Es gibt tatsächlich eine neue Lust auf Sinn und Werte

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B E R I C H T
Seelsorge und Psychotherapie sind kein Gegensatz: Ein Kongress führt beides
zusammen
Luitgardis Parasie
„Es gibt eine neue Lust auf Sinn und Werte.“ So Martin Grabe, Chefarzt an der Klinik Hohe
Mark in Oberursel, anlässlich der Eröffnung des 4. Internationalen Kongresses für
Psychotherapie und Seelsorge, der vom 28. Mai bis 1. Juni in Marburg stattfand. Der
Andrang gab ihm recht: Mit 650 teilnehmenden Ärzten, Psychologen, Pastoren und
Laienseelsorgern war die Tagung über das Thema „Psychotherapie in der Krise? – Die neue
Lust auf Sinn und Werte“ voll ausgebucht, trotz parallel laufenden Ökumenischen
Kirchentages in Berlin. Veranstalter war die Akademie für Psychotherapie und Seelsorge
(APS). Ziel der Veranstaltung: „Wir wollen eine Plattform bieten, wo sich Psychotherapie
und Seelsorge begegnen und voneinander lernen können.“ Die Idee stammt von Samuel
Pfeifer, Chefarzt der Klinik Sonnenhalde in Riehen, Schweiz, der bereits 3 solcher Kongresse
in der Schweiz durchführte.
Was ist Psychotherapie, was ist Seelsorge? Seelsorge, so Pfarrer Rolf Sons vom Seminar der
Liebenzeller Mission, hat es immer mit der Gottesbeziehung zu tun, mit Glaube, Geboten und
Gebet. Psychotherapie hingegen ist eine Heilkunde, eine erlernbare Methode, und dient der
Behandlung von definierten Krankheiten. Sie sei jedoch offen für die religiöse Dimension,
meinte Rolf Senst, Chefarzt der De Ignis Klinik in Egenhausen. Es sei möglich, den Glauben
in eine Therapie zu integrieren. Eine „christlich-integrative Therapie“ habe stets das Fernziel,
das Vertrauen in Gott zu vertiefen. Religiöse Themen wurden jedoch lange Zeit in der
Psychotherapie ausgeklammert. Das habe zu einem Notstand geführt, sagte die Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutin Christa Meves (Uelzen), und zu einem „Boomen der
Scharlatanerie von zaubernden Esoterikern“. Dabei habe das Christentum fundierte
Antworten auf Patientenfragen. Am Rande wurde mitgeteilt, dass Meves’ Ehemann infolge
eines Schlaganfalls schwer erkrankt ist. Auch seine Sprache ist beeinträchtigt. Eins könne er
jedoch noch sagen: „Ich liebe dich.“
Mehr Bescheidenheit angesagt
Die „dreisten Wahrheitsansprüche älterer Psychologien“ verbieten sich nach Ansicht des
niederländischen Philosophen und Theologen Willem J. Ouweneel heute aufgrund neuer
Theorien, die besagen: Unsere Beobachtungen sind immer vom jeweiligen Kontext bestimmt,
dem wir selber mit angehören, es gibt für uns keinen objektiven Standpunkt der
Wahrheitsfindung. Deshalb sei mehr Bescheidenheit in der Wissenschaft angesagt, meinte
Ouweneel.
Auch in der Ausbildung von Ärzten muss sich nach Meinung von Prof. Friedhelm Lamprecht
(Hannover) manches ändern. Sie sei zu stark an Krankheiten orientiert. Lamprecht plädierte
für eine Lehre vom Gesundwerden. Krankheiten und Krisen sollten als Herausforderungen
angesehen und nach den eigenen Kraftquellen des Patienten gefragt werden. Als Beispiel
führte Lamprecht den zweimaligen Gewinner der Tour de France, Lance Armstrong, an, der
gesagt hat: „Meine Krebserkrankung ist das Beste, was mir passiert ist.“ Armstrong habe
aufgrund seiner Erkrankung seinen Kindheitsglauben als Quelle von Kraft und Sinn
wiedergefunden und aktiviert.
„Verwirrte Ziele“
Brisante Themen wurden bei den Hauptvorträgen und 70 Seminaren nicht ausgespart. Zu
Sinn und Werten in der Gentechnologie sagte die Dresdener Religionsphilosophin HannaBarbara Gerl-Falkowitz: „Wir haben vollkommene Mittel, aber vollständig verwirrte Ziele“.
Gerl-Falkowitz kritisierte Ideen wie die des amerikanischen Wissenschaftstheoretikers Roy
Kurzweil, den Menschen zu optimieren etwa mittels einer Kreuzung zwischen Mensch und
Maschine. Brillenträger beispielsweise könnten dann statt einer Brille künftig einen Nanochip
im Gehirn tragen. Kennzeichen des Menschen, so Gerl-Falkowitz, sei jedoch gerade, dass er
leiden und sterben müsse: „Menschsein enthält nicht als Ausnahme, sondern konstitutiv eine
Störung.“ Es sei unumgänglich, nach einem „Darüber hinaus“ dieses beschränkten Lebens zu
fragen. Der Mensch komme aus einem Ursprung, über den er nicht selber verfüge, und in
diesen Freiheitsraum dürfe er nicht eingreifen. Keiner dürfe in die Lage kommen,
Rechenschaft über sein Dasein abgeben zu müssen, resümierte Gerl-Falkowitz.
Ein Widerruf
Eine breit gefächerte Themenpalette boten die Seminare an den Nachmittagen. Da ging es um
Sinnfragen, Tanz- und Musiktherapie, um Zwänge und Angst, Sucht und Sexualität. Der
freikirchliche Hamburger Pastor Wolfram Kopfermann widerrief das von ihm früher
vertretene Konzept der „inneren Heilung“. Dabei werden Verletzungen der Vergangenheit vor
Gott gebracht und um „innere Heilung“ dieser Verletzungen gebetet. „Das gibt es im Neuen
Testament nicht“, so Kopfermann. Man solle vielmehr seine Kraft darauf konzentrieren, an
der Gegenwart zu arbeiten. Auch umstrittene Positionen waren unter den Seminarangeboten
vertreten: Der Berliner Arzt und Leiter einer charismatischen Gemeinde Wolfhard Margies
etwa, oder ein Seminar zu Familienaufstellungen nach Bert Hellinger. Man wollte, so die
Marburger Ärztin Claudia Schark, eine der Mitorganisatorinnen des Kongresses, bewusst
Gespräche auch über möglicherweise zweifelhafte Therapie- bzw. Seelsorgeformen
ermöglichen.
In einigen Seminaren erlernten die Teilnehmenden praktisches therapeutisches
Handwerkszeug: Wie Mitarbeiter in einer Klinik auf effektive Weise das zentrale Problem
eines Patienten herausfinden, erfuhr man bei Martin Grabe. Bei Ralf Elsner von der De Ignis
Klinik konnte man konzentrative Bewegungstherapie üben, und bei Jost Wetter-Parasie, Arzt
und Psychotherapeut aus Northeim, zeichneten Teilnehmer einen eigenen
Familienstammbaum und lernten, ihn auszuwerten. Das Konzept des Kongresses kam
offensichtlich an: „Mir gefällt der Kongress. Zwar waren zwei von mir besuchte Seminare
einfallsloser Frontalunterricht, da hatte ich praktische Übungen erhofft nach dem vielen
Zuhören am Vormittag. Aber die Atmosphäre hier ist toll, auch das Rahmenprogramm z. B.
mit Adrian Plass. Ich finde es wichtig, dass so ein Forum in Zukunft fest etabliert wird“, sagte
eine Sozialpädagogin aus Frankfurt. Der Wunsch wird erfüllt werden: Der nächste Kongress
wird über Himmelfahrt 2006 wieder in Marburg stattfinden.
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