Text 4 Franz Kafka, Auf der Galerie

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TEXT I
Franz Kafka, Eine kaiserliche Botschaft
Der Kaiser – so heißt es – hat dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen
Untertanen1, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne
geflüchteten Schatten, gerade dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine
Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die
Botschaft ins Ohr geflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, dass er sich sie noch
ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten
bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes – alle hindernden
Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden
Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs – vor allen diesen hat er den
Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger,
ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend
schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust,
wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer.
Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich
freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest du das herrliche Schlagen
seiner Fäuste an deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab;
immer noch zwängt er sich durch die Gemächer 2 des innersten Palastes; niemals
wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die
Treppen hinab müsste er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre
gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite
umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und
so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor –
aber niemals, niemals kann es geschehen –, liegt erst die Residenzstadt 3 vor ihm,
die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes 4. Niemand dringt hier
durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an deinem Fenster
und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.
1
Loyal subject
das Gemach (veralt. geh.) apartment
3
[royal] capital
4
residue, sediment
2
Text 2
Franz Kafka, Eine alltägliche Verwirrung
Ein alltäglicher Vorfall: sein Ertragen eine alltägliche Verwirrung. A hat mit B aus
H ein wichtiges Geschäft abzuschließen. Er geht zur Vorbesprechung nach H,
legt den Hin- und Herweg in je zehn Minuten zurück und rühmt sich zu Hause
dieser besonderen Schnelligkeit. Am nächsten Tag geht er wieder nach H,
diesmal zum endgültigen Geschäftsabschluss. Da dieser voraussichtlich mehrere
Stunden erfordern wird, geht A sehr früh morgens fort. Obwohl aber alle
Nebenumstände, wenigstens nach A's Meinung, völlig die gleichen sind wie am
Vortag, braucht er diesmal zum Weg nach H zehn Stunden. Als er dort ermüdet
abends ankommt, sagt man ihm, dass B, ärgerlich wegen A's Ausbleiben, vor
einer halben Stunde zu A in sein Dorf gegangen sei und sie sich eigentlich
unterwegs hätten treffen müssen. Man rät A zu warten. A aber, in Angst wegen
des Geschäftes, macht sich sofort auf und eilt nach Hause.
Diesmal legt er den Weg, ohne besonders darauf zu achten, geradezu in einem
Augenblick zurück. Zu Hause erfährt er, B sei doch schon gleich früh gekommen
– gleich nach dem Weggang A's; ja, er habe A im Haustor getroffen, ihn an das
Geschäft erinnert, Aber A habe gesagt, er hätte jetzt keine Zeit, er müsse jetzt
eilig fort.
Trotz diesem unverständlichen Verhalten A's sei aber B doch hier geblieben, um
auf A zu warten. Er habe zwar schon oft gefragt, ob A nicht schon wieder zurück
sei, befinde sich aber noch oben in A's Zimmer. Glücklich darüber, B jetzt noch
zu sprechen und ihm alles erklären zu können, läuft A die Treppe hinauf. Schon
ist er fast oben, da stolpert er, erleidet eine Sehnenzerrung 5 und fast ohnmächtig
vor Schmerz, unfähig sogar zu schreien, nur winselnd 6 im Dunkel hört er, wie B
– undeutlich ob in großer Ferne oder knapp neben ihm – wütend die Treppe
hinunterstampft und endgültig verschwindet.
5
6
pulled tendon
whimper; (abwertend) whine
Text 3
Franz Kafka, Die Sorge des Hausvaters
Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen
auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen,
es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflusst. Die
Unsicherheit beider Deutungen aber lässt wohl mit Recht darauf schließen, dass
keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden
kann.
Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht
wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. Es sieht zunächst aus wie eine
flache sternartige Zwirnspule 7, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn
bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber
auch ineinanderverfitzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es
ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein
kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen 8 fügt sich dann im rechten
Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und
einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie
auf zwei Beinen aufrecht stehen.
Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde 9 hätte früher irgendeine
zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber
nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind
Ansätze oder Bruchstellen 10 zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen
würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen.
Näheres lässt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich
beweglich und nicht zu fangen ist.
Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen,
im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere
Häuser übersiedelt; doch kehrt er dann unweigerlich 11 wieder in unser Haus
zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am
7
Bobbin, reel of thread.
[small] stick; rod
9
construction; structure
10
fracture
11
inevitably
8
Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzusprechen. Natürlich stellt man an ihn
keine schwierigen Fragen, sondern behandelt ihn – schon seine Winzigkeit
verführt dazu – wie ein Kind. »Wie heißt du denn?« fragt man ihn. »Odradek«,
sagt er. »Und wo wohnst du?« »Unbestimmter Wohnsitz«, sagt er und lacht; es ist
aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt
etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung
meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft
ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint.
Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben?
Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat
es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa
noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem
Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? 12 Er schadet ja offenbar niemandem;
aber die Vorstellung, dass er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast
schmerzliche.
12
roll down
Text 4
Franz Kafka, Auf der Galerie
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf
schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom
peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung
im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend,
in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden 13
Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich
öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu
anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind
– vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle
Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das: Halt! durch die Fanfaren des immer
sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen
den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor,
hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet;
vorsorglich sie auf den Apfelschimmel 14 hebt, als wäre sie seine über alles
geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen
kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es
knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der
Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit 15 kaum begreifen kann;
mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte
wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das
Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich
die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küsst und keine
Huldigung16 des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm
gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten
Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will –
da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im
Schlussmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu
wissen.
13
Aussetzen, itr. V. = aufhören.
Dapple-grey horse
15
Skillfulness
16
Tribute, homage
14
Text 5
Franz Kafka, VON DEN GLEICHNISSEN
Viele beklagen sich, dass die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse
seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir.
Wenn der Weise sagt: »Gehe hinüber«, so meint er nicht, dass man auf die andere
Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das
Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben,
etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und
das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich
nur sagen, dass das Unfassbare unfassbar ist, und das haben wir gewusst. Aber
das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge.
Darauf sagte einer: »Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen,
dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe
frei.«
Ein anderer sagte: »Ich wette, dass auch das ein Gleichnis ist.«
Der Erste sagte: »du hast gewonnen.«
Der Zweite sagte: »Aber leider nur im Gleichnis.«
Der Erste sagte: »Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.«
Text 6
DER STEUERMANN
»Bin ich nicht Steuermann?« rief ich. »du?« fragte ein dunkler hoch gewachsener
Mann und strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuche er einen
Traum. Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die
schwachbrennende Laterne über meinem Kopf, und nun war dieser Mann
gekommen und wollte mich beiseiteschieben. Und da ich nicht wich, setzte er
mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch
immer an den Stäben des Steuerrades hing und beim Niederfallen es ganz
herumriss. Da aber fasste es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er
weg. Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannschaftsraum
führte und rief: »Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich
vom Steuer vertrieben!« Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe,
schwankende müde mächtige Gestalten. »Bin ich der Steuermann?« fragte ich.
Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie
um ihn herum und, als er befehlend sagte: »Stört mich nicht«, sammelten sie
sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab. Was ist das für
Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?
Text 6
Franz Kafka, KLEINE FABEL
»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so
breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich
rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so
schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im
Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »du musst nur die Laufrichtung
ändern«, sagte die Katze und fraß sie.
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