fortgeschrittenen Industrieländer. Von den 40er- bis in die 70er-Jahre hatten viele versucht, durch
mehr oder weniger Staatskapitalismus die Industrie unter ihrer eigenen Kontrolle aufzubauen. Das war
eine schwierige Sache, selbst während der Jahre des weltweiten Booms, und die Bevölkerungen
hatten dafür oft einen sehr hohen Preis zu zahlen. Das Ende des Booms und die
aufeinanderfolgenden wirtschaftlichen Krisen Mitte der 1970er-, Anfang der 1980er- und Anfang der
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 23 1990er-Jahre weihten solche Anstrengungen dem Untergang. Regierende, die sich bisher zu
staatskapitalistischer “Planung” bekannt hatten, wechselten früher oder später zu Versuchen, sich in
den Weltmarkt zu integrieren. Das begann in Ägypten, Polen, Ungarn und Jugoslawien Mitte der
1970er, in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern und in Indien in den 1980ern, im ganzen
früheren sowjetischen Block und in großen Teilen Afrikas in den 1990ern. Diejenigen, die für die
staatlich geschützten oder staatlich geführten Industrien verantwortlich waren, kamen mit ihren
Freunden in den staatlichen Bürokratien überein, die nahezu monopolistische Beherrschung der
einheimischen Wirtschaft zugunsten der größeren persönlichen Belohnung, Juniorpartner des einen
oder anderen Teils des multinationalen Kapitals zu werden, aufzugeben.
Es war Sadat, der als Mitglied der Gruppe der “Freien Offiziere” Nassers Verstaatlichung in den
1950ern und 1960ern mitgetragen hatte, der Ägypten Mitte der 1970er dem Markt öffnete. In Indien
begann dieselbe Kongresspartei, die in den 1960ern staatliche Kontrolle gepredigt hatte, Ende der
1980er-Jahre mit der Zerstörung dieser Kontrolle. In China ergriff Deng Xiaoping, der Anfang der
1950er geholfen hatte, die monolithische staatskapitalistische Wirtschaft einzuführen, Ende der
1970er und in den 1980er die Initiative zur Hinwendung zum Markt und dann zu den westlichen Multis.
Susan George hat angemerkt, dass die herrschenden Klassen der Dritten Welt bei der Anwendung
der Strukturanpassungsprogramme des IWF/der Weltbank sehr zufrieden waren:
Reiche und einflußreiche Leute in den Schuldnerländern sind nicht notwendigerweise unglücklich über
die Art, wie mit dieser Krise umgegangen wurde. Die strukturelle Anpassung hat die Arbeiterlöhne
nach unten gedrückt und Gesetze bezüglich Arbeitsbedingungen, Gesundheit, Sicherheit und Umwelt
können, so wie sind, leicht verspottet werden ….Nachdem sie weitgehend den mit der Verschuldung
verbundenen Schwierigkeiten entkommen sind, streben sie danach, zur zunehmend globalisierten
Elite zu gehören, um auf denselben Plätzen wie ihre Gegenspieler in New York, Paris oder London zu
spielen.77
In Ländern wie Indien oder Mexiko beginnen bestimmte Unternehmen, die sich in den vergangenen
20 Jahren in geschützten Märkten aufgebaut haben, sich in selbständige multinationale Unternehmen
umzuwandeln. Sie sind zwar nicht so groß wie General Motors, Microsoft oder Monsanto, aber ihre
Bestrebungen gehen in dieselbe Richtung.
Die letzte Gruppe, die neoliberale Lehrmeinungen annahm, waren viele der Intellektuellen, die zuvor
an staatlich gelenkte Reformen innerhalb nationaler Wirtschaften geglaubt hatten. In Großbritannien
waren viele Mitglieder der gegenwärtigen Regierung, die so eifrig Privatisierungen durchdrücken, in
den späten 1970ern und frühen 1980ern genauso enthusiastisch für eine “alternative
Wirtschaftspolitik” auf der Grundlage von Staatsintervention und Importkontrollen. Genauso
enthusiastisch war zu dieser Zeit Marxism Today, eine Gruppe von Intellektuellen, die der
Kommunistischen Partei nahe standen. Diese bereitete damit, dass sie die Vorzüge des Marktes und
der Designermode entdeckte, den ideologischen Boden für die Ideen Blairs.
Petras und Morley haben berichtet, wie eine sehr große Zahl lateinamerikanischer Intellektueller von
der staatsgläubigen “Entwicklungstheorie” der 1970er auf den Neoliberalismus der 1990er
umschalteten. Dabei machten sie aufmerksam auf eine “sichtbare Rechtswendung vieler linker
(sozialdemokratischer, populistischer, sozialistischer) Parteien und ihrer intellektuellen Ideologen – die
letzteren in erster Linie ex-marxistische Intellektuelle der 1960er”.78
In Teilen der Welt findet dieses Umschalten von Intellektuellen und einstmals radikalen Politikern
immer noch statt. In Südafrika hat die ANC-Regierung die Großkonzerne und die Privatisierungen für
sich entdeckt. Erst kürzlich hat mir ein sudanesischer Kommunist die Stellungnahme eines seiner
Parteiführer gezeigt, in der argumentiert wird, dass allein durch exportorientierte Marktpolitik
“Entwicklung” erreicht werden kann. Zu dieser Frage sagt Vandana Shiva völlig richtig: “Die Mächtigen
dieser Welt – in der Regierung, der Politik, den Medien und der Wirtschaft – treten als globales
Bündnis auf, das Nord-Süd-Spaltungen überwindet.”79
Zwei oder drei Generationen kleinbürgerlicher Intellektueller haben darauf gehofft, dass der Staat den
Kapitalismus in eine Form reformieren würde, die wirtschaftliches Wachstum auf der Grundlage eines
“nationalen Konsens” zwischen den verschiedenen Klassen möglich machen würde (selbst wenn in
der Dritten Welt gesagt wurde, dass dies nur einen Teil, nicht die ganze Bourgeoisie umfassen
würde). Als deutlich wurde, dass dieses Programm nicht länger funktionieren würde, wendeten sich
die meisten – so wie die Herrschenden – einem anderen Modell zu, welches auf Markt und Öffnung
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 24 gegenüber internationalem Kapital basierte. Sie waren nicht Opfer der Verschwörung der
multinationalen Konzerne, sondern begeisterte Teilnehmer.
Solche Intellektuelle erfüllten eine wertvolle Funktion für die Klassen, die in den 1980ern und frühen
1990ern aus dem Neoliberalismus Nutzen zogen. Sie verschafften nicht nur dem letzten Stadium
einer Tendenz, die so alt ist wie der Kapitalismus selbst, dass sich nämlich das System über nationale
Grenzen hinweg ausdehnt, eine Rechtfertigung. Sie rührten auch die Trommel für Angriffe auf die
Verbesserungen bei Löhnen, Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen, die diejenigen, die für das
Kapital arbeiteten, im “Goldenen Zeitalter” von Mitte der 1940er bis Mitte der 1970er erreicht hatten.
Die Bedeutung der neuen Welle von Kritikern des Neoliberalismus liegt in der Art und Weise, wie sie
ein irreführendes Argument nach dem andern zurückgewiesen haben, das diese Intellektuellen in die
Welt gesetzt hatten. Es ist ihr großer Verdienst, dass sie sehen, was so falsch ist am Neoliberalismus,
selbst wenn sie sich nicht klar sind, woher er kommt und wofür er steht. Sie erkennen, dass hinter
dem Gerede über “Globalisierung” die Wirklichkeit eines Systems liegt, das in der ganzen Welt
Verwüstungen hinterläßt. Doch ihre Unfähigkeit, seine Wurzeln genauer zu bestimmen, läßt sie
widersprüchliche Standpunkte einnehmen, wenn es darum geht, eine Alternative aufzustellen.
Grenzen und Widersprüche
Die Organisation des Handels, die Finanzflüsse und die Schuldenlast sind einzelne Merkmale des
umfassenderen Systems. Wenn man versucht, ein einzelnes dieser Merkmale isoliert zu bekämpfen,
können die Herrscher dieses Systems sich oftmals leicht herauswinden – oder gar die Schrecken von
einer Gruppe von Opfern zu einer anderen umlenken.
Das zeigt sich an den Debatten über “fairen Handel” und Kinderarbeit. Niedriglöhne und Kinderarbeit
in Ländern der Dritten Welt (oder auch der Ersten Welt) zu dulden, bedeutet, den großen und kleinen
Arbeitgebern zuzugestehen, dass sie das Leben von Menschen ruinieren, indem sie die Ausbeutung
bis an die äußerste Grenze steigern. Aber wenn man nur um diese Fragen kämpft, bleiben die
Bedingungen, die arme Menschen in die Hände solcher Arbeitgeber treiben, unangetastet. Die Armut
in großen Teilen Afrikas, Lateinamerikas, Asiens und des früheren Ostblocks besteht weiter, ob mit
oder ohne Kinderarbeit und Niedriglöhne. Sie kann mit Kampagnen bekämpft werden, die sich auf
diese Fragen beschränken. Kleine Siege gegen Kinderarbeit und Niedriglöhne machen nur Sinn,
wenn sie ein Sprungbrett zu größeren Kämpfen und größeren Siegen darstellen.
Dasselbe gilt für Kämpfe, mit denen Arbeitgeber daran gehindert werden sollen, Fabriken zu
schließen und die Produktion irgendwohin zu verlagern, wo sie niedrigere Löhnen zahlen können.
Solche Kämpfe nicht zu führen bedeutet, Teilen des Kapitals freie Hand zu lassen, mit einer globalen
Strategie der “verbrannten Erde” in einem Teil der Welt nach dem anderen das Leben von Menschen
zu zerstören, auf der niemals endenden Jagd nach Profit. Aber sich auf solche Kämpfe zu
beschränken bedeutet bestenfalls, eine Atempause zu gewinnen, und schlimmstenfalls, wie so viele
Gewerkschaftsführer und Kommunalpolitiker dabei zu enden, dass man den Staat anbettelt, damit er
die Firmen mit Bestechung zum Bleiben bewegt. Währenddessen verschwindet allerdings nicht die
Armut, die anderswo die Menschen zwingt, für niedrigere Löhne zu arbeiten. Nur eine Strategie, die
sich der Macht des Kapitals weltweit entgegenstellt, anstatt bloß seine Bewegungsfreiheit
einzuschränken, kann mit diesem Problem fertig werden.
Die Debatten, die in den Schuldenkampagnen aufkommen, haben einen ganz ähnlichen Ursprung.
Nicht gegen die Schuldenlast aufzutreten, heißt, sich zum Komplizen der Ausplünderung der ärmsten
Völker der Welt durch die reichsten Banken zu machen. Sich allein auf dieses Thema zu
beschränken, bedeutet, alle anderen Ursachen der Armut in der Dritten Welt auf sich beruhen zu
lassen. Vor allem heißt es, die Ressourcen in den Händen der großen Konzerne und herrschenden
Klassen der entwickelten Länder zu belassen – jene Ressourcen, die benötigt werden, damit man
überhaupt beginnen kann die Probleme zu überwinden, ohne den Arbeitern, Bauern und
eingeborenen Völkern der Dritten Welt unermessliches Leid und der Umwelt gewaltigen Schaden
zuzufügen.
Eine Forderung, die von vielen Aktivisten erhoben wird, ist die “Tobin-Steuer” auf Finanztransaktionen
über nationale Grenzen hinweg. Das ist die zentrale Forderung von ATTAC in Frankreich. Die Idee
wurde vor 22 Jahren von dem US-Wirtschaftswissenschaftler James Tobin entwickelt. Er behauptet,
eine Steuer von nur 0,5 Prozent auf solche Transaktionen würde die Finanzleute davon abhalten,
gegen schwache Währungen zu spekulieren, und damit die Fähigkeit der Regierungen stärken, ihre
nationale Wirtschaft zu stabilisieren. Dieses Argument ist immerhin so ernsthaft, dass Anthony
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 25 Giddens daran Gefallen gefunden hat, und dass es die sozialdemokratischen Fraktion im
Europaparlament in zwei gleich große Lager spalten konnte. Gleichzeitig sehen viele Aktivisten darin
eine radikale Lösung für die Probleme, die sie mit der Globalisierung verbinden. Robin Round
schreibt:
Die internationale Finanzwelt ist ein globales Casino geworden, wo Investoren rund um die Uhr hohe
Summen einsetzen, um schnellen Profit zu machen. Anders als Investoren in Güter und
Dienstleistungen machen die Spekulanten ihr Geld allein aus Geld. Keine Jobs werden geschaffen,
keine Dienste geleistet, keine Fabriken gebaut … Das Spiel hat weitreichende Folgen für die Verlierer
… wie die Finanzkrisen in Mexiko, Südostasien, Rußland und Brasilien deutlich gemacht haben …
Indem diese Krisen weniger wahrscheinlich würden, würde die Steuer helfen, die Verwüstung zu
vermeiden, die einer Finanzkrise auf dem Fuß folgt. Sie wäre auch eine bedeutende globale
Einnahmequelle … Vorsichtige Schätzungen zeigen, dass die Steuer zwischen 150 und 300 Mrd.
Dollar jährlich einbringen könnte. Die UN schätzt, dass die Beseitigung der schlimmsten Formen von
Armut und Umweltzerstörung weltweit ungefähr 225 Mrd. $ kosten würde.80
Jeder Versuch, Regierungen dazu zu bringen, die Steuerlast von Armen zu Reichen zu verlagern, ist
begrüßenswert, und das ist das Gute an Organisationen wie ATTAC. Sie eröffnen Debatten, die den
gewaltigen Reichtum in privaten Händen infrage stellen. Aber die Idee, dass die Steuer an sich die
Antwort auf die Probleme der Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts darstellt, ist ein
schwerwiegender Irrtum.
Erstens bilden die Finanzflüsse nur eine Krisenursache unter anderen. Wichtiger ist die Art und
Weise, wie die blinde Konkurrenz der Industrie- und Handelsunternehmen diese dazu treibt, die
Profite durch Beschränkung des Lebensstandards zu steigern, und gleichzeitig ihre Kapazitäten mit
Hochdruck zu erweitern. Weltweite Überproduktionskrisen sind das unvermeidliche Ergebnis. Die
Schurken, die dahinter stecken, sind nicht nur “spekulative” Finanzinstitute, sondern eben auch
“produktive” Unternehmen wie General Motors, Toyota, Monsanto, Shell oder DaimlerChrysler.
Zweitens ist die Tobin-Steuer einfach kein ausreichend mächtiges Werkzeug, um auch nur die
Aktivitäten der Finanzspekulanten zu stoppen. Wie der keynesianische Wirtschaftswissenschaftler P.
Davidson gezeigt hat, ist der vorgeschlagene Steuersatz nicht annähernd hoch genug, um sie von
grenzüberschreitenden Transaktionen abzuhalten, wenn sie Währungsabwertungen in einem Ausmaß
erwarten, wie sie in den Krisen von Mexiko, Südostasien, Rußland und Brasilien statt gefunden
haben. “Sandkörner im internationalen Finanzgetriebe,” sind nicht ausreichend, schreibt er, “wenn
Felsblöcke gebraucht würden”81. Selbst Robin Round gibt zu: “Die von Tobin vorgeschlagene Steuer
hätte die Krise in Südostasien nicht verhindert.”82
Es gibt tatsächlich einen zentralen Widerspruch in der Idee, dass eine Steuer das große Allheilmittel
zur Behandlung der Folgen der Globalisierung sein könnte. Wenn sie wirkungsvoll ist, um spekulative
Transaktionen zu vermindern, dann wird sie keinesfalls die in Aussicht gestellten Summen einbringen,
weil die zu versteuernden Geldflüsse viel geringer wären als derzeit. Wenn sie die Summen
einbringen kann, dann nur deswegen, weil sie die Transaktionen und ihren zerstörerischen Einfluß auf
nationale Wirtschaften nicht stoppt.
Allerdings würde jeder Versuch, diese Steuer einzuführen, auf ungeheuren Widerstand bei den
Reichen der Welt stoßen. Gegen Regierungen, die sich ernsthaft mit der Idee beschäftigen, würden
sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Waffen einsetzen – ideologische, politische und
wirtschaftliche. Und um wirksam zu sein, müsste die Steuer gleichzeitig von allen wichtigen
Regierungen in Kraft gesetzt werden. Das bedeutet, dass die Steuer nicht ohne gewaltige Kämpfe
eingeführt werden könnte. Sie erfüllt damit sicher nicht das Versprechen ihrer Befürworter, einen
schmerzlosen Weg zu bieten, wie man mit der Währungsspekulation fertig werden kann, geschweige
denn mit all den anderen Schrecken des Systems.
Sie kann, wie die Themen des “fairen Handels”, der Kinderarbeit, der Schulden und der
Produktionsverlagerungen, Menschen dazu bringen, einzelne Gesichtspunkte des Systems infrage zu
stellen. Aber auch hier wird die Herausforderung nur wirksam sein, wenn man zu weitergehenden,
radikaleren Fragestellungen kommt.
Ähnliche Wurzeln hat die Debatte zwischen “Entwicklungstheoretikern” und “Traditionalisten”. Sie
bestehen darin, dass man nur Teilelemente einer Gesamtsituation betrachtet. Die Armut großer Teile
der Dritten Welt hat ihren Ursprung in der Art und Weise, wie die Entwicklung des Kapitalismus in den
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 26 letzten fünf Jahrhunderten den Reichtum der Welt – das Produkt des weltweiten menschlichen
Schaffens vergangener Generationen – in den Händen der herrschenden Klassen einer Handvoll
westlicher Länder konzentriert hat.
Die “Entwicklungstheorie” entsprang Versuchen von Herrschern in der Dritten Welt, diese Armut zu
bewältigen, indem sie ihren Völkern ähnliche Formen der Industrialisierung und der Agrarreform
aufzwangen, wie sie der Westen erlebt hatte – mit der enthusiastischen Unterstützung durch viele
Intellektuelle. Aber weil sie so spät in das Spiel eintraten, waren die “Opfer”, die sie ihrem eigenen
Volk zumuteten, und die Zerstörung, die sie der Umwelt brachten, noch größer als die während der
industriellen Revolution des Westens. Und selbst dabei war die Industrialisierung nur selten
erfolgreich. Für die große Mehrheit der Arbeiter und Bauern dort ist eine Rückkehr auf diesen Weg
keine Alternative zu den schrecklichen Folgen von Strukturanpassungsprogrammen und Öffnungen
für die Multis. Aber das gilt auch für das Bekenntnis zu “traditionellen” Methoden. Es bedeutet, ein
verklärendes Bild der Vergangenheit hochzuhalten, anstatt wirklich das Weltsystem herauszufordern,
das hinter der Verwüstung der Gegenwart steht.
Karl Marx musste sich vor anderthalb Jahrhunderten mit ähnlichen Debatten auseinander setzen.
Einige der schärfsten Verurteilungen dessen, was der Kapitalismus den Menschen antat, wurden von
romantischen Kritikern der industriellen Revolution verfasst, die erkannten, wie der Kapitalismus die
Leute entmenschlichte, aber die Alternative in der Vergangenheit suchten. Über sie schrieb Marx:
Es ist lächerlich, sich danach zu sehen, zu diesem ursprünglichen Reichtum zurückzukehren,
genauso wie es lächerlich ist zu glauben, daß mit dieser vollendeten Leere die Geschichte zum
Stillstand gekommen ist. Die bürgerliche Sichtweise ist niemals über die Antithese zwischen sich
selbst und diesem romantischen Standpunkt hinausgegangen und deshalb wird der letztere sie als
ihre legitime Antithese bis zu ihrem gesegneten Ende begleiten.83
Man wird mit der Unmenschlichkeit des gegenwärtigen Systems nicht fertig, indem man versucht, in
eine Welt traditioneller bäuerlicher Landwirtschaft und örtlicher Produktion zurückzugehen. Statt
dessen muss man Mittel und Wege finden, sich die gewaltigen produktiven Ressourcen anzueignen,
die durch kapitalistische Ausbeutung geschaffen wurden, und sie zur Befriedigung wirklicher
menschlicher Bedürfnisse einzusetzen. Allein die Beträge, die für den US-amerikanischen
Militärhaushalt aufgewendet werden, könnten das Leben jedes einzelnen Arbeiter und Bauern in der
Dritten Welt verändern. Zählen wir die Verschwendung für Werbung und Verkaufsförderung dazu, plus
den Luxuskonsum der 200 oder 300 Milliardäre, deren Reichtum dem Einkommen der halben
Weltbevölkerung entspricht, und schon haben wir genug, um die Armut der Dritten Welt zu
überwinden und auch den Arbeitern in den fortgeschrittenen Ländern ein besseres Leben zu
verschaffen. Es gibt keine Notwendigkeit, sich auf Regionalismus und Traditionalismus
zurückzuziehen. Und ein solcher Rückzug kann auch nicht funktionieren.
Die Akkumulation von Kapital hat im Weltmaßstab stattgefunden. Man kann ihren Auswirkungen nicht
mit Regionalismus begegnen, weder in der “entwicklungstheoretischen” noch in der
traditionalistischen Form. In der heutigen Welt gibt es dafür genau so wenig Platz wie vor einem
halben Jahrhundert für den “Sozialismus in einem Land”. Das Entscheidende an der Stimmung von
Seattle bestand darin, dass sich gezeigt hat, dass es eine globale Opposition zu einem globalen
System gibt.
Gezielte Kämpfe gegen einzelne Auswirkungen des Systems sind von enormer Bedeutung. Sie
können das Vorankommen des kapitalistischen Molochs verzögern, ihn gelegentlich sogar zum
Stehen bringen. Sie können das Leben wenigstens für einige, die im System schuften, ein wenig
erträglicher machen. Aber ihre wirkliche Bedeutung besteht darin, dass sie die Schwungkraft einer
breiteren Bewegung gegen das System erhöhen, dass sie Menschen, die sich irgendwo in der
Umklammerung des Systems befinden, ermutigen, dagegen zu kämpfen.
Die Frage nach dem Subjekt
Dies lässt immer noch die Frage unbeantwortet, wer die Kämpfe führen wird, welche Kräfte mobilisiert
werden können, und welche Kräfte die Macht haben, Veränderungen zu bewirken. Darüber gibt es
unter den Kritikern des Neoliberalismus und der Globalisierung genausoviele Ansichten wie über die
Frage, worin die Alternativen bestehen.
Viele Aktivisten von Seattle sahen den Weg vorwärts noch darin, auf die bestehenden Regierungen
Druck auszuüben. So legt William Greider starke Betonung auf gesetzliche Reformen, die den Multis
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 27 mehr Rechenschaft abverlangen sollen, und argumentiert für “Reformgesetzgebung sowohl auf
Staats- als auch auf Bundesebene”. Der Kongress soll verlangen, dass “Firmen harte, präzise Daten
über Umweltschäden an die ausländischen Gemeinden und Bürger herausgeben, die normalerweise
darüber im Dunkeln gelassen werden”84. Steven Shryber hofft auf den Druck der öffentlichen
Meinung, um die Regierungen zur Reform der WTO zu zwingen.85
Andere Aktivisten sehen die Schwierigkeit, die Großmächte für eine Änderung ihres Handelns zu
gewinnen. Statt dessen erwarten sie, dass die Regierungen der Dritten Welt den Großmächten irgend
etwas entgegensetzen. Walden Bello spricht von den “Anstrengungen von Gemeinschaften und
Nationen, die Kontrolle über ihr Schicksal wieder zu gewinnen” und sieht den Schlüsselmechanismus
darin, dass die UN-Konferenz über Handel und Entwicklung (UNCTAD), in der die Regierungen der
Dritten Welt eine Mehrheit haben, “eine aktive Rolle bei der Verminderung der Macht der WTO und
des IWF übernimmt”86.
Eine solche Herangehensweise schreckt vor einer ehrlichen Einschätzung der Regierungen der
Dritten Welt zurück. Sie werden fast alle von einheimischen Eliten beherrscht, die ihre Zukunft in der
Integration in den Weltkapitalismus sehen, auch wenn sie um die Bedingungen dieser Integration
feilschen. Die wenigen Ausnahmen sind Diktaturen wie die im Irak oder in Rest-Jugoslawien, deren
herrschende Klassen der Masse der Bevölkerung ebenso fern stehen wie irgendeine im Westen und
die gewöhnlich Überreste des Staatskapitalismus mit einem gewaltigen Ausmaß an Korruption
verbinden. In solchen Regierungen die Kraft zu sehen, mit der die Welt in positiver Richtung verändert
wird, zeugt von außerordentlicher Naivität. Und genau so naiv ist es, sich vorzustellen, dass die
Motive dieser Regierungen irgendwie zum Besseren verändert sind, wenn sie in internationalen
Gremien zusammenkommen. Wenn IWF, WTO und Weltbank Räuberhöhlen sind, dann gilt das auch
für UNCTAD, auch wenn die Räuber weniger erfolgreich sind.
Angesichts der offenkundigen Schwierigkeit, Regierungen zu überzeugen, sprechen manche
Aktivisten davon, dem Staat und den Multis durch “Vor-Ort-Aktivitäten” auszuweichen. Susan George
beschreibt, wie das geht:
Unzählige Aktivitäten finden auf örtlicher Ebene statt, wenn die Menschen hier gegen eine
Giftmüllkippe kämpfen, dort gegen eine lästige, unnötige Autobahn, woanders gegen eine
Fabrikschließung. Einige dieser Initiativen können zum Beispiel durch die viel versprechende
‚Sustainable and Self Reliant Communities Movement‘ miteinander verbunden werden. Je mehr
wirtschaftliche Aktivitäten zurückgewonnen und aus der transnationalen Umlaufbahn herunter geholt
werden können, desto besser.
Dutzende von Städten unterschiedlicher Größe experimentieren schon mit Aktiengesellschaften in
örtlichem Besitz, um Güter und Dienstleistungen zur Befriedigung örtlicher Bedürfnisse zu liefern.87
Aber die wirtschaftlichen Ressourcen, die solche örtlichen Aktivitäten einsetzen können, sind winzig
im Vergleich mit denen, über die Multis und Staaten verfügen. Sie können gar nicht daran denken, die
Bedürfnisse der großen Mehrzahl der Menschen zu erfüllen – es sei denn, die Menschen wären
bereit, mit dem Existenzminimum zu leben, unter Bedingungen, die kaum besser wären als die
mittelalterlicher Einsiedler. Daraus können bestenfalls kleine Enklaven werden, von denen die
Verheerungen des Weltsystems nicht berührt werden. Susan George bringt dieses Argument selbst:
Wenn wir nicht sicherstellen können, dass der Staat seine hoheitlichen Aufgaben wahrnimmt, kann ich
niemanden erkennen, der zwischen dem einfachen Menschen und der organisatorischen Tyrannei
steht. Ohne den Staat – wenn auch nicht notwendigerweise denjenigen, den wir jetzt haben, wird es
bald McSchools, McHealth und McTransport geben.88
Das entspricht ihrer früheren, absolut richtigen Beobachtung:
Wir müssen Wege finden, Menschen aufzuhalten, die vor nichts Halt machen. Der transnationale
Kapitalismus kennt kein Halten. Mit transnationalen Unternehmen und unbeschränkten
Finanzbewegungen hat er das Stadium eines bösartigen Krebsgeschwürs erreicht und wird fortfahren,
menschliche und natürliche Ressourcen zu verschlingen und zu vernichten, auch wenn das den
Körper – den Planeten selbst – zerstört, von dem er abhängig ist.89
Aber trotz des Hinweises, dass wir einen anderen Staat brauchen, kehrt sie nach diesem Argument
dazu zurück, Druck auf die bestehenden Staaten auszuüben. Sie hofft auf die Tobin-Steuer und eine
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 28 “geringfügige Beschaffungs-/Verkaufssteuer auf Aktien, Schuldverschreibungen, Optionen und ihre
fantasievollen Derivate”, um “Geld in die Koffer der UN und der Agenturen zu schaffen”90.
Der Druck auf Regierungen soll von “Bündnissen” ausgeübt werden. Im “Schuldenbumerang” schreibt
sie:
Brücken bauen im Norden zwischen Umweltschützern, Gewerkschaftern, Menschen, die über Drogen
besorgt sind, Aktivisten für die Rechte der Einwanderer, Mitgliedern von Dritte-WeltSolidaritätsgruppen oder Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), und der größten Gruppe von allen
– Steuerzahlern. Wir hoffen, dass jede dieser unterschiedlichen Gemeinschaften die Notwendigkeit
erkennt, für alternative Politikmodelle zusammenzuarbeiten, und gleichzeitig die Notwendigkeit,
wirksam mit ihren Gegenstücken im Süden zu arbeiten.91
Viele Aktivisten sahen Seattle als Beispiel, wie ein solches Bündnis geschaffen werden kann, indem
Vertreter der Bauern der Dritten Welt, französische Kleinbauern, Ökologie-Organisationen, NGOs,
Arbeiter aus der Dritten Welt, Eingeborenengruppen und – für die meisten Teilnehmer am
erstaunlichsten – die amerikanischen Gewerkschaften zusammenkommen. Aber wenn die Aktivisten
alle diese Bestandteile in einen Topf werfen, übersehen sie oft die Unterschiede zwischen ihnen.
Einige sind Organisationen von Minderheiten, deren Macht gerade deshalb begrenzt ist. Andere sind
Organisationen, die eine viel größere Zahl von Menschen vertreten wollen. Aber auch diese sind
unterschiedlich. Bauernorganisationen zum Beispiel vertreten selten eine homogene Gruppe von
Menschen, denn in dem Maße, in dem der Kapitalismus die Länder in seinen Bann gezogen hat, hat
er eine Differenzierung innerhalb der Bauernschaft gefördert, bei der die besser gestellten Bauern
danach trachten, kapitalistische Farmer zu werden, das Land der ärmeren Bauern aufzukaufen und
einige von diesen in Lohnarbeit zu beschäftigen. Wenn Luis Hernandez Navarro von “ländlichen
Produzenten in Europa und Japan, die das Rückgrat der neuen Mobilisierungen bilden”92, schreibt,
dann übersieht er das Ausmaß, in dem die Landwirtschaft in den fortgeschrittenen Ländern zu einer
kapitalistischen Industrie geworden ist, einer sehr lukrativen übrigens, die wenig echte Bauern übrig
gelassen hat. Und auch in Ländern der Dritten Welt wie Indien werden die Bauernorganisationen allzu
oft von den großen Farmern beherrscht, weil diese dafür die Zeit und die Mittel haben. Sie können
gemeinsam mit ärmeren für bestimmte unmittelbare Ziele mobilisieren (z.B. Preise für Düngemittel
niedrig zu halten), aber sie haben trotzdem grundlegend andere Interessen.
In den Nachbarschaftsgruppen armer Menschen aus Ländern der Dritten Welt wie Mexiko oder
Brasilien kann die Situation ähnlich wie bei den Bauern sein. Die Gruppen entstehen oft aus dem
gemeinsamen Bedarf an bestimmten Gütern wie Trinkwasser oder Elektrizität. Das kann zu sehr
militanten Kämpfen führen. Aber allzu oft werden diese von korrupten politischen Apparaten adoptiert,
die sich gegen eine begrenzte Versorgung mit den benötigten Diensten Gefolgschaft erkaufen und auf
diese Weise in jedem Viertel ihre eigenen Vertrauensleute aufbauen. Daher rührt die Fähigkeit
korrupter, autoritärer Regimes, oppositionelle Bündnisse zu untergraben und in der Bauernschaft und
unter den Armen der Städte ihre eigenen Netzwerke aufzubauen.
Einige Leute sehen in den NGOs an sich eine Kraft, die Veränderungen erreichen kann. Hernandez
Navarro behauptet, dass “moderne Computernetzwerke, die Ausbreitung von Hunderten von NGOs
und das einfache Reisen in der Welt die Bildung von Widerstandsnestern ermöglicht haben, die über
nationale Grenzen hinweg gehen”93. Viele Aktivisten machen ein großes Brimborium um die
Möglichkeit der NGOs, die Internet-Technologie zur Kommunikation untereinander zu nutzen,
dezentralisierte, aber gut informierte Netzwerke zu bilden, die kurzfristig um strategische Ziele
mobilisieren können. Aber die NGOs einfach in dieser Weise zu feiern, in ihnen die Kraft der
Veränderung zu sehen, bedeutet, etwas Wesentliches zu vergessen. Die NGOs sind selbst
Minderheitsorganisationen, die Wege finden müssen, breitere Schichten der Bevölkerung zu
mobilisieren, wenn sie über Lobbyismus und “Druck machen” hinausgehen wollen, um Staaten und
Multis zu etwas zu zwingen. Sie können nicht aus sich selbst heraus Susan Georges Zielvorgabe
erfüllen, den multinationalen Kapitalismus zu “stoppen”. Sie können ein geringeres Ziel erreichen,
über das man nicht spotten soll – veröffentlichen, was der globale Kapitalismus im Schilde führt. Aber
ihn zu stoppen erfordert, dass sie andere Kräfte mobilisieren. Genau deshalb haben sich einige NGOs
in den letzten Jahren vom einfachen Lobbyismus zur aktiven Agitation weiter entwickelt.
Anhänger einer Strategie, die sich auf die NGOs konzentriert, weisen oft auf das mexikanische
Beispiel hin, wo eine Mobilisierung von NGOs es der mexikanischen Regierung schwer machte,
1994/95 die zapatistische Bewegung der Mayas von Chiapas zu zerschlagen. Sie vergessen
hinzuzufügen, dass die NGOs nicht im Stande waren, den Staat daran zu hindern, die Verfolgung der
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 29 Bewegung fortzusetzen. Sie blieb auf eine Region beschränkt, die weit von den wichtigsten Industrieund Landwirtschaftsgebieten des Landes entfernt ist, und der mexikanische Kapitalismus war bald in
der Lage, die Rebellion zu ignorieren. Bei den Wahlen im Juli 2000 profitierte der neoliberale Kandidat
Fox von der Schwächung des alten Autoritarismus, nicht die Gegenkräfte gegen den Neoliberalismus.
Man muss auch noch hinzufügen, das Beschäftigung der meisten NGOs mit Einzelthemen bedeutet,
dass sie gelegentlich von Anhängern des bestehenden Systems vereinnahmt werden können. Dies ist
das Argument, das Susan George zu den Schuldenkampagnen angeführt hat – angesichts der von
Regierungen angebotenen Zugeständnisse sind NGOs manchmal dabei gelandet, Konzepte zu
unterstützen, die an der Armut in der Dritten Welt in Wirklichkeit nicht ändern. Dasselbe ist auch schon
Menschenrechtsorganisationen passiert. Während des Golfkrieges 1991 und des Balkankrieges 1999
kamen manche dazu, die von den USA geführten Bündnisse zu unterstützen, weil deren Gegner für
schreiende Verletzungen der Menschenrechte bekannt waren. Tatsächlich benutzen die USA schon
lang das Gerede über Menschenrechte als Deckmantel für ihr Ziel einer weltweiten Hegemonie der
USA. Einige Menschenrechtsorganisationen haben diesen Vorwand durchschaut – andere nicht. Der
springende Punkt ist: Solange sie sich um einzelne Fragen kümmern anstatt um Opposition gegen
das weltweite System, solange können sie mit der Entwicklung der Ereignisse in die eine oder andere
Richtung gezogen werden. Deshalb kommt eine neuere Studie der Rand Corporation des USAußenministeriums über die Zapatista-Bewegung in Mexiko dazu, eine Strategie vorzuschlagen, die
versucht, NGOs zur Verteidigung der westlichen kapitalistischen Interessen zu benutzen.94
Susan George hat die Beschränkung der bestehenden Bündnisse erkannt, wenn sie auf eine weitere
Ausweitung drängt. Im Lugano-Report schreibt sie: “Verschiebungen des Machtgleichgewichts
erfordern, dass man Rechenschaft ablegt über die eigene Anzahl, die Kräfte und über die Fähigkeit,
Bündnisse zu schließen … Die Bündnisse … müssen über Generationen, Teilbereiche und Grenzen
hinweg gehen und manchmal die merkwürdigsten Bettgenossen hervorbringen.”95 Aber stellenweise
schlägt sie vor, die Bündnisse bis hin zu rechten Politikern auszudehnen, die gegen bestimmte
multinationale Konzepte auftreten, wie jene Republikaner in der USA, die sich mit einigen Demokraten
zusammen taten, um Clintons “Überholspur”-Berechtigung zur Unterzeichnung von
Freihandelsabkommen zu Fall zu bringen, und “manchmal können die Bündnispartner sogar … Multis
sein” wie die Versicherungsindustrie.96
Das Übel ist, dass solche Bettgenossen nichts dazu beitragen werden, die zerstörerische Dynamik
des Systems aufzuhalten, die Susan George so gut beschrieben hat, auch wenn sie bereit sind, einige
“Auswüchse” zu beschneiden. Denn diese Dynamik entspringt dem blinden Antrieb zu akkumulieren,
den sie genauso wie jeder andere kapitalistische Politiker oder jeder andere Multi verkörpern. Um
dieses Ziel zu erreichen, werden sie alle anderen menschlichen oder ökologischen Erwägungen
hintanstellen, aus genau den Gründen, die Susan George erklärt – auch wenn sie bereit sind,
bestimmten Aktivitäten rivalisierender Politiker oder Multis gewisse Hindernisse in den Weg zu stellen.
Um die Bewegung gegen das globale System wirklich zu stärken, müssen wir uns anderswo
umschauen.
Arbeiter und Antikapitalismus
Ein wichtiger Faktor in Seattle war, dass viele Aktivisten zum ersten Mal Arbeiter als mögliche Kraft
der Veränderung sahen. Die Erfahrung der amerikanischen Protestbewegungen vom Vietnamkrieg bis
heute war gewesen, dass die organisierte Arbeiterklasse ihren Forderungen entweder indifferent oder
sogar feindlich gegenüberstand. Und sogar unter europäischen Aktivisten, die öfter erfahren hatten,
dass Teile der Gewerkschaften an Protesten teilnahmen, gab es eine starke Tendenz, Arbeiter in
fortgeschrittenen Ländern als “Arbeiteraristokratie” zu betrachten, die auf Kosten der Dritten Welt
lebte. In Seattle aber mobilisierten die US-amerikanischen Gewerkschaften ihre Mitglieder zur
Unterstützung und Stärkung der Proteste. Plötzlich dämmerte vielen Menschen, dass der Kampf um
Arbeitsplätze und gegen Flexibilisierung in den fortgeschrittenen Ländern ein Teil des Kampfes gegen
Armut in der Dritten Welt und Umweltzerstörung sein könnte.
Trotzdem fehlt in den meisten Texten von Aktivisten nach Seattle jegliches Verständnis dafür, warum
Arbeiter in die Bewegung mit einbezogen werden konnten, und man neigt noch immer zu der Ansicht,
dass sie einfach ein weiterer Bündnispartner unter vielen sind, wenn es darum geht, den
Machenschaften der Multis entgegenzutreten. Der Grund dafür ist, dass man nicht ganz versteht, dass
der Weltkapitalismus mehr ist als bloß eine Verschwörung einiger Konzernbosse. Das Weltsystem
wird nicht als System akkumulierten Mehrwerts betrachtet, in dem zu Beginn des 21. Jahrhunderts der
allergrößte Teil des Mehrwerts aus der Ausbeutung von Lohnarbeit kommt. Es fehlt der Sinn dafür,
dass die Triebkraft des Systems darin besteht, möglichst immer mehr Mehrwert herauszupressen, so
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 30 dass Arbeiter nirgendwo innerhalb des Systems sicher sein können, dass ihre Bedingungen morgen
noch dieselben sein werden wie heute.
Noch immer gibt es die Tendenz, Arbeiter in fortgeschrittenen Ländern als privilegierte Teilhaber des
Systems zu betrachten. Die Tatsache, dass sie in der Regel über einen höheren Lebensstandard
verfügen als die große Mehrheit der Menschen in der Dritten Welt, scheint diese Sichtweise zu
bestätigen. Sie beruht dennoch auf einer falschen Analyse der Funktionsweise des Systems.
Kapitalistische Firmen werden von dem Zwang angetrieben, Mehrwert anzuhäufen, und investieren
deshalb dort, wo sie die Menschen am profitabelsten ausbeuten können. Zu Beginn des 21.
Jahrhunderts sind diese Investitionen in den fortgeschrittenen Ländern und einer Handvoll
“Schwellenländer” konzentriert. Hier können die Kapitalisten am leichtesten Mehrwert abschöpfen. Der
Grund hierfür ist, dass Arbeit in den fortgeschrittenen Ländern produktiver ist als anderswo und
deshalb auch einen größeren Mehrwert schafft. Dafür gibt es eine ganze Reihe von historischen
Gründen: Die bereits vollzogene Kapitalkonzentration in diesen Ländern, ihr Verkehrsnetz, die
Energie- und Wasserversorgung und die große Anzahl von Arbeitskräften, die lesen, schreiben und
rechnen können, ein Ergebnis der seit vier oder fünf Generationen bestehenden Schulpflicht.
Im Kapitalismus sind die Ärmsten oftmals nicht diejenigen, die am meisten ausgebeutet werden,
sondern diejenigen, die durch die Entwicklung des Systems ins Abseits gedrängt werden. Dies gilt für
Langzeitarbeitslose, die deshalb in Armut leben, weil der Kapitalismus es für nicht profitabel hält, sie
zu beschäftigen und auszubeuten. Es gilt desweiteren für die große Zahl der Armen in den
Megastädten der Dritten Welt, die deswegen leiden, weil der Kapitalismus ihnen allenfalls zeitweiligen
Zugang zu Möglichkeiten erlaubt, sich selbst einen Lebensunterhalt und dem Kapitalismus Profite zu
beschaffen. Ihr bedauernswertes Dasein ist eine Anklage gegen das System, doch die Quellen, aus
denen sich das System speist, liegen größtenteils anderswo: bei den Arbeitern, die es beschäftigt.
Und der Zwang des Systems, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und die Profite zu erhöhen, führt
zu ständigen Zusammenstößen mit diesen Arbeitern.
Da die meisten Investitionen in den fortgeschrittenen Ländern getätigt werden, muss das Kapital
Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der Arbeiter dort ausüben. Deshalb das beständige
Drängen auf mehr “Flexibilität”, deshalb die Bemühungen, Arbeiter in einen Konkurrenzkampf um
Arbeitsplätze zu bringen, deshalb die “Reformen”, mit denen Leistungen im Krankheitsfall, im Alter
oder bei Arbeitslosigkeit beschnitten werden. Dies wirkt sich über längere Zeiträume auf die
Sozialpsychologie der amerikanischen und europäischen Arbeiter aus. In den 60er und 70er Jahren
blickten Arbeiter in den USA oder Deutschland drei oder vier Jahrzehnte zurück und spürten, um wie
viel besser ihre Situation geworden war. Heute blicken Arbeiter drei oder vier Jahrzehnte zurück und
merken, dass sie viel mehr arbeiten und viel weniger Sicherheit haben. Das ist zum Beispiel auch das
Gefühl, das die Interviews beherrscht, die Pierre Bourdieu und seine Kollegen im Frankreich der
frühen 90er-Jahre geführt und unter dem Titel Das Elend der Welt97 veröffentlicht haben.
Unterdessen tun sich die Herrscher der Dritten Welt und der ehemaligen kommunistischen Länder mit
IWF und Weltbank zusammen, um ihre Arbeiter und Bauern noch mehr auszupressen als dies mit
Arbeitern in den fortgeschrittenen Ländern geschieht. Daher die aufeinanderfolgenden
Strukturanpassungsprogramme, der Kahlschlag bei den Sozialetats, die Privatisierung von
Gesundheit und Bildung und die Abschaffung von Subventionen für Nahrungsmittel und öffentlichen
Verkehr.
Der Neoliberalismus ist versessen darauf, das Leben der Menschen im Interesse des Kapitalismus zu
verschlechtern. Doch nur selten lehnen sich die Menschen einfach zurück und lassen das mit sich
geschehen. Sie versuchen auf die eine oder andere Art ihre Lebensbedingungen zu verteidigen. Ihre
Reaktion ist oftmals örtlich begrenzt und defensiv. In jeder lokalen Zeitung, praktisch überall auf der
Welt, wird man vereinzelte Berichte von solchen Reaktionen finden – Proteste gegen die Schließung
eines Krankenhauses, gegen Mangel an Medikamenten in einer Klinik, erhöhte Busfahrpreise, das
Einfrieren von Nahrungsmittelsubventionen, die Einführung von Studiengebühren, höhere Preise für
Leitungswasser oder Arbeitsplatzabbau in einer Fabrik oder staatlichen Behörde. Häufig ziehen die
Menschen keine Verbindung zwischen ihrem lokalen Protest und dem großen Bild des weltweiten
Systems. Sie sehen die Ursache ihrer Probleme einfach bei korrupten Politikern, einem besonders
boshaften Unternehmer, einer unfähigen Stadtverwaltung oder einem autoritären Regime. Diese
eingeengte Sichtweise kann es erschweren, dass sich verschiedene Proteste zu einem gemeinsamen
Angriff auf die tatsächliche Ursache der Probleme vereinigen.
Doch die Verbitterung kann auch verallgemeinerte Reaktionen hervorrufen, die das Augenmerk der
Menschen auf Aspekte des Gesamtsystems richten. Dies geschah zu einem gewissen Grad in den
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 31 ersten Abwehrkämpfen gegen den Neoliberalismus in den 80er-Jahren – zum Beispiel beim
einjährigen Streik der britischen Bergarbeiter 1984/85 und der Drucker von News International
1986/87, und dann wieder bei der Explosion wütender Proteste und Streiks, die Frankreich im
November und Dezember 1995 erschütterten.
Die erste Hälfte des Jahres 2000 erlebte den zeitweiligen Sturz der ecuadorianischen Regierung
durch eine Protestwelle von Arbeitern und eingeborenen Völkern, Generalstreiks in Argentinien,
Südafrika und Nigeria, massive Proteste der Landlosen in Brasilien, Krawalle um
Fahrpreiserhöhungen in Guatemala, einen Streik im öffentlichen Dienst Norwegens und eine
Streikdrohung in Deutschland. Dies waren ebenso Reaktionen auf die Entwicklung des globalen
Kapitalismus wie die Proteste in den Straßen von London, Seattle, Washington und anderswo.
Arbeiter haben eine Macht, das System herauszufordern, die Demonstranten auf der Straße nicht
haben. Sie sind am Arbeitsplatz und in den Wohnsiedlungen in ständigem Kontakt miteinander. Und
es ist ihre Arbeit, die den Wert und den Mehrwert schafft, der das System vorantreibt. Wenn sie ihre
Macht nicht einsetzen, so liegt das an mangelndem Selbstvertrauen und am mangelnden Verständnis
dieser Tatsache. Ernsthafte Antikapitalisten müssen weiter gehen als einfach in Opposition zum
System zu demonstrieren, sie müssen Wege finden, sich diese Macht zu erschließen. Die polnischdeutsche Revolutionärin Rosa Luxemburg schrieb kurz vor ihrer Ermordung im Januar 1919: “Die
Ketten des Kapitalismus müssen dort zerbrochen werden, wo sie geschmiedet werden.”
Die Dynamik des Protests
Jede erfolgreiche Protestbewegung durchlebt zwei Phasen. Die erste besteht darin, dass sie über die
Welt hereinbricht, ihre Gegner überrascht und Euphorie bei jenen auslöst, die mit ihren Zielen
übereinstimmen. Je länger die letzte Protestbewegung zurückliegt, desto größer die Euphorie. Und die
schiere Triebkraft der Bewegung trägt sie von Erfolg zu Erfolg. Dies schweißt ihre Anhänger
zusammen, und man spielt alte Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen über Fragen
der Taktik herunter.
Doch diejenigen, gegen die sich die Proteste richten, geben nicht einfach auf. Sobald der anfängliche
Schock erst einmal vorüber ist, verstärken sie ihre Verteidigungsposition, bemühen sich
sicherzustellen, dass sie nicht nochmals überrascht werden, und versuchen den Vorwärtsdrang der
Bewegung aufzuhalten. In diesem Augenblick tauchen in der Bewegung notwendigerweise Debatten
über taktische Fragen auf, auch unter jenen, die sich geschworen hatten, alten Streit im Interesse des
Konsenses zu vergessen.
Dies geschah beispielsweise in der Bewegung gegen Atomwaffen in den späten 50er Jahren in
England. Auf die Euphorie über unerwartete Erfolge folgten nach drei Jahren bittere
Auseinandersetzungen über die Taktik zwischen jenen, die die Politik der Labour Party verändern
wollten und jenen, die an gewaltlose direkte Massenaktion glaubten. Ähnliche Debatten brachen ein
Jahrzehnt später in den USA in der Bewegung gegen den Vietnamkrieg aus. War es der richtige Weg,
zu versuchen, die Regierung unter Druck zu setzen, oder sollte man versuchen die Kräfte zu finden,
die die Gesellschaft umwälzen können?
Wenn man es versäumt, diese Streitfragen zu klären, ist nur allzu leicht die Folge, dass die
Bewegungen – gerade wenn sie ihren Höhepunkt erreichen – zersplittern und auseinanderzufallen
beginnen. Tony Cliff pflegte es so auszudrücken: Sie steigen auf wie eine Rakete und fallen herunter
wie ein Stein. Die Bewegung, die in Seattle über die Welt hereingebrochen ist, ist noch nicht an ihrem
Höhepunkt angelangt. Doch Uneinigkeit und Polarisierung zeichnen sich bereits ab, weil Fragen
aufgeworfen werden, die zu Zersplitterung und Niedergang führen können, wenn sie nicht geklärt
werden. Am heftigsten waren die Debatten unter den verschiedenen Kräften, die an der 1. MaiDemonstration in London beteiligt waren.
Geringfügige Sachbeschädigungen – eingeworfene Scheiben eines McDonald´s, eine bemalte Statue
von Winston Churchill und ein paar Kritzeleien am Kriegerdenkmal Cenotaph – verursachten
erwartungsgemäß einen Aufschrei in den Medien. Weniger vorhersehbar war jedoch, dass sie auch
eine qualvolle Debatte auf der Website von Reclaim The Streets, dem Organisationszentrum für den
1. Mai hervorrief – und einen bitteren Angriff auf das Verhalten der Demonstranten durch den
prominentesten Sympathisanten, den die Bewegung in der Presse hat, George Monbiot vom
Guardian: “Die Bewegung … hat die Orientierung verloren”, schrieb er. “Sie hat sich zu einem
Zusammenschluss von unvereinbaren Mitgliedern entwickelt, die leichtsinnig und bedrohlich zugleich
sind … Spinner in der Menge zerstörten Geschäfte und verunstalteten den Cenotaph.”98
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 32 Die Diskussionen, die nach dem 1. Mai ausbrachen, waren allerdings nicht völlig neu. Sie hatten sich
bereits direkt nach Seattle angekündigt. Medea Benjamin, eine der führenden Personen bei “Global
Exchange”, die bei der Vorbereitung von Seattle eine wichtige Rolle spielten, schrieb später: “Die
gewaltlosen Massenproteste von Seattle stellten den Höhepunkt eines monatelangen Prozesses dar,
der Organisationen zu einem Bündnis zusammenführte.” Aber “eine kleine Anzahl von Demonstranten
entschied sich, den Geist von Solidarität und kollektivem Zusammenhalt … in äußerst sektiererischer
Form zu brechen”, indem sie “Scheiben einschlug, Mülltonnen umkippte, plünderte, WTO-Delegierte
sowie Angestellte und Kunden in Geschäften brutal behandelte und die Innenstadt von Seattle mit
Graffitis übersäte.” Dies war “negativ in den Augen der breiten Öffentlichkeit”.99
Medea Benjamin macht anarchistische Gruppen dafür verantwortlich – obwohl sie sich beeilte
hinzuzufügen, dass sie keineswegs alle Anarchisten meint. George Monbiot ging weiter. Nicht nur die
anarchistischen Gruppen, die Eigentum angegriffen hatten, trügen Schuld, sondern auch die
Organisatoren von Reclaim the Streets, auch wenn sie einen friedlichen Protest gewollt hätten. Ihr
Fehler sei, dass sie die Grenzen dessen, was Aktionen erreichen können, nicht erkannten:
Gewaltfreie direkte Aktion ist die falsche Bezeichnung. Sie ist kein direkter Versuch, die Welt durch
physische Aktion zu verändern, sondern ein graphisches und symbolisches Mittel, um auf
vernachlässigte Themen aufmerksam zu machen und Herzen und Köpfe durch politisches Theater zu
erobern.
Dadurch könne man manchmal begrenzte Ziele zu erreichen, wie zum Beispiel “den Bau einer Straße
oder eines Flughafens” zu verzögern, doch um mehr zu erreichen, müssten die Aktionen “Teil eines
breiteren demokratischen Angriffs auf die politischen Konzepte sein, durch die sie hervorgerufen
wurden.” Reclaim the Streets “wäre vielleicht in der Lage gewesen, einen nachhaltigen Angriff gegen
den Weltkapitalismus zu führen, wenn sie eine gangbare Alternative benannt hätten. Aber ohne klare
Vorschläge für politische Veränderung waren die Proteste sowohl vom 18. Juni letzten Jahres als
auch die vom 1. Mai diesen Jahres nichts als katastrophal.” Die Bewegung sei dabei geendet, “sich
mit riesigen, schwierigen Themen abzuquälen, die Sprache und die Aktionen von Revolutionären
nachzuäffen, aber ohne ein revolutionäres Programm.” Mehr noch:
Die Probleme werden vom Mythos des Konsens übertüncht. Die Bewegung der direkten Aktion
besteht darauf, dass sie nicht hierarchisch sei – das jedoch hat niemals gestimmt. Es ist
unvermeidbar, dass manche Leute härter als andere arbeiten und dabei Tatsachen schaffen, ob nun
alle anderen in der Bewegung einverstanden sind oder nicht. Doch weil sie sich selbst einreden, dass
es keine Hierarchie gibt, und dass die Proteste, die sie auslösen, spontane Volksaufstände sind,
entledigen sich die Organisatoren der Verantwortung für ihr Handeln.
Dieser Mangel an Voraussicht und Verantwortung habe dem Verhalten der Anarchisten den Weg
geebnet, argumentiert er weiter: “Parliament Square umzugraben, um das globale Kapital zu stoppen,
ist derart sinnlos und so extrem frustrierend und entmutigend, dass man die hitzköpfigeren
Demonstranten fast schon dafür entschuldigen kann, dass sie etwas Spektakuläres tun wollten.”100
Gegen Monbiots Logik ist bis zu einem bestimmten Punkt nichts einzuwenden. Demonstrationen und
gewaltlose Blockaden sind Symbole, die sehr wichtig sein können um der Wut und den Ambitionen
der Menschen einen Fokus zu bieten. Das tat Seattle mit Sicherheit – und das taten auch die
antikapitalistischen Proteste in London im Juni 1999, trotz Monbiots Behauptungen. Aber sie sind nur
Symbole. Und das gilt auch für gewaltsame Aktionen kleiner Gruppen, auch wenn sie von scheinbar
ernsthafteren Absichten zeugen. Denn sie können in keiner Weise das System in seinem Lauf
stoppen und der Produktion und Zirkulation von Mehrwert mit all den daraus folgenden Schrecken ein
Ende machen. Eine ganze Welt der entfremdeten Arbeit kann durch das Einwerfen von
Fensterscheiben genauso wenig zum Stillstand gebracht werden wie durch passives Sitzen auf der
Straße.
Doch Monbiot und viele andere versäumen es, ihre eigene Alternative zu bloßen symbolischen
Aktionen darzustellen. Monbiot kritisierte den Protest auf Westminster Square, der anlässlich der
Londoner Kommunalwahlen stattfand, mit dem Vorwurf, damit sei “es gelungen, die besten
Wahlchancen, die radikale Politik in Großbritannien seit 15 Jahren hatte, zu gefährden.”101 Medea
Benjamin sagte, dass “positive, offene und demokratische” Kampagnen “die Konzerne zwingen, einige
ihrer schlimmsten Praktiken zu ändern.”102 Doch indem man ein paar Stadtratssitze gewinnt oder
einige der schlimmsten Formen von Konzernpolitik verhindert, wird man den krankhaften Irrsinn des
globalen Systems nicht aufhalten und schon gar nicht beenden können. In der Tat haben sowohl
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 33 Monbiot als auch Benjamin dies seit ihren Polemiken erkannt. Er unterstützt noch immer einige
Formen von direkter Aktion. Sie spielte eine wichtige Rolle beim Aufbau der Demonstrationen, die in
Los Angeles vor den Türen des Parteitags der Demokraten stattfanden, und sie bot der neuen
Bewegung einen Fokus indem sie bei den kalifornischen Wahlen im November gegen beide etablierte
Parteien antrat. Richtige Kritik am Verhalten der Anarchisten sollte einen nicht dazu bringen, zu
glauben, es gäbe eine leichte, bequeme Form des Kampfes gegen die Multis und ihre Vorkämpfer in
IWF, Weltbank, WTO und Regierungen.
Wir können etwas aus dem Schicksal der Bewegungen gegen das System lernen, die es in den 70er
Jahren in einer ganzen Anzahl von Ländern gab. Zumeist gingen sie in den 80ern in zwei
verschiedene Richtungen. Auf der einen Seite schlugen viele Aktivisten den parlamentarischen Weg
ein und behaupteten, neue, an Frieden und Umwelt orientierte, nicht-hierarchische Parteien würden
das Wesen des Parlaments verändern. Am Ende der 90er saßen ihre “grünen” Parteien in den
Regierungen von Deutschland, Frankreich und Italien, unterstützten NATO-Kriege und verwarfen
Pläne zur Stillegung von Atomkraftwerken, während sie intern nach den gleichen hierarchischen
Prinzipien funktionierten wie die anderen etablierten Parteien.
Auf der anderen Seite reagierten kleine Gruppen auf den Parlamentarismus, indem sie sich für
“autonome” Politik entschieden und versuchten, auf ihren eigenen Inseln am Rande der
kapitalistischen Gesellschaft zu leben. Ein ums andere Mal gingen sie vermummt auf die Straße, zu
ritualisierten Angriffen auf Eigentum und Zusammenstößen mit der Polizei. Rauchbomben und
Molotowcocktails flogen, die Polizei ging zum Gegenangriff über und feuerte fröhlich Tränengas und
Gummigeschosse auf alle, die sich in Sichtweite befanden, die Ausschreitungen wurden in den
Fernsehnachrichten breit abgehandelt, und dann … kehrte alles wieder zur Normalität zurück. Das
Einzige, was sich änderte, war, dass die Bewegungen aus denen sie einst hervorgegangen waren,
immer kleiner wurden, dass diejenigen, die den Weg über Wahlen gesucht hatten, immer
parlamentarischer wurden und die Polizei immer stärker.
Die parlamentarische und die anarchistisch-autonome Herangehensweise scheitern beide aus
denselben Gründen: Sie sind unfähig zu erkennen, dass es Kräfte gibt, die dem System
entgegentreten können, und sie bemühen sich deshalb zu wenig, diese zu mobilisieren. Und jede
Bewegung, die nicht über die Fähigkeit verfügt, einen echten Kampf gegen das System zu führen,
gegen das sie sich richtet, steht unter dem enormen Druck, einen Weg zu finden, irgendwie mit dem
System zurechtzukommen. Friedliches Nebeneinander oder gar Duldung des Systems ersetzen dann
systematische Opposition.
Um eine solche Opposition aufrecht zu erhalten, ist es notwendig, die Initiative, die Energie und den
Idealismus der antikapitalistischen Minderheiten, die auf die Straße gehen, mit den tagtäglichen
Kämpfen gegen die kapitalistische Globalisierung, die überall im System stattfinden, wo Menschen
ausgebeutet und unterdrückt werden, zu verbinden.
Um diese Verbindungen zu schaffen, sind gewalttätige Aktionen einer Avantgarde keine große Hilfe.
Sie bieten den Verteidigern des Systems eine willkommene Entschuldigung, um gegen ihre Gegner
ein deutlich höheres Maß an staatlicher Gewalt einzusetzen. Oft kann die gewaltfreie Aktion einer
disziplinierten Massenbewegung dazu dienen, den Menschen die grundlegend gewalttätige Natur der
Konzerne und des Staates vor Augen zu führen. Das bedeutet aber nicht, dass Gewaltlosigkeit allein
das System besiegen kann. In der Geschichte des Kapitalismus haben herrschende Klassen immer
wieder Gewalt in schrecklichstem Ausmaß eingesetzt, um Bewegungen zu zerstören, die stolz auf ihre
eigene Gewaltlosigkeit waren. Dies widerfuhr der Pariser Kommune 1871, der deutschen
Arbeiterbewegung 1933 und jüngst der Allende-Regierung in Chile 1973. Wenn die Antwort auf die
Gewalt des Systems nicht in der Gewalt einer kleinen Avantgarde liegt, so liegt sie ebensowenig im
Prinzip der Gewaltlosigkeit. Sie liegt vielmehr in der Entwicklung von Massenbewegungen, denen
bewußt ist, dass alle nötigen Mittel eingesetzt werden müssen, um der Gewalt der Gegenseite zu
begegnen. So schrieb der Chartist Bronterre O´Brien in den 1830er Jahren: “Die Reichen heute sind,
was sie immer schon waren … gnadenlos und unverbesserlich … Es ist eine Farce, so einem Feind
gegenüber von moralischer Stärke zu sprechen. Einzig ihre überwältigende Angst vor einer
überwältigenden Kraft wird sie je für die Menschlichkeit gewinnen.”
Die Frage der Organisation
Immer wenn eine neue Massenbewegung entsteht, ist ihr beeindruckendster Aspekt die Art und
Weise, wie Menschen spontan die Initiative ergreifen, sich an phantasievollen Aktionen beteiligen und
immense Kreativität beweisen. Die ganze geistige Energie, die sie zuvor für tausenderlei Formen von
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 34 oftmals nebensächlichem Zeitvertreib vergeudet haben, wird nun darauf verwendet, die Bewegung
voranzubringen und ihre Probleme zu lösen. Oft verführt dies manche Leute zu dem Glauben, die
Bewegung sei weit über die “alten” Fragen – Organisationsfrage und die Frage ideologischer
Ausrichtung – hinausgegangen. So sieht Naomi Klein zum Beispiel in der Bewegung, die in Seattle
und Washington auf die Straße ging, die Überwindung alter Formen der Organisation:
Die Protestbewegung gegen die Konzerne, die auf den Straßen von Seattle letzten November
weltweite Aufmerksamkeit erregte, ist nicht durch eine politische Partei oder ein landesweites
Netzwerk mit Zentrale, jährlichen Wahlen und untergeordneten Abteilungen und Ortsgruppen vereint.
Sie wird von den Vorstellungen einzelner Organisatoren und Intellektueller geformt, beugt sich aber
keinem von diesen als ihrer Führung.
Diese Massenzusammenkünfte waren wie Radnaben für Aktivisten, mit hunderten, vielleicht
tausenden unabhängigen Speichen. Die Tatsache, dass diese Kampagnen so dezentralisiert sind,
führt nicht zu Widersprüchen oder Zersplitterung. Es handelt sich vielmehr um eine vernünftige, ja
geniale Reaktion sowohl auf die Zersplitterung innerhalb fortschrittlicher Netzwerke in der
Vergangenheit als auch auf Veränderungen in der allgemeinen Kultur.
Eine der großen Stärken dieses Modells der laissez-faire-Organisation ist, dass sie sich als
außerordentlich schwer zu kontrollieren erwiesen hat, vor allem, weil es sich so sehr unterscheidet
von den Organisationsprinzipien der Institutionen und Konzerne, die sie ins Visier nimmt. Sie reagiert
auf die Konzentration der Konzerne mit labyrinthartiger Aufsplitterung, auf Globalisierung mit ihrer
eigenen Form der lokalen Beschränkung, auf Machtkonsolidierung mit radikaler Machtverteilung.
Sie zitiert Joshua Karliner vom Transnational Resource and Action Center, der diese
Organisationsform als “eine ungewollt brilliante Antwort auf die Globalisierung” beschreibt und Maude
Barlow vom Council of Canadians, die behauptet, “Wir stehen einem Felsblock gegenüber, den wir
nicht beseitigen können, also versuchen wir unter ihm, über ihn und um ihn herum zu gehen.” Die
dezentralisierte Bewegung sei ein “Schwarm”, der in der Lage ist, sich urplötzlich zu sammeln und die
Institutionen der Globalisierung so zu zerrütten, wie es keine zentralisierte Bewegung könnte:
Wenn Kritiker sagen, den Demonstranten fehle die Vision, so meinen sie in Wirklichkeit, ihnen fehle
eine übergeordnete revolutionäre Philosophie, mit der sie alle überein stimmten – wie Marxismus,
demokratischer Sozialismus, linksökologische Ideologien oder Anarchismus. Das stimmt absolut, und
wir sollten dafür außerordentlich dankbar sein.
Es ist das Verdienst dieser jungen Bewegung, dass sie bis dato all diese Pläne abgewehrt hat und
jedes großzügig angebotene Manifest zurückgewiesen hat … Vielleicht besteht ihre wirkliche
Herausforderung nicht darin, eine Vision zu finden, sondern vielmehr der Versuchung zu widerstehen,
sich zu früh auf eine festzulegen.
Doch in demselben Artikel erkennt Naomi Klein an, dass die “dezentralisierte” Organisationsform der
“Schwärme” auch Probleme verursachte:
Natürlich hat das System der vielen Köpfe auch seine Schwächen, und die offenbarten sich auf den
Straßen von Washington während der Proteste gegen Weltbank und IWF. Am 16. April, dem Tag der
größten Proteste, wurde eine Versammlung des Sprecherrats der Bezugsgruppen einberufen, die
gerade dabei waren, alle Kreuzungen um das Hauptquartier von Weltbank und IWF herum zu
blockieren. Die Kreuzungen waren seit 6 Uhr morgens blockiert, doch die Aktivisten hatten gerade
erfahren, dass die Delegierten bereits vor 5 Uhr hinter die Polizeibarrikaden geschlüpft waren.
Angesichts dieser neuen Information dachten die meisten Sprecher, es sei an der Zeit, die Blockaden
aufzugeben und sich am offiziellen Marsch bei der Ellipse zu beteiligen. Das Problem war, dass damit
nicht alle einverstanden waren. Eine Hand voll Bezugsgruppen wollten versuchen, die Delegierten auf
dem Rückweg von der Konferenz zu blockieren.
Der Kompromiss des Sprecherrats war bezeichnend. ,O.K., alle mal herhören!‘, rief Kevin Danaher ins
Megaphon. ,Jede Kreuzung ist autonom. Wenn ihr die Blockade aufrechterhalten wollt, ist das super.
Wenn ihr zur Ellipse kommen wollt, dann ist das auch gut. Es ist eure Entscheidung.‘
Das war einwandfrei fair und demokratisch, aber da war ein Problem – es machte absolut keinen
Sinn. Die Blockade der Zugänge war eine koordinierte Aktion. Wenn nun einige freigegeben würden
und andere besetzt blieben, müsstenn die Delegierten einfach rechts- statt linksherum gehen, um
herauszukommen. Und natürlich passierte genau das.
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 35 Als ich Gruppen von Aktivisten aufstehen und weggehen sah, während andere sitzen blieben, zur
trotzigen Bewachung von, nun ja, eigentlich gar nichts, erschien mir das wie eine passende Metapher
für die Stärken und Schwächen dieser jungen Bewegung.103
Wenn die Bewegung aber sowohl “Schwächen” als auch “Stärken” hat, so muss es eine Diskussion
darüber geben, wie mit ihnen umzugehen ist. Andernfalls werden die Schwächen immer wiederkehren
und denen, die die Bewegung unterdrücken wollen, die Möglichkeit dazu geben. Die Lehre aus
Washington – und noch mehr aus dem 1. Mai in London – ist, dass es nicht ausreicht, wenn jeder
“sein eigenes Ding durchzieht”. Es muss eine gewisse Bereitschaft geben, zu demokratisch
beschlossenen Entscheidungen zu kommen, die für alle Beteiligten bindend sind. Sonst kann jede
beliebige Minderheit, wenn sie nur entschlossen genug ist, Aktionen unternehmen, die Konsequenzen
für die Mehrheit haben, obwohl sie gar nicht mit ihnen einverstanden ist.
Die Arbeitsweise der NGO’s, dezentrale Netzwerke zu bilden, ist historisch nicht wirklich neuartig. Das
war genau die Art, wie die Aktivisten zum Beispiel Ende des 18. Jahrhunderts operierten – mit den
korrespondierenden Zirkeln in England oder auch den Jakobinerklubs in den früheren Phasen der
französischen Revolution – indem sie das zur damaligen Zeit am weitesten entwickelte
Kommunikationsmittel nutzten, nämlich Briefe schreiben. Aber um von dezentraler Propaganda und
Agitation hin zu einer Form von ernsthaftem Kampf gegen die bestehenden Machtverhältnisse
überzugehen, mussten sie zu stärker zentralisierten Organisationsformen greifen – die Jakobiner von
1792 bis 1794, die United Irishmen, Babeufs “Verschwörung der Gleichen”104. Dies lag genau daran,
dass das dezentrale Modell es der Bewegung nicht ermöglichte, gemeinsam eine Entscheidung zu
fällen, wenn es darum ging, die Kräfte darauf zu konzentrieren, in die eine oder die andere Richtung
zu marschieren. Vielmehr ließ es zu, dass Minderheiten jede Aktion zu Grunde richten konnten, indem
sie sich entweder zu früh in Bewegung setzten oder zurückblieben, wenn alle anderen vorwärts
gingen.
Die Institutionen des globalen Kapitalismus mögen wie “Felsblöcke” sein, die man schwer zerbrechen
kann. Aber wenn du sie einfach umgehen willst, lässt du ihnen die Möglichkeit, plötzlich auf dich
loszugehen und dich zu zerstören. Und sie zerstören doch tagtäglich Tausende von Existenzen durch
ihre Strukturanpassungsprogramme, ihre Schuldeneintreibungen, ihre Kürzungen der
Sozialleistungen, ihre Umweltzerstörung, ihre Kriege. All das können wir nicht einfach “umgehen”.
Es reicht auch nicht zu sagen, es gebe eben eine ganze Menge Ideen in der Bewegung und es dabei
zu belassen. Selbstverständlich gibt es eine ungeheure Anzahl von Ideen in der Bewegung.
Hunderttausende, vielleicht Millionen Menschen beginnen zum ersten Mal das globale System
herauszufordern. Sie kommen aus den verschiedensten Bereichen, was Hintergrund und Erfahrungen
betrifft und bringen die verschiedensten Ideen mit, die sich dort entwickelt haben. Niemand kann
vorschreiben, was sie denken und wie sich ihre Ideen entwickeln. Aber das heißt nicht, dass es keine
Auseinandersetzung über Ideen gibt oder dass irgendeiner von uns sich aus diesen Debatten
heraushalten sollte. Tatsächlich wird sich die Bewegung nicht über einen gewissen Punkt hinaus
entwickeln können, solange diese Meinungsverschiedenheiten nicht behoben sind. Es ist unsinnig,
angesichts einer wichtigen Meinungsverschiedenheit über den nächsten Schritt einfach nur zu sagen
“Ist es nicht wunderbar, dass wir diese Auseinandersetzung haben?”. Man muss sich mit ihr
beschäftigen und sie nicht einfach kommentieren. Und wenn du denkst, die Erfahrung zeigt, dass
“demokratischer Sozialismus” oder “Anarchismus” in der Vergangenheit schrecklich versagt haben,
dann musst du das so wirkungsvoll wie möglich aussprechen.
Das ist besonders wichtig, wenn die neue Generation von Antikapitalisten es schaffen soll, die
Verbindung zu den Millionen von Arbeitern und Armen herzustellen, die sich tagtäglich an großen oder
kleinen Aktionen gegen Neoliberalismus und kapitalistische Globalisierung beteiligen. In diesen
Kämpfen steht ihre gesamte Lebensgrundlage und manchmal ihr Leben auf dem Spiel. Sie müssen in
der Lage sein, eine gemeinsame Richtung zu erarbeiten und Wege zu finden, wie sie Solidarität von
ihren Mitstreitern bekommen und feindlichen Attacken der Gegenseite begegnen können. Klarheit in
den Ideen ist in solchen Fällen kein Luxus. Sie ist vielmehr eine Notwendigkeit, wenn schreckliche
Niederlagen vermieden werden sollen. Der einzige Weg, diese Klarheit bei den verschiedenen
Standpunkten in der Bewegung zu erlangen, führt über solidarische Debatte, während man
gleichzeitig gemeinsam kämpft.
Die Spitzen der riesigen multinationalen Konzerne und der Staaten haben sich wegen Seattle zu
Recht Sorgen gemacht. Dort hat eine neue Stimmung der Opposition gegen das, was ihr System den
Menschen zufügt, klare Konturen angenommen. Seattle repräsentierte die Sehnsucht einer
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 36 beachtlichen Minderheit auf jedem Kontinent und in jedem Land. Und allein in den zehn Monaten, die
seither vergangen sind, hat sich diese Stimmung fortgepflanzt. Während ich diesen Artikel schrieb,
gab es weitere Massenproteste in Millau in Südfrankreich, gegen das G8-Treffen in Okinawa in Japan,
vor dem Parteitag der Demokraten in Los Angeles und die Vorbereitungen für die Proteste gegen das
Weltwirtschaftsforum in Melbourne und gegen IWF und Weltbank in Prag liefen auf Hochtouren.
Nur eine Minderheit derer, die diese Proteste aufgebaut haben, betrachten sich selbst als Marxisten.
Viele, insbesondere in den USA, sehen sich nicht einmal als Sozialisten. Dennoch folgen sie, indem
sie eine Bewegung gegen das System aufbauen, demselben Pfad, auf dem Karl Marx und Friedrich
Engels vor etwa 160 Jahren aufgebrochen sind. Nach und nach werden sie gezwungen sein, sich mit
vielen Fragen auseinanderzusetzen, denen Marx und Engels begegnet sind, und andere, die seither
den selben Weg beschritten haben. Es liegt an uns allen mitzuwirken, diese neue Bewegung
aufzubauen – und ihr dabei zu helfen, den Umgang mit diesen Fragen zu erlernen.
Fußnoten
1 Siehe z.B.: J. Charlton, ‚Talking Seattle‘, in: International Socialism 86 (Frühjahr 2000); C. Kimber, Socialist Worker, 12.
Dezember 1999; J. St. Clair, ‘Seattle Diary’, in: New Left Review 238 (November-Dezember 1999); ‘What Happened in Seattle
and What Does it Mean?’, in: K. Danaher/R. Burbach (Hg.), Globalize This! The Battle Against the World Trade Organization
and Corporate Rule (Monroe, Maine 2000).
2 K. Danaher/R Burbach (Hg.), a. a. O., S. 41
3 Ebenda, auf dem Umschlag
4 Ebenda, S. 27. Siehe auch Susan George in: Le Monde diplomatique, englische Ausgabe, Januar 2000.
5 Innerhalb des neoliberalen Lagers gibt es theologische Divergenzen zwischen Monetaristen und einigen anderen neoliberalen
Ökonomen. Einige habe ich dargestellt in: ‘The Crisis in Bourgeois Economics’, in: International Socialism 71 (Sommer 1996).
6 Näheres siehe in: G. de Selys/N. Hirtt, Tableau noir, resister à la privatisation de l'enseignment (Brüssel 1998), S. 24-56
7 Vgl. z.B.: ‘Blue Gold of the 21st Century’, in: Le Monde diplomatique, englische Ausgabe, März 2000
8 Näheres siehe: G. Palast, ‘Tony Rushes In Where Bill Fears To Tread’, The Observer, 21. Mai 2000, Business section, S. 6
9 Diese Zusammenfassung der AFL-CIO Position wurde von David Bacon besorgt, der nicht mit dem Ansatz in: K. Danaher/ R.
Burbach (Hg.), a.a.O., S. 124 übereinstimmt.
10 Ebenda, S. 161-162
11 Ebenda, S. 201
12 Ebenda, S. 104
13 Ebenda, S. 118
14 Laut Paul McGarr, der für Socialist Worker über Millau berichtete.
15 K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S.144
16 Eine Darstellung der Lebensbedingungen der Arbeiter und der Entwicklung der Kampagnen gegen Billiglohnarbeit und für
fairen Handel gibt N. Klein in: No Logo (London 2000), S. 206-221, 325-379, 397-419
17 Deborah James bezeichnet das als ,fairen Lohn im regionalen Bezug’, in: K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S. 189
18 Ebenda, S. 127
19 N. Klein, No Logo, a. a. O., S. 421-422
20 Ebenda, S. 435
21 K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S. 125
22 Ebenda, S. 126
23 Vgl. Karl Marx’ Darstellung von Seniors Argumenten – und deren vernichtende Widerlegung, in: Das Kapital, Bd.1, MEW 23,
Berlin 1962, S. 237-243.
24 S. George, A Fate Worse Than Debt (Harmondsworth 1994), S. 239-240
25 Vgl. das Interview mit Jamil Mahaud in: Hoy (Quito), 21. Juli 2000
26 Interview in: Socialist Worker, 19. August 2000
27 K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S. 144
28 Ebenda, S. 101
29 Ebenda, S. 198
30 Ebenda, S. 164-170
31 'Indigenous People's Seattle Declaration', wiederabgedruckt in: ebenda, S. 90
32 S. George, A Fate Worse Than Debt, a.a.O., S. 270
33 Z.B. Premchand, The Gift of a Cow (London 1987), The Temple and the Mosque (Neu Delhi 1992), ‘Deliverance’ and Other
Stories (Neu Delhi 1990). Deliverance wurde von dem indischen Regisseur Satyajit Ray in einen hervorragenden Film
umgesetzt. Einen jüngeren Versuch, die elende Wirklichkeit des ,traditionellen’ bäuerlichen Lebens in Indien zu schildern, hat
Shrilal Shukla in ihrer Erzählung Raag Darbari unternommen, die erstmals 1968 in Hindi veröffentlicht wurde und unter
demselben Titel ins Englische übersetzt wurde (Neu Delhi 1992).
34 Die Zitate sind aus Shivas Reith-Vorlesung am 12. Mai 2000, ‘Poverty and Globalisation’, zu finden in:
“http://news.bbc.co.uk/hi/english/static/events/reith_2000/lecture5.stm” Zu Hos Auffassung vgl. ihr häufig sehr informatives
Genetic Engineering: Dream or Nightmare? (Dublin 1999), S. 143-145.
35 V. Shiva, 'Poverty and Globalisation', a.a.O.
36 Habib, The Agrarian System of Mughal India (London 1963), S. 328
37 Im Fall von Vandana Shiva beruht die Nostalgie, möglicherweise unabsichtlich, auf Religiosität und Kasten-Denken. Ihr Buch
Stolen Harvest (Cambridge, Massachusetts 2000), das mit Zitaten aus religiösen Hindu-Texten durchsetzt ist, erklärt, daß
Indien eine ‘vorherrschend vegetarische Gesellschaft’ ist, und unterstützt das Verbot der Kuh-Schlachtung. In Wirklichkeit ist
das strenge Vegetariertum auf eine Minderheit der Bevölkerung beschränkt, die Hindus oder Jains der oberen Kaste sind,
während mittlere (,rückständige’) und untere (,schedule’) Kasten und ,Stammes’-Hindus, wie auch die Christen und die mehr als
100 Millionen Moslems alle Fleisch essen, wenn sie es sich leisten können. Staatlich durchgesetzte Verbote der Kuh–
Schlachtung sind in Indien deshalb immer diskriminierende Maßnahmen, die von Hindu–Gemeindevertretern gegen islamische
und christliche Minderheiten durchgeführt werden.
38 Die Zahlen sind aus dem Bericht der Weltbank, Trends in Developing Economies (1992), S. 226
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
- 37 39 V. Shiva, Stolen Harvest (Cambridge, Massachusetts 2000), S. 103
40 Angabe in: K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S. 138
41 Le Monde diplomatique, englische Ausgabe, Januar 2000
42 V. Shiva, ,Poverty and Globalisation’, a.a.O.
43 Interview in: Socialist Review 242 (Juni 2000), S. 18
44 Pierre Tatowksy in einer Rede auf einem Treffen der britischen Studentengewerkschaft in Blackpool, April 2000
45 S. George, The Lugano Report: Preserving Capitalism in the 21st Century (London 1999)
46 V. Forrester, The Economic Horror (London 1999) S.38. Dt. Ausgabe: V. Forrester, Der Terror der Ökonomie, Wien 1997
47 Ebenda
48 E. Toussaint, Your Money or Your Life: The Tyranny of Global Finance (London 1999), S. 254
49 Das ist sein Argument in: C. Hines, Localisation: A Global Manifesto (London 2000)
50 C. Harman, ,The State and Capitalism today’, International Socialism 51 (Sommer 1991), deutsch: ,Staat und Kapitalismus
heute’, in: Internationaler Sozialismus 1, Hannover 1992; und ,Globalisation: a Critique of a New Orthodoxy’, International
Socialism 73 (Winter 1996).
51 Die Zahlen stehen im IMF Report zur US-Wirtschaft vom Juni 1999, zu finden auf der IMF Website: http://www.imf.org
52 C.H.Feinstein, ,Structural Change in the Developed Countries in the 20th Century’, Oxford Review of Economics (2000), No
1, S.53
53 V. Forrester, Der Terror der Ökonomie, a.a.O., S.33/34
54 N. Klein, No Logo, a.a.O., S. 223
55 Ebenda
56 Ebenda, S. 205
57 K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S. 216
58 Zitiert in: ,Introduction’, A. Arnove (Hg.), Iraq under Siege (London 2000), S. 11
59 A. Smith, The Wealth of Nations (London 1986), S. 169
60 P. Bourdieu, Acts of Resistance (Cambridge 1998), S. 6-7. Dt. Ausgabe: Pierre Bourdieu, Gegenfeuer, Frankfurt 1999.
61 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW 40, S. 513/514
62 K. Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 400/401
63 K. Marx, Das Kapital, Bd.1, MEW 23, S. 621
64 Marx/Engels, Collected Works (London 1996), Bd. 34, S. 398
65 Ebenda, S. 399
66 K. Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 416
67 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 465/466
68 K. Marx, Das Kapital, a.a.O., S. 744-761
69 Ebenda, S. 773-777
70 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 467
71 K. Marx, “Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien”, in: MEW 9, S. 226
72 R. Hilferding, Das Finanzkapital
73 R. Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Ges. Werke Bd.5, Berlin 1990
74 Dieser Punkt wurde von C.Harman ausgearbeitet in: Explaining the Crisis (London 1999) und: Der Irrsinn der
Marktwirtschaft, Frankfurt 1999
75 Financial Times, 15. Mai 2000
76 Vgl. z.B.: E.Crooks/A.Beattle, ,Global Warning’, Financial Times, 17. Mai 2000
77 S. George, A Fate Worse Than Debt, a.a.O., S. XIII
78 J. Petras/M. Morley (Hg.), Latin America in the Time of Cholera (New York 1992), S.27. Vgl. auch das Kapitel des Buches:
,The Retreat of the Intellectuals’.
79 K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S. 121/122
80 Ebenda, S. 175-177.
81 P. Davidson, 'Are Grains Of Sand Sufficient To Do The Job When Boulders Are Required?', Economic Journal, Mai 1997, S.
639-662.
82 K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S. 177
83 K. Marx, Grundrisse (Harmondsworth 1973), S. 162
84 K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S. 150
85 Ebenda, S. 158-162
86 Ebenda, S. 174
87 S. George, The Lugano Report, a.a.O., S. 185
88 Ebenda
89 Ebenda, S. 183
90 Ebenda, S. 187
91 S. George, The Debt Boomerang (London, 1992), S. XX. Dt. Ausgabe: Susan George, Der Schuldenbumerang, Hamburg
1993
92 K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S. 42
93 Ebenda
94 Das zappatistische ‘Social Netwar’ in Mexiko (Rand Arrayo Center, Strategy and Doctrines Program, 1998), erhältlich über:
“http://rand.org/publications/mr/mr994/mr994.pdf”<
95 S. George, The Lugano Report, a.a.O., S. 184
96 Ebenda
97 P. Bourdieu, The Weight of the World (London 1999). Dt. Ausgabe: Pierre Bourdieu, Das Elend der Welt, Konstanz 1997.
98 G. Monbiot, 'Streets Of Shame', The Guardian, 10. Mai 2000
99 K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S. 68-71
100 G. Monbiot, 'Streets Of Shame', a.a.O.
101 Ebenda
102 K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a.a.O., S. 72
103 N. Klein, The Nation, Juni 2000
104 Zu der Art und Weise, wie Babeuf versuchte, eine Partei-Organisation aufzubauen, vgl.: Ian Birchall, The Spectre of Babeuf
(London 1997), S. 54-70
herausgegeben von LINKSWENDE -- http://welcome.to/LINKSWENDE
Herunterladen