2004-02-01_deWaal - la:sf Lehranstalt für systemische

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Systemische Notizen 02/04
Therapiepraxis
HELMUT DE WAAL
GROSSE WORTE UND GESTEN
Gedanken zum Pathetischen in der Psychotherapie
ZUERST DER VERSUCH einer Definition: Vom Pathetischen sprechen wir dann, wenn wir erfasst werden
oder uns erfassen lassen von etwas, das – unserer Empfindung nach – größer ist als wir, es ist ein Zustand
von Passivität, in den wir uns begeben, den wir riskieren und erleiden: „Wir lassen uns ergreifen“. Wobei das
nicht negativ gemeint ist, alle Erfahrung von Hingabe, Begeisterung, Faszination usw. ist so geartet;
„überrascht sein“, „sich wundern“ ist eine pathetische Erfahrung, auch die Erkenntnis des Neuen, zumindest
im Moment der Entdeckung, wenn die aktive Neugierde umschlägt in die passive Verwunderung.
Das Gegenüber des Pathetischen ist das Skeptische. Es ist immer mehrdeutig oder führt die Mehrdeutigkeit
in den Diskurs zwischen Menschen ein – das Pathetische hingegen behauptet Eindeutigkeit und, zumindest
meistens („ich erlebe es so“), Gültigkeit. Das Pathetische findet immer in der Gegenwart statt, ja schafft
Gegenwart. Es entbehrt im Unterschied zum Skeptischen (das nur aus der Distanz heraus möglich ist) der
Distanz. In der modischen Terminologie von gestern: Das Pathetische ist das „Hier und Jetzt“ per se.
Nachdem das Pathetische subjektiv assoziiert erlebt wird
– dem eigenen Gefühl nach tatsächlich erlitten – kann auch leicht die Verantwortung dafür abgegeben
werden
– „etwas Höheres hat uns erfasst“.
Für den Psychotherapeuten eine problematische Geschichte, trotzdem manchmal unvermeidlich, an sich
auch nützlich. Unter dem Motto „ man kann zumindest darüber reden“ soll hier reflektiert und auch nach
plausibler, verantwortungsvoller und nachvollziehbarer Anwendung gesucht werden.
AN DEN ANFANG soll eine persönliche Vorbemerkung über das Pathetische und das Peinliche gestellt
werden. Persönlich liegt mir das Pathetische überhaupt nicht, es erlaubt wenig Selbstkontrolle, setzt die
distante Wahrnehmung, auch die Selbstwahrnehmung, außer Kraft. Gelingt deswegen dann das Pathetische
nicht punktgenau – das ist die unvermeidlich riskierte, mögliche Nebenwirkung – dann kommt das Peinliche
auf (obwohl das wiederum durchaus spannend sein kann, denn das Auftreten des Peinlichen signalisiert
immerhin, dass etwas aufregend Neues geschieht, das uns insgesamt betrifft und betroffen macht). Aber wir
haben es nicht so gerne, weil die Erfahrung der Peinlichkeit in ihrer Gesamtheit alle andere Erfahrung
blockiert – wir könnten in den Erboden versinken, wir schämen uns dann buchstäblich zu Tode, oder
zumindest, wie man im Gemeindebau früher gesagt hat, „bis in den Arsch hinein“ (um einmal gleich eine
kleine peinliche Duftmarke zu setzen). Das Peinliche ist das Pathetische, wenn es schief geht – systemisch
gesprochen: ein zu großer Unterschied, den wir plötzlich und körperlich verspüren. Das ist dann eine
Erfahrung, die wir eher vermeiden, schon aus eigenem Interesse. Man könnte das nicht oft aushalten oder
müsste, noch schlimmer, der Erfahrung des Peinlichen gegenüber total abgestumpft sein.
Trotzdem, das Pathetische wird offenbar gebraucht, setzt sich immer wieder durch – man denke nur an die
konkurrenzlose Ergriffenheit und absolute Überzeugtheit von Klienten, die sich einer Familienaufstellung
unterzogen haben oder ganz generell an den Versuch der Wiedererrichtung von großen Ritualen, etwa von
Hochzeitsbräuchen („Baumstämme durchsägen“ und ähnlich abstruse Unternehmungen), die zwar völlig
sinnentleert, aber trotzdem mit Andacht und Hingabe verwendet werden – und natürlich auch an den immer
wieder verspürten Wunsch von verzweifelten Menschen, dass etwas Eindeutiges, Erlösendes und
Machtvolles unsererseits passieren möge, das wundersam ihre Sorgen beseitigt, ein Wunsch, den wir nicht
erfüllen können, den wir aber auch ernst nehmen müssen, wenn wir den Klienten nicht verlieren wollen an
jene, die hier großzügigere Versprechen abgeben.
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Systemische Notizen 02/04
Therapiepraxis
AN SICH sind wir als systemische Therapeuten ja bescheiden geworden. Wir sind dem Skeptischen
verpflichtet. (s. A.Retzer). Der Therapeut weiß die Wahrheit nicht mehr, macht nur Unterschiedsvorschläge
und ist ansonsten neutral. Wir „glauben“ eben nicht, wir halten für möglich.
Der Klient ist der Experte für Stimmigkeit und Gültigkeit, nicht der Therapeut.
Aber die tatsächlich erfahrene Realität ist anders. Die Überzeugungen des (systemischen) Therapeuten und
die Erwartungen, zumindest die Hoffnungen und Sehnsüchte, der Klienten gehen manchmal auseinander.
Wir kennen z.B. in unserem Alltagsleben die großen ergreifenden Übergänge nicht mehr, sie sind in der
Vieldeutigkeit modernen Lebens verschwunden – man braucht da nur an die Kompliziertheit des
jugendlichen Heranwachsenden denken und an die vielen, komplexen Übergänge ins Erwachsenenalter:
Führerschein, Bundesheer, Matura, eigene Wohnung, eigenes Geld, eigene Waschmaschine etc. etc. Wer
sehnt sich da nicht nach der Eindeutigkeit der Übergangsrituale zurück, die van Genepp geschildert hat.
Trotzdem: Wir finden sie realiter nicht und Kopien sind eher peinlich als nützlich, aber die Sehnsucht nach
dieser Eindeutigkeit, Klarheit und definitiven Unterscheidung ist nur zu verständlich. Die wenigen großen
Erzählungen sind zwar zugunsten vieler und vielfältiger kleiner zurückgetreten (s. K. Grossmann), aber der
Traum von großer und klarer Erzählung ist geblieben und offenbar auch die Vorstellung, der
Psychotherapeut könnte der Autor, der Verkünder und Regisseur dieser Erzählung sein.
Wir unterscheiden uns ja zumindest offiziell strikt von jeglicher Guruhaftigkeit – Simon und Retzers Ahndung
Bert Hellingers sind hier ein Beispiel.
Die Annäherungen des Psychotherapeuten an seinen Klienten sind zurückhaltend und postmodern
geworden. Das ist an sich gut, alles Andere empfinden wir als peinlich, aufdringlich und unpassend.
Das Pathetische ist aus der Psychotherapie verschwunden – was hätte es auch dort zu suchen, wir sehen
es eher im Privaten, in der Freundschaft, in der Liebe, im Kinderkriegen. Glaubensdingen im öffentlichen und
gar professionellen Rahmen gegenüber sind wir misstrauisch.
Aber das ist, wie gesagt, die eine Seite der Geschichte. Wir leben nicht nur in einer Zeit des Entbehrens
großer Gesten und Rituale, wir sehen uns auch – seitens der Klienten zumindest – dem Verlangen
ausgesetzt, es möge jemand die dazugehörige Rolle einnehmen, tatsächlich ein wissender Seelenführer
sein wie der Priester oder zumindest so klar und eindeutig wie der Arzt. Wenn der Klient uns gegenüber
steht mit seiner Sehnsucht nach dem Wunderbaren, nach Lossprechung oder Heilung, dann sehen wir uns,
angesichts des Klientenwunsches, einerseits mit unserem Unvermögen der Einflussnahme konfrontiert, aber
anderseits auch der Versuchung ausgesetzt, die pathetische Pose trotzdem einzunehmen. Wobei allerdings
angeführt werden soll, dass diejenigen, die zur bedeutsamen Pose bereit sind, nicht immer alle ihre Folgen
tragen wollen – ein Priester oder Schamane wäre man nämlich immer, 24 Stunden am Tag und jeden Tag
des Jahres, nicht nur zu den Praxisöffnungszeiten oder wenn wir bei „Energie“ sind.
NOCH EINMAL zusammengefasst – manchmal vermissen wir das Pathetische allerdings, auch in unserem
therapeutischen Vollzugsrepertoire:
Auch wenn die anderen damit so großen Erfolg haben – zumindest momentan – und wir glauben, dass das
auch den Klienten gegenüber eine unfaire Konkurrenz darstellt: Wir sehen hier das Große durch die
Hintertür, ohne korrekte Legitimation wiedergekommen – etwa wenn der esoterische Lebensberater sich
aufführt wie ein Hoher Priester.
Oder wenn wir Bedeutsamkeit in der Therapie aus drücken oder dem Klienten ermöglichen wollen,
bedeutsame Unterschiede in seinem Leben zu markieren oder zu erfahren, bzw. als Erfahrung zu vermitteln,
Sollten wir das überhaupt (auf diese Weise)?
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Therapiepraxis
Aber wir müssen hier bedenken: Das Pathetische zu ermöglichen heißt Gelegenheiten zur Wahl eher zu
verringern, wir vermehren damit nicht Möglichkeiten, wir schränken sie ein – etwa, wenn wir einen Übergang
von einer Lebensphase zur anderen durch Rituale markieren. Übergangsrituale sind pathetische Ereignisse,
zumindest im Kern, hat man sich dazu entschieden, werden sie riskiert, und man liefert sich ihnen aus, sie
markieren immer ein Tor zum Unbekannten, das durchschritten und erfahren wird (man denke nur an die
Rituale der Initiation junger Männer in den Status des Erwachsenen). Das kann nicht wieder ungeschehen
gemacht werden. Das bezeichnet jetzt überhaupt den Unterschied zwischen dem pathetischen dem
skeptischen Vorgehen. Wer skeptisch vorgeht, erwägt, verwirft, wählt aus, wer pathetisch vorgeht, hat
entschieden.
Was heißt Neutralität bezüglich dem Pathetischen und dem Skeptischen – denn das sind ja nicht zwei
therapeutische Interventionsformen, die einander irgendwie gleichwertig gegenüberstehen, sondern zwei
grundverschiedene Formen der Wahrnehmung?
VERSUCH EINER STANDORTBESTIMMUNG in Bezug auf das Pathetische in der Therapie:
Wir sind in der Therapie immer mit zwei grundsätzlich verschiedenen Möglichkeiten befasst, mit „Erfahrung“
umzugehen: Entweder wir „verwenden“ und ändern damit bereits gemachte Erfahrungen – wir erinnern und
reflektieren könnten wir hier oberbegrifflich sagen – wir erzeugen damit Vieldeutigkeit und stellen Gültigkeit
in Frage, oder wir inszenieren oder ermöglichen zumindest neue Erfahrungen, die zumeist unmittelbar und
als solche erst einmal eindeutig und absolut erlebt werden, „das geschieht mir jetzt“ – das wäre der
Unterschied zwischen reflektieren und erleben. Natürlich tun wir immer auch beides, weil die „Begegnung“
als solche bereits eine neue Erfahrung darstellt. Die ist uns allerdings nicht immer vollständig zugänglich und
absichtsvoll handhabbar, wie immer wir „Beziehung“ als solche werten oder verstehen.
Hier mein Verfahrensvorschlag:
Das Pathetische, wie es hier verstanden wird (nämlich als Teil absichtsvoll gestalteter Psychotherapie) kann
als Erfahrung eingestuft werden, und zwar als Erfahrung des Klienten, nicht des Therapeuten. Genauer
gesagt natürlich – weil sich ja spontane Ereignisse und damit auch Erfahrung seitens des Therapeuten nicht
direkt beeinflussen lassen – ist damit die absichtsvolle Herstellung einer Bedingung der Möglichkeit von
Erfahrung für den Klienten gemeint. Damit ist also explit die pathetische Pose des Therapeuten
ausgeschlossen.
Was aber wenn der Therapeut selbst ergriffen ist (früher war ja das „tränende Auge“ und die „belegte
Stimme“ ein durchaus beliebtes Stilmittel der therapeutischen Einflussnahme)? Dann sollte er selbstreflexiv
sein und nicht weihevoll. Natürlich kann der Therapeut bewegt sein von dem, was passiert, aber das ist nicht
Gegenstand und Absicht der Therapie. Das Pathetische, das hier gemeint ist, ist ein Angebot für den
Klienten, keine Sensation des Therapeuten. So ist das mit (systemischer) Therapie vereinbar.
Trotzdem bleibt – auch wenn wir hier die Position des Therapeuten als die eines verantwortungsvollen
Skeptikers definieren, der das Pathetische ermöglicht, nicht absichtlich erfährt – seine verantwortungsvolle
Situation bestehen: Die Erfahrung des Pathetischen reduziert Möglichkeiten und legt Bedeutung fest. Noch
einmal deutlich: Das Pathetische stellt eine Erfahrung dar, keine Reflexion oder Erzählung von Erfahrung, ist
eindeutig und bedeutsam, bedient sich schließender Metaphorik, hat multisinnlichen Charakter, ist seitens
des Klienten nicht neutral, wird riskiert und erlebt und kann keinesfalls mehr rückgängig gemacht werden.
Genau betrachtet weist die Erfahrung des Pathetischen (man denke noch einmal an die Erfahrung der
Initiation, könnte aber auch an das Ritual der Hochzeit denken) durchaus einige Charakteristika des
Traumatischen auf, es gibt meist keine (würdigen) Möglichkeiten der Abwehr oder der Entfernung, die
Erfahrung wird als gefühlsmäßig überwältigend erlebt. (Thomas Manns Novelle „Mario und der Zauberer“
könnte als Beispiel misslungener und verantwortungsloser Pathetik und ihrer verzweifelten Abwehr gelesen
werden.) Das alles legt dem Psychotherapeuten eine gewisse Verantwortung auf. Theatralisch gesprochen:
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Mit der Ermöglichung des Pathetischen treten Therapeut und Klient aus der „Auszeit“ der Therapiesituation
heraus und hinein in das Leben des Klienten.
WANN ALSO ist denn eine derartige Interventionsform überhaupt angebracht? Hier einfach einmal eine
mögliche Liste von, wie ich glaube, verantwortungsvoller Anwendung:
●
die „Klage“ mit dem Therapeuten als würdigendes und würdiges Gegenüber wäre die erste
Kategorie, das Unabwendbare – das Unveränderliche im Leben oder Erleben des Klienten dafür der
Anlass. Damit ist natürlich nicht Steve de Shazers Kategorie vom Klienten, Kläger, Besucher
gemeint, sondern jene grundsätzliche Verzweiflung angesichts unabwendbaren und
unbeeinflussbaren Unglücks – diese Äußerung ist unmittelbar und total. Groß gesagt könnten wir ein
Menschenrecht auf die Äußerung des Schmerzes postulieren und auf Gelegenheiten für diese
Äußerungen. In öffentlichen und sozialen Zusammenhängen ist diese Gelegenheit oft
verlorengegangen, nicht nur Rituale des Übergangs, auch Möglichkeiten, Verzweiflung zu äußern,
sind verloren. Wer nicht ‚gut drauf ’ ist, gilt als lächerlich, schwarze Kleidung signalisiert Coolness
und Dynamik, nicht mehr Verlust und Trauer. Der Therapeut hat hier durchaus die Aufgabe, diese
Äußerung zu ermöglichen (zum „Wie“ s.u.).
Damit hier kein Missverständnis aufkommt, häufig, vielleicht sogar meistens, ermöglicht derartige
Klage im Weiteren dann auch eine neue Sichtweise, die wiederum noch nicht gekannte
Einflussmöglichkeiten wahrnehmen lässt und dann unsere übliche Vorgangsweise von Problem und
Lösung zulässt (Steve de Shazers Vorgehen angesichts der Klage). Das ist gut, aber nicht die
eigentliche Absicht. Die Klage ist nicht nur ein Mittel zum Zweck späterer Lösungsideen. Sie hat
zuerst und an sich Recht. Lösungsneutralität heißt hier für den Therapeuten zuerst einmal,
seinerseits das Unabwendbare zumindest am Leben des Klienten aushalten zu können. Es
klammheimlich positiv zu konnotieren, etwa als Wachstumsmöglichkeit, halte ich für einen Verrat am
Klienten. Wer Therapeut sein will, muss auch bereit sein für die Begegnung mit dem Unglück und
dem Scheitern, egal ob es sich ändern lässt oder nicht.
●
Dann scheint mir das Pathetische angebracht bei den großen Wendungen im Leben, als Ersetzung
fehlender Übergangsrituale, wenn man will. Hier sollte der Therapeut darauf achten, welche Rolle er
einnimmt. Zuerst sollte nur ersetzt werden, was wirklich nötig ist. Wenn jemand in einem neuen
Lebensabschnitt Verantwortung und Freiheit gewonnen hat sollte das mit allen Sinnen erfahren
werden, und alle Beteiligten sollten davon Kenntnis haben, klare Unterschiedssetzung im Sinne von
Erweiterung aber auch Reduktion von Möglichkeiten (Modi der Verantwortung) ist hier das Ziel. Aber
wenn der Klient einen runden Geburtstag hat, ist das in diesem Zusammenhang meist weniger
wichtig.
●
V.a. sollte sich der Therapeut klar sein, welche Prozesse er beim Klientensystem anregt, welche
Abläufe er inszeniert oder welche Rollen er sogar selbst übernimmt. Ein Zeremonienmeister oder
gar ein Anleiter für irgendeine Initiation kann schwer in die variante und neutrale Rolle des
Therapeuten zurückschlüpfen, sie passt dann unter Umständen nicht mehr. Das stellt eine gewisse
Versuchung für die Beteiligten dar. Speziell, wenn der Therapeut bei allen wichtigen
Lebensereignissen aufgesucht wird, oder zumindest bei regelmäßigen Einladungen zu
Familienfeiern, sollte er dann doch überlegen, welche Rolle er denn eigentlich einnimmt.
●
Wenn der Klient sich in seinem Leben entschieden äußern will, wäre eine pathetische Anregung
ebenfalls passend, z.B., wenn er sich, ganz altmodisch „erklären“ möchte; für diejenigen, die den
Ausdruck nicht mehr verstehen: Damit ist das einseitige und bei dem Risiko von Blamage und
Zurückweisung gewagte Eingeständnis von Liebe oder Zuneigung gemeint. Das wäre aber auch als
Eingeständnis und Äußerung jeder bedeutungsvollen Bewegtheit denkbar. Auch die Begeisterung
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für eine Idee oder eine Unternehmung oder die Sympathie für den Freund oder die Freundin könnten
hier pathetische Äußerungen sein. Das im Gespräch zu thematisieren, vielleicht sogar ermutigend
als Wahlmöglichkeit zu erobern, scheint mir durchaus Aufgabe von Psychotherapie.
●
Aber auch die Empörung, vielleicht sogar die gemeinsame, über Ungerechtigkeit und Grausamkeit in
der Gesellschaft kann meiner Meinung nach Gegenstand des Pathetischen in der Therapie sein.
Psychotherapie braucht nicht so tun, als gäbe es das nicht. Allerdings sollte der Klient hier genau
wissen, was sein Anteil an dieser Klage – denn darum handelt es sich – denn wirklich ist. Der
Therapeut sollte hingegen klar wissen, wann er, ehrlicherweise selbstbetroffen, einstimmt, wann
nicht, wie er es hier mit der Neutralität also hält. Denn im Gegensatz zur Klage über das persönliche
Schicksal ist hier der Therapeut unter Umständen genau so betroffen und engagiert wie der Klient.
Hier wird, bei aller Gemeinsamkeit, zu klären sein, was wirklich Gegenstand von Therapie sein soll.
●
Für die Erforschung der Vergangenheit an sich scheint mir das Pathetische nicht geeignet,
zumindest leuchtet mir keine plausible Notwendigkeit ein. Die Vergangenheit soll ja gerade nicht zur
Gegenwart werden und das ist die Implikation des Pathetischen. Als Systemiker sehe ich die
Vergangenheit als ständig erneuertes Konstrukt im Dienste der Gegenwart. Meist sehen wir unsere
Aufgabe darin, behutsam (so dass das Neue dem Bisherigen nicht widerspricht) die Erneuerung
dieses Konstruktes zu ermöglichen, ein eher „skeptisches“ Unternehmen also. Eine Ausnahme mag
sein, wenn ein bestimmtes Ereignis der Vergangenheit an sich immer wieder pathetisch zurückkehrt
(traumatisch also), dann mag, in aller Vorsicht, sozusagen ein „Wiedererleben des Vergangenen bei
anderem Ausgang“ angebracht sein. Traumatherapeuten sind hier die Spezialisten. Aber hier wird
der Therapeut sich der „Nebenwirkung“ bewusst sein, denn derartige Behandlung impliziert die
gültige Festlegung der so bewältigten Vergangenheit.
Was wären korrekte Anwendungsregeln?
●
Seitens des Therapeuten: absichtsvoll und verantwortet, als Ergebnis von Hypothesen, reflektiert,
explizit, nicht guruhaft, sondern ereignisbezogen, transparent, soviel therapeutischen Einfluss wie
nötig, nicht mehr. Das Pathetische soll beim Klienten (assoziiert) sein, nicht beim Therapeuten
(dissoziiert), die große Geste nur soweit nötig – sie sollte seitens des Therapeuten demütig, nicht
großartig vorgenommen werden.
●
Wie wäre Reflexion vor Aktion praktisch vorstellbar? Inszenierung seitens des Therapeuten nur
wenn nötig, sonst sollte er sich mit der Anregung zufrieden geben. Eine „gestaltende Rolle“, etwa als
Verkünder von Übergängen etc., sollte der Therapeut nur einnehmen, wenn es sich gar nicht
vermeiden lässt und dann in aller Ver antwortung bezüglich den Entkleidungsmöglichkeiten und
auch Unmöglichkeiten dieser Rollenpositionierung (wer den Priester macht, wird nicht immer so
ohne weiteres wieder zum Ministranten werden).
●
Haben wir „Methoden“, die das Pathetische begünstigen? Alles, was multisinnliches Erleben im
Moment fördert; kommt dann noch die Absicht der bedeutsamen Erfahrung („Botschaft“, die der
Klient entdeckt) oder Aussage („Versprechen“, das der Klient verkündet) hinzu, können wir von einer
Einladung zum Pathetischen per se sprechen. Im genannten Sinn wird der Therapeut damit
absichtsvoll und verantwortlich umgehen, er wird wissen, was er tut und warum, und er wird das
auch benennen können.
●
Mut und Takt, entlang der Peinlichkeit könnten die Richtlinien sein. Damit haben wir noch keine
Formen der Anwendung, aber vielleicht ist die Peinlichkeit, die den Therapeuten gerade so ein
bisschen anweht, ein verlässlicher Indikator für das richtige Maß an Erstmaligkeit, „gerade noch gut
verträglich“ wäre hier das Maß. Wer das Pathetische riskiert, liefert sich aus, gibt, zumindest für den
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Moment, die Kontrolle aus der Hand und wagt damit auch das „Zuviel“, auch das „Unpassende“; der
Therapeut, als behutsamer Begleiter, nicht selbst Betroffener, kann und sollte hier Ermutigungsoder Kontrollvorschläge machen. Riskiert der Klient zu wenig, passiert nichts (Bert Hellingers
Bemerkung, was nicht mit Zittern und Zagen gewagt sei, wäre nicht gewagt, scheint mir hier
durchaus stimmig), riskiert er zu viel, kann er so ergriffen sein, dass er die (peinliche) Erinnerung
daran nicht aushält, und dann ist der Schaden größer als der Nutzen.
●
Neutralität gegenüber der Beeinflussbarkeit, Respekt vor dem Schicksal – oder wie immer wir
dasjenige nennen, worauf wir keinen Einfluss haben – scheinen mir wesentliche Grundhaltungen zu
sein, wenn wir unsere Klienten bei diesen Erfahrungen begleiten wollen, und vielleicht sind das ja
unvermeidliche Erfahrungen bei jedem Veränderungsprozess.
An den Schluss möchte ich anstatt einer Zusammenfassung (das sind ja ohnedies noch eher unfrisierte
Gedan ken und Anregungen) noch eine persönlich gehaltene Bemerkung setzen. Wir haben gut zwanzig
Jahre lang entschieden und deutlich das Pathetische aus dem therapeutischen Diskurs herausgehalten. Das
hat uns in vielem gut getan. Ich meine das durchaus auch praktisch, weil ich mich noch gut erinnere, wie
erleichtert ich war, als Seminartage nicht mehr mit endlosen „Wetterberichten“ und „Befindlichkeitsrunden“
begannen (und manchmal auch gleich endeten).
Ich denke auch, dass die distante und skeptische Haltung der systemischen Therapie ihre wesentlichen
Erfolge ermöglicht haben: „Unterschied“ statt „Befindlichkeit“, „Lösungsorientiertheit statt endlose
Begleitung“, die Reflexion über die Position des Beobachters, vielleicht alle konstruktivistischen Aspekte
insgesamt, etc. etc..
Aber keine Exkommunikation sollte auf Dauer aufrecht erhalten werden (v.a. wird der Aufwand dafür immer
größer), so sinnvoll sie in gewissen Momenten sein mag. Wenn ich zudem bemerke, dass in der Theorie
überzeugte Skeptiker sich praktisch durchaus pathetischen Ritualen unterwerfen (therapeutischen, nicht
religiösen, auch wenn von „heimlichen Pilgerschaften“ gesprochen werden könnte), dann möchte ich, in aller
Vorsicht, eine ganz große Sehnsucht nach dieser Art von Erfahrung konstatieren, ein Verlangen, das wir
achten sollten. Wir sollten, wenn wir nicht – vielleicht sogar verhohlen und verschämt – in althergebrachtes
„pathetisches Agitieren“ zurückfallen wollen, das Pathetische wieder wahr- und ernstnehmen und in den
therapeutischen Diskurs zurückholen. Dieser Beitrag will dabei ein bescheidener Versuch sein.
LITERATUR:
Grossmann K.P.: Der Fluss des Erzählens, Heidelberg, 2000
Klosinski G. (Hrsg.): Pubertätsriten, Bern, 1991
Retzer A.: Passagen, Stuttgart, 2002
Weber G. (Hrsg.): Zweierlei Glück, Heidelberg, 1993
DR. HELMUT DE WAAL ist klinischer Psychologe, Psychotherapeut in freier Praxis (Steyr), Supervisor, Lehrtherapeut
für systemische Familientherapie und Autor mehrfacher Veröffentlichungen in systemischer Therapie.
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