Visueller Kontakt, emotionaler Ausdruck und Wahrnehmung der Wirklichkeit -- Das Augensegment in der KPT Dr. med. Thomas P. Ehrensperger (2006) Einleitung Neben Worten, Inhalten und Bedeutungen wirken vielfältige andere averbale Kommunikationsmuster in der Begegnung zwischen Menschen. Körperpsychotherapie interessiert sich besonders für die Körpersprache, also nonverbale Übermittlung von Botschaften im Kontakt zwischen Menschen: Körperhaltung, Gesichtsausdruck, Bewegungen und Gesten, Tonfall der Stimme, sowie besonders auch Augenkontakt sind oftmals parallel sendende und empfangende „Kommunikationskanäle“, und übermitteln laufend Informationen in der menschlichen Begegnung, die, wenn auch unbewusst wahrgenommen, dennoch starke und oft auch formende und beeinflussende Impulse und Wirkungen geben. Kohärenz, Eindeutigkeit, Bestimmtheit und Klarheit im Beziehungsverhalten entsteht dann, wenn die parallel gesendeten Informationen aufeinander abgestimmt sind und sich nicht widersprechen: z.B. wenn Tonfall, Wortinhalte, Gestik, Gesichtsausdruck und Blicke das Gleiche aussagen. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf den „Augenkanal“, auf Aspekte der Neurobiologie, Entwicklungspsychologie und der klinischen Beobachtung sowie der therapeutischen Möglichkeiten. Der Volksmund betont die grosse Bedeutung: “Augen sind der Spiegel der Seele“. Tatsächlich werden über die Augen emotionale Inhalte ausgetauscht: Blicke zeigen oft Angst, Trauer, Freude, Wut, Sehnsucht und Mitgefühl, und können beim Gegenüber direkte Reaktionen auslösen. Das Auge zweifelt nicht (S.Frey 2000)(1), es sieht was es sieht, und kann bereits Reaktionen vor der bewussten Wahrnehmung der relevanten Inhalte auslösen. Neurobiologie Auf der neurobiologischen Ebene zeigt die neuere Forschung (A.Schore)(2), dass Information, welche auf den Organismus trifft, erregende Prozesse auslöst, Information bringt Energie in Bewegung. Die Plastizität des Gehirns (K.Braun, B.Bogerts 2001)(3) ist in jedem Lebensalter vorhanden, ist aber in der frühen Kindheit besonders ausgeprägt und beeinflussbar. In den ersten Lebensmonaten ist die Mutter ein „Hilfskortex“ für das Kind (Diamond et al. 1989)(4) und in diesen Transaktionen werden „Programme“ übermittelt oder „downgeloaded“, welche wiederum ganze Muster von neuronalen Verbindungen und Synapsen bilden (Dawson 1994 (in 2), A.Schore 1997)(2). Das menschliche Gesicht ist ein einmaliger Stimulus für die Auslösung biologischer und biochemischer Prozesse, z.b. kann ein verständnisvoller Blick der Mutter eine starke Zunahme endogener Opiate und Oxytocin im Gehirn des Kindes bewirken. Diese Hormone werden im Vorderlappen der Hypophyse produziert und sind biochemisch verantwortlich für die lustvolle Qualität der sozialen Interaktion und der Bindung in der Beziehung, sie wirken direkt auf die dopaminergen Neurone im kindlichen Gehirn (A.Schore)(2). 1 Abbildung 1. Aus A. Schore (2) „Protokonversation“ ist primäre Kommunikation über Augenkontakt, Laute, Hand- und Armbewegungen sowie Kopfhaltung und drückt interpersonale Wahrnehmung und Gefühle aus. Das Kind „erdet“ sich über den Augenkanal in der Mutter. Entwicklungspsychologie Der Sehvorgang hat einen zentralen und primären Einfluss auf die Entwicklung einer Bindung zur Mutter und diese frühe Prägung bestimmt das Beziehungsverhalten des Menschen (Bowlby 1988(5), Braun K, Bogerts B. 2001)(3). Diese Bindung ist mehr als nur Verhalten, sie wird buchstäblich ins Nervensystem eingebaut (Ainsworth 1967)(6). Solche Vernetzungen und „Verdrahtungen“ bestimmen später das spontane Verhalten dadurch, dass wiederkehrende Kontaktmuster durchgespielt und tausendfach wiederholt werden. „Affektmotorische Muster“ (G. Downig 2000)(7) entstehen in der primären Mutter-KindBeziehung, und wenn diese ganz oder teilweise fehlen, kann die averbale Kommunikation beim Erwachsenen beeinträchtigt werden: Beziehungsfähigkeit und Vertrauensbildung sind gestört, Nähe, körperliche Begegnung mit und verlässliche Bindungen zu anderen Menschen sind erschwert oder werden gar verunmöglicht. Das Augensegment In seinem Werk „Charakteranalyse“ (1933/1989)(8) hat Wilhelm Reich auf die segmentale Anordnung des Organismus hingewiesen und das Augensegment als anatomischneurophysiologische Einheit bezeichnet: Dazu gehören Augen, Ohren, Nase, Schädelbasis mit der occipitalen Region, Nackenmuskulatur, Grosshirnhemisphären, Hypophyse und Hypothalamus, die Formatio Reticularis, und der Hirnstamm. Alle diese Strukturen sind am Sehvorgang beteiligt. W. Reich spricht vom „okulären Panzerring“. Nach Reich entwickelt 2 der Mensch schon in frühester Kindheit eine „Kontraktur und Immobilisierung aller oder fast aller Muskeln am Augapfel zur Abwehr oder Schutz vor verletzenden Kontakten in einer feindlichen Umwelt. Unbeweglichkeit der Stirnhaut, der Augenlider, Ausdruck der Leere, oder vorquellende Augenbälle, maskenhafter Ausdruck und Unbeweglichkeit an beiden Seiten der Nase sind ihre wesentlichen Kennzeichen. Die Augen blicken wie hinter einer starren Maske hervor“ (W. Reich, Charakteranalyse). In der Bioenergetischen Analyse hat dann deren Begründer, A. Lowen auf Grund klinischer Beobachtungen weitere Differenzierungen vorgenommen und den verschiedenen Charakterstrukturen typische Ausdrucksformen in den Augen zugeschrieben (A. Lowen 1981)(9): Schizoid leer, wirr, paranoider Blick Oral sehnsüchtig, flehend, festhaltend Masochist bedeckt, beschämt, undurchschaubar Psychopath Macht, Kontrolle, eindringend, manipulativ Rigide verführerisch, wechselhaft, bedeutungsvoll Öffnung des Augenkanals Chronische Verspannungen im Bereiche des „Augenkanals“ stören den Blickkontakt. Inhalte und Bedeutungen im Kontakt können nicht durch synchronen Augenausdruck unterstützt werden. Die volle und freie Wahrnehmung der Realität mit dem ganzen breiten Spektrum ist erschwert und eingeengt, und beeinträchtigt damit die subjektive Welt des Betrachters. Erweiterung und Verbesserung des Sehvermögens korrelieren mit innerem Wachstum der Person in Beziehung zum eigenen Selbst und hat wenig zu tun mit eher manipulativen Behandlungen der Augenmuskeln durch reine Augenübungen.(L. Scholl 1994) (10), W.H. Bates 1991(11). Der Sehvorgang ist eine Funktion der ganzen Person. Die Augen sind zwar optische Instrumente, aber viel wichtiger sind sie für den emotionalen Kontakt mit der Welt und mit anderen. Deshalb kann der Blick auch nur in der Interaktion mit anderen beurteilt werden. Wenn diese Interaktionen, oder deren Mangel, nicht untersucht werden, bleibt die „Entwicklung und die Zukunft der therapeutischen Beziehung, und damit die Prognose für die Behandlung verschwommen und unklar“ (J.Bellis 1992)(12). Dabei ist aber auch zu beachten, dass je stärker und genauer jemand schauen will, desto geringer wird der emotionale Kontakt: das Gegenüber wird dann lediglich als penetrierend und verhörend erlebt aber sicherlich nicht als einfühlsam oder gar liebevoll. Wir versuchen eine emotionale Interaktion zu ermöglichen, und nicht nur einen optischen Informationsaustausch herzustellen, wir untersuchen mit dem Patienten also die Kontaktfunktion des Sehens und Gesehenwerdens und im Therapieprozess zu entwickeln und zu erweitern. Eine Vielzahl von Augenübungen können Verspannungen der Muskeln im okulären Segment bewusst machen, dabei sind auch Übungen zur Lockerung der Nackenmuskulatur sehr hilfreich, aber immer wieder beachte man die integrativen Aspekte um Gefühl, Sehen und Sprache zu verbinden. Unsachgemässes Stimulieren des „Augenkanals“ birgt auch Gefahren: Beispiel Fragmentierung: Die schizoide Persönlichkeitsstörung imponiert körperlich in vielfacher Form als fragmentiert im Selbst- und im Fremderleben, wird aber besonders im Ausdruck der Augen sichtbar. Sie wirken leblos und starrend, manchmal ist ein leichtes Schielen bemerkbar der Betrachter hat das Gefühl, er werde nicht wirklich angeschaut ("paranoider Blick"). Wenn man nun mit einer solchen Persönlichkeit Augenübungen durchführt, bevor eine gute und tragende Beziehung zum Therapeuten besteht und das Standvermögen ausreicht, kann dadurch ein psychotischer Schub ausgelöst werden. Solche Zwischenfälle erlebt man gelegentlich, wenn ungenügend 3 ausgebildete und unerfahrene Therapeuten mit körperpsychotherapeutischen Methoden arbeiten. (z.B in Partnerübungen sehr langes wortloses sich in die Augen blicken) Die sorgfältige Beachtung des Erdungsprinzips (13)(Ehrensperger 1996) ist hier ausschlaggebend und vermittelt Sicherheit. Gegebenenfalls sollten Augenübungen mit Erdungsübungen unterstützt werden. Augenkontakt Wenn Menschen dem Augenkontakt ausweichen gibt es vielerlei Gründe dafür: Angst, Wut, Trauer, Sehnsucht, Freude, Scham oder Scheu etc. Widerstand oder Schutz vor der Offenbarung der zugrundeliegenden Gefühle ist meines Erachtens meist die Ursache dafür. Natürlich versuchen wir in der Therapie diese Widerstände und deren Motive bewusst zu machen, um die abgespaltenen Teile der Persönlichkeit wieder zu integrieren, Ziel ist die Verbindung der inneren und äusseren Wahrnehmung, sodass der Klient sowohl in Verbindung stehen kann mit der Wahrnehmung seiner inneren Welt, seinem inneren Milieu, und der ihn umgebenden Wirklichkeit, was Kohärenz und Klarheit ausdrückt. In der Gruppentherapie fordern wir öfters Klienten auf sich umzuschauen im Kreis und die Wirkung ihrer Aussagen auf die anderen Gruppenmitglieder wahrzunehmen. Beispiel: Eine Frau erzählt ein traumatisches Erlebnis aus ihrer Kindheit. Immer wieder hatte sie die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen um Anerkennung und Liebe zu spüren, eigenständiges Verhalten wurde bestraft. Am Ende ihrer Erzählung wirkt sie traurig, kann aber das Gefühl selbst nicht spüren. Während der Erzählung blickt sie auf ihre Füsse, die Stimme wirkt monoton und ausdruckslos, die Mimik maskenhaft und unbeteiligt. Die Aufforderung sich im Kreis umzusehen, um die Wirkung auf die anderen Gruppenteilnehmer wahrzunehmen, löst Angst aus; sie erwartet Ablehnung oder Bestrafung. Als sie wiederum ermutigt wird sich umzusehen, erlebt sie das Unerwartete, in den Augen der anderen Gruppenteilnehmer sieht sie Interesse und auch Mitgefühl: sie hatte diese Reaktion nicht erwartet. Der mitfühlende Augenkontakt löst die Spannung in ihren ängstlichen Augen und Tränen fliessen, gleichzeitig spürt sie eine Wärme in ihrer Brust, ausgelöst durch diese unerwarteten herzlichen Gefühle der Umgebung. Sie fällt in ein tiefes Schluchzen und das Weinen breitet sich in Form von Zittern und Muskelkontraktionen über den ganzen Körper aus. Danach fühlt sie eine tiefe Entspannung. Das Beispiel macht deutlich, wie Angst vor Ablehnung innere Spannung erzeugt. Erdung in der Beziehung und das Gefühl des Aufgehobenseins im Augenkontakt zu den anderen Gruppenmitgliedern ermöglicht ein tiefes und erlösendes Weinen. Dieser Ablauf ihrer Erfahrungen legt nahe, dass sie eine „korrigierende Erfahrung“ machte und sich dadurch ihre Vorstellung der feindlichen oder ablehnenden Umwelt mildern konnte. Heilungsprozess und korrigierende Erfahrung Fokussierung auf den „Augenkanal“ in der Therapie kann nach meiner Erfahrung sehr schnell regressive Erlebnisse auslösen, weil die in der frühen Kindheit erlebten Erinnerungen ganz plötzlich das Bewusstsein überschwemmen können. Insbesondere Bilder und Gefühle aus lange vergessenen oder verdrängten Zeiten können urplötzlich wieder auftauchen. Wie auch an anderen Orten ist hier die Dosis wichtig. Überdosierung, wie zu lange oder forcierter Augenkontakt kann grenzverletzend und damit schädlich sein. Augenarbeit beinhaltet aber auch eine grosse Chance, weil es oft Erlebnisse aus der praeverbalen Entwicklungsphase sind, die spätere Störungen in den emotionalen Kontakten bewirken. Aufgabe der Therapie ist es, Worte und Verständnis dahin zu bringen, wo es bisher noch keine Sprache dafür gab. Die 4 Integration dieser „frühen“ Bilder, Gefühle und Körperwahrnehmungen erfordert viel Zeit und Geduld innerhalb des therapeutischen Prozesses. Das Bewusstwerden allein genügt aber noch nicht für eine dauerhafte Heilung. Es ist vielmehr auch notwendig, die Möglichkeit der korrigierenden Erfahrung innerhalb der Therapie zu erleben, damit auch im realen Leben die entsprechenden Veränderungen stattfinden können. Wenn zum Beispiel Erlebnisse von Entbehrungen oder anderen Traumatisierungen in der frühen Kindheit im Laufe der Therapie bewusst werden, kann eine grosse Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit schmerzlich auftauchen. Aber erst wenn die bisherige, über lange Jahre geübte und gewohnte einsame Position im Alltag durch neue und nährende Kontakte abgelöst wird, erst dann kann sinnvolle Beziehungsfähigkeit entstehen. Wenn sich jemand, wie im obigen Beispiel umschaut, und die ernährende und unterstützende Wirkung des Augenkontaktes spürt, ist es oft wichtig nachzufragen, wie die Person dies auch körperlich erlebt. Eine solche Frage mag banal wirken, die Erfahrung zeigt aber, dass der Verdrängungsprozess oft auch auf der Ebene der inneren Körperwahrnehmung wirkt und damit die subjektive Wirklichkeit prägt. Sehr oft hört man dann, und die Person kann überrascht wirken: „das tut gut“, oder „ich spüre Wärme im Herzbereich“ etc. Erst dann hellt sich das Gesicht auf und es zeigt sich Freude in den Augen. Zusammenfassung Der „Augenkanal“ transportiert wichtige Informationen in der Begegnung zwischen Menschen. Information löst energetische Prozesse aus, insbesondere bewirken optische Reize eine Kaskade von neurobiochemischen Reaktionen. Augen sind in der Begegnung von Menschen nicht nur optische Instrumente, sondern sie transportieren immer auch emotionale Signale und zwar in beiden Richtungen: Wir nehmen bewusst oder unbewusst emotionale Botschaften auf, aber gleichzeitig sendet unser Blick auch Zeichen und Gefühle. Wir können auch „mit den Augen des Herzens“ schauen. Visuelle Fokussierung kann frühe Erinnerungen wachrufen, die bei ungenügender Erdung auch das Bewusstsein überschwemmen und fragmentierend auf die Persönlichkeit wirken können. Öffnung des „Augenkanals“ kann die subjektive Wahrnehmung und Interpretation der Welt verändern, und kann die persönliche Erfahrung erweitern, sowie Wachstum und Entwicklung der Persönlichkeit fördern. Literatur 1 S.Frey (2000) Die Macht des Bildes: Der Einfluss der nonverbalen Kommunikation auf Körper und Geist. Vortrag am 2.Kongress des CH-EABP in Basel 2 Allan N. Schore (1979) Interdisciplinary Developmental Research as a Source of Clinical Models, in M.Moskowitzt et al.(1997) The Neurobiological and Developmental Basis for Psychotherapeutic Intervention, Jason Aronson Inc.Northvale, New Jersey, London 3 K.Braun,B.Bogerts (2001) Erfahrungsgesteuerte neuronale Plastizität, Bedeutung für Pathogenese und Therapie psychischer Erkrankungen, Nervenarzt 2001.72:3-10 Springer-Verlag 4 Diamond, A. Doar,B. (1989) The performance of human infants on a mesure of frontal cortex function, the delayed response task. Developmental Psychobiology 22:271-294 5 Bowlby, J.(1988) Attachment, communication and the therapeutic process. In: A secure Base Clinical Applications of Attachment Theory. London: Routledge 6 Ainsworth, M.D.S.(1967) Infant Care and the Growth of Love. in (2) 7 Downing G. (2000) in Ehrensperger T. (Hrsg) Bioenergetik im Spannungsfeld der Geschlechter, Liebe Erotik und Sexualität in der Körperpsychotherapie, Basel, Schwabe-Verlag 5 8 Reich, W. (1933/1989) Charakteranalyse. Köln: Kiepenheuer & Witsch 9 Lowen, A.(1958/1981) Körperausdruck und Persönlichkeit – Grundlagen und Praxis der Bioenergetik Kösel-Verlag München 10 Scholl, L. (1994) Das neue Augentraining, der ganzheitliche Weg zur Verbesserung der Sehfähigkeit , Goldmann-Verlag München 11 Bates W.H. (1943/1991) Rechtes Sehen ohne Brille, Rohm Verlag Bietigheim ISBN 3-87683-171-7 12 Bellis, J. The Armoring of Our Eyes, (1992) The Journal of the International Institute For Bioenergetic Analysis Vol 5/1, 71-80 13 Erdung in der therapeutischen Arbeit und im Alltag Marlock/Weiss Handbuch der Körperpsychotherapie (2006) S 692-698 Schattauer, Stuttgart 6