Bericht Nr - FSJ im Ausland

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Bericht Nr. 1
5. September
Hallo alle,
Hier kommt mein erster Bericht über mein Leben hier in Palästina.
Am Samstag sind wir angekommen, heute ist es Montag - mein Zeitgefühl scheint irgendwo
während des Fluges abgesprungen zu sein, es kommt mir weder lang noch kurz vor.
Der letzte Abschied am Flughafen von meiner Familie fiel mir, wie fast alle Abschiede, relativ
leicht - aber nicht, weil ich nicht an die Leute (d.h. euch) gebunden bin, sondern weil mein
Hirn nicht so richtig realisiert hat, dass ich nicht in zwei Wochen wieder nach Stuttgart
zurückfliegen werde. Nach einer Zeit merkt man wohl, dass man wirklich hier ist, und hier
bleibt; diese Phase habe ich aber auch noch nicht erreicht. mein Hirn weiß also immer noch
nicht so richtig, was genau "ein Jahr" bedeutet...
Valerie, meine mit-"Ziva" (= FSJ auf Lateinamerikanisch) war mit ihrer Familie ebenfalls in
Stuttgart, sie hatte schon eher kapiert, was ein Jahr bedeutet.
Die Einreise nach Israel war wider Erwarten nicht aufregend, ich hatte mir Israel ja schon als
halben Stasistaat vorgestellt der versucht, mir so viele Steine in den Weg zu legen wie er
kann. Aber vielleicht waren die Beamten einfach etwas faul (morgens um 5 verstaendlich),
auf jeden Fall habe ich mich nur mit einem Beamten etwas abseits gestellt und er hat mich
befragt, was ich hier machen werde. Ich habe gesagt, dass ich sechs Wochen lang in Talitha
Kumi (Aramaeisch: „Maedchen, steh auf!“; das ist die Schule, in der wir wohnen, und in der
mein Mitzivi Philipp arbeiten wird) ein Praktikum machen werde, dass ich mich sehr für die
drei monotheistischen Weltreligionen interessiere und für die alte Geschichte von Palästina,
das ich kein Arabisch spreche (leider), nein, ich sei noch nie in Israel gewesen... nichts
besonderes, meine kleine, so unschuldig wie moeglich klingende Geschichte wurde nicht auf
die Probe gestellt. Wir haben unser Gepäck geschnappt (das übrigens mit Mordsübergewicht
von einer riesig netten Flughafenschalterfrau in Stuttgart durchgewinkt wurde. Ich habe 15
Kilo Bücher dabei) und draußen den Fahrer von Talitha gesucht, er kam dann auch nach einer
Stunde. Derweil kündigte sich mit einem Wahnsinnstempo der Morgen an. Die
Dämmerungsphasen sind hier sehr kurz, nur etwa eine halbe Stunde.
Als der Fahrer uns dann mir einem sehr prolligen Bus, wie ihn vorzugsweise Amis fahren,
abgeholt hat, konnte ich leider nicht mehr, und mein Kopf ist immer wieder in Richtung
Schlaf gedriftet. Ich habe trotzdem so viel vom Land mitbekommen: Es ist hier alles eher in
Brauntönen gehalten ist - es gibt eine recht dünne Erdschicht über den steinigen Hügeln,
sehr oft kommen Felsbrocken durch. Die Vegetation ist vor allem braunes Gras und
Nadelbäume. Es ist ziemlich dicht besiedelt, man sieht überall verstreut einzelne Häuser
oder Settlements.
Jetzt hat gerade der Muezzin begonnen, zum Gebet zu rufen - er tut das 5 mal am Tag, zum
ersten mal morgens um 4. Es ist ein schönes Gefühl, durch die Gesänge aufzuwachen und
dann wieder bis um Sieben wegzudämmern.
Wir sind dann in Talitha Kumi (Talitha ist ein Mädcheninternat, in das aber auch sehr viele
Schüler von außerhalb kommen; ein Gaestehaus ist angeshlossen) ausgeladen worden und
haben eine Weile gewartet, bis Walid, der für das Guesthouse zuständig ist (wir wohnen dort
provisorisch), kam. In der Zeit wurde uns ein sehr leckerer Tee serviert: Chai ma nana,
1
Schwarztee mit Minze (wird hier ziemlich oft getrunken). Wir haben dann vorläufige Zimmer
bekommen und sind ins Bett gefallen.
Den Kindern im Internat zuliebe habe ich auch den arabischen Namen Mansour adoptiert,
der was bedeutet: Vinzenz! (Vinzenz = der Sieger, oder so. Mansour = „Der den Sieg von
oben (= von Gott) bekommt“); das hat ihnen einen Zungenbrecher erspart. An dieser Stelle
sei anzumerken, dass Hokema ein arabisches Wort ist und "die Weisen" bedeutet. Ich bin
also vom Namen her schon bis zum Scheitel eingetaucht...
Danach waren wir noch Trauben klauen (sie waren nicht wirklich geklaut, sie wuchsen auf
Talitha-Grund und es war uns quasi-erlaubt worden. Später haben wir gehoert, dass sie
teilweise gespritzt sind und man sie besser waschen sollte... tja.). Ob es am Klauen lag oder
an der Sonne: Sie waren der Hammer. Wir wollten Sterne schauen gehen, haben sie wegen
diverser Halogenlampen aber leider nicht sehen können. Dafür hörten wir den Muezzin und
feilten an unserer deutschen Kolonie... es sind noch 3 andere Volontaere hier, sie sind
wirklich sehr nett, was besonders hier wertvoll ist. Bei so viel arabisch und (arabisch
akzentuiertem) Englisch tut Deutsch sehr gut.
11. September
Seither hat sich einiges geändert.
An obigem Montag sind Valerie und ich zum ersten Mal ins Arab Educational Institute (AEI)
gegangen, unsere Arbeitstelle in Bethlehem (arabisch: Beit Laham, „Haus des Fleisches“
‫لهم‬
‫) بيت‬. Es liegt am Ende der Milk Grotto Street, die neben der Geburtskirche beginnt und in
Richtung Beit Sahour führt, wo die biblischen Hirtenfelder liegen (die angeblichen; zwei
Kirchen haben sich nicht auf ein Feld einigen können, deshalb gibt’s jetzt zwei). In der Milk
Grotto Street liegt, O Wunder, die Milchgrotte, wo sich Maria und Jesus vor Herodes versteckt
haben (sollen). Beim Stillen fiel ein Tropfen der Muttermilch auf den Boden. Diese Stelle hat
angeblich schon viele Frauen von der Unfruchtbarkeit befreit. Mythologie zum Streuen und
Vorlegen, von der Geburtskirche selbst ganz zu schweigen.
Wir wurden im AEI (im Gegensatz zu Talitha Kumi, wo wir erst mal rumstanden) wunderbar
warm willkommen geheißen (Ahlan wa sahlan! Ahlan wa sahlan!), uns wurden erst mal alle
vorgestellt:
Fuad Giacaman (anreden als “Mr. Fuad”, das ist höflich und persönlich zugleich), der Direktor
und Co-Founder des AEI, ist ein 60-(?)-jähriger Katholik, sehr idealistisch. War Geografieund Geschichtslehrer und liebt das Unterbrechen und wortreiche Ausschmücken. Seiner
Familie gehören sehr viele Souvenirshops um die Geburtskirche herum, seinen Bruder und
einen Cousin grüßen wir jeden Tag beim hinlaufen.
Elias Musa Abu ‘Akleh ist ebenfalls Mitgründer und der Finanzmensch im AEI. Er ist sehr
herzlich und nett, wie alle sehr hilfsbereit. Seine Zähne sind ein Steinbruch, ein Zahnarzt
scheint hier nicht so erschwinglich zu sein. Elias ist Orthodox.
Anton Murra ist der Jugendkoordinator. Er ist etwa Mitte 20 und echt auf dem qui vive. Sein
Englisch ist sehr gut, aber schwer zu verstehen, weil er auf arabische Art die Haelfte
verschluckt; neulich hat er ein Meeting aif Arabisch simultan uebersetzt, aber so viel habe
ich da auch nicht verstanden (er sagte, simultan zu uebersetzen sei mit etwas uebung „a
piece of cake“).
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Der Housekeeper ist Tahrid, die 26 Jahre alt, verheiratet und Mutter eines Sohnes ist. Sie
macht eigentlich den Service, wenn man das so bezeichnen kann – sie waescht ab, kocht ab
und an fuer die AEI-Leute, macht uns andauernd Tee und Kaffee, bringt uns Trauben,
Pflaumen, Aepfel... sie ist eigendlich nur dazu da, um uns herumzuscharwenzeln und uns
Hunger und Durst von den Augen abzulesen. Das ist nicht so angenehm, wie es sich
vielleicht anhoert, weil ich mich nicht besonders wohl fuehle, wenn mich jemand bedient und
ich nicht im Restaurant sitze. Arabische Rollenvorstellungen gelten auch bei den Christen.
Leider spricht Tahrid kein English, und so verstaendigen wir uns mit Haenden, Fuessen und
je fuenf Woertern Arabisch und Englisch. Das klappt oefter als man denkt!
Unsere Arbeit ist noch recht undefiniert, auch wenn sie langsam Formen annimmt. Wir sollen
bei den verschiedenen Gruppen dabei sein (High School Group, Kids -, University -, Parents
Group), mitschreiben, nachher bestimmte Dinge auswerten. Momentan bearbeiten wir eine
Umfrage, die die Aktivitaeten des AEI im letzten Jahr bewertet. In 2 Wochen werden wir mit
Deutschkursen fuer Anfaenger beginnen, mit schwant Uebles... In der 5. Klasse habe ich
mich schon geweigert, die deutsche Grammatik zu lernen, weil ich nicht eingesehen habe,
wozu ich sie brauche – jetzt raecht sich das. Aber mit einem Anfaengerschulbuch aus der
Talitha-Bibliothek wird uns das wohl gelingen. Und es ist ja auch ein Anfaengerkurs. Danach
geben wir vielleicht noch Franzoesisch- und Computerkurse; Valerie noch Spanisch.
Geschichte vielleicht noch ein paar Referate.
Wir haben auch schon ein paar Eindruecke von der politischen Situation hier gewonnen.
Jessica, die hier im letzten Jahr in einem Fluechtlingslager gearbeitet hat, hat uns am
Samstag eine Fuehrung durch das Camp namens Deheisha gegeben. Das Camp besteht seit
der Vertreibung der Palaestinenser aus dem heutigen Israel 1948 und ist jetzt natuerlich
keine Zeltstadt mehr. Es ist eher ein recht aermliches, sehr eng besiedeltes Viertel von
Bethlehem. Eng besiedelt heisst ca. 12 000 Menschen auf einem Quadratkilometer.
In Karama, der Arbeitsstelle von Jessi, hat ein Mitarbeiter uns ein wenig ueber alles erzaehlt,
so auch den Vorfall, der Jassir, Jessis Chef, zur Gruendung von Karama (arabisch: Wuerde)
veranlasst hat:
Jassir fuhr eine Strasse entlang, als er am Strassenrand einen Jungen sah, der eine
sogenannte 15-Schekel-Bomb mit brennender Lunte in den Haenden hielt. Die Dinger
muessen so in Richtung Molotow Cocktail sein, oder vielleicht hat der Junge seinem Vater
den Sprengstoff geklaut. Jassir sah diese brennende Lunte, rannt zu dem Jungen hin, riss
ihm die Bombe aus den Haenden und warf sie weg; noch bevor sie auf den Boden fiel
explodierte sie. Der Junge, ich weiss nicht wie alt, hat Jassir wohl heftig beschimpft. Ich
denke nicht dass er sich umbringen wollte, vielleicht hat er nicht so ganz realisiert, dass
diese Bomben auch ihn, nicht nur israelische Soldaten zerfetzen kann.
Jassir hat dann dieses Jugendhaus gegruendet, um den Kindern die Moeglichkeit zu geben,
weiterhin Kinder zu sein, um sie vor dem Krieg zu retten. Aber das kann er nicht, ein kleines
bisschen vielleicht, aber nicht viel. Milanya, eine Frau, die im Talitha-Internat arbeitet, hat
neulich erzaehlt wie ihr Sohn waehrend der zweiten Intifada (2000-2002/3) jede Nacht
heftige Fieberschuebe bekam.
Talitha liegt am Rand von Beit Jala, einem arabischen Dorf/Vorort von Bethlehem auf einer
Huegelkuppe. Am Hang gegenueber ist ein israelisches Settlement, Gilo. Zwischen den
beiden Orten gab es wohl lange Zeit Kaempfe, auch von Talitha-Grund aus wurde
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geschossen. Dass dieses Kind, er ist damals viellecht 10 gewesen, so heftig darauf reagiert
ist kein Wunder. Mit Hilfe einer Psychotherapie ging das Fieber einige Zeit nach dem Ende (!)
der Kaempfe wieder weg; was in diesem Jungen noch an Traumata steckt moechte ich gar
nicht wissen.
Eine andere Geschichte: In Deheisha, dem Fluechtlingslager, haben wir ein Haus besucht,
dessen Front ich zuerst fuer einen Rohbau gehalten habe. Dann habe ich durch ein
Fensterloch die verbogenen Eisenarmierungen gesehen und den Betonschutt, der hinter der
Frontmauer liegt. Ahmad, unser Fuehrer, erzaehlte dass dieses Haus zweimal zerstoehrt
wurde. Ein Mann aus der Familie war von israelischen Soldaten getoetet worden. Sein Bruder
hat Rache geuebt und einen Soldaten umgebracht; dafuer wurde er im Stil von 5 mal 500
Jahre ins Gefaengnis gesteckt.
Die Soldaten kamen etwa ein halbes Jahr nach der Verurteilung zu dem Haus seiner Familie,
sagten, sie haetten 15 Minuten Zeit, dann wuerde das Haus gesprengt. Sie haben den
Sprengstoff angebracht und das Haus zerstoert.
Die Familie hat beschlossen, sich das Haus wieder aufzubauen, sich was richtig Schoenes zu
bauen. Als der Rohbau stand, kamen die Soldaten wieder und haben das Haus wieder
gesprengt.
Solche Geschichten lassen einen verstehen, warum Leute anfangen, nicht nur von Politik zu
reden, sondern beginnen, zu kaempfen. Und die israelische Regierung ist seit Jahrzehnten
dumm genug, den Hass der Palaestinenser auf sich und alle Juden zu richten durch sinnlose
Unterdrueckung und Schikanierung (bzw. Sippenhaft, die wohl gegen alle Voelkerrechte
verstoesst).
Was am Strassenbild fuer mich eine grosse Umstellung bedeutet (von der arabischen Kultur,
Architektur, Kleidung etc. abgesehen) sind die Soldaten. Als wir gestern in al-Quds,
Jerusalem waren, haben wir uns natuerlich auch die Klagemauer angesehen. Auf dem Platz
waren massenhaft Soldaten, in der Mehrzahl Frauen. Sie haben ohne Ausnahme
Sturmgewehre dabei – ein Deutscher kennt die Dinger nur aus Filmen, hier sind staendig
diese beaengstigenden Waffen um einen herum. An Pistolen hat man sich ja gewoehnt, die
haengen bei jedem deutschen Polizisten auch am Guertel. Aber solche Teile... Besonders
skurril ist, wenn ein Soldat an der Klagemauer steht und betet, an den Armen die
Gebetsriemen, auf der Stirn dieses Thora-Kaestchen – und auf dem Ruecken sein Gewehr.
Noch eine kulturelle Geschichte: Ich war heute mit Valerie und dem AEI-Staff bei einem
arabischen Leichenschmaus, oder wie man sowas nennt. Fuads Schwaegerin ist vor vier
Tagen gestorben, am naechsten Tag beigesetzt worden, und die darauffolgenden drei Tage
lang kommen Bekannte der Familie in deren Haus (nach Maennern und Frauen getrennt,
auch bei den Christen), sprechen ihr Beileid aus, essen Reis mit Hammelfleisch und Joghurt,
trinken arabischen Kaffee mit Kardamom, aber ohne Zucker - des bitteren Anlasses wegen.
Die Leute erzaehlen kleine Geschichtchen, am liebsten amuesante, um die traurige
Stimmung etwas zu erleichtern. Ich war etwas verloren, es ist natuerlich etwas schwierig,
dem voellig fertig aussehenden Wittwer die Hand zu schuetteln und keine Ahnung zu haben,
wie man sich da verhaelt. Auch sassen um mich herum fast nur Maenner ab 60, die
Juengeren haben beim Essen machen und Servieren etc geholfen; denen mithelfen kann ich
aber auch nicht, bin ja schliesslich Gast. Es war dann auch nicht so schlimm, weil Fuad mir
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ein bisschen die Braeuche erklaert hat. Er hat dann erzaehlt, dass seine Frau waehrend der
ersten Intifada fuenf Kinder verloren hat – eins, nachdem seine Frau israelisches Traenengas
abgekriegt hatte.
Dass Fuad nach den fuenf Fehlgeburten, die denke ich schon mit der Intifada
zusammenhaengen (Heute hat er 4 Kinder und 9 Enkel, ich denke also dass es vielleicht
einfach der Stress oder die Lebensumstaende waren), die Freidensarbeit weitermachen
konnte – masha’allah, Respekt...
In einem Interview des AEI-Jahresberichts erzaehlt er, dass seine Ausrichtung auf gewaltfreie
Aktionen eine Woche nach dem Vorfall mit dem Traenengas kam; seine Frau hat ein
israelisches kleines Kind irgendwie vor dem tiefen Sturz von irgendwas gerettet – er
beschreibt, sie haette aber eine Sekunde wirklich gedacht, „Die haben mein Kind
umgebracht, jetzt helfe ich ihrem Kind nicht!“, und habe dann einfach gehandelt und das
Kind gerettet. Das habe ihn zur Non-Violence gebracht.
13. September
Gerade hatten wir unser erstes Treffen mit einem Ewig Gestrigen: Das Oberhaupt der
orthodoxen Kirche in Bethlehem sass auf der Terrasse vor dem AEI (das alles gehoert den
Orthodoxen), wir haben einen Kahua arabi – arabischen Kaffee – getrunken.
Er erzaehlte uns, dass bevor das AEI hier einzog bis zum Jahr 2002 die Johanniter in diesem
Haus waren. Waehrend der der Al-Aksa-Intifada wurde einer ihrer Aerzte "von den Juden"
erschossen; er differenziert nicht zwischen Juden und Israelis.
Gegenueber steht ein im Jahr 2000 gebautes Pilgerhotel, das seit dem Ausbruch der Intifada
leer steht. Ich habe gemeint, dass die Pilger und Touristen ja womoeglich zurueckkommen,
wenn es Frieden gibt. Seine Antwort war, dass es hier nie Frieden gebe; das Problem sei,
dass es zwei fanatische Gruppen gebe: Die Muslime und die Juden.
Kein Wunder, dass man damit nicht an den Frieden glauben kann. Ich denke, dass genau
solche Leute den Frieden behindern – sie sind nicht gefaehrlich, bauen keine Bomben und
werfen keine Schweinekoepfe in Moscheen. Aber sie sind in die Gesellschaft integriert (dieser
sogar in einer einflussreichen Stellung) und verbreiten die Message, die jeweils anderen
Gruppen seien fanatisch und zum Frieden unfaehig. Kein Verstaendnis, keine Akzeptanz.
Stammtisch. Dumm.
14. September
Ich muss ganz kurz einen begeisterten Eintrag schreiben (eigentlich zwei):
1. Wir waren gerade mit Tahrid, der Haushaelterin im AEI, Schuhe (baboudsch) fuer Valerie
kaufen. Sie spricht so gut wie kein Englisch, unser Arabisch ist fast besser. Und: Die
Kommunikation klappt! Besonders Valerie geht ab, weil sie das Gelernte sofort umsetzen
kann und so eine Basiskommunikation auf die Beine stellt. Was noch viel besser ist, ist dass
Tahrid jetzt wegen uns anfangen will, Englisch zu lernen! Unsere Arbeitsstelle heisst Arab
EDUCATIONAL Institute, Mission erfuellt!
2. Ab heute Abend laeuft ein Geschichtsprojekt an, bei dem die palaestinensische Geschichte
in die High School Group und die University Group getragen wird – heute Abend (5 – 6:30)
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wird die High School Group mit der Balfour Declaration abgefuellt werden, mit der die
britische Zustimmung zu der Errichtung eines juedischen Staates in Palaestina gegeben
wurde – es ist also der erste Anlauf zur Gruendung Israels.
Dieses Geschichtsprojekt (ich denke, sie werden ueber mindestens ein halbes Jahr gehen)
sind denke ich sehr sehr wichtig. In die selbe Kerbe will ich mit einem Workshop ueber den
Holocaust hauen. Die Schueler hier wissen zwar, was der Zweite Weltkrieg ist, kennen aber
nicht das israelische Kollektivtrauma namens Holocaust. Sie wissen gar nichts davon, der
palaestinensische Bildungsplan verschweigt das systematisch. Die Shoah ist aber
megawichtig, um Israel / die israelische Politik verstehen zu koennen, und so ist es
eigentlich unverzeihlich, nichts davon zu wissen; noch viel mehr als Palaestinenser, die ja die
Israelis nur als Killer und Unterdruecker kennen.
16. September 2005
Ein Problem ist gerade ziemlich aufreibend: Die Geld- und Unterbringungsfrage. Valerie und
mir wurde heute gesagt, dass uns die 6000 Euro unmoeglich fuer ein Jahr reichen koennen.
Das Hauptproblem ist, dass die Mieten viel, viel hoeher sind als kalkuliert wurde (statt ca. 95
€ im Monat werden es mindestens 240 €). Uns wurde eine Wohnung in einem muslimischen
Dorf neben Bethlehem fuer 80 € im Monat angeboten, das ist sehr billig fuer
palaestinensische Verhaeltnisse. Da es aber muslimisch ist, ist es nicht moeglich,
unverheirateterweise mit Valerie zusammenzuwohnen; alleine werde ich dort nicht
einziehen, da werde ich zu 100 % isoliert sein, und zum Workaholic und Depri.
Auch die Verpflegung ist nicht so billig, wie uns das vorgerechnet wurde. Wenn man alle
Kosten, an denen nichts zu ruetteln ist (Miete, Transport, Flug) von den 6000 € abzieht,
bleiben 100 € im Monat fuer Verpflegung und Taschengeld uebrig – 3,30 € pro Tag ist nicht
genug; in Palaestina ist zwar vieles billiger, aber wir sind hier auch nicht in Lateinamerika...
Das wird uns wohl noch ein Weilchen beschaeftigen, naechste Woche werde ich penibel alle
Preise aufschreiben und hochrechnen. Dann schauen wir mal, wie viel ich taeglich fuers
Essen brauche – mal abgesehen davon, dass ich mir vielleicht ab und an was Schoenes
kaufen will, oder mal Klamotten...
Die Situation sieht also so aus, dass ich wahrscheinlich in Talitha wohnen bleibe, weil es
wohl nirgendwo billiger wird. Vielleicht kann ich den Preis noch ein wenig druecken, wenn
ich hier noch an einem Tag in der Woche arbeite; mal sehen. Bloed ist, dass ich dann nicht so
sehr in die arabische Community eintauchen werde. Aber jetzt ist mir der Sprung in eine
Familie noch zu krass; Urspruenlich hatte es mal das Angebot gegeben, bei Fuad zu wohnen,
was ich ganz gerne machen wuerde. Als wir gestern ueber die Unterbringung gesprochen
haben, hat er darueber allerdings kein Wort verloren, also schliessen wir, dass er da keine
Lust drauf hat.
Jetzt moechte ich noch kurz eine Beschreibung meiner Mitfreiwilligen reinbringen, damit das
nicht nur leere Namen fuer euch sind.
Philipp ist 20, kommt aus Hamburg und macht seinen Zivi, wie gesagt, in Talitha Kumi
(Nachhilfe geben, Lehrer unterstuetzen etc.). Er ist saulustig, hat eine sehr amuesante Mimik
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und ist seit ein paar Tagen mein Roommate/Mitbewohner. Er ist Cineast und kennt sich mit
Musik gut aus. In diesem Jahr will er unter anderem Yoga im Selbstkurs lernen.
Valerie ist meine Mit-Ziva im AEI. Sie kommt aus der Naehe von Freiburg und kultiviert seit
wir hier sind eine etwas sprachlose Freundschaft mit Tahrid, wie oben beschrieben. Sie hat
momentan etwas Probleme, sich hier einzuleben, unter anderem wird an ihrem Frauenbild
hier natuerlich etwas geruettelt. Aber ich denke das wird noch, kommt Zeit, kommt Rat. Man
muss sich doch auch an das Leben hier gewoehnen. Weil sie blond ist, hat sie neulich beim
Einkaufen ein fettes "Masha'allah!" von irgendwelchen Jungs geerntet – das bedeutet sowas
wie "Respekt!".
Kerstin kommt aus Berlin, singt sehr schoen und arbeitet auch in Talitha. Sie ist sehr
geradeheraus und offen. Weil sie kein Arabisch gelernt hat, bevor sie hier hergekommen ist,
wurde sie am ersten Tag erstmal mit dem Alphbet abgefuellt...
Esther kommt aus einem Kuhdorf in McPomm (=Mecklenburg-Vorpommern). Sie hat viel fuer
Esoterik ueber, ist dabei aber nicht abgehoben, so dass man ihr das, was sie erzaehlt auch
abnehmen kann. Gerade ist sie etwas down weil sie sich bei der Arbeit in Talitha etwas
ueberfluessig und unbegabt vorkommt. Da sie wahrscheinlich die meiste Erfahrung in der
Jugendarbeit von allen hier hat und eine fuer Kinder glaube ich sehr gute Art hat, nehmen
wir ihr das nicht so recht ab; sie will sich bloss nicht recht die Zeit lassen, hier anzukommen,
will gleich was Tolles auf die Beine stellen.
Teresa kommt aus Tuebingen und geht leider auch bald wieder zurueck; sie bleibt nur 6
Wochen, jetzt noch 3; dann will sie Psychologie studieren. Sie arbeitet in der Schule und
babysittet abends oft noch die beiden kleinen Kinder des deutschen Schulleiters, deshalb
sehen wir uns nicht so oft.
Insgesamt sind wir eine schoene Gemeinschaft, man kann sich hier in die schoenen
behaglich bekannten deutschen Umgangsformen und Braeuche zuruecklehnen. Es wird auch
nicht langweilig, was sich neulich abends gezeigt hat: Der Raum in dem wir essen geht mit
einer Fensterfront auf den Gang hinaus, den die Internatsmaedchen zum Abendessen gehen.
Wenn wir dann grade drinsitzen kommen wir uns immer wie im Zoo vor; folgerichtig haben
wir also jemanden gebeten, uns „Bitte nicht fuettern – Danke“ auf Arabisch auf einen Zettel
zu schreiben, haben den ins Fenster gehaengt und uns Hasenohren aus Pappe in die Haare
gesteckt. Da die Maedels teilweise recht strenge Umgangsformen gewohnt sind hat das
natuerlich einen gewissen Ueberraschungeffekt. Die Reaktion war entsprechend, jetzt warten
sie auf Neues.
So, ich werde mich jetzt von dieser Mail trennen und sie abschicken, obwohl sie ueberhaupt
nicht ausreicht, um meine Eindruecke und mein Leben hier zu schildern. Aber wir haben ja
noch zwoelf Monate Zeit, das Bild zu vervollstaendigen.
Ach ja, wenn ihr mir etwas auf dem schoenen Postweg schicken wollt (macht viel mehr
Spass, Briefe zu bekommen als Mails), koennt ihr das an eine Adresse in Jerusalem machen
(dann dauerts statt 8 Wochen nur 4 Wochen):
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Talitha Kumi
Mr Vinzenz Hokema
c/o Lutheran Church of the Redeemer
P.O. Box 14076 Jerusalem
Israel
Ich wuensche euch allen das Beste, und es wuerde mich echt freuen, von Zeit zu Zeit von
euch zu hoeren, damit ich informiert bleibe, was ihr alle so macht. Wenn ihr riesiges Glueck
habe schreibe ich dann auch mal eine pesroenlich Mail. Aber die hat dann keine 8 Seiten...
Ich wuensche allen eine tolle Zeit, und ich vermisse den ganzen Laden daheim
Ma’assalaama
Vinzenz
P.S.: An dieser Stelle moechte ich nochmal ganz ganz herzlich Pablo und Codula und Uta
danken, die mit einem krassen persoenlichen Einsatz genau die oben beschriebenen
Erfahrungen ermoeglichen. Ohne sie waere ich jetzt gerade in Deutschland und wuerde dort
Zivi machen, nicht Arabisch lernen, nicht arabisch essen und weniger Erfahrungen sammeln.
Ich finde es bewundernswert, dass sich Menschen so sehr fuer Andere einsetzen aus lauter
Idealismus (und ohne im Geringsten dafuer bezahlt zu werden; das laeuft eher
andersherum). Sie arbeiten meistens bis mindestens 1 Uhr nachts und tragen auch ein
ziemlich hohes Risiko, und eine riesige Verantwortung. Ich kann euch vielleicht am besten
mit den Erfahrungen die ich hier mache danken, das ist schliesslich (neben dem Die-WeltVerbessern) 50 % eurer Intention. Ein riesiges Shukran! Ich bin froh, hier zu sein.
Wenn ich wiederkomme, werde ich euch eine Weile im Büro unterstützen – damit
Fehlkalkulationen wie oben, die dann eine Finanzspritze von zuhause noetig machen
werden, aus dem Programm genommen werden.
P.P.S.: Wir hatten gerade eine denkwuerdige Begegnung mit einem Taxifahrer. Waehrend er
uns wie immer nach Bethlehem fuhr, schwaermte er von Deutschland, deutschen Autos usw.
Zum Schluss meinte er, was er aber am allerbesten an Deutschland faende waere Hitler.
Valerie fragte, ob er Hitler moege weil der die Juden umgebracht hat, weil das wohl ein paar
Palaestinenser so sehen. Der Taxifahrer sagte aber, es waere nicht nur der Holocaust, auch
die Art zu denken, seine Ideen...
Es ist doch toll, die schoensten Seiten der deutschen Geschichte hier so nett praesentiert zu
bekommen.
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Bericht Nr. 2
19.10.
Gerade fällt der erste Regen. In Beit Jala ist es kalt, in Bethlehem etwas wärmer (Talitha Qumi liegt
sehr ausgesetzt auf einer Hügelkuppe – da ziehts). Auch der Regen ist erstaunlich kalt, er liegt wie
ein Schleier über der Judäischen Wüste, dich ich von meinem Schreibtisch aus überblicke. Es riecht
nach erstem Regen – wie nach einem langen Sommertag.
Neidisch: Indian Summer; hier wirds jetzt wirklich Herbst, ein kalter Wind zieht durch die Hügel,
die Sonne verliert an Kraft. Meine kurzen Hosen habe ich eingepackt.
25.9.
heute war ich mit meinen mitfreiwilligem und dem Schulleiter von Talitha Qumi (s. bericht) am
Mittelmehr, etwas nördlich vom Gazastreifen. nein, es ist völlig ungefährlich in Israel - der einzige
ort, wo man bedroht sein könnte, wäre der Gazastreifen selbst - und dort komme ich jetzt sowieso
nicht rein. war auf jeden fall megageil, am strand war keine sau, weil in Israel ja am Sonntag ein
ganz normaler Arbeitstag ist. es war einfach urlaub, nur eine stunde von "zu hause" entfernt. habe
jetzt natürlich einen leichten Sonnenbrand, gerade mit frisch geschnittener Aloe Vera behandelt.
das leben meints also gut mit mir.
die politischen aussichten sind auf jeden fall nicht so wahnsinnig rosig. man hört munkeln, dass
bald die 3. Intifada ausbrechen könnte (während viele Araber sagen, dass die zweite von 2000
noch gar nicht vorbei ist). ich glaube nicht, dass die Zeichen soooo dunkel sind, aber es ist mal
wieder ziemlich unangenehm. wenn sich an der israelischen Politik der wirtschaftlichen Isolation
des Gazastreifens nichts ändert (bis 2008 soll kein Palästinenser mehr nach Israel zum arbeiten
kommen dürfen), wird die Bevölkerung gar keine andere Möglichkeit haben, als das Geld der
Hamas anzunehmen - diese Organisation (ich weis auch nicht so 100 % genau, was das für welche
sind) unterstützt Leute, die arbeitslos sind usw., hat also einen sozialen anstrich. und die Leute
sind teilweise davon abhängig. also hat Hamas, die ja schon extrem ist, einen großen Zulauf. und
das fördert vielleicht die Suicide Bombings...
ach, je. wir werden ja sehen. ich bin auf jeden fall keiner Gefahr ausgesetzt. einer der
Nachtwächter in Talitha Qumi hat eben gemeint, selbst wenn eine 3. Intifada ausbreche, wäre ich
hier in Bethlehem sicher. die Leute haben wohl sehr wenig Waffen.
28. September
Gerade nervt mich meine Arbeit. Valerie und ich sollen einen Deutschkurs geben, dieses basic"Hallo, ich bin, wie gehts"-Zeug. Finde ich blöd, weil, was bringt so was... Deutsch richtig zu
unterrichten steht klar außer Frage, weder kann ich das, noch können "meine" Schüler so viel
lernen, sie arbeiten, müssen lernen, haben gar keine Zeit sich da reinzuhängen. Aber nur so bringt
es wirklich was.
29. September 2005
Wie ihr wahrscheinlich alle in den Nachrichten verfolgt, geht es im Gazastreifen gerade wohl wieder
mächtig ab – ich sage "wohl", weil ich davon direkt überhaupt nichts mitbekomme. Ich verfolge das
alles über die Medien, vor allem deutsche über das Internet. Wer recht detaillierte Infos will, der
kann zu www.web.de gehen und dann unter "Schlagzeilen" die Rubrik "Nahost" wählen. Da
kommen dann einige, zum Teil sehr knappe und absolut aktuelle Berichte. Ich habe den Eindruck
dass sie Berichte eher israelorientiert sind. Bei www.gmx.de gibt es weniger, aber neutralere
Berichte. Sonst sucht man Artikel eher vergeblich...
9
Meine Meinung zu dem ganzen Geballer ist, dass die Israelis einen extrem unglücklichen Weg
gehen – sie beantworten Gewalt mit Gewalt, und reagieren damit genauso, wie die dämlichen
militanten Palästinenser es wollen. Deren Macht wächst in dem Maß, wie die Gewalt zunimmt.
Außerdem lässt das ganze die Gewalt eskalieren. Wie kann Sharon von Abbas ("Abu Mazen")
erwarten, radikale und terroristische Organisationen am Kämpfen zu hindern? Was hätte er den
gegen so was wie die RAF gemacht? Abbas hat nicht so viel Macht wie Arafat – und das ist auch
gut so.
Ich denke deshalb, dass Sharon Abbas bewusst gegen die Wand fahren lässt – weshalb, fragt man
sich. Die Eskalation wird das Ganze sicher nicht einfacher machen, man hört hier was von einer
dritten Intifada munkeln (was aber, denke ich, nur Gerüchteküche ist). Vielleicht will Sharon das
Bild der militanten Palästinenser verstärken, um dann in Ruhe und ohne (d.h., mit noch weniger)
internationalen Protest seine Mauer bauen zu können.
Aber ein einziges Mal bin ich froh, dass Sharon gewonnen hat – Netanyahu hätte den Gazastreifen
wahrscheinlich gleich wieder eingenommen, oder Flächenbombardements gemacht. Das ist ein
ganz rechter Sack.
Ach ja, nochmal zum Thema "Ich merke hier gar nichts": Gestern hat uns eine Palästinenserin, die
hier bei Talitha wohnt, aus Bethlehem mit hochgenommen. Sie meinte, es sei gerade ziemlich
schwer, irgendwo hinzukommen, die Palästinenser sind wohl gerade wieder eher stärker
eingeschlossen, das schwankt wohl immer, abhängig von 'the situation'.
Ach ja, heute ist der fünfte Jahrestag des Ausbruchs der zweiten Intifada, als der gute Herr Sharon
unbedingt von Hunderten Polizisten beschützt den Tempelberg in Jerusalem besuchen musste.
Seither sind 1000 Israelis und 3500 Palästinenser getötet worden.
5.9.05
Gerade ist eine Holländische Studentengruppe hier, von der Uni in Twente. Sie werden eine Woche lang
in den Konflikt eingeführt, reden mit vielen verschiedenen Leuten (Hamas, Fatah, Buergermeister und
Governor von Bethlehem, Bischof der Epischopal Church...), sehen auch von Palästina was (Jerusalem,
Ramallah, Hebron, die Mauer...), wohnen in palästinensischen Familien. Es sind zehn Leute, alle echt
nett, interessiert, wissen auch was von dem ganzen.
Heute haben wir uns die Mauer angeschaut. Ich habe sie jetzt schon ein paar Mal gesehen, aber das
hier ist schon krasser:
Das Haus von Claire, der Schwägerin eines meiner Chefs, steht am Rachels Tomb, dem
Hauptcheckpoint von Bethlehem nach Jerusalem (wenn die Mauer dann fertig ist). Das bedeutet, dass
es eine sehr unruhige Gegend ist, die Strassen sind ausgestorben, aber viele Wachtürme stehen hier,
Soldaten. Und Soldaten im Krieg (egal ob israelische oder sonstwelche) sind immer gefährlich. Die
Mauer schlängelt sich (neun Meter hoch) mitten durch dieses Viertel. Claires Haus wird von drei Seiten
von diesen 9 Meter hohen Mauern umgeben werden, die Fundamente sind schon ausgehoben, sie
laufen vier Meter vor der Haustüre entlang. Sie hat das Pech, direkt neben einem zukünftigen
Checkpoint und einem Armeestützpunkt zu wohnen. Alle Geschäfte in dieser Strasse wurden
geschlossen, auch ihres. Viele Leute sind weggezogen und haben ihr Haus aufgegeben (wenn man 3
Jahre lang dort nicht wohnt wird es automatisch israelisches Eigentum). Ihr Mann musste bei den
Israelis unterschreiben, dass er es nicht zulässt, dass jemand aus seinem Haus heraus fotografiert.
Wenn das jemand macht, wandert er für sechs Monate ins Gefängnis.
Es gab schon verschiedene Gerichtsverhandlungen, den letzten haben sie sogar gewonnen, aber
irgendwie wurde ihnen die Umsetzung verboten, bara fisch (=keine Ahnung).
Ich mag Claire nicht besonders, aber sie tut mir leid. Man sieht ihr den Stress, unter dem sie ständig
steht stark an, ihre Augen haben dunkle Schatten, sie ist nervös.
6.9.05
Heute morgen sind die Twentes nach Hebron gefahren. Valerie und ich haben uns abgeseilt und
ausgeschlafen. Als wir dann gegen zwei Uhr losgingen und in Richtung DCO liefen, haben uns drei
mittelalte Palästinenser angesprochen und mitgenommen. Sie fuhren gerade zum Beten nach
10
‫بيت لهم‬
(Bethlehem). Das ist auch ein Beispiel für die Gastfreundschaft – die Leute quatschen einen manchmal
einfach an. Wir haben uns auf Arabisch "unterhalten", es kam aber schon einiges rüber. Sind dann noch
tanken gefahren, und sie haben einen anderen Typ zum Übersetzen geholt. Der stand lässig rauchend
neben der Zapfsäule...
Waren auf jeden Fall supernett. Wir haben natürlich gleich Nummern getauscht, wenn ich das richtig
verstanden habe sind wir morgen eingeladen...
Handy heißt auf Arabisch übrigens "bilifon" – irgendeine Verunstaltung aus "talifon" (=Telefon) und
"mobile"?
16. Oktober 2005
Ich bin gerade etwas durch den Wind, weil wir gerade Nachrichten geschaut haben (Tagesschau). Wie
ihr vielleicht in der Tagesschau gesehen habt gab es "südlich von Jerusalem" heute Nachmittag zwei
Anschläge, irgendwelche Vollidioten (der Islamische Jihad hat sich bekannt) haben aus dem fahrenden
Auto heraus drei trampende Israelis erschossen und fünf verletzt. "Südlich von Jerusalem" bedeutet
meine Gegend, es war an der Strasse zwischen Bethlehem und Hebron, die ich schon ein paar Mal
gefahren bin, 10 Minuten entfernt. Ich habe die Sirenen gehört... Der DCO-Checkpoint, durch den ich
jeden Morgen fahre ist jetzt geschlossen, ebenso der Checkpoint nach Jerusalem. Einer hier meinte, die
würden jetzt eine Woche geschlossen bleiben, mal sehen. Zur Arbeit werde ich trotzdem kommen, das
ist die privilegierte Lage von Talitha: Wir können durch das hintere Tor raus, das ist A-Zone, also
palästinensische verwaltet, während das vordere Tor an der C-Zone, Israelisch verwaltet, liegt. Da
fahren dann halt keine Taxis, werden mal sehen wie wir das machen.
Gerade habe ich mit Herrn Dürr gesprochen, dem Schulleiter, ein echt netter, offener, richtig hart
arbeitender Mensch. Er hat mir den Hintergrund von diesem Anschlag erzählt: Vor ein paar Tagen
haben die Israelis in Gaza und dem nördlichen Westjordanland zehn Palästinenser getötet, Target
Killings, also "gezielte Tötung", irgendwelche Leute von der Hamas oder so. Hier wieder die
Diskriminierung durch die internationalen Medien: Die Target Killings oder so was kriegt man einfach
nicht mit, es kommt immer nur die halbe Wahrheit. Und das heute ist also eine Reaktion darauf. Die
israelische Reaktion kam dann schon heute Abend, sie haben bei Jenin einen Führer des Jihad
erschossen.
Es regt mich richtig auf, diese Idioten! Dieses Rumgeballere bringt nichts, keine militärischen oder
sonstigen Erfolge - außer dem Schüren von Hass, und der Rache. Nur Emotion, nicht Rationalität. Ein
Riesenfeind hier.
Das ist für mich hartes Brot, natürlich. Herr Dürr ist ganz unaufgeregt, er sagt ich soll keine
Katastrophenmeldung nach Hause schicken, das sei business as usual. Nichts deutet mehr auf eine
Eskalation hin, wie es nach dem Gaza-retreat kurz war.
Ich muss nach Israel, mehr mit den Menschen reden. Vielleicht mache ich ein paar Interviews oder so.
17. Oktober 2005
Gerade habe ich weitere Konsequenzen des Anschlages kennengelernt: Musa, ein 28jaehriger
Accountant, musste heute morgen an einem Checkpoint zwei Stunden warten. Er sagt, das sei reine
Schikane gewesen, die Soldaten hätten ihn einfach warten lassen. Die zwei Stunden haben ihn davon
abgehalten, einen Englischtest zu schreiben, der sehr wichtig ist: Nur damit kann er sich für ein
norwegisches Stipendium bewerben (Philosophie und nochmalwas). Bis zur nächsten Möglichkeit, den
Test zu schreiben ist aber leider die Anmeldefrist vorüber. Das bedeutet, dass (zumindest für dieses
Jahr) der Spatz gegessen ist, aus der Traum.
Er ist ein sehr netter Mensch, ruhig, überlegt. Er war selbst jetzt noch äußerlich entspannt. Meinte dann
nur, er hasse dieses Land, er wolle hier weg.
11
Ist schon hart, sein Los für eine Freifahrt raus aus dem Konflikt einfach so vor seinen Augen verpuffen
zu sehen.
Ein Checkpointerlebnis: Letztes Wochenende waren wir in Ramallah. Diese Stadt ist angeblich das „Paris
of Palestine“, ist auch moderner und reicher als andere Städte. Viele Geschäfte, man kriegt hier viel
mehr als in Bethlehem. Einen schönen, großen Obst- und Gemüsemarkt gibt’s hier, mit den üblichen
Marktschreiern. Besonders kleine Jungs sind laut, so um die zehn Jahre, die brüllen wie die Stiere.
Wenn man von Süden, also von Jerusalem aus, nach Ramallah will muss man den Qalandia Checkpoint
passieren. Es ist ein echtes Nadelöhr, weil die beiden Städte dicht beieinander liegen und es natürlich
enge Beziehungen gibt.
Die Richtung Jerusalem – Ramallah ist überhaupt kein Problem. Man läuft nur durch den von uns so
genannten „Hasenkäfig“, nämlich einen auf beiden Seiten eingezäunten Weg an der Kontrollstelle
vorbei; was man in diese Richtung transportiert ist den Israelis egal.
Schwieriger ist die andere Richtung. Das ganze erinnert mich an eine Melkmaschine, irgendwas für
Vieh. Nach einem Abschnitt des Hasenkäfigs kommt man an ein an den Seiten offenes Wellblechdach.
An diesem frühen Samstagnachmittag war gerade Ramadan-Rushhour, noch zwei Stunden bis
Sonnenuntergang, die Leute wollen nach Hause, damit sie rechtzeitig essen können.
Es waren also viele Leute dort. Alle warten darauf, in die Kontrolle zu kommen. Man muss dafür durch
eine der vier Drehkreuze durch, die drei links für Männer, eine rechts für Frauen. Vielleicht 400 Männer
auf unserer Seite, sie stehen dicht an dicht gedrängt und schieben, also ob wir dadurch schneller
durchkommen. Wir stehen etwa eine halbe Stunde dort, alle schwitzen, alle sind angespannt. Neben
den Wartenden will ein Mann, der offensichtlich aus dem Krankenhaus kommt (Kanüle noch im Arm;
Halskrause) an der Schlange vorbei und bittet einen Soldaten, der lässt ihn nicht durch. Als er nicht
gehen will richtet er sein Gewehr auf den Krankenhausmenschen, dann geht der arme. Ich gehe durchs
Drehkreuz, vorne stehen zwei Metalldetektoren. Ich lege meinen Rucksack zur Seite, gehe durch, der
Soldat will meinen Rucksack durchsuche, aber der ist voll mit Obst und Zeug; mein deutscher Pass
überzeugt ihn und er will mich durchwinken. Er stutzt, weil er (blöd, blöd) ein Armbändchen mit der
palästinensischen Flagge sieht, das ich hinten an den Rucksack geheftet habe. „What’s this?“ – „Well,
I’m working in Palestine“. Er winkt mich mit zusammengepressten Lippen durch, ich muss nicht mal
zur richtigen Passkontrolle. Die Mädchen warten schon, bei ihnen gings doppelt so schnell. Kerstin,
meine Mitfreiwillige, erzählt dass sie als erste aus den Kontrollen kam und dahinter gleich gewartet
hat, mit einigen arabischen Frauen. Einen Soldaten muss das wohl beunruhigt haben, er scheucht die
Frauen weg. Die Araberinnen machen, dass sie wegkommen, während Kerstin nicht schnell genug
schaltet und erst mal stehen bleibt. Da richtet der Soldat sein Gewehr auf sie und will sie auch
wegscheuchen, doch sie sagt, sie warte auf ihre Freunde in der Schlange, und auch der Soldat schaltet
jetzt, dass das ja gar keine Palästinenserin ist. Er dreht sich um und geht weg.
Wir sind alle fertig, bloß weg, wir lassen den Rest vom Hasenkäfig hinter uns. Ein kleiner arabischer
Junge läuft an uns vorbei und ruft „Bint Sharon!“ – „Tochter Sharons“, er denkt wohl wir seien Israelis
und beschimpft uns damit. Ich hätte ihm hinterherrufen sollen „Iben Abbas“, „Sohn des Abbas“.
Dieses Nadelöhr hat sich in letzter Zeit wohl stark verändert. Erstens wurde die Mauer hier
fertiggestellt, und neben den obigen Kontrollstellen wird gerade eine große Abfertigungshalle gebaut,
große Parkplätze, wahrscheinlich für eine sicherere Kontrolle.
Wir nehmen hinter Qalandia einen Bus nach Jerusalem, von wo aus wir nach Bethlehem weiterfahren
wollen. Wir kommen in einen mobilen Checkpoint, also einfach ein Jeep und ein paar Soldaten die
irgendwo am Straßenrand stehen. Ein Soldat kommt rein und checkt die Pässe – er ist nicht älter als
Anfang 18, sieht aus als ob er noch vor einem Monat sein Abi gemacht hätte. Wirkt sehr unsicher. Als
einer alten Palästinenserin der Pass auf den Boden fällt bückt er sich instinktiv und hebt ihn auf – man
sieht, als er sich aufrichtet, dass es ihm sehr peinlich ist, so „hoffentlich hat das mein Vorgesetzter
nicht gesehen“. Ein echt nett aussehender Mensch, sehr freundlich. Er steigt aus und wir fahren weiter.
12
Ein paar muslimische Mädchen aus dem Flüchtlingslager Al-Arroub bei Hebron haben uns für einen
kompletten Tag eingeladen – von Donnerstagabend bis Freitagabend, mit Fasten, mit Moschee, mit
Fastenbrechen am Abend. Das wäre echt interessant, eine Erfahrung – einen ganzen Tag nicht trinken...
„Wäre“, weil das Drive-By-Shooting 500 Meter von Al-Arroub entfernt war, also ist es jetzt wohl eher
problematisch, da hinzugehen. Es ginge wohl schon, aber es könnte Stress geben, zum Beispiel wenn
wir bei einer Razzia im Camp entdeckt werden. Wirkt sich auf unser nächstes Visum sicher nicht gut
aus. Außerdem, wenn die Soldaten rausfinden dass die Mörder aus Arroub kommen gibt es
Vergeltungsaktionen, d.h. sie kommen mitten in der Nacht und zerstören oder demolieren Häuser,
schießen rum, erschrecken die Kinder. Wenn wir dabei sind wird uns unser Pass nicht beschützen. Das
ist die Einschätzung des Schulleiters von Talitha Qumi, der auch schon in Namibia Schulleiter war, zur
Zeit der Revolution
19.10.
Gerade war Womens Group Meeting. Claire, ich habe von ihr erzählt, war auch da, ihre Stimme ganz
rau und heiser, sehr bedrückt. Valerie hat sie gefragt wie es ihr geht. Sie antwortet "They are building
the wall", und Tränen laufen ihr die Wangen hinunter. Ihr gehört das Haus am Rachels Tomb
Checkpoint. Wenn sie heute Abend nach Hause kommt wird ihr Haus von neun Meter hohen
Betonwänden umgeben sein. Es ist wie ein Schlag in den Magen. Die Besatzung, die Mauer ist real, ich
kann sie jetzt auch direkt spüren, nicht nur durch einen Fernsehbildschirm erfassen.
Kathrin: Fakten schaffen: Mauer, Settlements
Israels Politik: Geschichte des Rabbis mit den Hühnern, Ziegen, Pferden.
"A man came to the Rabbi and complained. He said that his house was too small for all his children and
grandchildren, that it was too loud and crowded for him to get rest and to live.
The Rabbi told him to take one sheep out of the stable and hold it inside the house. The man was
wondering how this could help, but did so.
After a week, the man came to the Rabbi again and complained. With the sheep inside his house, it was
so noisy that he couldn't talk to his wife anymore. The Rabbi advised him to take a goat from the stable
and to tie it inside the house. The man was not happy, but did what the Rabbi told him.
He came back after four days and complained, the goat was messing up the whole building, crashing
furniture and precious family inheritance. The Rabbi advised him to go to the stable and lead the horse
inside the house.
After two days, the man came back again and complained to the rabbi that he couldn't sleep at night
anymore, if this situation continued, he would not survive the next week.
Then, the Rabbi told the man to take the horse, the goat and the sheep from his house and lead them
back into the stable, and then the house would seem very nice and quiet, and not at all as loud as
before."
Man kann sehr viel sehen, wenn man nur will, und danach sucht, einfach nur im Internet. Die
zwielichtigen oder illegalen Dinge, die Staaten einfach so machen – in Russland Chodorchowski (jetzt in
Sibirien), oder Tschetschenien...
Man verliert hier sein Vertrauen in die Medien, weil sehr häufig Meldungen von der palästinensischen
Seite nicht durchdringen. Viele Journalisten scheinen offizielle Meldungen einfach so zu schlucken,
obwohl Lügen oder Nicht-Antworten zum Job eines jeden Armee- oder Regierungssprechers gehört.
Da muss man nur mal in die Nachrichten schauen. Meldung: Israelische Armee (IDF) erschießt drei
bewaffnete Palästinenser, die ein Bombenattentat auf einen Checkpoint verüben wollten. Ein paar
13
Stunden später kommt dann, dass die Palästinenser doch nicht bewaffnet waren, sondern nur mit einer
Plastiktüte in der Hand am Checkpoint vorbeirobben wollten – um Arbeit in Israel zu suchen. Die lieben
Soldaten haben laut Augenzeugen aber nicht die Prozedur mit Rufen – Warnschuss – gezieltem
Schiessen durchgemacht, sondern gleich mal draufgehalten.
Das Problem ist, dass die zweite, kleine Meldung nicht so häufig gelesen wird.
26. Oktober 2005
Sarah ist eine Volontärin aus Australien, 32 Jahre alt, die einen Master of Arts in Labour Relations und
English Literature hat. Sie hat in den verschiedensten Berufen gearbeitet und in vielen Ländern gelebt
und gearbeitet, die letzten fünf Jahre in Amsterdam, wo sie von der Touristenführerin in die Logistik
der Herald Tribune aufgestiegen ist. Sie hat also schon einiges gesehen und gemacht, und hat jetzt
wohl die Nase voll davon: Sie will nach Australien zurück und dort scheuen was sich so bietet.
Davor ist sie aber für zwei Monate hier und arbeitet teilweise im AEI, teilweise beim ISM, dem
International Solidarity Movement. Ich kannte es bevor ich sie traf nicht. Die Soldaten an der Grenze
kennen es sehr wohl: Wer im Verdacht steht, da dazuzugehören (z.B. weil er etwas alternativ aussieht,
also unrasiert oder mit Rastas) kriegt kein Visum für Israel, auch kein Touristenvisum.
Das ISM ist mit den Palästinensern solidarisch. Die Freiwilligen beschützen Palästinenser dadurch,
präsent zu sein.
Sarah wollte letztes Wochenende eigentlich zu einer bekannten israelischen Familie gehen, doch die
hatten dann doch keine Zeit. Also ist sie arbeiten gegangen, der ISM-Einsatz war in Hebron. Hebron ist
den Juden heilig, weil dort Abraham samt Frau begraben liegt (In der Abrahamsmoschee). Das ist der
Grund, warum es hier eine Siedlung gibt, mitten in der Altstadt leben in einem eingezäunten Viertel
400 Siedler, beschützt von 2000 Soldaten, ich habe es schon beschrieben.
Die Siedler von Hebron sind in Israel als sehr radikale Siedler bekannt. Sie sind wohl sehr religiös;
hierher ziehen die Leute nicht aus finanziellen Gründen, wie das in vielen anderen Siedlungen oft ist
(die Mieten sind nur halb so hoch wie in Israel, und die Häuser sind wohl richtig schick – die Regierung
weis, wie man es Leuten schmackhaft macht, am Ende der Welt zu wohnen). Die Radikalität dieser
Siedler misst Sarah an ihren Kindern: Sie hat gerade arabische Schulkinder zur Schule begleitet, als
zwei israelische Schulmädchen, total süß und etwa zehn Jahre alt, einen kleinen arabischen Jungen
gestoßen und bespuckt haben, aber richtig – nicht nur Spucke, sondern richtig aus der Nase
hochgezogen. Das gleiche, als sie nachmittags die Kinder wieder abgeholt hat: Eine Horde von
Mädchen ist den arabischen Mädchen hinterhergerannt und hat sie gestoßen und bespuckt. Am
anderen Ende der Gasse standen israelische Jungs und haben Steine auf Sarah und die Gruppe
geworfen. Voller Hass, gewaltbereit, ohne einen Funken Bewusstsein dafür, dass Araber Menschen
sind.
Am Montag ist Sukkot, das Laubhüttenfest, zuende gegangen. An diesem Tag gibt es Umzüge der
Juden, die tanzen und feiern.
Um zu zeigen dass sie da waren, aber um nicht den Umzug zu stören, haben sich Sarah und ein
anderer Freiwilliger an den Straßenrand auf eine Treppe gesetzt. Der Umzug kam vorbei, und ein paar
junge Israelis haben die zwei tanzend zur Strasse hin abgeschottet. Gleichzeitig tauchten oberhalb
zehn Kinder auf und fingen an, die beiden zu bespucken. Sie muss von oben bis unten vollgewesen
sein, ihre Hose hat noch Flecken, weil sie hier gerade keine Wechselklamotten dabeihatte.
Die meisten der Leute haben sich gar nicht um die zwei Volos gekümmert, aber ein paar kamen her
und wollten sie in einen Streit verwickeln, "Why are you here?" – "I'm protecting human rights" – "What
about my human rights? Why don't you protect mine?" – "You are protected by all those soldiers
around" – "Would you also protect me if I was attacked by Arabs?" – "Yes, sure, if I could" – dass hat er
wohl erst recht nicht verstehen können, dass jemand für die Menschenrechte, und nicht für die eine
oder die andere Seite sein kann. Er wollte sie dazu überreden dass sie das ganze nur macht weil sie tief
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in ihrem Innern Juden hasst, und dass Araber wertlos sind, dass dieses Land ihres sei, von Gott
gegeben, dass die Volos Antisemiten seien, all dieses Geschwätz.
Ein kleines Mädchen hat sie beschimpft. Es konnte überhaupt kein Englisch, außer: "Fuck you, I hate
you, I will kill you, You stupid, All Arabs to Gas Chambers" (sie hat das wirklich gesagt!)... Und das
Mädchen war keineswegs allein, sondern an der Hand ihrer Mutter – und die fand das ganz normal.
Diese Kinder kriegen den Hass beigebracht. Sie bespucken arabische Kinder einfach so – das bedeutet,
dass sie keinen, null Respekt vor dem anderen haben, dass sie sich nicht in ihn hineinversetzten, weil
sie offensichtlich nicht davon ausgehen, dass der andere ein Mensch ist. Die Erwachsenen sind
vergiftet, woher auch immer, von den Kriegen, vom Holocaust, von der eigenen Engstirnigkeit. Und sie
vergiften aktiv und bewusst ihre Kinder auch, treiben ihnen jedes Mitgefühl aus. Sarah hat das an Lord
of the Flies erinnert, wo Kinder unmenschlich werden.
Das sind wirklich schlechte Menschen in der Hebroner Siedlung. Das ironische ist, dass Sarah an
diesem Wochenende eigentlich zu israelischen Freunden gefahren wäre, und dort sicher eine schöne
Zeit mit ihnen gehabt hat. Stattdessen ist sie nach Hebron gegangen und hat die creme de la creme des
echten Siedlertums gesehen. Daran sieht man, wie gespalten die israelische Gesellschaft ist. Ich glaube
nicht, dass es in vielen Gesellschaften so etwas gibt – völlig säkulare Teile, und große ultraorthodoxe
und sehr religiöse Schichten. Und alle heißen "DIE Israelis", ob nun positiv oder negativ gemeint: Alle
Stereotype zersplittern an diesem Beispiel.
Beim Drive-By-Shooting hier am 16.10. wurde übrigens gezielt auf Leute geschossen, die an einer
Stelle standen, die nur von Trampern nach Har Hebron genutzt waren – ich bin mir nicht sicher, doch
wenn Har Hebron die Siedlung in der Altstadt von Hebron ist, leuchtet das Anschlagsziel ein.
Offensichtlich werden die Menschen hier wirklich krass erniedrigt. Wenn es normal ist, das kleine
Kinder einander anspucken, kann nicht das Geringste an Respekt für die arabischen Menschen in den
israelischen Menschen stecken.
Vor sieben Stunden ging in einer israelischen Stadt im Norden eine Bombe hoch, ein
Selbstmordattentäter. Ich habe davon während der Arbeit erfahren, ich saß im Employees Meeting, als
eine Programmänderung bekanntgegeben wurde: Wir würden jetzt über die Bezeichnungen Suicide
Bomber und Märtyrer sprechen, und was wohl das bessere Wort sei. Einleitend zur Diskussion kam
dann ein kurzer Beitrag einer Frau Mitte 20, die erzählt hat was dort passiert ist: Mindestens fünf Tote,
mehr als dreißig Verletzte, Zerstörung.
Seltsam zu wissen, dass dieser Anschlag auch auf mich Auswirkungen haben wird: Die Kontrollen
werden wahrscheinlich weiter angezogen. Ich habe kein Problem damit, ich bin Ausländer, ich komme
überallhin. Aber ich werde sehen was sich verändert. Da merkt man, dass man im Konflikt lebt, die
Nachrichten haben Spürbare Auswirkungen.
Beides zusammen, Sarahs Erzählungen und der Anschlag, machen mich fertig. Ich gehe ins Bett.
Hier ein Auszug eines Artikels aus der Ha’aretz vom 26.10.:
„Die Hamas hat ihre Politik gegenüber Israel nicht geändert, auch wenn sie an den Wahlen zum
palästinensischen Parlament im Januar 2006 teilnehmen will.
In einem Interview mit der Zeitung Haaretz sagte der Hamas-Führer in Gaza, Dr. Mahmud Azahar: die
Hamas könnte zwar kurzfristig politischen Regelungen zustimmen, wird aber nicht ihre Grundposition
ändern: "Die Grenzen von 1967 sind nur eine Stufe im Kampf. Ganz Palästina - vom Jordan bis zum
Meer – ist islamischer Besitz".
Das Interview war das erste in der israelischen Presse seit der Tötung der Hamas-Führer Ahmad Yassin
und Abed Al-Aziz Rantisi im vergangenen Jahr.
Azahar drohte mit weiteren Entführungen von Israelis. Die Hamas werde einer Verlängerung der
Ruhephase im kommenden Jahr nicht zustimmen, wenn die Palästinensische Autonomiebehörde die
15
Parlamentswahlen verschieben sollte, und wenn Israel keine weiteren palästinensischen Gefangenen
freilasse. Die Ruhephase wurde einseitig zwischen den palästinensischen Organisationen mit der
Autonomiebehörde und Ägypten verhandelt.
Azahar erklärte, dass die Hamas nicht bereit sein wird, ihre Waffen abzugeben.“
Zum Thema hier noch ein Link zu einem Artikel in der ZEIT: http://www.zeit.de/2005/44/Hamas
Ist ziemlich interessant, ich stimme mit ihr überein, dass die Hamas bei den Wahlen unbedingt
mitmachen muss – und hoffentlich verliert. Haben schon echt abgedrehte Ziele. In einer Diskussion mit
einem Repräsentanten der Hamas in meiner Arbeitsstelle haben wir über die Sinnhaftigkeit von Gewalt
diskutiert. Als er rauskriegte dass ich Deutscher bin hat er gleich auf den Stammtisch gehauen und
gemeint, ich könnte ja grad was sagen, mit zwei Weltkriegen... Hab ihn ablaufen lassen, sei erst 1985
geboren worden. Idiot. Israel hat übrigens selber Schuld, dass sie Hamas so populär ist – ihre
Sozialsysteme, die sie so populär machen, wurden in der ersten Intifada aufgebaut und dazu benutzt,
die Lohnausfälle bei monatelangen Streiks zu überbrücken – die Menschen haben Essenspakete
bekommen. Auch Leute, die einen Angehörigen im (israelischen) Knast hatten haben Unterstützung
bekommen.
Außerdem sind die Menschen durch die Lebensumstände, die wirklich grauenhaft sind, sehr frustriert,
und das ist der Nährboden für die Gewalt. Niemand sprengt sich in die Luft, wenn er nicht denkt es sei
wirklich nötig. Das ist auch die Gemeinheit, die Sharon begeht wenn er sagt: Es werde erst Gespräche
oder sonstwas geben wenn der Terror aufhört. Dabei sind es doch die harschen Lebensumstände, die
radikalen Organisationen den Zulauf gewähren. Es ist frustrierend…
###########################################
vom 3. bis zum 6. November bin ich mit Esther zu einer Art Festival gefahren, dem Rainbow Gathering.
Lauter Hippies und Naturfreaks kommen da hin, man trifft sich irgendwo in der Natur, baut den Tag
über Zelte, sammelt Feuerholz, kocht oder singt und spielt Gitarre und entspannt. Esther hatte mir
davon erzählt: Die Menschen seien so unglaublich nett dort, man würde so angenommen wie man sei
und jeder würde einen Platz finden. Ich war etwas unsicher ob da nicht was übertrieben ist und bin mit
gemischten Gefühlen hingefahren.
Die Fahrt hin hat sich dann schon gelohnt. Wir sind mit einem Taxi nach Hebron gefahren, genauer
nach Kiryat Arba'a. Das ist ein Settlement bei Hebron (nicht das in der Innenstadt, von dem ich
geschrieben habe). Von dort sollte es mit dem Bus weitergehen. Der arabische Taxifahrer hat
irgendwann bei Hebron kurz angehalten und Esther und mir einen Mangosaft gekauft - da ist von den
zehn Schekeln Fahrpreis noch weniger über.
Weil er kein Permit für Kiryat Arba'a hat, hat er uns an einen anderen Fahrer vermittelt. Im zweiten Taxi
mussten wir dann einmal fast laufen, weil die Strasse durch einen Roadblock versperrt war. Das sind
dann einige metergroße Steinbrocken und ein Haufen Erde, die auf die Strasse geschoben werden. Sie
sind nicht bewacht und verhindern so nur, dass Autos passieren. Wenn man Glück hat wartet auf der
andern Seite ein Taxi und man kann umsteigen. Das macht das Reisen hier manchmal ziemlich teuer.
Unser Fahrer hat aber nach einigem Palavern umgedreht und ist eine andere Strecke gefahren, hat uns
dann aber an einem Gate (ein unbewachtes Metalltor, wirkt wie ein Roadblock, kann aber bei bedarf
von den Soldaten geöffnet werden) rausgelassen und wir mussten doch noch ein bisschen laufen. Am
Gate fingen schon erste Siedlungshäuser an. Auf unserer Seite des Stacheldrahts hat ein
palästinensischer Junge alleine Fußball gespielt, auf der anderen Seite war ein vielleicht fünfjähriger
Junge mit Kipa und seine kleine Schwester. Als wir einen Foto rausgeholt haben um die Kids,
eingesperrt von ihren eigenen Sicherheitsvorkehrungen, zu fotografieren, sind sie weggerannt.
Unten am Tor der Siedlung saß ein Wächter in seinem Häuschen und musste erstmal telefonieren, ob
wir reindürfen. Währenddessen sind einige Siedler mit ihren Autos reingefahren, alle mit
schusssicheren Westen.
16
Ich hatte ein weisses T-Shirt an, vorne mit Handala drauf. Das ist eine Cartoonfigur eines
palästinensischen Karikaturisten, der in London lebt. Es ist ein Flüchtling, dargestellt von hinten, mit
geflickter Kleidung
##########################################
Als wir dann reindurften haben wir uns in einem Laden Brot gekauft (fast gleich dem arabischen
Fladenbrot), das etwa fünfmal soviel kostete wie hier in Beit Jala, 10 Schekel!
Während wir dann auf den Bus warteten haben wir uns ausgiebig umschauen können. Alles war eher
weniger gepflegt, Farbe blätterte schon, und eine alte Frau hat uns um einen Schekel angebettelt. Ca.
jeder Zweite hat orange Bändchen an seinem Rucksack oder Auto. Die Farbe Orange ist das Zeichen für
die Gazaabzugsgegner, die in den Settlements natürlich sehr weit verbreitet sind. Ich habe mich
absolut von Feinden umstellt gefühlt und mein Handala-T-Shirt noch bewusster getragen. Die
ungläubigen und dämlichen Blicke aus den ganzen Autos raus haben mir so richtig gutgetan. Ein Mann,
der auch auf den Bus wartete hat sich, als er mein T-Shirt gesehen hat demonstrativ 20 Meter von
Esther und mir weggestellt.
Der Bus ist denn auch irgendwann gekommen. Er hat nur halb soviel gekostet wie wir dachten, weil die
(israelische) Regierung Busfahrten durch die Besetzten Gebiete unterstützt; die meisten Israelis haben
Angst davor und die Regierung will das Leben in den Besetzten Gebieten so billig wie möglich machen,
damit auch schön viele Leute kommen.
Wir haben uns reingesetzt und durch die Panzerglasscheiben die wunder, wunderschöne Landschaft
betrachtet, teilweise Halbwüste. Aber meine Stimmung war auf einem Tiefpunkt und ich dachte nur,
wozu diese Panzerglasscheiben? Wozu die ganzen Soldaten an den Settlements die wir angefahren
haben, alle so jung, gerade aus der Schule und der Grundausbildung raus, und schon klammern sie
sich an ihr Gewehr. Es könnte so friedlich sein, wenn die Verantwortlichen es nur wollten.
Derweil ging die Sonne unter. Weil wir den Ort des Gatherings erst noch finden mussten wurde uns
leicht bange, aber wir sind einfach mal losgelaufen und standen prompt vor einer Kreuzung. Ein junger
Israeli aus einem Settlement in der Nähe hat angehalten, den Kofferraum voll mit Säcken voll
frischgepflückter Oliven, und hat uns zum Rainbow gefahren. Mitten im stockdunklen Wald war dann
ein Feuer zu sehen, nichts wie hin.
Rainbow-Tradition ist es, Neuankömmlinge mit „Welcome Home“-Gebrüll zu begrüßen, und so ist es
dann auch. Man ist willkommen, die Menschen sind unglaublich offen und akzeptieren fast jede Macke.
Alle laufen sehr alternativ herum, das Geschirr wird mit Erde geschrubbt, mit Wasser wird nur kurz
hinterhergespült. Irgendjemand macht ständig Chai, ein Tee, der aus zentimetergroßen Ingwerstücken,
Kardamom und anderem leckeren gemacht wird. Es wird auf dem Feuer gekocht, der Kaffeetopf kommt
direkt in die Glut. Ein paar Gitarrencracks spielen und singen.
Das Essen wir mit dem „FOOD CIRCLE!!!!!!“ eingeleitet, das wird dann gemeinsam in den Wald gebrüllt
damit es alle mitkriegen. Man stellt sich in den Kreis und singt ein Lied zusammen, alle halten sich an
den Händen. Danach schließen alle die Augen und man macht ein gemeinsames Ohm, d.h. man
summt, brummt gemeinsam für ein paar Minuten, so als halbe Meditation.
Ist schon sehr hippielastig, hat mich aber gar nicht gestört. Die Leute haben sich vorgenommen alles
gemeinsam zu machen und mal echte Akzeptanz und echten Frieden zu praktizieren. Da helfen solche
Rituale sehr.
Die Leute sind also echt nett und lieb und leben sehr nah an der Erde, meditieren, und selbst wenn sie
nicht meditieren, sie wirken so auf mich – alle Knoten in meiner Brust haben sich aufgelöst.
Die meisten Leute sind natürlich Israelis, und so haben fast alle in der Armee gedient. Ran war Offizier,
damit 4 Jahre lang in der Armee, und hat in israelischen Gefängnissen gearbeitet. Er hat mich an zwei
Männer in Deheisha, einem der Bethlehemer Flüchtlingslager verwiesen, mit denen er selbst
17
gesprochen hat, die waren in Administrativhaft (= politisch Aktive werden einfach eingesperrt, auf
unbestimmte Zeit und ohne Gerichtsverfahren, meistens auch ohne Grund. Wenn ich wirklich was über
Politik lernen wolle, solle ich auch mit denen reden.
Er hat erzählt dass die meisten Leute die in die Armee kommen noch ganz normal seien, aber nach
einer gewissen Zeit seltsam werden, Leute drangsalieren, in Wassertanks auf den palästinensischen
Dächern schießen, oder während langer Ausgangssperren hineinpinkeln – so dass die Menschen
gezwungen sind, den Urin der Soldaten zu trinken. Die Armee gebe den Leute einen Knacks weg, sie
würden manchmal zu richtigen Monstern.
Ich weiß natürlich nicht wie empirisch seine Einschätzung ist, aber ich denke er kennt sehr viele Leute,
gerade als ehemaliger Militärpolizist. Und es ist ja eigentlich auch bekannt was eine Armee mit ihren
Mitgliedern anstellt, einfach diese Gesellschaft von jungen, unerfahrenen Leuten die gegen einen Feind
kämpfen...
Wir hatten auf jeden Fall einige Diskussionen, auch heißere, aber immerfair und mit zuhören. Da war
für mich schon einmal die Befürchtung weg, dass man über „the situation“ nicht sprechen könnte.
Am zweiten Tag sah es dann nach Regen aus und wir haben vorsichtshalber ein paar Zelte gebaut. Die
Materialien waren eher dürftig, eine vielleicht zehn Meter lange, aber nur zwei Meter lange Plane, und
die Seile waren auch schon alle. Wir haben also beratschlagt und uns entschieden die Plane einmal zu
falten und oben zuzunähen. Für den „First“ haben wir Kabel von einem umgestürzten Telefonmasten
genommen, vernäht wurde mit Draht – wir haben also richtig improvisieren können, aus fast nichts ein
allseits bewundertes Zelt gebaut. Befriedigend! Und durchgeregnet hats auch nicht.
Habe auch eine hoffentlich andauernde Freundschaft mit Dorian geschlossen.
Wegen ihr ist Jerusalem jetzt nicht mehr nur eine Stadt, sondern „Dorian’s Stadt“. Sie wohnt direkt
neben dem Jaffator; mit ihr zusammen bin ich zurück nach Jerusalem getrampt als das Wochenende
dann leider irgendwann um war.
Mein Ziel, mit vielen Israelis in Kontakt zu kommen ist auf jeden Fall aufgegangen. Ich habe einige
Telefonnummern und zwei Versprechen, mich hier in Beit Lahem zu besuchen. Und meine instinktive
leichte Abneigung gegen Israelis, die ich langsam aber sicher entwickelt habe (wegen den blöden
Soldaten), bin ich gottseidank auch wieder losgeworden.
Esther ist mit anderen Leuten über Tel Aviv „nach Hause“ gefahren. Es ist richtig gut dass wir
zusammen was unternommen haben, weil wir eine ziemlich ähnliche Wellenlänge haben, aber bisher
nicht so sehr aus der Reserve rauskamen. Gestern Abend haben wir dass zusammen zelebriert, als die
anderen Volos bei dem Palästina-Basketballmeisterschaftsendspiel Jerusalem gegen Beit Jala waren: Wir
haben uns eine Argila (= Wasserpfeife), eine Flasche Wein und „Der Club der toten Dichter“
reingezogen. Ziemlich angetrunken haben uns dann die (muslimischen) Nachtwächter erwischt als wir
gerade die Wäsche aus der Maschine holten...
Noch eine politische Episode: Zwei Wochen lang war eine belgische Schülergruppe hier zu Besuch, drei
17jährige und ihr Lehrer. An einem Tag sind wir Claire besuchen gegangen. Sie ist die Frau von der ich
jetzt schon mehrere Male geschrieben habe, ihr Haus steht am Rahels Tomb, dem Grab der Rahel
(Irgendwas in der 2. Generation nach Abraham) und ist von drei Seiten von der Mauer umgeben.
Rachels Tomb selbst ist eine Burg. Israelische Pilger kommen mit (natürlich gepanzerten) Bussen
hierher, wenn sich jemand dem Ding zu Fuß nähert kommt gleich Gebrüll von den Soldaten. Wir hören
aber nicht drauf und gehen weiter hin, wie wollen mal reinschauen. Das erweißt sich dann als Problem,
unsere Pässe werden dreimal gecheckt und die Nummer wird sogar über Funk durchgegeben, was mir
äußerst unangenehm ist. Ich hatte mich davor durch eine Lücke in der Mauer in das „Schussfeld“ des
Aida Refugee Camps begeben. Diesen Ausdruck würden zumindest die Soldaten benutzen, weil sie
sofort gerufen haben „Don’t go there, don’t go there, it’s dangerous, they’ll shoot you!“. Aus lauter
Verärgerung habe ich zu ihnen gesagt dass ich in Beit Jala lebe, und dass ich es offensichtlich überlebt
habe. Ich hoffe nicht dass sie das in ihre Kartei aufnehmen, wenn sie überhaupt die Bewegungen der
Menschen verfolgen. Sonst hätte ich ein Problem bei meinem nächsten Visum...
18
Wir wurden dann auch reingelassen, und es erwartet uns nicht sehr viel Spektakuläres, ein paar Juden
sind hier zum Beten, das wars. Das alte, kleine Gebäude ist von einem neuen, recht großen überbaut.
An jeder der vier Ecken führt eine Leiter in die Wachtürme hoch. Es ist eine Burg.
Wir verlassen Rachels Tomb und gehen in Claires Haus.
Als ich das letzte Mal da war waren drumherum nur die Gruben für die Fundamente ausgehoben, doch
dieses Mal stand die Mauer an zwei Seiten ihres Hauses schon. Groß und hässlich, frisch gebaut. Eine
Straßenwalze hat einen kleinen Schotterweg zu ihrem Haus hinter der Mauer planiert („wir sind ja keine
Unmenschen“), da kam durch die Vibration ein Staubschleier aus einer Ritze zwischen den
Mauersegmenten, vielleicht in fünf Meter Höhe... Dieser Beton ist so einengend und unverrückbar.
Bericht Nr. 3
An alle, die keine X Seiten lesen wollen: Mir geht’s gut!
Ich habe wirklich versucht, kleinere Berichte öfter zu schicken, aber fiese Umstände haben mich davon
abgehalten, z.B. konnte ich eine Woche lang nicht an Laptop oder USB-Stick dran, und so kommen
dann noch die neuesten Wohnungsentwicklungen und Clanschießereien in diese Mail...
Aber ich nehme mal an dass jeder schon mal ein Buch gelesen hat, und dann kommen einem dreißig
Seiten ja nicht mehr so viel vor... Und ich will mein Leben hier beschreiben, ohne zu viele
Kompromisse.
Ich verspreche, mich zu bessern!
Jetzt druckt euch die Mail aus, macht euch einen Kaffee, setzt
euch in einen Sessel neben dem Kamin, und verschwendet einen Sonntagnachmittag auf mein Leben!
Es folgen 30 Seiten Bericht und 17 Seiten Gedichte und Zeitungsartikel.
2. – 4. November
Mein erstes Visum ist abgelaufen, und ich fahre nach Jordanien um es erneuern zu lassen. Die anderen
haben über die Erlöserkirche in Jordanien ein Visum bekommen, ich leider nicht weil nicht so viele
Anträge auf einmal gestellt werden konnten. Dann war die Zeit für einen neuen Antrag zu kurz,
außerdem hat sich die Möglichkeit ergeben, mit einem Freund Esthers, dem Amerikaner Joshua (aus
Portland, Oregon) und einer Bekannten von ihm, Leah aus Montana, zu fahren, die einen Jordanientrip
machen wollten.
Nachdem wir bis um 2 Uhr morgens gepackt hatten, sind Joshua und ich Freitagmorgens um sechs hier
in Talitha los und haben an der Central Bus Station in (West-) Jerusalem unseren Bus um fünf Minuten
verpasst. Das hat uns eineinhalb Stunden für ein ordentliches Frühstück aus mitgebrachten Früchten
und Brot beschert.
Wir wollten mit dem Bus nach Norden, in die israelische Stadt Bet She’an, um dort die Grenze zu
überqueren. Joshua und Leah hatten sich am Grenzübergang verabredet.
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Der Bus fuhr durch die Westbank und klapperte damit auch massenhaft israelische Siedlungen ab. Die
meisten Rucksäcke sind wie immer in solchen (gepanzerten) Bussen mit den orangenen Bändchen
geschmückt... Ich werde mich nie dran gewöhnen.
Der Grenzübergang war kein Problem, wusch und weg. Die jordanischen Beamten haben sich an allen
Stationen über das Widderhorn gefreut, das Joshua dabei hatte. Fast einen Meter lang und gewunden.
Bei irgendeiner jüdischen Zeremonie wird es zum Tuten benutzt. Die Jordanier haben die ganzen
Nachbarbüros auch noch zusammengetrommelt...
Wir sind mit einem Taxi in die nächstgrößere Stadt gefahren und sind dort in ein Service umgestiegen,
die Sammeltaxis, die einen überall aufsammeln und für sehr wenig Geld überall absetzen. Wir haben
uns die jüdischen, römischen, muslimischen und christlichen Ruinen in Jerash angeschaut, eine Stadt
im Norden Jordaniens, sehr schön. Ein kleiner Junge, vielleicht fünf, hat mir einen Stapel Postkarten
verkaufen wollen. Ich lehne bei sowas immer ab, aber der hier war so dermaßen gut, fehlerfreie
(natürlich auswendig gelernte) Verkaufsformeln, und Sachverständnis. Ich konnte nicht widerstehen
und hab sie gekauft. Shaatir, shaatir (tüchtig, intelligent)...
Derweil haben sich Leah und Joshua als Ehepaar ausgegeben, um Leah irgendwelche Anmachen zu
ersparen.
Auf der Fahrt in den Süden beobachte ich die Jordanier und andere Reisende. Alles kommt mir
unwirklich vor, denn die Menschen sind frei, sie können sich bewegen. Breite Straßen ohne
Schlaglöcher sind hier keine Siedlerstraßen, Polizeihäuschen an der Schnellstraße lösen bei mir
Beklemmung aus, doch sie sind gar nicht besetzt, und niemand würde mich oder die Araber um mich
aufhalten. Die Reisenden sind entspannt, lachen. Im Unterbewusstsein frage ich mich, wo sie die
Permits her haben, bis mir auffällt, dass sie die in Jordanien nicht brauchen.
Palästina steckt mir in den Knochen. Freie Araber zu sehen widerspricht den Erfahrungen der letzten
drei Monate.
Das Service hat uns weiter nach Amman gebracht, eine moderne arabische Großstadt – das bedeutet
laut, grell, hässlich, dreckig. Es war inzwischen sieben Uhr und dunkel, um diese Zeit fahren keine der
arabischen, billigen Busse mehr, aber wir wollten weiter nach Petra, das Haupttouristenziel Jordaniens
im Süden. Tausend Taxifahrer redeten auf uns ein und wollten uns für 50 oder 60 Dinar runterfahren,
aber das war uns sehr viel zu viel (ein Dinar ist etwas mehr als ein Euro). Dann kursierten Gerüchte,
dass doch noch ein Bus fährt, aber an einer anderen Bushaltestelle. Wir haben zwar gezweifelt, aber
haben ein Taxi dorthin genommen, vielleicht könnte man ja dort mit anderen Travelern zusammen ein
Taxi nehmen.
Am anderen Busbahnhof war natürlich kein Bus mehr, und auch keine anderen gestrandeten
Reisenden. Wir haben dann hart, hart mit den Fahrern verhandelt und zum Schluss gesagt, entweder
ihr fahrt uns für 30 Dinar, oder wir fahren gar nicht. Als sie merkten, dass wir es ernst meinen hat uns
einer namens Hussein gefahren. Der Preis war wohl immer noch gut, Hussein war zumindest guter
Dinge.
In Petra haben wir uns im „Greenhouse“ im Al-Anbat-Hotel eine Matratze gemietet – ein
Massenschlafraum, der völlig leer war, nur wir. Und zwei Dinar pro Nacht sind schon ein guter Preis...
Bis hierher hatte ich dann Leah und Joshua schon ganz gut kennengelernt. Beide sind amerikanische
Juden, (Leah kommt aus Montana, Joshua aus Oregon), die Israel entdecken wollen. Aber sie sind sehr
open minded, nicht das, was man sich unter Amerikanern vorstellt (dieses „was, es gibt noch andere
Staaten außer den USA und dem Iraq????“), gebildet, klug. Joshua (28, Leah 27) studiert irgendeine Art
von alternativer Medizin, mit Homöopathie usw.
Leah zeigte mir Fotos von langen Wanderungen in Montana und Alaska. In Alaska war sie mit Freunden
sieben Wochen lang unterwegs, sie hatten ein Basislager und ein oder zwei Abwürfe von Lebensmitteln
per Flugzeug. Exkursionen von drei Wochen. Mitten hinein ins Nichts, in die pure Natur, die dort so
unberührt sein muss. Ich bin begeistert.
Die zwei sind tolle Menschen, es macht Spass und gibt zugleich Ruhe, mit ihnen unterwegs zu sein. Es
ist ein natürlicher Umgang, als ob man sich schon lange kennt. Und ich, der ich sieben und acht Jahre
jünger bin, bin völlig gleichgestellt.
20
Ich komme sehr gut mit Arabisch klar, die komplette Fahrt, das ganze Gefeilsche läuft über mich. Da
bin ich schon stolz, freue mich, dass ich wenigstens dieses allerniedrigste Niveau erreicht habe.
Am nächsten Tag haben wir uns eine Frühstück aus Tehina (Sesam-Mus) und Brot und Früchten
gemacht, lecker. Besser als (fast) jedes Hotelfrühstück.
Dann haben wir uns auf den Weg gemacht.
Man bezahlt am Eingang des Tals eine ziemlich fiese Eintrittsgebühr, für mich als Nichtstudent 21
Dinar. Das zehrt an meiner Reisekasse, die recht beschränkt ist.
Wir laufen das Tal hinunter, Beduinen reiten vorbei, wirbeln Staub auf, fragen wir, ob wir ein „Taxi“
(Esel, Pferd oder Kamel) wollen.
Am Wegesrand stehen schon die ersten – ja, was. Gebäude, vielleicht.
Petra ist eine Gräberstadt, die in die Felsen gehauen wurde. Die Stadt, in der die Menschen gelebt
haben ist unspektakulär und gemauert. Doch ihre Gräber sind unglaublich. Hier, am Eingang des Tals,
stehen ein paar rechteckig behauene Blöcke, die innen auch ausgehöhlt sind, es gibt Türen. Wir gehen
in einen der Räume rein, der Boden ist mit Ziegenmist bedeckt, nachts sperren die Beduinen hier ihre
Ziegen und Schafe ein.
Die Fassaden sind groß. Ein Portal, stark verziert, darüber in den Stein gehauene Obelisken und eine
schon stark verwitterte Statue.
Wir kommen zum Eingang des Siq, das ist der Hauptkorridor in die Felsenstadt. Es ist eine sehr enge,
hohe Schlucht, zwischen drei und fünf Metern breit und mindestens 50 Meter hoch. Sie wurde vom
Wasser der alljährlichen Regenzeit ausgewaschen.
Weil die Nabatäer dort aber ihre Stadt bauen und die Toten begraben wollten, mussten die
Wasserstürze abgeschaltet werden – also haben sie einen riesigen, 8 Meter hohen und 4 Meter breiten
Tunnel gegraben, sicher 100 Meter lang, und dahinter eine wohl kilometerlange Schlucht geschaffen.
Hier waren viele Leute am Werk, jahrelang.
Wir gehen zurück zum Siq. Sein Eingang war mal mit einem großen Portal verziert, man sieht noch die
Ansätze, vom Wind schon ganz rund und glattgeschliffen.
Den ganzen Siq entlang zieht sich ein Entwässerungsrohr, das etwa in Hüfthöhe in den Fels gehauen
wurde. Es war mit Terracottarohren gebaut worden, davon kann man noch ein paar Stücke sehen.
Im Siq beginnt man zu verstehen, was das schönste an Petra ist: Der Fels selbst. Er ist extrem farbig,
vor allem in Rot- und Gelbtönen. Dazwischen ädern schwarze Bänder durch den Fels, die nicht dem
sonstigen Schichtverlauf folgen.
Der Wind und das Wasser erodieren den Fels, dadurch kommen teilweise wunderschön weiche Formen
zustande.
An manchen Stellen läuft Wasser den Fels hinunter. Diese kleinen Rinnsale haben sich schon ganze
Tunnel gegraben.
An einer Stelle sind einige Kamele und ein Führer als Halbreliefs in den Fels geschlagen. Die Beine sind
schon abgebrochen, alles ist weich und etwas unbestimmter geworden, man kann es kaum ausmachen
und rätselt, wie die Formen zusammenpassen, wie ein Puzzle. Aber auch ein Mal sieht man alles.
Dann kommt man zum Ende des Siq und geht direkt auf die Fassade des Schatzhauses zu. Der Fels in
den es gehauen ist ist tiefrot, der Sand auf dem Platz davor ist es auch.
Die Fassade ist typisch für den Stil von Petra. Unten stützen Säulen ein dreigegliedertes Zierwerk;
außen zwei kleine Türmchen, innen eine Einheit von vier Säulen, die ein kleines rundes Dach tragen.
Alles stark verziert und vom natürlichen Fels umrahmt.
Zwei hübsch mit roten Bändchen und Messern und Pistolen und Hatta (rot-weißes Tuch gemustert wie
das Palästinensertuch) ausstaffierte jordanische Wächter stehen vor der Eingangstür und passen auf.
Wahrscheinlich sind sie aber eher als Fotoobjekte da...
Wir gehen weiter , der ganze Weg gesäumt mit Kammern und Fassaden. Dann das Amphitheater,
ebenfalls komplett in den Fels gehauen, groß, der Stein vielfarbig.
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Wir beschließen, auf den „High Place of Sacrifice“ zu gehen, den Opferplatz, der ganz oben auf den
Felsen liegt und alles überschaut. Es ist ein steiler Weg, viele Treppenstufen sind in den Fels gehauen.
Auf dem Weg, genau wie unten, immer wieder kleine Stände mit Schmuck, kleine Beduinenmädchen
stehen hier oben. Die ganz kleinen, sechs, achtjährige Kinder, verkaufen schön geäderte Steine, die sie
irgendwo gesammelt haben, für einen Dinar das Stück.
Dann sind wir oben angekommen. Der Fels wurde oben eingeebnet, ein Opferstein wurde behauen, mit
Mulde in der Mitte und Rinne, damit das Blut abfließen kann. Wir setzen uns und essen, während die
Sonne sich langsam ans Untergehen macht. Grandioser Ausblick, das Meer von Felsspitzen von Petra
auf der einen Seite, auf der anderen Berge, Hügel, weit entfernte Schaferden. Die Steinwüste ist
wunderschön.
Auf einem der Berge sieht man oben einen winzigen Punkt, es ist ein kleines Haus, glaube ich, wo
Aaron begraben sein soll. Auch hier ist das Land heilig...
Zwei Katzen folgen uns und maunzen und maunzen. Dann kommt noch ein kleines Beduinenmädchen
und will uns Steine und Ketten verkaufen. Wir laden sie stattdessen zu Halwa (Sesam und Zucker) und
Brot und Orange ein, sie ist begeistert. Nach einer Weile geht sie, schenkt jedem von uns einen Stein,
und hüpft zwischen den Steinbrocken davon. Das hier ist ihre Heimat...
Wir wollen wieder absteigen und suchen nach dem zweiten Weg, der auf einer Karte eingezeichnet ist.
Wir finden ihn nicht und beschließen, doch lieber den selben Weg wieder runterzugehen, denn es wird
langsam wirklich dunkel und wir haben keine Lust, abzustürzen.
Es ist dann etwa sechs Uhr, kein Tourist ist mehr da. Wir sind den Weg auf ein Drittel abgestiegen und
haben einen schönen Blick über das Tal. Dunkellilanes Licht verstärkt die Farben der Felsen. Unten
reiten die Beduinen nach Hause, die Kinder rufen, die Reiter spornen ihre Tiere an. Der Hufschlag tönt
hinauf.
Ein Beduine hat uns entdeckt und kommt uns mit seinem Taxi, dem Esel Susanna, die Treppe hinauf
entgegengeritten. Wir wollen aber kein Taxi, kein Geld. Er dreht aber nicht um und reitet wieder weg,
sondern bleibt noch ein bisschen und unterhält sich mit uns. Er heißt Sami, ist 17 und macht das hier
wahrscheinlich schon seit Jahren. Er lädt uns zu sich nach Hause ein, und wir folgen ihm gerne. Er lässt
uns (umsonst, natürlich, jetzt sind wir ja seine Gäste) reiten, was sehr wackelt und sich sehr nach
Runterfallen anfühlt, aber ich bleibe gottseidank oben. Leah landet dafür später im Graben. Nach einer
Zeit bekommt man ein Gefühl für die Bewegungen des Esels und beginnt mit ihm zu reiten, nicht nur
einfach auf ihm.
Es geht eine ganze Weile, ein paar Kilometer weit, durch eine fast dünenartige Sandlandschaft, dann
kommen wir zum Beduinendorf. Die Hauser sind klein und eher schäbig. Beduinen scheinen sich für
edle Unterkünfte nicht sonderlich zu interessieren. Waren ja schließlich früher auch Nomaden.
Wir treten ein, da sitzt die Mutter und drei Geschwister auf dem Boden vor dem Fernseher. Wir setzen
uns dazu und bekommen Tee. Die Mutter spricht kein Englisch, die Kinder auch nicht, und so
unterhalten wir uns nicht. Sami bringt irgendwann ein Fotoalbum mit Fotos einer spanischen Freundin,
die hier wohl eine Weile in Petra war, als Touristin. Danach lädt er uns zum Abendessen ein, aber wir
lehnen ab weil wir glauben dass er das nicht so ernst meint und es vielleicht Zeit ist, zu gehen. Wenn
sie es ernst meinen setzen sie einem nämlich einfach das Essen vor oder lassen auf jeden Fall keinen
Widerspruch zu. Also brechen wir dann auch auf, kaufen noch ein und lassen uns mit einem (richtigen)
Taxi in das Touristendorf fahren.
Dann gibt es Ärger, weil der Fahrer darauf besteht, uns drei Dinar abzuknöpfen, wir haben aber von
den Beduinen gehört, dass es nur einer ist. Da wir uns nicht betrügen lassen wollen reichen wir ihm
nicht einfach das Geld. Er ruft noch einen anderen Mann, Mohammed zu Hilfe, aber der kann uns auch
nicht erweichen. Irgendwann flucht der Fahrer, steigt ein und fährt ohne sein Geld weg. Es stellt sich
heraus, dass Mohammed der Besitzer unseres Hotels ist, was uns sehr peinlich ist. Ich habe ihn zwar
nicht beschimpft, aber so mega respektvoll bin ich mit ihm auch nicht umgegangen.
Leah bekommt noch ein sehr schlechtes Gewissen und gibt dem Mann an der Rezeption drei Dinar,
damit er sie an den Fahrer weitergeben kann. Würde mich ja stark interessieren ob der das Geld
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wirklich auch gesehen hat... Wir hören noch ein paar abfällige Bemerkungen über die Beduinen, denen
das Geld egal sei. Ganz im Gegensatz zu den Bewohnern des Touristendorfes...
Am Nächsten Tag, Sonntag, muss ich los, denn am Montag geht die Arbeit wieder los. Joshua und Leah
bleiben noch ein, zwei Tage, und so nehme ich den Bus nach Aqaba, der jordanischen Stadt am Roten
Meer neben Elat allein. Der Abschied fällt mir schwer, ich habe die zwei doch liebgewonnen.
In Aqaba nehme ich ein Taxi direkt zur Grenze. Kein Beamter steht an der jordanischen
Durchleuchtungsmaschine, und so gehe ich ungecheckt durch. Nachdem ich die Ausreisegebühr
bezahlt habe, habe ich noch einen halben Dinar übrig, und zwanzig Schekel (das sind vier Euro). Ich
habe also keine andere Wahl, als zu trampen.
Aber zuerst muss ich die israelische Einreise hinter mich bringen.
Ich werde peinlich genau untersucht, meine Tasche wird erst durch die Durchleuchtung geschoben und
dann noch mit einem Metalldetektor auseinandergenommen.
Ich erzähle den Beamten an der Einreise, dass ich in Jerusalem bei einer Freundin wohne und seit drei
Monaten als Tourist unterwegs bin. Leider ist die Beamtin sehr, sehr misstrauisch und nimmt mich
richtig auseinander. Nach einer Viertelstunde Befragung (eine Viertelstunde kann sehr lang sein, wenn
es um Visa geht) haut sie mir ein einmonatiges Visum rein, sie wolle die Entscheidung dem
Innenministerium überlassen, und ich ziehe sauer ab.
Es ist ein Uhr, und ich stelle mich in die pralle Sonne an der Strasse, die nach Norden, nach Jerusalem
führt. Auto um Auto rauscht vorbei, die Urlauber haben alle ein leeres Auto, aber keine Lust auf
Tramper. Establishment...
Nach einer halben Stunde beschließe ich, zu einer Sperre einen Kilometer weiter unten zu laufen, wo
alle Fahrzeuge gecheckt werden und deshalb langsam fahren müssen. Das ist taktisch gut weil ich
dann mehr Zeit habe, ihr Herz zu erweichen bevor sie vorbei sind.
Ich stehe also nahe bei den Soldaten, ein absolut ekelhaftes Pack, diese drei. Der eine brüllt immer
seine Untergebenen an und hält das für extrem witzig, die anderen stehen machtlos daneben und
wissen nicht recht, ob sie mitspielen oder heulen sollen.
Neben der Strasse sind viele kleine „Steindünen“, sehr hügeliges Gelände. Allerlei Militärgerät steht da
herum, Radar, verschiedene Sorten Raketen, alle in die grobe Richtung Jordanien gerichtet. Es ist hier
alles nicht so sehr friedlich, auch wenn man einen Friedensvertrag hat...
Ich schreibe mir ein Schild, mit den Buchstaben J-M für Jerusalem, aber auf Hebräisch, das habe ich
beim Trampen zuvor gelernt. Ist auch sehr hilfreich, denn nach einer weiteren halben Stunde in der
Sonne hält dann auch tatsächlich ein Auto an. Es ist ein mittelaltes Ehepaar, das in Elat Urlaub gemacht
hat. Sie nehmen mich direkt bis nach Jerusalem mit, was sehr angenehm ist, und wir können uns
ausgiebig über alles unterhalten. Ich bin ein Feigling und erzähle, ich sei Volontär bei der Erlöserkirche
in Jerusalem. Als ich von den schwierigen Lebensbedingungen der Palästinenser unter der Besatzung
erzähle, berichte ich von einem „guten Freund“, der in Bethlehem lebt...
Die zwei halten sich für links, und sind es für israelische Verhältnisse auch. Für Deutsche Verhältnisse
wäre ihnen aber wahrscheinlich die CSU immer noch etwas zu liberal. Die Argumentation besteht
häufig aus die-Anderen-sind-doch-schuld, irgendwie die Top-Favoritin der Diskussionstrategien in
Israel und Palästina.
Sie lassen mich am Jaffator in Jerusalem raus, und ich halte einen der arabischen Busse an, die nach
Beit Jala fahren, rappelvoll mit Arbeitern. Immer mehr steigen zu, und so ende ich mit meinem
Rucksack in eine Ecke des Busses gekauert.
Um Sieben komme ich in Talitha Qumi an, perfekt. Müde, aber zufrieden.
28.11.2005
23
Heute wurden Valerie und ich von der Arbeit weggeholt, um uns ein Gesundheitszeugnis zu besorgen.
Das brauchen wir für das Jahresvisum, das wir gerade beantragen wollen, damit wir uns keine
Gedanken um ständige neue Touristenvisa machen müssen.
Wir haben Bethlehem durch den Rachels Tomb Checkpoint verlassen. Normalerweise nehmen wir einen
anderen, weil dort kein Checkpoint steht, aber das wäre dann ein zu großer Umweg gewesen.
Aber so haben wir die Gelegenheit bekommen, uns in einem Checkpoint mal so richtig mies zu fühlen.
Man gewöhnt sich ja schon an einige Sachen, aber hier vor Bethlehem steht jetzt eine neue Generation
von Checkpoints. Der bisherige ist völlig verändert worden.
Man steigt auf der Bethlehemer Seite der Mauer aus dem Taxi und läuft durch das gigantische Stahltor.
Aus einem Wachturm neben dem Tor (in die Mauer selbst integriert) quatscht ein Soldat aus dem
Fenster über die Mauer hinweg mit jemandem - schade, dass ich keinen Foto dabeihatte (übrigens,
soweit ich weiß werden die Türme von Siemens ausgestattet. Mein Handy unterstützt also die
Besatzung).
An den wartenden Autos vorbei gehen wir an die Schranke und werden zum Fußgängerübergang
geschickt. Wir gehen an Baumaschinen vorbei und frischgebauten Metallzäunen.
Wir kommen an eine Metalldrehtüre, kein Mensch weit und breit, weder Palästinenser noch Soldaten.
Wir fragen uns, was jetzt, wollen schon fragen gehen, als plötzlich über der Tür ein grünes Licht
angeht - ich sehe die Kameras, und gehe mit einem Frösteln durch die Tür.
Drinnen wieder kein Mensch, alles ist leer und tot. Eine weitere Drehtür direkt hinter der ersten, das
Licht springt auf grün, wir gehen durch. Dieser Bereich ist nicht aus soliden Wänden gebaut, sondern
aus Metallgittern, hoch, oben mit Blech überdacht.
Wir betreten das richtige Gebäude. Es sind sehr hohe Hallen, aber die Wege für uns Schlachtvieh - so
kommt es uns vor - sind mit Trennwänden umgeben, man sieht nur die vielen Schilder "Please keep
this place clean" und die Schilder "Exit", wir folgen ihnen.
Ein zweiter Blick nach oben zeigt mir die Laufstege auf halber Höhe des Gebäudes, Soldaten stehen
oben mit gutem Überblick und den Gewehren über den Schultern.
Um eine Ecke noch eine Drehtür, das grüne Licht, und durch. Dahinter (nochmal um die Ecke - alles ist
hier verwinkelt) Metalldetektoren und ein Gepäckdurchleuchtungsdings wie am Flughafen. Ich entdecke
zwei Soldatinnen hinter leicht grünlichen Panzerglas, sie bedeuten uns, das Gepäck abzulegen; wir
gehen durch die Schranke, nehmen das Gepäck, weiter.
Passkontrolle. Die Fenster der Kabinen (Panzerglas, was sonst) sind klein, wir müssen erstmal richtig
suchen, bis wir sehen, welche besetzt ist. Der Soldat schaut sich die Visa an, wir dürfen weiter, das Exit
lockt, man sieht den Himmel wieder, die Beklemmung und Wut bleibt.
Es ist demütigend. Man ist völlig, völlig ausgeliefert, Gitter, Kameras, Drehtüren, der wortlose,
gesichtslose Befehl des grünen Lichts, durch die Türen zu gehen, Türen, die geschlossen sind und die
zu öffnen zu versuchen ich mich nie trauen würde, hohe Hallen, keine Orientierung, Wächter über
meinen Köpfen. Nicht wegrennen können.
Nur drei Gesichter zu sehen, nur drei Menschen! Nicht wissen wie viele Menschen einen durch diese
Kameras anschauen. "1984"-Feeling, ein bisschen. Dann in der Nachmittagssonne durch den alten,
durch den neuen ersetzten Checkpoint schauen. Zurückblicken und sehen, wie in die alte Lücke in der
Mauer, wodurch bisher alles ging, ein Stahltor gebaut wird.
Wir laufen ein Stück bis wir ein Taxi finden. Der Fahrer, wahrscheinlich Jerusalemer Palästinenser,
spricht kein Wort Englisch und besteht darauf, uns zum Ölberg zu fahren. Nachdem wir unser Arabisch
ausgepackt haben und er mit seinen Freunden palavert hat weiß er, wo wir hinmüssen, will einen
unverschämt hohen Preis (wir handeln ihn auf die Hälfte runter, ist immer noch zu viel), und fährt dann
endlich.
Das Dorf wo wir hinwollen liegt genau gegenüber dem Jebel (=Berg) Abu Gneim, auf dem seit drei
Jahren die Siedlung Har Homa steht (illegal enteigneter Bethlehemer Grund). Davor wuchs da ein Wald,
einer der wenigen in Palästina, die die Römer, Osmanen und alle anderen übriggelassen haben.
Der Arzt ist Palästinenser, hat aber einen israelischen Pass.
24
Als wir endlich in sein Sprechzimmer kommen ist er gerade dabei, meinen Er-ist-Gesund- Schein
auszustellen, die anderen Freiwilligen, die schon vor uns hingefahren sind wedeln glücklich mit ihren.
Die Untersuchung beschränkt sich auf sein warmes Lächeln und seinen Händedruck, und wir gehen,
ohne ihm einen einzigen Schekel bezahlen zu müssen.
Die Geschichte von wegen Wir-sind-Freiwillige-für-ein-Jahr wirkt manchmal doch Wunder...
Auf dem Rückweg können wir gottseidank (al-hamdulillah) ohne Checkpoint direkt nach Beit Jala
fahren. Meine Laune ist ob der Höhen und Tiefen – Checkpoint, der so netter Arzt, ein Hindernis
weniger für das Visum - etwas mixed up. Ich spiele Fußball (ich! Fußball!) mit Tamara, einem kleinen
Mädchen aus der Boarding Section, und gehe dann völlig nassgeschwitzt auf das Kirchendach, von wo
aus man die ganze Umgebung sehen kann, ein wunderschöner Blick über ein felsiges, steiles Tal, so
wie Palästina aussehen soll. Terrassiert, Olivenbäume darin verstreut, halb zerfallene traditionelle
Häuser, karge Vegetation. Dazu ein schöner Sonnenuntergang. Da komme ich wieder zur Ruhe.
3. Dezember
Ich unternehme zusammen mit Esther einen Spaziergang in das oben beschriebene Tal. Aus der Nähe
betrachtet ist es noch viel schöner als von oben (und steiler!). Wir treffen Hirten mit Schaf- und
Ziegenherden, schauen in die vielen zerfallenen Häuser (aus weiß-gelblichem Kalkstein gebaut, wie
alles hier, klein, (ehemals) 2-3stöckig, am Hang klebend, toll) und in die vielen Höhlen, die überall aus
dem Hang gucken, teilweise ehemals bewohnt, mit ausgehauenen Türstöcken, und den Türscharnieren
noch drin. Die vielen kleinen Äcker sind alle schon gepflügt und geeggt, sie warten auf den Regen, der
dieses Jahr sehr lange ausbleibt, die Bauern werden langsam nervös. Seit drei Wochen sollte es jetzt
schon recht gleichmäßig regnen, aber die Sonne scheint und es ist lau.
Zwischen dem stacheligen Gestrüpp, das die Hänge bedeckt entdecke ich wilden Thymian in rauen
Mengen und fange gleich an zu sammeln. Die Araber verwenden nämlich keinen Thymian, würzen
orientalisch. Aber so ein Rührei ohne... Auch der Gaumen will mal wieder nach Hause!
11. Dezember
Auf dem Gemüsemarkt von Bethlehem haben Valerie und ich schon einen festen Freund, Mahmoud, bei
dem wir immer die Materialien für unser Mittagessen kaufen. Er liebt aus irgendwelchen Gründen
Ausländer, hat schon drei solcher Freunde gehabt und schreibt es sich auf die Fahnen, ihnen
persönlich perfekt Arabisch beigebracht zu haben.
Er ist aber sehr sehr nett, und lädt uns aus diesem Grund zu sich nach Hause zum Abendessen ein.
Heute sind wir also dorthin. Er wohnt in einem Dorf neben Bethlehem in einem recht bescheidenen
Haus mit seiner Familie. Er hat vier Kinder und eine Frau (er ist Muslim, könnte also bis zu vier mal
heiraten – machen aber nicht so viele); sie heißt Tamam (Arabisch: „Gut“).
Es gibt ein typisch arabisches Gericht, Maklube („Upside down“), bei dem erst Huhn, dann Blumenkohl
und oben Reis in einen Topf geschichtet werden und dann gegahrt werden. Wenn es fertig ist wird das
ganze gestürzt – dann ist es maklube.
Araber essen traditionell alle von einer großen Platte, so auch hier. Mit einem Löffel und den Fingern
wird dem Huhn zu Leibe gerückt. Der Reis ist mit Zimt und Nelken gewürzt. Zum Reis wird wie immer
kühler Joghurt gegessen, sehr lecker.
Die Unterhaltung plätschert wie bei den meisten arabischen Unterhaltungen so vor sich hin, Smalltalk.
Natürlich holen sie dann irgendwann das Fotoalbum mit den anderen Ausländern hervor, dann gibt es
noch ein Führung durchs Haus. Im Schlafzimmer muss ich Fotos machen, obwohl es eigentlich zu
dunkel ist und ich wahrscheinlich sämtliche Fotos verwackelt habe.
Das Schlafzimmer ist nicht im Geringsten Privatsphäre. Eher ein Präsentationsraum, alles geleckt und
geschleckt, und die Einrichtung muss, muss aus einem Guss sein. Tausend Spiegelschränke,
Wandschränke, Unterschränke, Sonstwasschränke, Ablagen. Das alles und das riesige Bett haben alle
die gleichen Kunstholzschnörkel, grauenhaft. Aber teuer, und deshalb auch so wichtig, man kann sichs
leisten. Und das will man ja nicht für sich behalten.
25
Irgendwann ist es dann Zeit, zu gehen (immer relativ bald, wir gehen um 8 wieder) und die ganze
Familie macht sich auf, uns zu begleiten. Die Mutter setzt ein Kopftuch auf und los. Mahmoud macht
mit einem Taxifahrer noch einen Special Price aus, und weg sind wir.
Ob die Muslimas hier Kopftuch tragen und ab welchem Alter ist hier immer ganz unterschiedlich. Die
meisten tragen es auf der Straße, aber man sieht auch viele ohne (und weiß dann nicht, ob sie
Muslimas oder Christinnen sind). Die Mädchen aus den Flüchtlingslagern sind sehr streng damit, da
herrscht ein höherer sozialer Druck. Die Flüchtlinge sind generell alle eher konservativ, ebenso die
Dorfbevölkerung.
Aber einen richtigen Feminismus gibt es auch sonst nicht. Ich kenne eine Frau, die es in dörflicher
Umgebung durchgesetzt hat, kein Kopftuch zu tragen, und die ist sogar zur Schulleiterin geworden.
Aber sonst haben die Frauen hier eher ein traditionelles Bild von ihrer Rolle in der Gesellschaft,
westliche Vorstellungen wie Hilfe des Mannes im Haushalt passen nicht in die Denkstruktur, es ist also
noch nicht mal der Wunsch richtig da. Mal sehen was die westlichen Medien den Leuten weiterhin
eintrichtern. Aber gottseidank diskriminieren die meisten Hip-Hop-Videos die Frauen ja sowieso zu
Sexobjekten.
18.12.05
Valerie und ich wurden von Samir und Tenny Baboun zum Abendessen eingeladen, sehr sehr nette
Leute hier in Bethlehem, wir kennen sie aus dem AEI. Samir hat eine Autowerkstatt (deshalb auch
immer schwarze Hände), hat aber Maschinenbau o.ä. in Chicago studiert. Ein sehr cleverer Mann,
hochintelligent. nachdem er mit 19 seinen Studienabschluss hatte (...!) hat er erstmal ein halbes Jahr
lang bei Daimler Benz in München gearbeitet, was ihm ein nahezu perfektes Deutsch eingebracht hat.
Kein falscher Artikel, Genitiv und alle anderen Fälle, deren Namen ich vergessen habe, richtig, ein
riesiger Wortschatz, masha Allah! (nicht schlecht, wörtlich „so wie Gott es will“). Flirtet mit Valerie, ohne
dass seine Frau, die danebensitzt, was davon merkt.
Seine Frau ist etwas unscheinbarer, sie überläßt ihm gerne das Wort (was auch anseiner Redeligkeit
liegt) und hält etwas hinter dem Berg, aber auch sie ist sehr nett.
Sie haben uns also eingeladen, chinesisch! Neben dem Rachels Tomb Checkpoint (natürlich innerhalb
der Mauer, sie haben kein Permit) steht das Restaurant. Kurz bevor die ersten Wachtürme in Sicht
kommen hat Samir angehalten und mich gefragt, ob ich weiterfahren kann, weil sein Auto ein
israelisches, gelbes Nummernschild hat, nicht ein Palästinensich-grünes. Palästinenser dürfen mit
israelischen Schildern nur fahren wenn sie ein Permit dafür haben, und das bekommt man scheints fast
nie. Da man das Nummernschild bei Autos nicht austauschen kann, sind grüne Nummernschilder sehr
begeht (dann fährt man ja nicht illegal), dadurch wird ein Auto um ein mehrfaches Teurer. Wer sich das
nicht leisten kann geht das Risiko ein, von den Israelis erwischt zu werden und in den Knast zu gehen.
Ich bin also leicht zitternd in das Auto gestiegen. Nicht wegen den Israelis, ich als Deutscher darf hier
fast alles. Eher, weil ich seit fast 4 Monaten kein Lenkrad mehr angerührt habe und das
Durchschnittsalter von Autos in Palästina um einiges höher liegt als in Deutschland. Und der arabische
Verkehr nicht anders ist als man sich ihn vorstellt. Ging dann aber doch irgendwie, ohne Abwürgen.
Der Abend wurde dann einfach klasse, weil Samir und Tenny eine unpalästinensische Eigenschaft
haben, mit Ajnabi (Ausländern; j ist die Umschrift für den Laut „dsch“ wie in Dschungel) interessante
Gespräche zu führen (siehe Mahmoud). Die Kunst des Smalltalks macht die wunderbare
Gastfreundschaft sonst etwas sauer.
Wir haben über alles mal geredet, natürlich über Politik: Das Wort Terrorismus, dass die Mehrheit der
Weltbevölkerung wohl Al-Qaida und die Palästinenser in einen Topf werfen (was, um das mal deutlich
zu sagen, natürlich völliger Schwachsinn ist - die Pali-Terroristen sind einfach Guerilleros die ihr Land
befreien wollen mit dämlichen Methoden, während Al-Qaida ein Haufen von Trotteln ist die glauben
dass Gott will dass sie alle Westler massakrieren), dass Israel mit F-16 Kampfflugzeugen
palästinensische Zivilisten umbringen darf, mit Raketen, die gesuchten Terroristen/Freiheitskämpfern
26
gelten (die fackeln da wirklich nicht lange - spielende Kinder um die "Zielperson" herum stören nicht.
Drauf!). Dass das Staatsterrorismus ist, das aber niemand beim Wort nennen will.
Wortbedeutungen verdrehen, oder Worte bewusst falsch einsetzen ist übrigens, wie ich schon
tausendmal geschrieben habe, ein sehr sehr beliebte Politikerpraxis, siehe Bush: "America" (=die
Guten), "Terrorists" (=die Bösen), "Massenvernichtungswaffen" (=bitte erlaubt mir alles was ich machen
will und habt so viel Angst wie möglich), "Achse des Bösen" (=ich bin ein kreuzzügelnder Vollidiot,
sonst wie „Massenvernichtungswaffen“). Und hier im Nahen Osten natürlich noch viel mehr, in der
konservativen, rechten israelischen Presse ist das Wort "Palästinenser" bedeutungsgleich mit
"Terrorist", allein ein fairer Sprachgebrauch fehlt völlig. Und Konservativ und Rechts sind dehnbare
Begriffe, das politische Spektrum scheint verglichen mit Deutschland in Israel einfach insgesamt nach
rechts verschoben zu sein.
An dieser Stelle: Solltet ihr von diesem Hamas-Menschen lesen, der in Jerusalem gesagt hat
Ahmadinejad wäre ein toller Mann, das glauben so wie ich das sehe die meisten Hamas-Anhänger
selbst nicht. Mal wieder eine offizielle (bescheuerte) Linie gegen die Realität, und persönliche
Meinungen, die durch die Medien dann plötzlich repräsentativ für irgendetwas, z.B. Hamas, werden.
Auch der Fakt, dass im Hamas-Programm die Auslöschung Israels gefordert wird, wird übrigens
hochgespielt, bei aller Radikalität der Hamas glaubt an sowas keine breite Masse mehr, die Leute
wissen dass es nicht umsetzbar ist (trotzdem wollen wir mal nicht hoffen, dass sie in den Wahlen
gewinnen werden).
Das zweitbeliebteste Thema hier, an diesem Abend auch ausgiebig behandelt, ist Religion. Die
palästinensische Gesellschaft, auch die Christen, ist hochreligiös; wenn man irgendwelche Umfragen
macht oder Meinungen einholt zu irgendeinem Thema steht garantiert in jedem Beitrag ein
"Gottesbezug" drin. Es gibt sehr viele, auch viele junge Menschen, die absolut religiös sind. Milad
beispielsweise (sein Name bedeutet „Geburt“, also mit dem arabischen Wort für Weihnachten verwandt),
ein junger Mann in meinem Projekt, studierter und arbeitsloser Hotelier, ist ein Fundamentalist, der mir
schon halb mit der Hölle gedroht hat in seinen Bemühungen, mich zu bekehren bevor es zu spät für
meine Seele ist.
Religiöse Realsatire: Der Bruder Samirs ist auch irgendeine Art von Priester. Ein Kollege hat Geld
unterschlagen, was er gemeldet hat. Das hat natürlich zu einigem Unmut, u.a. der Entlassung dieses
Priesters geführt (er ist jetzt wieder im Schoss der Kirche in Ramallah). Und weil die Familie hier in
Falastin so wahnsinnig wichtig ist, ist dieser entlassene Priester zusammen mit zwei Männern zu Samir
in die Werkstatt gekommen und wollten ihn abstechen. Er hat wohl (nach eigenen, selbst in diesem
Punkt recht glaubwürdigen Angaben) alle drei ziemlich übel zugerichtet. Er weiß sicher recht gut, wie
so ein schwerer Schraubenschlüssel in der Hand liegt...
Ich habe auch den Toleranztester losgelassen, nämlich meine (etwas wackligen)
Glaubensvorstellungen, dass es "etwas gibt", das aber nicht bewusst ist, also kein Gott existiert, und
sich letztendlich jede einzelne der drei monotheistischen Religionen völlig getäuscht hat.
Fundamentalisten und anderen engstirnigen Menschen klappt bei der Schilderung dieser Ansicht der
Unterkiefer nach unten weg, Samir hört interessiert zu.
Die Rückfahrt habe ich dann auch wieder bestritten, durfte sogar bis ganz "nach Hause" fahren, was
sehr viel Spaß macht. Ein Knackpunkt sind die vielen Speedbumps, Asphalterhöhungen auf der Straße
die das Auto sehr durchschütteln wenn man zu schnell drüberfährt. Die Araber kennen alle schon
auswendig und fahren dann auch sehr langsam drüber. Ich musste da erst meine Erfahrungen
sammeln.
Im AEI habe ich meine erste etwas prickelndere Arbeit gemacht: Ich habe für eine australische
Radiostation in Melbourne für Weihnachten einige Statements von Bethlehemern aufgenommen („Was
denken Sie als Palästinenser aus Bethlehem über Weihnachten“).
Wir konnten das (von Finnland gespendete) erstklassig eingerichtet Mediacenter der Bethlehem Uni
benutzen, wo mir dann ein Chemieabsolvent (der keine Arbeit in seinem Beruf findet und auch schon
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als Kindergärtner gearbeitet hat) die Benutzung von Mikro und MD-Player (als Aufnahmegerät)
beigebracht sowie ein einfaches Soundbearbeitungsprogramm gezeigt hat.
Die Frage war natürlich schon in die Richtung des Gegensatzes Weihnachten – Besatzung gelenkt, und
es hat gefruchtet. Es kamen ein paar gute Beiträge, und Valerie, Toine (mein holländischer Mentor) und
ich haben auch noch was gesprochen.
Den Beiträgen habe ich dann noch jedes „Ähhhhhh“ rausgeschnitten, hat mir besonders bei mir sehr
viel Spass gemacht. Und wenn irgendwo ein einzelnes Wort fehlt und man es anderswo gesprochen hat,
kann man es einfach ausschneiden und einfügen. So einfach kann man also Tonbandaufnahmen
fälschen... Wer meinen Perfektionismus kennt, weiß, wie viel Spass mir das gemacht hat.
So habe ich also ein paar palästinensische Worte an Weihnachten nach Australien gebracht, und selbst
meine Stimme dort erschallen lassen.
Am 23. hatte mein Chor (der „Olive Branches Choir“) dann ein Konzert in den Kapelle der Bethlehem
Uni. Es war kein riesiges Programm, kleine Stücke, eher seltene oder zumindest kein „Stille Nacht,
heilige Nacht“. Es kamen auch ein paar Leute, und wir haben losgelegt. Die meisten Gäste waren
begeistert, nur ein Herr in der ersten Reihe hat schmerzvoll den Kopf auf die Arme gelegt. Er ist leider
der Dirigent ein paar ziemlich guter Sachen hier, und hat mehr Ahnung als die ahnungslosen
Palästinenser. Die meisten sind wirklich unbedarft, Noten lesen hier sehr wenige.
Ich bin natürlich nicht gerade mit Festklamotten hierhergekommen, und so habe ich mir schwarze
Schuhe von einem Deutschlehrer, Wladimir, ausgeliehen. Sehr lustige Erfahrung, weil sie mir erstens zu
groß waren und dann vorne noch vier Zentimeter länger stehen, als die Füße sind, bevor sie gerade
abgeschnitten sind. Umwerfend. Und man bleibt bei jedem Schritt am Teppich hängen.
Trotz allem genieße ich den Chor, es tut gut wieder zu singen. Ich werde mich mal wieder nach
Gesangsstunden umschauen, ich bin wieder völlig eingerostet.
2. Januar 2005
Gerade ist eine tolle Zeit vorbeigegangen: Meine Eltern und Geschwister sind wieder abgefahren.
Am 23.12. habe ich sie Nachmittags vom Ben Gurion-Flughafen in Tel Aviv abgeholt. Als ich in das
Flughafengelände reinfuhr wurden wir, mein arabisch-israelischer Fahrer und ich, erstmal gründlich
gecheckt (während alle, die weniger arabisch aussehen unkontrolliert durchgewunken wurden. Im Pass
steht, welcher „Rasse“ und Religion man angehört, deshalb können sie die Araber immer leicht aus von
den jüdischen Israelis unterscheiden). Mit aussteigen, in einem Häuschen durchleuchtet werden, öffnen
aller möglicher Klappen am Auto, mit einem Spiegel druntergucken... Dauerte nicht lang, nur eine
Viertelstunde oder so. Ist aber trotzdem immer wieder aufs Neue ernüchternd zu sehen wie die
Ausgrenzung, begründet mit der Sicherheit, funktioniert.
Nach einigem Warten und Suchen in der Menge der anderen glücklich Empfangenden und
Empfangenen kam dann auch wirklich meine Familie aus der magischen Tür. Schön, alle mal wieder,
nach vier Monaten, umarmen zu können. Und unwirklich, weil Palästina bisher ein Land war, wo ich
meine Familie nie hatte, sie gehörten sozusagen nicht in meine Vorstellung Palästinas.
Am nächsten Tag, Weihnachten!, haben wir uns Bethlehem angeschaut, was lustig war weil es einen
Umzug verschiedener Scoutgruppen gab, dem Patriarchen aus Jerusalem zu Ehren, der immer an
Weihnachten nach Bethlehem kommt. Es war der Teufel los (...), die Straßen waren gestopft mit Leuten.
Lustwandelnde Palästinenser sieht man sonst selten, sie haben immer irgendwas furchtbar wichtiges
zu tun.
Scouts sind in Palästina nicht das, was wir uns unter Pfadfindern vorstellen. Jede Kirche, Schule oder
andere größere (christliche?) Vereinigung hat eine Gruppe. Sie haben teilweise sehr fantasievolle
Uniformen an (ich mag die weißen Stulpen am meisten...) und schleppen tausende Fahnen mit sich
herum. Sie finden keine Pfade, sondern üben das Jahr über – Trommeln und Dudelsackspielen! Ein
Relikt aus der britischen Besatzungszeit, bringen sie zu einigen Anlässen im Jahr militärisch klingende
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Weihnachts- oder andere Lieder, die sich wunderschön mit dem Gesang de Muezzins vermischen...
Interkulturell, aber richtig. Klingt sehr stark nach Guggenmusik! [für die nicht-Schwäbisch Gmünder:
Guggenmusik ist ein eigenes Genre, das in der Faschingszeit in Schwäbisch Gmünd loslegt: Große,
völlig verrückt gekleidete und geschminkte Blaskapellen spielen schräge Musik irgendwo zwischen
Freejazz und Volksmusik].
Der ganze Manger Square, der Platz vor der Geburtskirche, war also voller Menschen. Meine Eltern
waren erstaunt dass ich schon genug Leute kenne um links und rechts grüßen zu können. Gut, um mit
meiner so sehr gelungenen Integration anzugeben... Es war aber auch wirklich jeder auf den Beinen.
Als der Umzug dann nicht aufhören und der Patriarch nicht kommen wollte, haben wir uns in Richtung
Besichtigung der Kirche und Bethlehems gemacht. Die Geburtsgrotte war glücklicherweise ziemlich leer
(alle waren draußen bei der Prozession) und die restliche Kirche auch.
Ich weiß nicht ob ich sie schonmal beschrieben habe, aber an dieser Stelle: Die Geburtskirche ist sehr
schön. Ganz schlicht (ist ja auch von 300nochwas), mit wenigen immer noch intakten, wunderschönen
Mosaiken, die einmal die gesamte Wandfläche bedeckt haben müssen, in Gold und sehr
nachgedunkelten Farben, so dass es wie Schwarz ist. Auch im Boden gibt es noch ein paar Stellen mit
wunderbaren Mosaiken.
Der Dachstuhl ist nach unten offen, man sieht die schönen Verstrebungen, die aus sehr stark
verzogenen Balken besteht, dunkelbraun von den Jahren und dem Ruß der Kerzen.
Die Kirche ist, weil sie ja so heilig ist, in mehrere Teile aufgeteilt, jeder Konfession einen. In der
Vierung ist der griechisch-orthodoxe Teil, schön mit den vielen, vielen Lampen und den Ikonenbildern,
teilweise in Silber geschmiedet. Links dann kleine Nischen für die Armenier und noch eine andere
Gruppe, die ich mir nicht merken kann. Die Katholiken haben eine eigene, neuere Kirche nebenan, und
der Protestantismus ist zu jung um einen Platz in der Kirche zu bekommen.
Die Geburtsgrotte ist natürlich das Wichtigste von allem. Und nein, es war kein Stall wie auf den
kitschigen Bildern auf den Weihnachtskalendern...
Man geht grau-weiße marmorne Stufen hinunter, der Türrahmen schon ganz abgegriffen von den
vielen Berührungen. Enge Stufen führen hinunter, unten sieht man schon die Pilger, völlig ergriffen und
ins Gebet versunken, oder den Silberstern küssend der „die Stelle“ markiert. Marienbilder mit Kind. Die
Wände sind mit schönen, bemalten Leinenbahnen behängt. Drei Stufen führen noch weiter hinunter zu
dem Platz, an dem die Krippe stand. Man hört den seltsamsten Geschichten der Touriführer zu, z.B.
dass der Futtertrog ursprünglich aus Stein war und sich, als das Jesuskind hineingelegt wurde, in eine
aus Holz verwandelte um vor der Kälte des Steins besser zu schützen (Die Krippe wurde dann natürlich
„vom Vatikan geklaut und steht jetzt leider sonstwo“).
Man geht zu einer zweiten Treppe auf der anderen Seite wieder hinaus, vorbei an den vielen
asiatischen Touris mit ihren festgewachsenen Kameras und den immer störenden und zu lauten
Führern.
Im rechten Seitenschiff gibt es eine Tür, die auf einen Innenhof hinausführt, von dort aus kommt man
in andere Teile des Gebäudekomplexes.
In diesem Hof hat sich während der Intifada einiges abgespielt. Als 2002 die Israelische Armee
Bethlehem besetze, haben einige Kämpfer versucht die Stadt mit ein paar Kalaschnikows gegen Panzer
zu verteidigen. Als das nicht klappte mussten sie sich immer weiter zurückziehen, und sind zum
Schluss in die Geburtskirche geflüchtet. Schlau, denn das ist das einzige Gebäude, dessen
Bombardement außer Frage steht, das wäre des Teufels Küche für die Israelis.
Ein paar Kämpfer waren in der Kirche selbst, ein paar in angrenzenden Gebäuden. Wenn sie hin und her
gehen wollten, mussten sie durch den Hof. Aus Hubschraubern haben dann die Israelis draufgehalten,
weswegen man massenhaft Einschläge von Kugeln an den Mauern und auf dem Pflaster sehen kann.
Einmal wurde ein Mönch, der die Glocken läuten wollte erschossen. Offizielle Version: Er wäre ein
Scharfschütze gewesen. Er war aber auch irgendwie psychisch Krank, niemand würde an so eine Stelle
gehen, wenn oben Hubschrauber mit massig Kugeln drin kreisen...
In einem dieser Gebäude wurde übrigens von einem Menschen, der heilig ist und dessen Name ich
vergessen habe die Bibel vom Griechischen ins Lateinische übersetzt. (Nachdem sie zuvor vom
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Aramäischen ins Hebräische und dann ins Griechische übersetzt wurde... Bibeltreue Christen, ihr solltet
jedes Wort nach dieser fünfmaligen Übersetzung ernst nehmen!).
Soviel zu den heiligen Stätten und ihrer glorreichen Geschichte.
Wir haben dann noch einen Falafel eingeworfen, die Milchgrotte besucht (wo die Heilige Familie sich
nach der Geburt Jesu vor Herodes versteckte und von wo aus sie nach Ägypten verschwunden ist. In
der Milchgrotte hat Maria mittels einiger Milchtropfen versehentlich den kompletten Stein der Höhle
weiß gefärbt. Pulver, das von den Möchen von den Wänden geschabt und verkauft wird schenkt heute
noch unfruchtbaren Frauen Fruchtbarkeit). Nichts besonderes, völlig verkitschte Marienstatuen, Jesus
stillend, mir sehr ergriffenen, inbrünstig betenden Menschen aus aller Herren Länder davor. Aber der
Augustinermönch, der drauf aufpasst ist nett, ein schwarzer Amerikaner mit rasiertem runden Schädel
und riesigem Grinsen („H‘are ya doin‘?“).
Dann war der Tag auch schon um, es wurde Abend, und wir sind nach Talitha Qumi gefahren um ein
etwas anderes Weihnachten zu zelebrieren. Wir haben uns in einem der Gästezimmer, wo meine Eltern
schliefen, versammelt und meine Schwester hat den größten Hasen der Welt aus dem Hut gezogen: Sie
hatte einen zusammensteckbaren 40-cm-Weihnachtsbaum aus Sperrholz dabei, Kerzen drauf, Kugeln
dran, und es war eine richtig schöne Weihnachtsstimmung. Wozu muss der Baum grün sein, man kann
auch auf dem Bett sitzend Weihnachten feiern, wenn nur die Familie da ist. Die Bescherung brachte mir
(neben angeforderte Delikatessen wie selbstgemachter Brombeermarmelade, Kekse und Ritter-Sport
Schokolade) ein paar Bücher, Gedichte (Hilde Domin!), den „Alchimisten“ von Paolo Coelho, ein Buch
über verschiedene Friedensarbeiter in aller Welt. Aber das wichtigste war, was sonst, meine Familie.
Nach dem Bescherung haben wir uns in ein Taxi gequetscht und sind in die Citadel (al-Qala’à ) bei Beit
Sahour zum Essen gegangen, ein uraltes Gebäude, ehemal Kirche, mit großem Gewölbe aus
Feldsteinen, mit arabischem Essen und Argila (Wasserpfeife) mit Kopf aus Apfel! Lecker, und schön.
Zusammensein.
Irgendwann ist der wild blinkende Weihnachtsbaum abgestürzt und hat einen leeren Tisch erschlagen.
Er wurde mit etwas verwirrtem Blinkprogramm und zerzausten Plastiknadeln wieder hingebogen...
Am nächsten Tag, den ersten Weihnachtsfeiertag, sind wir alle zusammen nach Jerusalem gefahren. Ich
wollte meiner Familie erstmal den Checkpoint am Eingang Bethlehems am Rachels Tomb zeigen, wo
auch das von drei Seiten von der Mauer umbaute Haus steht, Claire Anastas‘ Haus. Sie waren etwas
unbegeistert weil es regnete, immer mal wieder in fiesen kleinen Böen. Aber ich habe sie ohne
Erbarmen hingeschleppt, das Fluchen überhörend.
Diese Straße ist immer wieder beeindruckend. Die ehemals wichtigste und reichste Straße Bethlehems,
jetzt ausgestorben und leer, zu beiden Seiten abgeschnitten von Sperren bzw. der Mauer. Fast alle
Geschäfte sind leer, ein Falafelverkäufer überlebt, weil ihm befreundete Touristenführer ganze
Busladungen christlicher Pilger liefern. Anders würde er schlicht pleite gehen, niemand kommt hier
vorbei.
Fenster sind zugemauert („Wie in Berlin, damals“, sagt meine Mutter), die eisernen Klapptüren vor den
Läden immer und immer geschlossen. Mauerabschnitte ragen an mehreren Stellen drohend in die
Straße hinein, flüstert: „Ich komme, ich werde euch einschließen, dann seid ihr verloren!“ Diese
Botschaft kann man wirklich schon fast akustisch hören, so voller Hoffnungslosigkeit ist hier alles.
Wir entfliehen dem miesen Wetter so schnell wie möglich und gehen zum großen Metalltor in den
Mauer, durch den aller Verkehr nach Jerusalem und den gesamten Norden fließen (stocken) muss.
Noch innerhalb der Mauer steht ein Schild „Welcome to Jerusalem“. Eine Frechheit, Dreistigkeit. Damit
wird impliziert, dass Jerusalem auf der anderen Mauerseite anfängt – das ist die offizielle Linie der
israelischen Regierung. Doch das Land direkt hinter der Mauer ist palästinensisch. Der wirklich
israelische Teil, die Grenzlinie vom Waffenstillstand von 1948, („Grüne Grenze“), beginnt erst ein paar
Kilometer hinter dieser Mauer.
Die Soldatin am Tor verweist uns auf den Fußgängerweg, der hundert Meter der Mauer entlang geht,
ein winziges Törchen, dahinter eine kleine Kontrollstation mit Drehtür. Von dort aus kommt man zum
Terminal.
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Das Terminal ist monströs wie immer. Ich fühle aber fast gar nichts, dieses Mal, die Realität und
Unverrückbarkeit der Mauer scheint noch nicht bis in meinen Kopf vorgedrungen zu sein. Ich scheine
emotional nicht zu realisieren, dass ich in Bethlehem eingesperrt sein werde, wenn die Armee
beschließt, das große Tor hier in der Mauer zu schließen. Dann nützt mir kein Pass mehr, dann bin ich
Palästinenser. Dann sitze ich fest. Aber das ganze gleitet an mir ab, ich habe mich emotional
abgeschottet, wie einige Palästinenser die ich kenne, die über neue Schreckensnachrichten, neue Tote
nur lachen, Witze machen. Sie haben sich abgeschottet, und ihr Lachen ist bitter.
Im Terminal sehe ich oberhalb der Kontrolleinrichtungen die Laufstege. Da oben lehnen lässig die
Soldaten mit ihren Gewehren, gute Sicht und Überblick auf uns Schafe unten.
Wir verlassen den Checkpoint. Meine Mutter sagt, da wäre eine große Lache roter Flüssigkeit gewesen,
mit Wischlappen halb weggewischt. Ist hier jemand erschossen worden?
Oder ein Farbeimer umgekippt?
Es könnte grauenhaft, schrecklich sein, oder so banal.
Wir nehmen einen der arabischen Busse nach Jerusalem, wie immer vollgestopft. Wir stehen, aber
meine Schwester Hannah und meine Mutter bekommen von zwei jungen Arabern einen Platz
angeboten. Alte Werte der Höflichkeit, Frauen sind „das Wertvollste im Leben der Ehemänner“ hier, wie
mir einer erzählt hat, und sie sind zu beschützen.
Am Jaffator steigen wir aus. Wir retten uns in ein Café, einen Tee mit Minze (Chai ma nànà) zum
Wärmen trinken, die vom Regen nassen Hosen antrocknen lassen.
Weil es immer noch regnet, mal leicht, mal schwerer, gehen wir nur den Suq hinunter zur Grabeskirche
und bleiben dort eine Weile, gehen den Suq wieder zurück, und wieder nach Hause, uns ist es zu kalt.
Auf dem Rückweg schleppe ich sie nicht durch den Rachels Tomb Checkpoint, sondern wir fahren den
fast checkpointfreien Weg direkt nach Talitha Qumi.
Am nächsten Tag versuchen wir unser Glück nochmal in Jerusalem, und siehe da, das Wetter ist besser.
Wir schauen uns die Klagemauer und den Suq an und schaffen es sogar auf den Tempelberg. Die
Besuchszeiten sind nämlich streng begrenzt, nur von halb acht bis neun, und mittags nochmal eine
Stunde. Das soll wohl dafür sorgen, dass die Touris die Betenden nicht stören (die natürlich immer
raufdürfen).
Man wird beim Aufgang peinlich genau von den Israelis gecheckt, mit Durchleuchtung des Gepäcks
und Riechen an der Wasserflasche, ob‘s nicht doch irgendwie Spiritus ist, den man runter auf die
Betenden an der Klagemauer kippen könnte.
Ist man dann oben, kann man sich an der Baukunst freuen, es ist einfach wunderschön. Die Al-AqsaMoschee ist ein eher schlichter Bau, aus dem gleichen gelbbraunen Kalkstein wie der Rest der Stadt,
mit zwei, drei wunderschön schlichten, grauen Zwiebeltürmchen, ein einzigartiger Schwung in der
Form (das ist übrigens der Platz, an dem Abraham fast seinen Sohn geopfert hat – die Geschichte ist
den Muslimen auch heilig. Immer zu dem Fest das daran erinnert pilgern die Muslime nach Mekka).
Dann dreht man sich um und hat freien Blick auf den Felsendom, mit seiner weithin strahlenden
goldverkleideten Kuppel und den wunder, wunder, wunderschön bemalten Kacheln, die die komplette
Fassade bedecken. Oben am Rand des achteckigen Baus zieht sich rundherum ein Band aus
wunderschön ineinander verschachtelter Kalligraphie (Koranverse, nehme ich an). Die Fenster sind fast
nicht von den soliden Mauern zu unterscheiden, weil sie praktisch nur mit relativ kleinen Röhren die
Mauer durchbrechen. Dahinter erahnt man Dämmerlicht.
Wir gehen an einem Fenster sehr weit unten in der Fassade vorbei, drinnen scheint sich gerade ein
Prediger schrecklich zu ereifern.
Leider kann man die beiden Gebäude nicht mehr betreten, seit der geliebte Ariel Sharon 2000 hier
oben praktisch mit Gewalt eingedrungen ist und mit seinem Besuch kalkuliert die zweite Intifada
provozierte. Seitdem darf kein Nichtmuslim hier mehr rein. Obwohl Teresa, die eine Weile hier in
Talitha Qumi gearbeitet hat, mal mit einer jerusalemer muslimischen Freundin in die Al-Aqsa
reingekommen ist. Es ist also nicht kategorisch für alle Nichtmuslime verboten, sondern einfach nur für
die Touristenmassen. Die Gastfreundschaft kann da wohl das Gesetz lockern...
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Vielleicht habe ich ja Glück und ich lerne jemanden in Jerusalem kennen, der mich mitnehmen möchte.
Es wäre schön, da wäre dann kein einziger Touri (außer mir), der die arabisch-muslimische Originalität
stört.
In der Mauer des Tempelbergs gibt es übrigens ein zugemauertes Tor, das Golden Gate. Die Juden
glauben, dass der Messias durch dieses Tor die Stadt betreten wird. Als dann die fiesen Muslime auf
den Tempelruinen den Tempelberg mit der Aqsa und dem Felsendom bebauten, haben sie dieses Tor
zugemauert – dann kann der Messias ja gar nicht mehr kommen, oder? Mal eben die Verheißung des
Judentums eingemauert... Religiöse Satire.
Zum Schluss kam dann die Krönung: Ein sehr sensibles Touripärchen stand oben auf dem Tempelberg
auf dem Platz vor dem Felsendom, die Lippen aufeinander und den Arm mit der Kamera schön weit
weg gehalten, die Augen noch verdreht um zu checken ob alles drauf ist. Sowas würde die
wahrscheinlich sogar in den Gebäuden noch bringen, wenn sie denn reindürften. Dann ists doch
besser, wenn sie geschlossen sind. Schilder weisen darauf hin, dass dies ein heiliger Ort ist,
insbesondere auf Züchtigkeit zwischen Männern und Frauen sei zu achten...
Auf den Märkten haben wir zugeschlagen, viele schöne Dinge gibt’s dort. Bestickte Beduinenteppiche,
mit aufgenähten Spiegelchen und Stickereien, Perlen, Tücher... Ich könnte Jerusalem regelmäßig
leerkaufen (wenn ich irgendwo eine gut bestückte Kreditkarte finden würde).
Meine Mutter hat ihre Lektion in Sachen Handeln gelernt, so wie ich auch schon viele Male vor ein paar
Monaten. Meine ganze Familie habt mich erst als Geizkragen beschimpft, weil ich gehandelt habe bis
ich halbwegs die Palästinenserpreise bekam (die natürlich um ein vielfaches unter dem Niveau der
Touripreise liegen). Meine Mutter hat die Touriregel befolgt – soviel zahlen, wie es einem wert ist (als
Tourist kennt man ja die echten Preise nicht und hat keine Chance, nicht übers Ohr gehauen zu
werden). Als sie dann etwas gekauft hat und es im nächsten Laden um die Hälfte billiger war, hat sie
schon etwas mehr Verständnis für mich aufbringen können.
Wir haben also einiges gesehen an diesem Tag, ohne nass zu werden oder durchzufrieren.
Tags darauf sind wir in Richtung Süden aufgebrochen. Wir haben eine Straße quer durch die südliche
Westbank genommen. Viele Israelis haben vor dieser Straße Angst, sie fahren dort nur lang, wenn sie
zu den Settlements müssen, die hier verstreut liegen. Ich habe schon Autos gesehen, da hatten alle
Insassen schusssichere Westen an.
Frau Dürr, die Frau des Direktors Talitha Qumis, sagt aber, dass es tagsüber auf jeden Fall sicher ist,
und nachts eigentlich auch. Wir beschließen daraufhin, es zu versuchen, wollen nicht den sicheren,
langweiligen, großen Umweg durch Israel machen.
Das Land ist karg, wie immer in Palästina. Auf den steinigen, felsigen Hügeln sind überall an weniger
steinigen Stellen winzige Äcker angelegt, mit Pferdepflug bestellt. Pro Hügel sicher fünf bis zehn der
Flecken.
Wir fahren an Beduinendörfern vorbei, die immer aussehen wie Slums, die Kinder voll Staub und Erde,
Müll überall, die Häuser schäbig. Aber ich denke, die sind gar nicht so bettelarm wie es aussieht,
sondern haben einfach keine Dorf- bzw. sesshafte Kultur.
Bei Hebron ist plötzlich ein großer Stau, nichts geht voran. Wir warten eine Weile, vielleicht eine halbe
Stunde, dann gehen Christoph und ich mal nach vorne, schauen was ist.
Es ist ein mobiler Checkpoint, was sonst. Die Soldaten stehen etwas ratlos um ein Müllauto herum. So
wie ich das verstehe würden sie gerne reinschauen, aber das ist ja dann doch nicht so hygienisch. Sie
sind in einer Zwiespalt, irgendwann darf der Fahrer seinen Müll unkontrolliert wegbringen.
Wir fragen einen Soldaten wie lange das noch dauert. „Are you Jewish?“, fragt er; nein, Deutsche. „You
can pass“, sagt er, wir sollen an der Schlange vorbeifahren, wie das schon einige Autos davor getan
haben und wir uns fragten wieso die das dürfen und der Rest nicht.
Jetzt sind wir moralisch gefragt. Sollen wir die Palästinenser im Stich lassen, oder mit ihnen solidarisch
warten?
Angesichts der etwas gereizten Stimmung in unserem für fünf Personen zu kleinen Auto (einem
Bayerischen Mistwagen) wählen wir die feige Methode, fahren an den armen Palis vorbei, und sind weg.
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Wir kommen irgendwie von der großen Straße ab und klappern an verschiedenen israelischen
Siedlungen vorbei. Plötzlich wird die Straße neben einem einsam in der kargen hügeligen Landschaft
stehenden Wachturm direkt vor unserer Nase wieder gesperrt, Soldaten stehen gelangweilt da. Eine
Horde Kinder fährt gerade auf Fahrrädern hinter der Absperrung los. Auf einem Hügel ein paar
Kilometer entfernt steht eine Siedlung.
Nach wiederum einer viertel-, halben Stunde Warten frage ich einen Soldaten, warum denn diese Straße
gesperrt sei. „It’s Chanukkah, you know. The kids ride the bike on Chanukkah. When they are finished,
you can pass.“ Haben die doch wirklich wegen ein paar fahrradfahrender Kinder die komplette Straße
gesperrt. Später, als wir endlich fahren dürfen, sehen wir noch bei ein paar letzten Nachzüglern ein
Auto hinterherfahren. Dass die Insassen bewaffnet und zu deren Schutz abgestellt sind, ist keine Frage.
Verrücktes Land, paranoide Israelis.
Als wir die Westbank (durch einen Checkpoint, natürlich) verlassen, beschließen wir, zum Toten Meer
zu fahren. Wir machen aber nur einen Badestopp. Es ist umwerfend. Man geht in das (saukalte, wie
auch der Wind) Wasser hinein und läuft nicht über Sand, sondern Salzkristalle, die sich am Boden
abgesetzt haben. Das Wasser ist ganz glitschig, wie mit Seife versetzt, von dem ganzen Salz (33
Gramm Salz kommen auf einen Liter Wasser. Das ist das X-fache von Meerwasser). Kranke Hautstellen
(Neurodermitis z.B.) brennen wie verrückt, ebenso die Augen und Schleimhäute, wenn man etwas
draufkriegt. Nicht empfehlenswert! Auch die Zunge brennt, wenn man sich etwas Wasser drauftupft.
Man geht weiter rein und spürt schon den Auftrieb. Man lehnt sich zurück, in Liegestuhlposition, und
schwupps sind die Beine und der Bauch aus dem Wasser. Wenn man Brustschwimmen versucht, hängen
nach drei Schlägen die Beine aus dem Wasser und man bekommt sie auch nicht mehr hinein. Wenn
man sich wie eine Kerze ins Wasser stellt kommt das Wasser nicht höher als bis knapp unter die
Schultern. Und man muss aufpassen, dass man nicht umkippt dabei, weil sonst der Kopf unter Wasser
kommen könnte...
Nachdem man alle diese witzigen Eigenschaften ausprobiert hat wird es auch ziemlich schnell
langweilig (und kalt – es ist ja Winter). Wir haben uns also ganz vorsichtig noch das Gesicht gewaschen
(was meinem Bruder Christoph und mir etwa vier Tage lang eine völlig vertrocknete, in Fetzen
hängende Gesichtshaut beschert hat).
Schnell unter die Dusche, und dann weiter ab ins Auto.
In die Negev-Wüste, eine Steinwüste, die den gesamten Südteil, gebietsmäßig sehr viel mehr als die
Hälfte Israels ausmacht. Wir fahren in den Sonnenuntergang, der ja bekanntlich in der Wüste
wunderschön ist, tolle Farben der ganzen Palette zwischen nachtschwarz, blau und knallorange. Rechts
und links der Straße stehen Schilder „CAUTION SHOOTING AREA ON BOTH SIDES“, links begegnet uns
ein Militärcamp, drumherum heizen Panzer mit riesiger Staubfahne über die steilsten Buckel, und
rechts sehen wir etwa vier, fünf Gruppen von Soldaten in der Ausbildung, das Mündungsfeuer blitzt in
der Nacht bei den Schießübungen.
Mitzpe Ramon ist ein kleiner, künstlich errichteter Ort in der Mitte der Wüste, am Rand einer seltsamen
geologischen Formation namens Krater, dessen langgezogenen hohen Steilwände aber nicht von einem
Kometeneinschlag kommen sondern von irgendwas anderem was mit Vulkanismus und Erosion zu tun
hat. Wir übernachten in einem Hotel, das in einem Plattenbau untergebracht ist (ich kann mir
vorstellen, dass so die Pioniersiedlungen in den Anfangsjahren des Staates Israels aussahen), aber mit
gutem Essen überrascht, morgens gibt es israelisches Frühstück, das alles zwischen Käsekuchen, Ei in
jeder erdenklichen Form und einer riesigen Salatbar, sowie arabische Küche mit einschließt.
Wir fahren die Strasse von Mitzpe Ramon in Richtung Süden und Elat und müssen hierbei durch den
Krater. In kleinen winz-Wadis (Wadis sind Flüsse, die im Sommer, also der meisten Zeit des Jahres
trocken fallen) gibt es Leben, kleine Erdhaufen zwischen dem Nadel- und Dorngesträuch markieren die
Ausgänge der Wüstenviecher, ob es nun Schlangen oder Mäuse sind.
Der Boden ist entweder mit Kalksteingeröll oder schwarzen vulkanischen Brocken bedeckt, mit den
lustigsten Formen. Steine, die mitten im Blubbern eingefroren scheinen. Immer wieder gibt es kleine
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völlig schwarze Erhebungen, wohl irgendwelche ehemaligen Minivulkane. Die sehen aus als wäre es
normales Gestein, das in einem Wolkenschatten liegt, aber der Himmel ist ungetrübt blau.
Wir fahren weiter und kommen an den „Gipsies“ vorbei, Hügel, bei denen immer wieder dicke Schichten
aus Gips zu bestehen scheinen, blütenweiß zwischen dem braun.
Wir fahren weiter, und die Wüste hält immer neue Gesichter für uns bereit. Die Straße führt uns
irgendwann in die Verlängerung des Jordantales, eine Schwemmebene zwischen den israelischen und
den jordanischen Bergen, aus denen Wadis hinunterführen, die dann dem Toten Meer zufließen. In
diesem Trockental liegt die israelisch-jordanische Grenze, gut bewacht von regelmäßig in der
Landschaft stehenden Militärposten und Wachtürmen.
Wir kommen in Elat an, fahren aber nicht in die Stadt rein, sondern zu einem der drei Grenzübergänge
nach Jordanien zwischen Elat und der jordanischen Stadt Aqaba. Dort parken wir unseren Mietwagen
und gehen zum Grenzübergang.
Und hier beginnt meine Zitterpartie.
Eine israelische Beamtin bei der Passkontrolle schaut sich alle Pässe an, sieht dass ich hier jetzt schon
vier Monate war, und fragt wieso. Ich sage, dass ich hier arbeite, was ich beim letzten Mal, als ich
Jordanien war, nicht gesagt hatte (damals: Ich sei Tourist). Plötzlich kommt eine andere Frau und sagt
„Vinzenz? I remember you, do you remember me?“ Das war doch tatsächlich die Grenzerin vom letzten
Mal drei Wochen zuvor, die mir nicht geglaubt hatte, und sich erst nach einiger Zeit zu einem
einmonatigen Visum durchringen konnte. Und die konnte sich mit Namen an mich erinnern. Mir fällt
das Herz natürlich zur Hose unten raus.
Sie haben dann Stress geschoben, weil ich kein Volontärsvisum habe sondern nur ein Touristenvisum
(„They didn’t tell me I need one like this!“). Ich habe gesagt, dass ich in Jerusalem bei der Erlöserkirche
arbeite.
Das sie sich mit Einzelheiten an mich erinnern konnte, und auch das letzte mal schon so misstrauisch
war, hatte ich angenommen mein Name würde jetzt schon im Computer auftauchen. Und jetzt, da sie
mich halbwegs beim Lügen erwischt hatte, war ich mir sicher, dass sie was reinschreiben würde.
Rausgelassen haben sie mich dann natürlich, aber ich hatte so richtige Angst, dass sie mich nicht
wieder reinlassen. Aber es gab ja schon kein Zurück mehr.
Mit zwei Taxis, große gabs nicht (bzw. die Taxifahrer waren nicht gewillt, uns welche zu holen), haben
wir uns dann in Richtung der Felsenstadt Petra aufgemacht.
Zum Sonnenuntergang kamen wir dort an. An der Straße noch oben auf dem Plateau haben wir
angehalten um ein paar Panoramafotos von Petra zu machen (was man von dort sieht ist ein völlig
verwirrendes Felsenmeer). Ich habe die Tür wegen dem starken Wind erstmal fast nicht aufgekriegt,
kaum war ich draußen ist sie wieder zugekracht. Christoph und ich wollten uns irgendwo zum Pinkeln
hinstellen, ich habe das dann aber doch lieber gelassen.
Schön ist der Ausblick trotz unserer knatternder Kleidung. Hohe, schroff aufragende Felsen, Täler, die
sandgefüllt sind, die Ahnung der tiefen Schluchten. Darüber blauer Himmel mit dem goldenen Licht der
Sonne über den Felsen. Auf einer der Bergspitzen sieht man ein kleines Bauwerk, das soll Aarons Grab
sein. Auch hier ist das Heilige Land, die Bibel spielt auch hier.
Wir nehmen uns ein Hotel mit miesem Essen, aber es ist das einzige halbwegs bezahlbare in das ich
meine Eltern mitnehmen kann (das Greenhouse entspricht nicht gerade ihren Vorstellungen von
Erholung). Mir ist das Greenhouse allerdings lieber – da erwarte ich kein Essen, da mache ichs mir
selber, und bin selbst dafür verantwortlich wie es schmeckt. Und ein Schlafsack ist genug...
Am nächsten Morgen brechen wir früh auf nach Petra, denn wir müssen Nachmittags schon wieder
fahren.
Es ist genauso wunderbar wie beim ersten mal.
Wir gehen dieses Mal einen anderen Weg zum High Place of Sacrifice hinauf, da sind schon alle
ziemlich fertig, und der Weg ist steil (die Treppenstufen sind gut und akkurat – doch direkt neben
ihnen gehts ohne Brüstung senkrecht dreißig Meter runter – wenn man nicht angeseilt ist, ist das ein
Grund ein flaues Gefühl im Magen zu bekommen.
34
Oben trinken wir Tee für einen Dinar pro Glas – und der Beduine, der das alles hier raufgeschleppt hat
(bzw. sein Esel) lässt partout nicht mit sich handeln.
Mein Vater weiht mich in das Sprichwort des „Ugly American“ ein, weil sich zwei Amis auf dem
sehenswerten uralten Opferstein räkeln und meinen, er sollte doch lieber irgendeinen anderen Stein
fotografieren, sie seien gerade eine Stunde hochgelaufen. Wir sind geflogen.
Unten angekommen entdecken wir noch viel krassere Gesteinsfarben als ich bei meinem ersten Besuch.
Die Königsgräber sind eine Reihe von großen, stark verzierten, aus dem Felsen geschlagenen
Gebäuden in Panoramaposition über dem Tal und der alten Nabatäerstadt. Hier variieren die
Gesteinsschichten von dunkelrot zu einem strahlenden blau, im Sandstein die unglaublichsten
Bauwerke. Am Visitors Center sind die Klos in solche alten gehauenen Höhlen gebaut, die Wände sind
also weißer Preßspan, das Pissoir Keramik, die Decke farbigster Naturstein. Bizarr.
Es ist Nachmittag, und wir gehen zurück zum Hotel um unsere Sachen zu holen und ein Taxi in
Richtung Aqaba zu nehmen. Wir müssen zeitig am Grenzübergang sein, wer weiß was passiert wenn
wir spät kommen und die Beamten von der langen Schicht schon die Nase voll haben. Die Visa-Sorgen
wachsen wieder bei mir.
Der Receptionist hat uns zwei Taxis bestellt für diesmal 70 Dinar. Ich könnte wetten, dass er davon
zehn bekommt, mindestens, weil er es vermittelt hat. Aber es ist OK, was soll’s.
Ich bin mit meinen Geschwistern im einen Auto. Wir denken uns schon mal Geschichten aus, dass ich
drei Monate in Israel gereist war (eben bis ich das erst Mal ausgereist bin und angab, Touri zu sein)
und dann bei Freunden angefangen hatte, etwas mitzuarbeiten (um zu erklären, warum ich bei der
zweiten Ausreise angab, zu arbeiten). Die Lügerfahrungen meiner Schwester, die sie beim Schwänzen
in der Schule gesammelt hat, machen sich hier sehr gut.
Wir kommen dann an der Grenze an, und O Glück: Die berüchtigte Grenzerin mit dem guten
Gedächtnis hat gerade keine Schicht, es ist eine gutmütige und vertrauensvolle Frau am Schalter. Weil
ich der Meinung bin, dass etwas über mich im Computer steht mache ich den Fehler zu sagen dass ich
arbeite. Das kostet mich das dreimonatige Visum, sie hätte es mir glaube ich wirklich gegeben. So geht
sie kurz nachfragen und gibt mir dann nochmal das einmonatige.
Ich bin ganz erleichtert, die Spannung weicht erst langsam. Ich hatte meinen Zivi hier ja schon an
meinen Augen vorüberziehen sehen. Ich halte es durchaus für möglich dass die einem die Einreise
einfach mal verweigern.
Daraufhin haben wir in einem Resort-Hotel etwas außerhalb von Elat (eigentlich mein Feindbild No. 1)
Sylvester verbracht und sind um die Korallen geschnorchelt. (Um meine Ehre zu verteidigen: Wir waren
nicht in diesen grauenhaften 15stöckigen Burgen, die man auf den Fotos von Elat immer sieht!).
Am 1.1. dann sind wir wieder in Richtung Norden gefahren.
Wir sind entlang des Ufers des Toten Meeres gefahren, wo auch Massada liegt, eines der wichtigsten
Stätten für die Geschichte der jüdischen Vertreibung aus dem biblischen Israel.
Massada ist eine Festung, die Herodes sich auf einem Felsplateau errichten ließ. Tiefe Schluchten
umgeben das Plateau, kein Zufahrtsweg führt hinauf, nur Zickzackfußwege. Im Jahre 77 (oder so) nach
Christus wurde hier der letzte Rest des jüdischen Aufstandes gegen die Römer niedergeschlagen. Die
Juden hatten sich hier hochgerettet und auch einiges an Nahrung und Wasser dabei, und wurden dann
von den Römern sieben Monate lang belagert (die Legende sagt 4 Jahre, aber das glaube ich nun
wirklich nicht – diese Legende speist nämlich auch den Kampfgeist des israelischen Volkes). Die Römer
haben recht schnell gemerkt dass man die Juden nicht so richtig aushungern kann, und dass man
schon gar nicht einfach so hochgehen und das Ding einnehmen kann. Also haben sie sich massenhaft
jüdische Kriegsgefangene genommen und denen befohlen, eine riesige Rampe an einer Seite des
Plateaus aufzuschütten, auf der oben ein Turm gebaut wurde, mit dem die Mauern dann eingerissen
wurden.
Die Juden oben wussten, dass Massada nicht mehr zu halten wahren. Am Abend bevor die Römer die
Festung stürmten, beschloss der Anführer, sich und seine Gefolgsleute und alle Frauen und Kinder
35
umzubringen, damit sie nicht in römischer Gefangenschaft endeten. Sie brannten alle Gebäude ab, und
ließen nur die Nahrung dort, um zu zeigen wie viel länger sie es noch ausgehalten hätten.
Eine sehr zwiespältige Geschichte, denke ich. Einerseits ist es recht klug, der römischen
Gefangenschaft zu entgehen, weil die den sicheren Tod, nur nach unendlichen Qualen bedeutet.
Andererseits, wenn alle Juden sich in das Schicksal des scheinbar so sicheren Todes gegeben hätten,
gäbe es heute keine mehr.
Außerdem eignen sich solche heldenhaften und todesmutigen Geschichten natürlich vorzüglich, um sie
in Reden vor einer Schlacht zu verwenden (siehe alle Filme zwischen Braveheart und Troja). Und jedes
einzelne arme Schwein von junger Israeli, der in die Streitkräfte eingezogen wird, wird hier oben
vereidigt mit dem Spruch „Massada darf nie wieder fallen“.
Meiner Meinung nach fällt das Massada mit jeder Rakete, die aus einer F-16 abgeschossen wird, und
mit jeder Menschenrechtsverletzung. Und es fällt auch mit jedem Selbstmordattentat.
Auf der Rückfahrt waren bei Jericho (das liegt im Norden des Toten Meeres, also auf der Route nach
Bethlehem) die sonst toten und braunen Hügel mit einem leichten grünen Flaum aus Gras bewachsen.
Mein Palästina wird grün! Da ist mir das Herz aufgegangen. Ich liebe diese Landschaft, so karg. Und
diese paar Gräser, von einem winzigen bisschen Regen geweckt, die verwandeln mein Palästina in ein
Stück Irland.
Abends waren wir dann zurück in Talitha Qumi, und am 2.1. morgens um halb sechs hatten wir uns ein
Taxi bestellen lassen. Das kam dann nicht, weil Walid, ein nervend großspuriger Mitarbeiter in Talitha,
es wohl verpennt hatte es richtig zu bestellen. Die Nerven lagen blank, aber die Nachtwächter von
Talitha haben dann irgendwann die Nummer eines anderen Taxis, der nach Israel reinfahren kann
rausgekriegt, und das wars.
Da sah ich dann meine Familie wegfahren, und stand etwas verloren am Straßenrand. Schon sehr
seltsam, Palästina war ein Land, wo ich mir meine Familie zuvor nicht hatte hineindenken können.
Dann waren sie da, zehn sehr kurze Tage sind vorbeigerast, und weg sind sie wieder.
Ich quatsche noch ein bisschen mit den Wächtern und danke ihnen, sie haben uns ja absolut gerettet.
Dann gehe wieder ins Bett.
Teresa, die ganz am Anfang meines Dienstes sechs Wochen lang in Talitha gearbeitet hat, ist mit ihrem
Freund hier zu Besuch. Sie wollen sich zusammen das Deheisha Camp anschauen und fahren zu
diesem Zweck mit dem Taxi dorthin. Auf der Straße kurz vor Deheisha liegen dann plötzlich lauter
große Steine auf der Straße, und irgendwann werden es richtig viele. Da sehen sie, dass das keine
Steine, sondern ausgebrannte Autoreifen sind...
Später hören sie, dass irgendwelche Leute in Deheisha einen höhergestellten Mann unter Druck setzen
wollten, und dann von dort aus die israelische Siedlung Gilo beschossen haben. Das macht die Israelis
natürlich nervös, und so hat vielleicht der erpresste Mensch nachgegeben.
Der Beschuss auf Gilo sah wohl dann so aus: Ein paar Hanseln nehmen ihre uralte Kalaschnikow und
ballern vom Dach aus in die richtige Richtung. Dass die Reichweite der Kugeln wahrscheinlich nicht mal
groß genug ist, das Camp zu verlassen, stört sie nicht. Solche Aktionen verleihen wahrscheinlich auch
dieses großartige männliche Gefühl der Unschlagbarkeit und das dreitagebärtig-grimmige
SOLLENSIEDOCHKOMMEN-Gelaber.
Saudämliche Menschen. Riskieren israelische Vergeltungsschläge für sowas. Eine Rakete einer F-16 in
seiner Kinder Zimmer einschlagen zu sehen ist nicht das, was ich mir unter Leben vorstelle. Diese
Männer waren es, die die ganze Zeit während der Intifada mit ihren Gewehren nach Gilo und auf die
Siedlerstraße geballert haben und damit heftigsten schweren israelischen Beschuss auf die Häuser der
Bevölkerung gezogen haben. Dumm.
[10. Februar 2006:
36
Dieser Absatz beschreibt schöen die Gerüchteküche die herrscht, wenn man in einem Land lebt wo
immer irgendwas schreckliches passieren kann. Diese Leute in Deheisha haben nämlich gar nicht nach
Gilo, sondern nur in die Luft geschossen, wie ich erst vor ein paar Tagen mitbekommen habe...]
Ich bin heute mit Esther ins Deheisha-Camp gegangen, sie gibt dort einmal die Woche
Englischnachhilfe.
Wir sind durch die engen Straßen des Camps bis zum neu gebauten Haus der Familie gelaufen, immer
mit vielen neugierigen Kinderaugen hinter uns. Das Haus liegt etwas außerhalb des Camps, drumherum
liegt unbebautes Land, am Hang, felsig. Kinder haben dort gespielt. Aber sie haben nicht wie jedes
andere Kind das machen würde Fußball oder so gespielt, sondern Falastini u Jahudi, Palästinenser und
Israelis. Zwei Gruppen haben sich gegenseitig mit Steinen beschmissen, aber natürlich immer
„danebengezielt“. Ab und an ist der Vater der Mädchen die Esther unterrichtet, raus, hat einen Schrei
rausgelassen, weil er nicht will dass sie das spielen. Dann haben sie drei Minuten Fußball gespielt und
sind zu ihrem alten Spiel zurückgekehrt. Fröhliche Kindheit...
Die kleinen Kinder der Familie haben sich gleich auf mich gestürzt und mit mir ich-bin-ein-Hund
gespielt. Jetzt fragen sie nach mir, wenn Esther hingeht.
17. Januar 2006
Heute hatten Valerie und ich wieder eine denkwürdige Unterhaltung mit Ghazoub (Gh = dem deutschen
r wie Regen; z = ein weiches s wie sein; ou = ist einfach ein langes u), dem Deutschlehrer am AEI. Er ist
sehr sehr nett, hat ein sehr gutes Deutsch, und spricht sogar Schwäbisch – aber da muss ich ja passen.
Er hat über sich selbst erzählt, wie er in Deutschland mit Anfang 18 anfing, zu studieren, und wie er in
einer schlagenden Verbindung war (sie haben für ihn die Satzung geändert, damit auch Leute, deren
Muttersprache nicht Deutsch ist, mitmachen können). Seinen Schmiss hat er aber nicht quer übers
Gesicht, sondern hat ihn sich an der Kopfhaut verpassen lassen – auch in den 60gern war es hier nicht
gut, mit riesiger Narbe im Gesicht herumzulaufen, sieht verdächtig aus. Ich habe mein Unverständnis
über sowas ausgedrückt und er meinte, die alten Mitglieder seien immer noch wie Brüder für ihn, sie
würden sich sehr um ihn kümmern. Als er ins Gefängnis kam, hätten sie sofort seine Frau angerufen
und ihr geholfen.
Dieses Beispiel war dann der Einstieg in das übliche Politik-Thema.
Ja, er war im Knast, zweimal. Das erste Mal (kann nicht länger als 10 Jahre her sein) kamen nachts die
Soldaten und haben mit Gewehrkolben an die Tür gehämmert. Er solle mitkommen, aber zuerst mal
wollten sie sein Haus durchsuchen. Haben das auch gemacht, sie hat aber wohl der Schlag getroffen,
als sie seine Bibliothek gesehen haben. Er scheint sehr gerne zu lesen – die Soldaten nicht, und haben
diesen Raum übergangen.
Als sie das Zimmer seiner damals 15jährigen Tochter wie den Rest des Hauses durchsuchen wollten,
hat sich die Tochter davor aufgebaut und gesagt, hier kommt ihr mit euren Waffen nicht rein. Gebt
euren Kollegen die Gewehre, dann kommt ihr rein, aber damit nicht. Die Soldaten haben es dann
gelassen.
Er hat sich dann knastfertig gemacht, d.h. hat Schnürsenkel, Gürtel und Kette mit Kreuz abgelegt. Die
Kette wollte sich einer der Soldaten greifen, da hat seine Frau ihm auf die Hand geschlagen und die
Kette eingesteckt. Sie haben ihn dann abgeschleppt – und das heißt, abgeschleppt. Zwei nahmen ihn in
die Mitte, packten ihn an den Armen und trugen ihn weg, er durfte seine eigenen Beine nicht benutzen.
Sie haben ihn in Aministrativhaft genommen. Das ist äußerst gängige Praxis. Leute, die zur falschen
Zeit am falschen Ort sind, oder die aus den lächerlichsten Gründen verdächtig sind, werden einfach
gefangengesetzt („Sicherheitsgründe“) und auf unbestimmte Zeit ohne Prozess in eine Zelle gesteckt.
Verschiedene Grade von Folter sind absolut gängig, siehe Mohammeds Geschichte weiter unten.
Minderjährige versuchen sie mit stehen und Ohrfeigen kleinzukriegen (die sind nicht so standhaft, da
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geht das wohl einfacher). Ziel ist, dass Schuldeingeständnisse unterschrieben werden, die häufig
entweder eine Entlassung oder eine „normale“ Verurteilung und Haftstrafe nach sich ziehen.
Ghazoub wurde nach eigenen Angaben „nicht körperlich gefoltert“. Die Definition von „nicht körperlich“
ist etwas schwierig, denke ich. Sie haben ihn im Sommer in eine Metallbox gesteckt, die 1x1x2 Meter
misst und aufrecht in der prallen Sonne steht. Oben gibt es drei Löcher für Luft. Die Wände sind mit
nach innen ragenden langen Nägeln bedeckt, so dass man sich nicht anlehnen kann. Auf den Boden
setzen geht nicht, weil erstens kein Platz ist und zweitens alles voller Dreck ist. Die Häftlinge werden
nämlich nicht aufs Klo gelassen, sondern müssen das da drinnen erledigen.
Da haben sie ihn dann fünf Tage lang schmoren gelassen, in der prallen Sonne, stehend, in der Hitze,
im Gestank.
Ich weiß nicht, ob und was für ein Geständnis sie ihm abgerungen haben. Aber danach wurde noch das
Fiebsen der Mikrofone bei einer Rückkopplung in seine Zelle geleitet. Das hat bewirkt, dass er auf
einem Ohr 30 und auf dem anderen 25 % weniger hört – soviel zu „nicht körperliche Folter“.
Nach drei Monaten wurde er entlassen.
Er wurde noch ein zweites Mal verhaftet und diesmal, nach dreimonatiger Administrativhaft, verurteilt,
bei der ersten Intifada mitgewirkt zu haben. Er blieb insgesamt ein Jahr lang im Gefängnis, wo er sich
viel zu kleine Zellen mit viel zu vielen Menschen teilen musste. Sie hatten nur eine Wolldecke auf ihren
Pritschen, nachts. Am Boden ist immer Wasser gestanden. Wenn nachts ein Ende der Decke im Wasser
hing, wurde die Decke drei Tage lang nicht wieder trocken.
Es gibt noch andere Geschichten von Gefangenschaft bei den Israelis. Es ist wohl nicht so schlimm wie
in Brasilien – aber unter aller Sau, gegen alle Menschenrechte, gegen die Genfer Konventionen, gegen
alles. Terrorabwehr zerstört die Demokratie und die Menschenrechte – in Israel ist dieser Prozess
schon sehr weit fortgeschritten.
Mohammed ist ein junger Mann im AEI, 20, Muslim. Er studiert irgendwas an der Al-Quds- Open
University in Bethlehem, das ist so ein Schmalspurstudium für Leute die keine Arbeit bekommt. Sein
Englisch ist mies, es ist immer ziemlich schwierig, sich mit ihm zu unterhalten. Valerie gibt ihm
manchmal Englischunterricht.
Mohammed war zweieinhalb Jahre lang im Gefängnis, zu Anfang muss er 16 oder 17 gewesen sein.
Das ist an sich nichts so besonderes, weil hier jeder durch einen dummen Zufall geschnappt und in
Administrativhaft kommen kann.
Es ist offensichtlich üblich, die Gefangenen mit verschiedener Härte zu foltern. Jugendliche von 14 oder
16 Jahren werden wohl häufig einfach geschlagen, Ohrfeigen scheinen bei ihnen schon zu genügen.
Die nächste Stufe der Folter sind dann Sachen, wie sie mit unserem Deutschlehrer passiert sind.
Mohammed nun hat wohl eine der höheren Stufen abbekommen. Nach eigenen Angaben, denen ich
Glauben schenke, hat er Folgendes mitgemacht:
Ihm wurden die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt.
Ihm wurden Schläge und Tritte gegen Körper, Kopf und Gesicht verpasst.
Er wurde mit Gewehrkolben gegen den Kopf geschlagen.
Gewehrläufe wurden ihm in Bauch gerammt (er hat jetzt Nierenprobleme und kann z.B. keinen Kaffee
mehr trinken - das ist eine Folge der Behandlung).
Er wurde an den Haaren geschleift.
Klowasser wurde ihm über den Kopf geschüttet.
Er musste sich unter eine Treppe stellen, und die Soldaten haben von oben auf ihn gepinkelt.
Fische wurden über ihn geschüttet und dann die Hunde auf ihn gehetzt.
Er trägt eine große vernarbte Verbrennung am rechten Handrücken, ca. 4 cm Durchmesser. Ich weiß
nicht genau, wie sie ihm das beigebracht haben, mit Laser oder Rotlicht oder so.
Mohammed wurde verhaftet, weil sein Name verwechselt wurde. Irgendwer hat was gegen Israel
gemacht, Flugblätter oder so. Leider hatte er wohl den selben Namen.
Sie haben ihn 60 Tage lang intensiv befragt (= gefoltert) und die zwei Jahre danach wohl kaum mehr.
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Während der 60 Tage bekam er nur ein Stück Brot täglich.
Er wurde dann zu fünf Jahren verurteilt. Aber schon nach zweieinhalb Jahren wurde er entlassen und
bekam ein Schreiben, dass es ihnen Leid tue, aber sie hätten den Falschen erwischt. Eine
Entschädigung hat er nicht bekommen.
Und das Schärfste ist, dass er immer noch nur auf Bewährung draußen ist, wenn er nur das kleinste
Ding anstellt wandert er für fünf Jahre zurück ins Gefängnis.
Auch Taha aus dem AEI war im Knast, auch er wurde gefoltert, ich weiß aber nichts Genaues über seine
Behandlung.
Mein Kopf ist immer noch in einem Wust aus Emotionen und gegensätzlichen Meinungen gefangen. Ich
kann die israelische Seite weit weniger gut verstehen als die palästinensische, logisch.
Aber dann öffnen sich wie Donnerschläge manchmal Tore in meinem Kopf, und ich sehe plötzlich, dass
das überzogene Sicherheitsdenken in Israel absolut natürlich ist und den nationalen Traumata
entstammt. Es fällt mir schwer, zuzugeben, dass manches auch eine gewisse Berechtigung hat. Was mir
die Akzeptanz so schwer macht, ist, dass ich meine palästinensischen Freunde immer und immer unter
diesem Sicherheitswahn leiden sehen muss, und auch, dass die „Security Reasons“ von der Politik ganz
systematisch für ihren Kolonialismus bzw. Zionismus missbraucht wird.
Ich tue auch die Angst der Israelis, nach Bethlehem zu kommen, sehr leichtfertig ab. Ich überlege mir
schon genau, ob sie hier wirklich vor Steinewerfern oder Schlimmerem sicher sind. Aber ihre
anerzogene Angst vor dem Namen Bethlehem, vor „the Arabs“, wie sie sie immer nennen, das kann
nicht in meinen Kopf rein.
Die nationalen Traumata, die ich beschrieben habe, sind natürlich Holocaust und die Kriege, die hier
stattgefunden haben, sowie die zwei Intifadas und die Ermordung Rabins. Dieser ganze Mythos „of the
small against the big, the weak against the strong, the good against the bad“ (das sagte mir eine
Bedienung in Elat in einem völlig nebensächlich klingendem Nebensatz über Chanukkah (ein wichtiges
religiöses Fest, das unter Anderem diese Botschaft beinhaltet) – es ist im kollektiven Bewusstsein
wirklich drin...) verklärt das Volk und den Staat Israel zu solchen Heldenbildern, David gegen Goliath,
und erweckt den Sog, selbst ein solcher Held zu sein, man muss ja sein Volk schützen.
Welcher Deutsche würde auf die Idee kommen, sein Volk schützen zu müssen? Der Holocaust wird
absolut wachgehalten. Ich weiß zwar nicht wie, aber Kinder haben angeblich immer noch Albträume
davon (wenn das keine böse Propaganda ist).
27. Januar 2006
In diesen Tagen schaut natürlich die ganze Welt hierher nach Palästina.
Am 25. Januar wurde die Hamas mit einer absoluten Mehrheit ins Parlamant gewählt. Großes
Sorgenmachen – seitens der christlichen Palästinenser, und seitens des ganzen Westens.
Politisch muss man dem Westen aber leider überwiegend eine Sechs erteilen, wenn es um den Nahen
Osten geht. Keiner hat richtig Ahnung, keinen interessiert es mehr richtig, weil der Konflikt schon so
lange anhält, jeder ist schon damit aufgewachsen. Die Angst vor dem Islam und den Arabern (9-11Syndrom) tut ihr Übriges, alle zu verschrecken und lieber dem sauberen westlichen Staat Israel zu
vertrauen als den (zugegebenermaßen grauenhaft impulsiven, siehe brennende Botschaften) Arabern.
Ich bin nicht glücklich mit der Hamas, aber dieses Erdbeben wird einige Veränderungen in den
politischen Ordnung innerhalb Palästinas auslösen. Das ist sehr nötig, weil die Fatah mit ihrem
Korruptionswust die Politik hier versaut hat. Ich traue der Hamas zu, das zumindest teilweise zu
verändern (und jetzt hat gerade eine palästinensiche anti-Korruptions-Kommission 25 hochrangige
Leute verhaften lassen und viele Haftbefehle ausgesprochen – vielleicht ein Hoffnungsschimmer?).
Außerdem hört man (auch von linken Israelis) die Einschätzung, dass die Hamas die einzig richtige
Regirungspartei ist, weil sie am meisten Macht, auch in der Bevölkerung, hat. Damit kann sie die Dinge
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die sie beschließt auch umsetzen, beispielsweise einen Terrorstop verfügen. (Gilt natürlich nicht für
den Islamischen Jihad, der schwebt frei im Wahnsinn).
Auch glaube ich nicht, dass die Hamas die Sharia, das islamische Gesetz, hier einführen wird, passt
meiner Meinung nach nicht zur palästinensischen Gesellschaft, auch die Muslime sind zu modern
dafür. Keiner kann sich vorstellen, wie in Saudi-Arabien rumzulaufen. Und Hamas will sich jetzt
natürlich auch profilieren, weil sonst alle den Geldhahn abdrehen, und dann steht sie mit ihrem
Wahlsieg und völlig leeren Kassen da, dann bricht hier alles zusammen.
Die Hamas gibt auch erste Anzeichen, dass sie eventuell Israel sogar akzeptieren will. Ein mittelhohes
Tier hat gemeint, "wir erkennen Israel an, aber wir erkennen nicht die Besatzung an". Wenn das die
offizielle Linie wird, hat sich die EU schon mal fast alle jetzigen Sorgen umsonst gemacht. Auf jeden
Fall wird die Hamas es ruhiger angehen lassen. Sie haben Israel ja auch einen langfristigen
Waffenstillstand angeboten (was man in diesen verdammten Medien aber nur in einem Nebensatz
erfährt).
Und dann ist es einfach Demokratie, dass die Leute denjenigen wählen, dem sie vertrauen – und das ist
nun mal momentan nicht mehr die Fatah. Die Welt muss das akzeptieren, es ist der Wille des Volkes
und außerdem nicht abzuwenden.
Tendenziell sind mir die Wertungen, auch Merkel, zu sehr israellastig, alle sagen, dass militante
Parteien mit Demokratie unvereinbar sind. Das stimmt. Aber die Palästinenser wollten die Fatah
abwählen, und so ist die Hamas an die Macht gekommen, und es ist einfach nicht abwendbar, also
sollen alle aufhören, daran zu zweifeln.
Und niemand sagt etwas über die Umsetzung der Menschenrechte, UN-Resolutionen und Genfer
Konventionen in Israel. Solche Politik ist mit dem Geist der Demokratie auch nicht vereinbar.
Die Grundangst vor den Muslimen hat schon eine große Wirkung, und viele Politiker und die meisten
Menschen sind nicht bereit, sich ausgeglichen mit dem Thema zu befassen und diese Angst zu
verlieren. Viele Menschen haben im Unterbewusstsein drin dass Islam = Al-Qaida ist, und schmeißen
deshalb auch den palästinensischen Terror in diesen Topf.
Ich finde, dass die Welt der Hamas eine Chance geben sollte. Es ist gut dass die Fatah abgewählt
wurde, dann kann sie sich mal wieder regenerieren und alle Strukturen werden etwas aufgebrochen.
Die oberkorrupte alte Tunis-Garde von Arafat wird abgesägt und durch junge Leute ersetzt. In vier
Jahren dann wieder...
Es wird der palästinensischen Demokratie gut tun, aber die Außenpolitik mit Israel erschweren. Die
Hamas kann sehr viel Gutes bewirken und alles zerstören, kommt darauf an wie klug und koordiniert
und geeint sie auftreten.
Und die Israelis werden im März ihren Teil zur Zukunft dazutun - wenn sie Netanyahu wählen kann ich
gleich nach Hause fahren, weil dann nämlich innerhalb eines Monats die nächste Intifada ausbricht und
Benyamin "Bibi" Netanyahu (der Armeespitzname bleibt einem in Israel das ganze Leben) Palästina
flächendeckend mit Bomben und Scharfschützen belegt.
Aber das ist eher unwahrscheinlich, ich denke es wird eine Koalition von Kadima (Sharons neuer
Zentrumspartei) und Arbeiterpartei siegen.
3. Februar 2006
In den Nachrichten kommen gerade die Bilder der Räumung der Außenposten der Siedlung Amona.
Solche Bilder erfreuen mein Herz, aber dann kommt der Nachrichtensprecher und spricht von dem
„illegalen Außenposten der Siedlung Amona“.
Amona liegt irgendwo nahe Ramallah im Westjordanland.
Den Genfer Konventionen nach, die Israel natürlich ratifiziert hat, ist es illegal, die eigene Bevölkerung
in eroberten Gebieten anzusiedeln. Das soll Eroberungskriege illegal machen.
Nun steht aber alles, was als „Israelische Siedlung“ bezeichnet wird, auf im Jahre 1967 erobertem
Gebiet, der Westbank. Da der Siedlungsbau von jeder einzelnen Regierung Israels mehr oder weniger
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stark, aber immer planmäßig verfolgt wurde, bricht Israel seit 1967 die Genfer Konventionen. Und
mindestens drei UN-Resolutionen, darunter welche vom Sicherheitsrat – das sind bindende Beschlüsse.
Wenn man jetzt von einem „illegalen Außenposten“ einer solchen Siedlung spricht, suggeriert man dem
ahnungslosen Zuschauer irgendwo auf der Welt, dass die Siedlung selbst legal ist.
Es ist ein Medienkrieg gegen die Welt, und die Welt spielt mit.
Was ich an diesen Bildern so erschreckend finde, ist das Verhalten der Siedler selbst. Eine völlig
durchgeknallte Gruppe.
Ein Demonstrant läuft mit Megafon direkt vor einer Polizeisperre auf und ab, beschimpft sie. Die einzig
gerechte Strafe für die gewaltsame Räumung sei ein Schuss in die Schläfe eines jeden an der Räumung
beteiligten Soldaten.
Viele, vielleicht sogar hunderte jugendliche Siedler (14, 17 Jahre alt) sind nach Amona gekommen,
campen im Freien, um zu protestieren. Morgens Bilder der Kids, frierend, beim Beten. Später sieht man
sie auf den Dächern wieder, da haben sie Stacheldrahtrollen drapiert, werfen Steine und kippen Öl,
Farbe und was noch auf die Soldaten.
Man sieht die Polizei einen Demonstranten über den Haufen reiten, mit den Schlagstöcken immer auf
die schon blutenden Köpfe einprügeln. Eine richtig heftige Strassenschlacht, die Kinder werden mit
Wasserwerfern von den Dächern gespült.
Als ich nach Newe Shalom getrampt bin, ein Friedensdorf, in dem seit dreißig Jahren Juden und
israelische Araber zusammenleben, hat uns (Esther und mich) ein reich mit orangenen Bändchen
dekorierter Siedler ein Stückchen mitgenommen. Er sagte, die Soldaten in den Siedlungen seien nicht
zum Schutz der Siedler vor „den Arabern“ da, sondern um die Araber vor den Siedlern zu beschützen.
Er hatte auch in dem Auto eine Pistole dabei.
Er erzählte auch, dass die Siedlerbewegung im Falle eines israelischen Abzugs aus dem Westjordanland
dort „Yehuda Country“ errichten würden. Wenn dieses Luftschloss durch ein Wunder in Beton gegossen
werden sollte, können wir uns auf Pogrome, ethnische Säuberung und eventuell auch Völkermord
durch die Siedler an den Palästinensern vorbereiten.
Die Siedler repräsentieren den religiösen Zionismus, das bedeutet soweit ich weiß das Ziel, das biblisch
jüdische Kernland (das leider ziemlich genau in der Westbank liegt) und „Greater Israel“, also auch teile
von Jordanien und Syrien (?) in jüdische Hand zurückzubringen.
Sie haben also einiges mit dem politischen Islam zu tun, islamischen Gruppierungen in Palästina, die
Israel nicht anerkennen können weil dieses Land dem Islam heilig ist und somit in muslimischen Besitz
sein muss.
Die Siedler stehen Gruppen wie dem Islamischen Djihad und der Hamas in ihrer bisherigen Prägung
also ideologisch in nichts nach, nur ihre Methoden müssen nicht so blutig sein: Sie haben einen bis an
die Zähne bewaffneten Staatsapparat, der hinter ihnen steht und in dem sie großen Einfluss besitzen
(bis jetzt).
Aber in diesen Bildern sieht wenigstens mal eine breitere Öffentlichkeit, dass es hier solche verrückten
Siedler gibt, die „ihr“ Land mit Gewalt verteidigen. Nicht die Palästinenser sind in diesen Nachrichten
die Bösen.
Was diese Räumung bedeutet ist völlig unklar. Es kann ein Ablenkungsmanöver sein von wegen „Guckt
alle her, wir räumen Siedlungen, wenn sie ‚illegal‘ sind“, oder eine dramatische Wende in der
Siedlungspolitik ankündigen. Es wird sich zeigen, aber wenn ein Abzug bevorsteht, können wir uns auf
einige Fernsehbilder dieser Art vorbereiten, der Gaza-Abzug wird wie eine Spazierfahrt scheinen
dagegen.
Was viele Palästinenser an der Räumung des Amona-Außenpostens kritisieren ist, dass sie nicht an
guten Willen, sondern an einen Medienevent denken, wenn sie Amona-Bilder sehen.
Tatsächlich scheint das ganze wirklich nur ein Medienkrieg zu sein – zwischen Dezember 2004 und
Dezember 2005 sind 10.000 neue Menschen in Siedlungen gezogen, während 9.000 aus Gaza
abgezogen wurden. Es scheint alles eine große Verarschung zu sein. Ein Artikel zum Thema von Peace
41
Now im Anhang, eine amerikanische Nahost-Friedensorganisation mit linken und ausbalancierten
Beiträgen, statistisch belegt.
Vor ein, zwei Tagen ist in Nablus ein Deutscher entführt worden, aber ein paar Stunden später wieder
freigelassen worden.
Das alles hat mit diesem dämlichen dänischen Karikaturisten zu tun, der den Islam offen als
gewalttätige Religion angegriffen hat (Mohammed mit Bombe im Turban) und ein islamisches
Dogma gebrochen hat, der Prophet darf nicht dargestellt werden. Unsensibel... wenn auch
natürlich und zurecht erlaubt. Nur diskriminiert es eine Religion und bringt uns Europäer
hier im Nahen Osten in Gefahr.
Unser Schulleiter, Herr Dürr, ist auch Sicherheitsbeauftragter des deutschen Vertretungsbüros in
Ramallah für alle Deutschen in der Bethlehem-Region. Auf die Nachricht der Entführung hin hat er uns
beordert, uns immer, wenn wir Talitha verlassen bei ihm persönlich abmelden und wieder anmelden,
wenn wir wiederkommen. Sicherheit sei jetzt sehr wichtig. Auf dem Weg zurück aus Bethlehem nach
Talitha habe ich, als ich das noch nicht wusste, neue Gassen ausprobiert um eventuell schnellere Wege
und Abkürzungen zu finden... Natürlich nichts passiert.
Ein seltsames Gefühl, hier nicht mehr absolut sicher zu sein. In Bethlehem bin ich mir sicher, dass
nichts passieren kann, aber Nablus, Jenin und Gaza kann man sich gerade völlig abschminken.
Außerdem hat Herr Dürr uns auch gebeten, erstmal nicht mehr irgendwo hinzugehen. Jerusalem und
Ramallah und generell reisen durch die Westbank sind ihm unwohl. Er weiß zwar, dass aller
Wahrscheinlichkeit nach nichts passiert, aber Vorsicht sei nun mal besser als Nachsicht.
Esther ist gestern Mittag am Damaskustor in Jerusalem vorbeigelaufen. Abends sagt uns dann Herr
Dürr, dass ein, zwei Stunden bevor Esther dort entlangging israelische Gummigeschosse in der
deutsche Schmidtsschule gegenüber dem Damaskustor gelandet seien (das sind Gummipatronen, mit
Stahlkern. Damit kann man fette blaue Flecken erzeugen, tötet aber nicht – gut für Demonstranten).
Eine palästinensische Demo wurde dort wohl aufgelöst.
Und wegen solchen unwahrscheinlichen Zufällen will er, dass wir eine Weile kurz treten, bis sich zeigt,
wie sich die Lage entwickelt, ob sie hochkocht und eskaliert, oder langsam ausläuft. Wenn man nicht
aufpasse komme man manchmal in sehr gefährliche Situationen sagt er, der in Namibia schon einen
Bürgerkrieg mitgemacht hat.
Ich habe ja schon oft geschrieben, dass ich im AEI unzufrieden bin. Valerie und ich haben jetzt endlich
die Konsequenzen gezogen und ziehen uns stark aus dem AEI zurück.
Valerie wird in Talitha arbeiten und nur noch Donnerstags ins AEI gehen, dann machen wir zusammen
die High School Group.
Ich werde immer nachmittags von 1, 2 Uhr bis abends um 6 oder 7 Uhr im SOS Kinderdorf in
Bethlehem arbeiten. Vormittags sind die Kinder entweder in der Schule oder im Kindergarten, da gibt’s
keine Arbeit. Also werde ich in dieser Zeit zweimal die Woche einen Arabischkurs nehmen und sonst
dreimal vormittags ins AEI gehen. Donnerstag dann bin ich auch den Nachmittag über im AEI.
Ich soll dort weiterhin ein bisschen Bürokram machen, Newsletter und so, aber auch verstärkt
„journalistisch“ arbeiten und Tonaufnahmen machen für die Webseite, um direkte Statements und
Meinungen von den Strassen Bethlehems einzuholen und zu veröffentlichen.
Was genau ich im SOS machen werde weiß ich noch nicht. Arbeit mit Kindern, Englisch und
Freizeitgestaltung und so und bei Ausflügen dabei sein. Ich war am Freitag dort, hatte mit dem
Direktor ein Treffen vereinbart um alles mit ihm, Ann, einer amerikanischen Volo, und Nabil, dem
Sozialarbeiter zu besprechen. Nur leider war keiner von ihnen da. Der Mudir (= Direktor) war krank zu
Hause, und Ann und Nabil im Schwimmbad mit den Kindern. Die Sekretärin hat mir empfohlen, am
Montag nochmal morgens anzurufen, zu checken ob alle da sind und dann hinzugehen.
Palästinensische Terminplanung...
Morgen also werde ich mal schauen, was sich dort machen lässt.
42
Außerdem werde ich umziehen, weg aus Talitha, zu Samir, seiner Frau Tenny und seinen zwei Kindern
Richard und Talin. Es ist eine sehr nette Familie, sie haben uns ja auch schon ein paar mal eingeladen
(s.o.).
Sie wohnen an einem steilen Hang am Rand Bethlehems. Es geht ebenerdig in ihre Wohnung hinein.
Neben ihrer Tür führt eine Treppe hinunter zu meiner zukünftigen Tür. Davor ist ein kleiner
„geplättelter“ Platz, voll mit Laub von dem großen Weinstock, der im Sommer als Laube viel Schatten
spenden wird, und zerfallene Plastikdecken sowie ein altes Plastikkinderkarussel.
Dahinter ein kleiner Garten mit Rasen, mehr Weinstöcken, und toller Aussicht nach Osten, ein Teil
Bethlehems, Beit Sahour, die Wüste, die jordanischen Berge... Toll. Und Har Homa, die israelische
Siedlung am Hang gegenüber, ist von einem Haus verdeckt...
Wir treten ein, alles ist völlig verdreckt, Möbel und Gerümpel steht wirr im Raum herum, wir bahnen
uns den Weg. Alles was ich brauche an Möbeln ist hier.
Ein ganz geräumiger Essbereich am Anfang mit Fenstern in die Richtung mit der Aussicht geht in einen
hohen, etwas schmalen Gang über, von dem links ein Klo, die Küche (mit Schränken und einem
Gasherd) und ein Schlafzimmer mit verschlossener Tür abgehen; dort lagert Samirs Bruder
irgendwelchen Krempel.
Der Gang knickt nach rechts ab. Geradeaus geht es ins Badezimmer (mit Badewanne!), den Gang
entlang ins Schlafzimmer, das groß, rechteckig und mit Fenster zu der Stelle ausgestattet ist, wo
Midnight, der Hund, angeleint ist.
Rechts von der Eingangstür geht es ins Wohnzimmer, mit Gewölbedecke, groß. Samir und ich kommen
überein, dass wir dort den ganzen Kram hinräumen und ich alles andere benutze, bis auf das Zimmer
mit dem Kram von Samirs Bruder. Schade, weil das Gewölbezimmer eigentlich das Schönste ist, aber
ich kann das nicht alles benutzen und mit Leben füllen (und sauber machen).
Die Heizung ist wie überall in Palästina die Wand: Je dicker sie ist, desto wärmer ist es im Winter und
umso kühler im Sommer. Wenn es dann doch mal zu kalt ist (und für zentralheizungsverwöhnte
Europäer winters fast immer) steht da ein Kerosinofen herum, der wird einen gewissen Radius von
Wärme verbreiten.
Die Räume sind alle ziemlich hoch, das macht sie noch viel leerer (und schwerer zu heizen), und der
Gang ist etwas düster. Vielleicht kann ich mir ein paar Quadratmeter gelben und blauen und roten Stoff
kaufen, damit die Wohnung bunt und lebendig machen, und massenhaft Pflanzen.
Die Wohnung ist nicht gerade sehr wunderschön, aber OK. Dreh- und Angelpunkt wird der Raum im
Eingangsbereich sein, genug Platz für einen Ess- und Schreibtisch, Sofa, das tägliche Leben.
Ich hätte ziemlichen Respekt davor, hier allein zu wohnen, wenn nicht die Familie so nett wäre und
mich aufnehmen will, ich sei immer bei ihnen willkommen, einer ihrer Familie... Und es sind eben nur
ein paar Stufen hoch. Ich glaube ihnen diese Einladung auch. Kann bei ihnen essen (für 50 Euro im
Monat, das sind 8 Schekel am Tag – ich könnte fast unmöglich davon zwei bis drei Mahlzeiten
bezahlen), Fernsehschauen, an den Kühlschrank gehen, das Internet benutzen (DSL – wenn einer von
euch eine schnelle Internetverbindung hat und Lust, mit mir zu telefonieren, kann er das per Skype
umsonst tun)...
Ich habe eine Auflage, und zwar, mit den Kindern nur Deutsch zu sprechen. Richard (ca 15) versteht
ganz gut und spricht auch etwas, hat er alles neben der Schule her von seinem Vater gelernt. Talin (10,
11) versteht kaum was – subject to change. Beide sind top in Englisch. Welche Zehnjährige kann sich
fließend, ohne die geringsten Schwierigkeiten und ohne sich komisch vorzukommen auf Englisch
unterhalten? Die beiden haben auch krasse Noten, in keinem Fach unter 90 Prozent, meistens 96 oder
so. In Italienisch hat Richard 100, nebenher programmiert er noch.
Sie werden auch dazu gebracht, Disziplin ist sehr wichtig. Beide gehen um halb neun ins Bett (mit 15!),
um um 5 wieder aufzustehen und noch den Unterricht vorzubereiten. Aber trotzdem keine blöden
Streber, nett und offen. Klavier spielen sie auch...
Die Familie hat noch zwei Hunde, allerdings in einer Zweiklassengesellschaft: Midnight ist eher
Wachhund und immer draußen angeleint. Ist allerdings so lieb, verspielt und verpeilt dass sie nie
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irgendeinem Einbrecher was zuleide tun würde. Der andere Hund, Toschka, führt das Leben des
gehätschelten Schoßhunds und hat Schiss vor mir. Midnight ist mir lieber...
Das ganze kostet 200 Euro plus die 50 für das Essen im Monat, Strom und Wasser eingeschlossen,
Kerosin und Gas nicht. Das ist teurer als ich gedacht hätte, aber es läuft auf das Gleiche wie vorher
hinaus. In Talitha habe ich 200 für Wohnung, Frühstück und Abendessen gezahlt, dazu kamen aber
noch pro Monat etwa 70, 80 Euro für Mittagessen im AEI und Transportkosten. Bei Samir brauche ich
fünf Minuten zum SOS-Kinderdorf zu Fuß, 20 zum AEI.
Also komme ich etwa gleich raus, und ich habe eine Familie, einen Rückzugsraum und Freiheit, aber
auch Anbindung an Palästina. Die Familie ist zwar immer noch sehr europäisch geprägt, aber das ist
nur oberflächlich. Innen sind es immer noch Palästinenser.
Heute ist außerdem ein sehr beruhigender Tag: Endlich, endlich habe ich ein Visum bekommen. Es hat
ewig gedauert bis im Amt da zuende bearbeitet worden war, dann waren für zwei Tage mein und
Johannes‘ Pässe dort (er ist ein Volo in Talitha), und wir mussten zittern, ob und welches Visum wir wie
lange bekommen. Heute habe ich es dann endlich in meine Arme schließen können, wunderschön, bis
31.8. gültig – das bedeutet, dass ich mir null Sorgen zu machen brauche für den Rest des Aufenthalts.
Nur kann ich Israel nicht mehr verlassen, weil sonst das Visum wieder verfällt.
Die letzte Woche lang war ich illegal...
6. Februar 2006
Heute ist ein Mörder direkt an meiner Nase vorbeigelaufen.
Ich lief vom AEI aus zu meinem Falafelstand, um mir dort mein Mittagessen zu besorgen. Während der
bereitet wird, höre ich zwei Schüsse, sehr nah, danach rennt ein junger Mann, das Gesicht mir einem
Palästinensertuch vermummt, die Straße hoch, fünf Polizisten hinterher. Ich bin sofort in den Eingang
des Falafelshops zurückgetreten, ich wusste ja nicht was da jetzt abgeht – ob das mit den CartoonUnruhen zu tun hat oder nicht. Und wenn Palästinenser anfangen zu rennen heißt das, dass man sich
besser zurückhält, dann sind das keine Freudenschüsse mehr.
Der Verkäufer hat mir später gesagt, dass dort ein Mann erschossen worden sei, Clanfehde, dass das
also nichts mit Dänemark zu tun hat. Das beruhigt...
Ich bin dann eine Viertelstunde lang im Shop geblieben, bis sich alles beruhigt. Dann bin ich die
Strasse runtergegangen, dort standen massenhaft junge Männer herum und Polizisten, offensichtlich
die Stelle wo es geknallt hat. Ich musste hier vorbei, um zum SOS zu kommen – ich habe die Straße
sehr genau beobachtet, wie die Stimmung ist, ob es Menschenansammlungen gibt, ob ich viele Blicke
abbekomme. Nichts, und so bin ich zum SOS weitergegangen.
Die Stimmung hier die Karikaturen betreffend ist gerade an einem Angelpunkt. Jeder den man danach
fragt sagt, es würde sich nach einer Woche alles abkühlen (Khalid, mein Taxifahrer: „Don‘t afraid! Don‘t
afraid!“).
Es sind bisher die dänische Vertretung in Gaza, das EU-Büro dortselbst, das damaszener norwegische
und dänische Konsulat und die beiruter dänische Botschaft (und damit die chilenische und
schwedische, die im selben Haus untergebracht sind) abgefackelt worden. Dazu wurde ein Deutscher
einen halben Tag lang gekidnappt, zwei Polen sind seit gestern in Gaza verschleppt. In der Westbank
ist es ruhig, es hat nicht hierher übergegriffen bisher. In Bethlehem war heute eine Demonstration, die
friedlich verlaufen ist (dänische Flaggen wurden verbrannt - aber hier gibt’s ja kein Konsulat, das man
anzünden könnte), Hamasfahnen, Sprechchöre mit Allahu akbar (Gott ist groß) und dieser Sorte
Sprüchen. Ich war selbstverständlich nicht anwesend, sondern habe es mir im Kinderdorf im Fernsehen
angeschaut.
Herr Dürr hat den Volontären nochmal strenges Ausgehverbot erteilt, sollten wir nicht arbeitsmäßig
unterwegs sein müssen – das trifft nur auf mich zu. Er hat uns verboten, nach Jerusalem zu gehen,
Hebron und andere stark muslimische Städte muss man sich jetzt auch nicht angetan haben. Wenn wir
Talitha verlassen, müssen wir uns persönlich bei ihm abmelden und nachher, wenn wir wiederkommen
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wieder anmelden. Nach Einbruch der Nacht dürfen wir nichtmal mehr zum Shop, der hundert Meter
vom Tor Talithas entfernt ist.
Johannes hat heute eine seltsame Situation dort erlebt. Er kam rein, und drinnen standen gerade vier
Muslime beim christlichen Shopkeeper (Hebronner Muslime, die sich nicht um das Alkoholverbot
scheren, kaufen hier die großen Schnapsregale leer). Alle Gespräche sind verstummt, als Johannes
reinkam (blond, hell, groß und schlank – eher unpalästinensisch), die Stimmung sei „merkwürdig“
gewesen. Einer der Shopkeeper hat ihm unauffällig den Weg versperrt, um ihn von den Muslimen zu
trennen, Johannes hat den Wink verstanden und sich nochmal sehr intensiv mit den Kekssorten
beschäftigt. Als die Muslime weg waren hat er Johannes den Weg wieder freigemacht...
Lektion: Es kann schneller losgehen als man denkt.
Aber die Shopkeeper sind auf unserer Seite und beschützen uns. Gut zu wissen, wenigstens etwas...
Die Situation ist, mit Verlaub, zum Kotzen. Sie kann jederzeit explodieren. In Beirut hat die
aufgebrachte Menge von Muslimen, die zuvor die Botschaften in Brand gesetzt habt, christliche Viertel
angegriffen – der Bürgerkrieg dort ist nicht lange her, an sowas kann er sich wieder entzünden. Ich
glaube nicht, dass es hier in Palästina zu einem Bürgerkrieg kommen würde, aber man kann nichts
voraussagen. Wahrscheinlich beruhigt er sich wirklich schon in einer Woche – aber was, wenn nicht?
Außerdem behagt es mir nicht, in Bethlehem, es ist jetzt schon ein bisschen meine Heimat geworden,
nicht mehr völlig sicher zu sein. Ich fahre schon immer mit Khalid Taxi, anstatt die Sammeltaxis zu
benutzen, was mich etwa fünfmal soviel kostet wie normal und mich einfach stört und in meiner
Freiheit beschneidet.
Alles ist also sehr unsicher. Direkte Gefahr besteht trotzdem nicht. Wenn was passiert, dann ist es sehr
unwahrscheinlich dass wir da drinhängen. Die Macht des Zufalls...
Als ich dann sicher das SOS erreicht hatte wurde der Tag auch direkt sehr angenehm. Ich habe mich
erstmal mit Ann, der amerikanischen Volontärin, unterhalten. Sie hat einen so starken Akzent, dass ich
Schwierigkeiten habe sie zu verstehen – und sie soll den Kids Nachhilfe geben... Aber sie spricht
ziemlich gut Arabisch, um Ecken besser als ich, was man von Amis ja nicht gerade gewohnt ist. Sie hat
mir erzählt wie das alles so abläuft im SOS und wir haben gemeinsam auf Hamadi aufgepasst, einen
zweijährigen Dreikäsehoch, der alle Mittel des Erwachsene-unter-Druck-setzens sehr schön
beherrscht.
Später bin ich mit Nabil, dem Sozialarbeiter, der alle Freizeitaktivitäten macht umhergezogen. Wie
bereits geschrieben ist die Kommunikation mit ihm schwierig, aber wir kommen klar. Er hat mich noch
ein bisschen rumgeführt, wir haben den Kinderspielplatz mit Kippenstummeln verwüstet (was kann
man dagegen machen? Man macht sich lächerlich wenn man die drei Kilometer zum nächsten
Mülleimer läuft) und geradebrecht. Dann sind wir zusammen in eine Familie (Familie = eine Frau
bekommt so zehn Kinder aus sozial schwachen Familien, die dann wie eine Familie zusammenleben)
gegangen und haben mit ihnen gemalt. Die Familie ist sehr nett, viele nette und süße Kinder, keine
Nervensägen. Ich habe Deutschland gemalt, mit Tannenwald, Apfelbäumen, Teich und
Schwarzwaldhaus. Eins der Mädchen hat mir arabische Händeklatschreime beigebracht (eins geht
irgendwie um ich-muss-ganz-dringend-aufs-Hammam (Bad). Einer der „Söhne“ hat mir Koransuren
vorgelesen (eher widerwillig), die er für Religion wissen muss – Muslime sollen den Koran möglichst
auswendig kennen.
Dann haben wir noch ein bisschen Fußball gespielt, was man halt so macht, ich habe in Haus eins, bei
denen ich schon ein paarmal war, Tee und Kuchen bekommen und mir im Fernsehen die
Aufzeichnungen der Karrikatur-Demo in Bethlehem angesehen (sie wurde übrigens interreligiös mit
Chisten und Muslimen gemeinsam abgehalten).
Mein soziales Netz wird auch weitergeknüpft: Bei Nabil bin ich in den nächsten Tagen mal eingeladen,
Abdallah hat auch „Bedarf angemeldet“... Und mit Abdallah kann ich mich wenigstens unterhalten,
sogar auf Deutsch etwas! Aber mit Nabil habe ich mich auch schon an Hamas, Fatah, Olmert, Sharon
und „insha Allah baden ahsan“ (so Gott will ist es nachher besser) herangetraut.
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Dann ab ins sichere Heim Talitha, mit seinen schönen Mauern und Wächtern (denen wir gestern abend
die Karikaturen gezeigt haben, die ja hier keiner kennt, und danach schön mit ihnen diskutiert haben.).
Die Mauer ist übrigens immer aktuell. Man hört morgens beim Aufwachen immer das schöne Geräusch
der Bagger, die gerade den Hang nahe Talitha eine Trasse graben, auf die die Mauer gebaut werden
soll. Es geht weiter, bald ist hier dicht.
Und bald bin ich weg, vielleicht kann ich schon am Wochenende zu Samir ziehen! Ich freue mich!
10. Februar
Heute ist Stefan, Esthers Freund, aus Deutschland zu Besuch gekommen. Sie haben gemeinsam die
arabischen Busse benutzt, was ich mich seit den Karrikaturen nicht so recht traue, ich will noch
abwarten. Sie hat es auf jeden Fall drauf ankommen lassen und ist mit den Bussen gefahren. Sie hat
keine Probleme gehabt, aber die Atmosphäre war feindselig. Das überzeugt mich davon, das was falsch
läuft, die Karikaturen sind noch in zu frischer Erinnerung. Ostjerusalem und andere Städte sind erstmal
weiterhin out of bounds. Und in Hebron wurde ja vor zwei Tagen das Büro der internationalen
Beobachter fast gestürmt, und aus Ramallah kam die vage Nachricht, die Situation sei angespannter als
normal.
Also kurz treten und noch eine Weile schauen wie es sich weiterentwickelt.
Medienkrieg:
Die israelische Außenministerin Zipi Livni:
„Ein Gebilde, welches von Terroristen geführt wird, ist ein Terrorregime.“ Damit bezieht sie sich auf die
Hamas.
Leider hat sie in ihren Bemühungen, die Hamas an den Pranger zu stellen nicht bedacht dass das, was
man normalerweise als Terrorregime bezeichnet, z.B. das Saddam Husseins, nicht als
Terrororganisation wie die Hamas gestartet hat. Sie kamen auf unterschiedliche Art und Weise an die
Macht (z.B. im Irak und in Chile durch die CIA), aber nicht durch Selbstmordanschläge.
Leider hat es hier nicht geklappt, die Hamas mit einem Wort zu verknüpfen das beim Leser unbewusst
die Assoziationen „undemokratisch“, „militant“, „mörderisch“ und einige mehr hervorrufen.
Vielleicht ist sie für diesen Beruf ungeeignet, oder ihre Redenschreiber sollten gefeuert werden.
Sie mag ja Recht haben dass die Hamas eine gewaltvolle Geschichte hat. Aber dieser Populismus, diese
Wortverdrehungen, gehen mir auf die Nerven.
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So, jetzt ist es (längst) Zeit, diesen Bericht fertigzustellen. Danke, dass ihr bis hierhin gelesen habt, und
ich hoffe die Wiederholungen waren nicht zu störend und ich habe nicht geschwafelt.
Außerdem möchte ich mich bei meinen Spendern bedanken, die das ganze hier tragen. Mir haben
sogar widfremde Leute gespendet, die einen Zeitungsartikel gelesen hatten!
Ich möchte alle einladen die irgendwie an dem ganzen Schlamassel hier interessiert sind. Kommt und
besucht mich! Meine Eltern und Geschwister haben ja einiges erlebt als sie hier waren, und jetzt kann
ich auch schon bald voller Gastgeber sein, mit meiner Wohnung! Kommt und seht mit eigenen Augen!
Auf jeden Fall: Shukran ilakum, der Dank sei Euer! Ihr macht es möglich, ihr begleitet mich sozusagen.
Wenn einer diesen Brief weiterleiten möchte, kann er das gerne machen, der Bericht ist ja an die
Öffentlichkeit gerichtet. Wenn mir die neuen Leser ihre Emailadresse schicken bekommen sie das Ding
auch direkt.
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Ich habe viele Fotos gemacht, die kann man sich unter http://photos.yahoo.com/vhokema
Anschauen.
Alle meine Berichte sind auf meinem sehr stümperhaft und unfachkundig zusammengestellten Weblog
(wie eine Webseite) zu sehen: www.nahostkonfliktloeser.blogspot.com
Ohne einen Cent dafür auszugeben kann man bei Amazon für WISE spenden: Wenn man über
http://www.wise-ev.de/amazon/ die Bücher bestellt statt auf dem normalen Weg, bekommt WISE 5 %
der Einnahmen von Amazon gespendet.
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Dann kommen noch ein paar Gedichte von mir, die hier entstanden sind:
Ein Mensch
Soldat Soldat
du bist ein Mensch, weiß ich
ein jeder Muskel in deinem Gesicht, es zuckt so blutlos,
die Muskeln und Knochen deines Beins
die so kraftvoll das Blech meines Autos eindellen
wenn du The Arab anschreist auf Hebräisch
dann weiß ich erst recht
du bist ein Mensch
Ich sehe dir das Hochgefühl an:
All diese Menschen
älter, schöner, klüger, wichtiger
warten deinem Willen.
Du hast die Macht, hast die Kugeln
hast die Hand, anzuhalten
durchzuwinken wie du willst
deine Nacht lang.
13. Oktober 2005
Checkpoint Palästina
Die kurzen Wege sind lang geworden in Palästina
die Menschen in bunt in den Schlangen
mit feuerwerkfarbnen Herzen
die Menschen in grün
mit den Maschinen in schwarz
hinter den Würfeln aus Stein
hier wird nicht gespielt
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hier ist keine Freude
hier ist ein Mensch in grün
manchmal eine Maschine
12. Oktober 2005
Auf die Rampe Massadas blickend
Hier haben die Römer den Grundstein betreten
von zweitausend Jahren Verfolgung
zweimal die Ewigkeit.
Eine Rampe und ein Turm
haben die hohen Mauern von hohen Felsen gestürzt
das waren Maschinen
es folgten derer viele
ists eine Hacke in der Hand eines Juden
ists die Säure für die Luft für die Kammern in der Hand des Knechts
ists das Gesetz für die Sonderbehandlung für die Hände der Mitläufer viele Maschinen gegen die Juden.
Die Kämpfer in ihren Mauern
sie wählten, dort zu bleiben,
durch kein Mauerloch in Knechtschaft, Diaspora!
Durch den Vorhang des Bluts treten ins Reich Gottes.
Die Sklaven, die aushielten,
die zweifache Ewigkeit überlebten
sie treten nun ein ins sichere Heim
Israel
Hier steht der Vorhang des Bluts noch immer
wer muss hier weiter schreiten, hindurch?
wer muss hier andere stoßen, hindurch?
wer hält die Stangen des Vorhangs, wer die Särge?
Wann hört Massada endlich auf
immer und immer zu fallen?
2. Januar 2006
Der erste Kreis
48
Jesus stammt in direkter Linie ab
von Adam
Ein Apfel und ein Kreuz
sie sind der Schlüssel gemeinsam, schließen ab den Kreis
Zahn und Nagel stoßen ins Fleisch
dürsten, verlangen, erbrechen alle Siegel
Des einen Werk
vollendet vom andren
gleich sind die gewaltvollen Werkzeuge
nur die Täter andere, anders die Gedanken.
***
Der zweite Kreis
Der Riss im Stein führt auf
von Adams Gebeinen zum Blut Jesu
Wo liegt Judas begraben?
Als er die Hälfte des Schlüssels machte im Kuss
betrat er den zweiten Kreis
so kettet er
Glieder an die Zeit
aus verübenden Fingern
aus Rosenkränzen mit dunkelgebetetem Holz
er kettet auch an
einen neuen Kuss
wie heißt, der den Kuss aufhebt und heilt?
welche Erlösungen, wie viele sind gekettet
von hier bis zur Unendlichkeit?
***
All diese Kreise
sie jagen das Wasser, wie Funkwellen den Raum
viel, schnell und verwirrend.
Kleine Steine, große Brocken
wassererfahrner Kiesel, Beton, frischgebrochen
ein Wassertropfen selbst -
49
All diese Unwürdigen
sie machen die Kreise
sie schlagen die Risse neu.
Sie schlagen ein Netz aus Rissen.
All diese Unwürdigen
spüren die Kreise
aller Unwürdigen.
Am „Grab Adams“ in der Grabeskirche, Jerusalem, das durch einen Riss im Gestein mit der
Kreuzigungsstätte Jesu verbunden ist.
6. Dezember 2005
Fertile Crescent
Die Fruchtbarkeit im Land des Friedens zweischneidig
eine einzige Klinge fällt jeden Krieger
sie sitzen in den Winkeln des Halbmonds
Sehen nicht
Zusammen in der Mitte
bietet der Mond am meisten Platz
am meisten Leben.
Die Klinge wurde Krieg genannt
Die Klinge näht
die Augen zu
heißt Angst.
Der Fertile Crescent, der fruchtbare Halbmond, ist das Gebiet von Zweistromland des Irak über die
fruchtbaren Küstengebiete Syriens, Libanons, sowie Israel und Palästina. Es wird als die Wiege der
Zivilisation gehandelt.
Beit Jala, 28. Oktober 2005
Multiple Views
Geschichten, Gesichter, Geschichten,
Tränen hier und dort
immer gleich glaubhaft und schlimm
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es ist eine Gratwanderung
und kein Bergsteiger
geht jemals direkt auf dem Grat:
Immer etwas unterhalb,
auf der sichereren Seite ich gehe sicher in Palästina
Israel ist windig,
der Berg ist dort brüchig für mich.
Ich sitze in Glaubhaft
glaube zu wissen
weiß nichts
meine Meinungen
treffen nie den Grat.
17. Januar 2006
Oliv
Es ist wie ein Witz
dass Soldaten ein Grün
wie die Oliven tragen.
12. Oktober 2005
Spieler, Erfinder
Es gibt viele Spiele
viele Spieler,
Gewinner, Verlierer
Grausamkeiten, Kleinlichkeiten, Menschlichkeiten.
Und es gibt den,
der das Spiel erfand.
Am Tag, der die Spieler des Spiels müde macht
da müssen gemeinsam sie suchen die Schlüssel der Tore des Spiels,
noch nach Jahren finden,
immer rechtzeitig, immer gemeinsam,
Müssen finden was
das Spiel erfand.
2. Januar 2006
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Und ab hier kommen einige Artikel oder Ausschnitte davon. Alles, was mir in einer Art
auffällt.
Ich kann z.B. Uri Avnery nur empfehlen, einen israelischen Friedensaktivist, der sehr fair über das
ganze hier schreibt und ständig in Ramallah oder sonstwo am demonstrieren ist (er ist schon über 70 –
vielleicht sogar 80?). Auch Amira Hass, eine israelische Journalistin, die lange in Gaza gewohnt hat und
jetzt in Ramallah lebt.
Wenn man bei Google auf die Kathegorie News geht und die Namen in Anführungszeichen eingibt (so:
„Uri Avnery“) kommt ein riesiger Haufen. Wenn man es bei Google.com macht noch mehr, weil beide
viel auf Englisch schreiben.
Haaretz.com ist eine linke israelische Zeitung, wird mit den Times verglichen. Sehr lesbar, auf Englisch.
Vermittelt eine mitte-links-Perspektive auf den Konflikt, wenn auch einige Artikel weiter rechts stehen.
Interessant. Die Jerusalem Post (jpost.com) ist ein eher rechtes Blatt; für israelische Verhälnisse wohl
mitte-rechts, für deutsche weit mehr rechts.
Bei aljazeera.net (irgendwo zwischen den arabischen Schriftzeichen werdet ihr einen Button mit
„English“ entdecken) kann man sich die arabische Perspektive auf hohem Niveau anschauen, gute
Einschätzungen. Man kann sich (bei „Services“) auch täglich eine Mail schicken lassen, die alle neuen
Beiträge enthält – fast so gut wie eine Printausgabe).
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http://english.aljazeera.net/NR/exeres/2A90433A-E41E-459F-BBFA-1CA36FA50545.htm
Eventuell Zukunftsweisend: Israel hat also vor, sich von weiten Teilen Palästinas zurückzuziehen, will
aber fette Stücke des Kuchens behalten.
Israel 'to keep major settlements'
Ehud Olmert has said that Israel will give up territory and relinquish control over most of the West
Bank's Palestinians, while holding on to main settlement blocs - his clearest statement yet about how
he sees Israel's future final borders.
In his first broadcast interview since taking power last month, Israel's acting prime minister told
Channel 2 TV that if his Kadima Party wins the elections next month, Israel will hold on to Jerusalem
and three large West Bank settlement blocs, along with the strategic Jordan River valley, and it might
move by itself if no agreement can be reached with the Palestinian
.
"We will disengage from most of the Palestinian population that lives in Judea and Samaria," Olmert
said on Tuesday, using the biblical names for the West Bank .
"That will obligate us to leave territories under Israeli control today".
He said the massive Jewish settlements of Gush Etzion and Maale Adumim will remain part of the state
of Israel regardless of future developments
.
Maale Adumim is the largest Israeli settlement in the occupied West Bank, built about 12km outside
east Jerusalem and home to 28,000 residents
.
The sprawling Gush Etzion bloc lies to the south and houses 15,000 settlers .
West bank tour
"We will disengage from most of the Palestinian population that lives in Judea and Samaria "
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Omert's comments came during a tour to inspect work on Israel's controversial separation barrier in
the West Bank.
The announcement follows a report released on Monday saying the overall number of Israelis living in
settlements on Palestinian land increased last year despite the pullout from the Gaza Strip.
The report, by settlement watchdog Peace Now, said around 10,000 Israelis moved into settlements
across the occupied West Bank over the course of 2005, while around 9000 settlers were removed from
21 settlements in Gaza and four small enclaves in the West Bank.
Saeb Erakat, the chief Palestinian negotiator, expressed anger over the continuing Jewish settler growth
and accused the Israeli government of grossly violating its commitments under the stalled roadmap
peace plan.
Roadmap obligations
Under the roadmap, Israel is obliged to freeze all settlement expansion and demolish all outposts
established since March 2001.
Although Israel has frozen a controversial project to link Maale Adumim to east Jerusalem, following US
criticism, Ariel Sharon, the former Israeli prime minister, used to promise the settlement would be
connected to the holy city.
Before his stroke last month, he had vowed that Israel would keep and develop large Jewish settlement
blocs despite the pullout from the Gaza Strip, but also hinted at further pullbacks elsewhere in the
West Bank
.
In his interview, Olmert also hinted that Israel might carry out further unilateral withdrawals from lands
the Palestinians want for a state.
"We are going toward separation from the Palestinians," he said. "We are going toward determining a
permanent border for the state of Israel ".
Final settlement
Negotiations aimed at a peace treaty and a permanent border between Israel and the West Bank have
been frozen for years. The Palestinians claim the whole territory, but Israel says the border is defined
only by a cease-fire line and is negotiable
.
Olmert added that the Israeli wall was an efficient way to prevent attempted infiltrations of Palestinian
militants into Israel.
The Palestinians have denounced the sprawling structure as an attempt to grab their land and
undermine the viability of their promised future state.
In 2004, the International Court of Justice issued a non-binding ruling that parts of the 650km barrier
which criss-crosses the West Bank were illegal and should be torn down
.
###
“I refused, and he hit me”
By Amira Hass
Praxis, ein Geständnis zu erzwingen, bei Jugendlichen – und so ein Artikel erscheint in einer
israelischen Zeitung! Pressefreiheit haben sie, das muss man Israel lassen.
http://www.haaretzdaily.com/hasen/pages/ShArt.jhtml?itemNo=657521
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53
SPIEGEL ONLINE - 05. Januar 2006, 00:40
URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,393577,00.html
Scharon-Porträt – unbedingt lesen, es wird euch umhauen. In Israel werden die Menschenrechte nicht
genau angeschaut, wenn es um die Ausdehnung des Staates geht/ging. Und mehrfache
Kriegsverbrecher können Premierminister werden...
Die schwerste Schlacht
Sie nennen ihn Bulldozer oder König Israels: Ariel Scharon, der wie kaum ein anderer die Geschichte
des Staates lebte. Lange Jahre kämpfte der General mit Waffen und Diplomatie um seine Ziele. Jetzt
führt der Premier vielleicht seine letzte Schlacht - die um sein Leben.
Hamburg - Er hat schon Dutzende anstrengende Jahre hinter sich, aber 2005 verlangte dem 77jährigen Raubein noch mal alles ab. Der hochumstrittene Abzug israelischer Siedler aus Gaza spaltete
das Volk und seine Regierung, bis sie zerbrach. Er trat aus dem Likud aus, an dessen Gründung er
einst selbst beteiligt war, und hob eine neue Partei aus der Taufe. Dann stürzte er sich als
Spitzenkandidat in den Wahlkampf, immer angriffslustig, zielstrebig, selbstbewusst.
Das Amt des Ministerpräsidenten hat Scharon nach gewonnener Wahl im März 2001 angetreten. Er
besiegte seinen Widersacher Ehud Barak mit einem noch nie erreichten Vorsprung von 25 Prozent. Ein
vor vielen Jahren geprägtes Schlagwort eines seiner Anhänger ging in Erfüllung: "Wer ihn nicht als
Generalstabschef haben will, wird ihn als Verteidigungsminister bekommen. Und wer ihn nicht als
Verteidigungsminister haben will, wird ihn als Ministerpräsident bekommen."
Für viele eine Schreckensvision, doch aus dem unbeugsamen Hardliner wurde ein einsichtiger
Realpolitiker, oder wie es einer seiner Anhänger formulierte: ein pragmatischer Falke.
Kampf an allen Fronten
Scharon kämpfte sein Leben lang - und an allen Fronten. Seine Eltern, Vera und Samuil Scheinermann
("schöner Mann" auf Jiddisch), kamen nach dem Ersten Weltkrieg nach Palästina. Vielleicht ist es
symbolisch, dass der Mann, der später zum Schrecken der Araber und zum Schutzherrn der jüdischen
Siedler wurde, an einem Ort geboren wurde, dessen arabische Bewohner mit Gewalt vertrieben worden
waren.
Scharons militärische Karriere begann, als er, wie damals üblich, mit 17 Jahren der halboffiziellen
Haganah-Organisation beitrat. Im Krieg von 1948/49 war er schon Kompanieführer. In der
unglückseligen Schlacht von Latrun, auf der Straße nach Jerusalem, erlitt er eine Bauchwunde und wäre
zurückgelassen worden, wenn ihn nicht ein Freund gerettet hätte. Er verließ die Armee, ging zur
Universität, wurde aber 1953 von Mosche Dajan zurückgerufen, um eine geheime Kommando-Einheit
zu bilden. Diese Truppe, Einheit 101 genannt, überfiel arabische Dörfer und Polizeistationen jenseits
der Grenze, um palästinensische Angriffe in Israel zu rächen.
Eine dieser Aktionen ist besonders berüchtigt. Am 14. Oktober 1953 überfiel Major Scharon mit dieser
Truppe das Dorf Kibja im Westjordanland mit dem Befehl, "so viel wie möglich an Menschenleben und
Eigentum zu vernichten". Gegen 60 Männer, Frauen und Kinder kamen dabei ums Leben. Kibja hat
Scharons Karriere nicht geschadet. Im Gegenteil: Er wurde zum Kommandeur der
Fallschirmjägerbrigade befördert.
Der Sechs-Tage-Krieg machte ihn zum Helden
54
Um Israel eine Lektion zu erteilen, erlaubten die Syrer der neuen palästinensischen Bewegung Fatah,
von Syrien aus einen Guerrillakrieg gegen Israel zu starten. Das führte am Ende zur Krise von 1967 und
zum Sechs-Tage-Krieg, in dem Scharon eine bedeutende Rolle spielte. Als Divisionskommandeur
führte er die siegreiche Schlacht bei Abu Aghila, aber die Hauptrolle spielten doch die Panzertruppen,
die den Kanal erreichten. Nach dem Krieg wurde Scharon Kommandeur der Südfront, zu der auch der
besetzte Gaza-Streifen gehörte. Als die Palästinenser dort einen Guerrillakrieg begannen, war es seine
Aufgabe, sie zu "befrieden" - er tat es mit Gewalt.
Nach all dem hätte Scharon eigentlich Generalstabschef werden sollen, aber seine Kollegen sträubten
sich dagegen. Er galt als egozentrisch, unkollegial und unzuverlässig. Als er merkte, dass er nicht
weiter befördert werden würde, schied er aus der Armee aus und ging in die Politik. Er gründete den
Likud-Block der Rechtsparteien mit. Aber nach nur 83 Tagen trug er wieder Uniform. Der Jom-KippurKrieg brach im Oktober 1973 aus, und er war als Reserveoffizier wieder Divisionschef.
Scharons Rolle in diesem Krieg ist bis heute umstritten. Er war es, der als Erster den Suez-Kanal
erreichte, der am ersten Kriegstag von den Ägyptern überraschenderweise überquert worden war. Das
machte ihn zum Helden, und seine Soldaten sangen "Arik, König Israels". Aber der Befehl des
Generalstabs war, dort stehen zu bleiben und es einer anderen Division zu überlassen, in Richtung
Suez und Kairo vorzustoßen. Scharon dachte aber gar nicht daran, den Ruhm an andere abzugeben. Es
begann ein wütender "Krieg der Generäle", der noch lange nach dem Krieg andauerte. Arik gegen alle,
alle gegen Arik.
Ungeliebter Boss der Generäle
Als der Likud die Wahlen 1977 gewann, wollte Scharon natürlich Verteidigungsminister werden, der bei
weitem wichtigste Posten im Kabinett. Aber Eser Weizman, der Luftwaffengeneral, versperrte den Weg.
Er musste sich mit der Landwirtschaft begnügen und widmete sich ganz der Aufgabe, Siedlungen
aufzubauen.
Nach drei Jahren trat Weizman zurück, und Begin konnte nicht auf Dauer das wichtige Ministerium in
seiner eigenen Hand behalten. 1981 bekam Scharon endlich den ersehnten Posten. Die Generäle, die
ihn nicht als Generalstabschef haben wollten, bekamen ihn jetzt tatsächlich als ihren Vorgesetzten.
1983 musste er zurücktreten, weil er die libanesischen Phalangisten, damals Verbündete der Israelis,
nicht daran gehindert hatte, Hunderte Palästinenser zu massakrieren. 18 Jahre dauerte die politische
Verbannung, die Scharon über weite Strecken auf seiner 600 Hektar großen Farm in den Negev-Wüste
mit seiner Schafen verbrachte. Dann kam 2001 die Rehabilitierung und der fulminante Wahlsieg gegen
Barak.
Mit dem Gaza-Abzug hat er einen teilweisen politischen Kurswechsel vollzogen, der ihn auf
Konfliktkurs mit langjährigen Gefolgsleuten gebracht hat. Immer wieder beteuerte er, er handele im
besten Interesse Israels. Doch der Likud zog nicht mit. Er trat aus und gründete eine neue Partei mit
den Namen Kadima (Vorwärts).
Bei den vorgezogenen Neuwahlen im März wollte Scharon in diesem Jahr noch einmal politisch
durchstarten - getreu seinem Credo: "Kapitulation ist das Schlimmste." Jetzt muss er auf anderem Feld
kämpfen - um sein Leben.
Rüdiger Ditz, Uri Avnery
55
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http://www.thejewishpress.com/news_article.asp?article=5618
Über das falsche Bild, das die Welt von Rabins "Friedenswünschen" hat
In the Oct. 28 issue of The Jewish Week, editor Gary Rosenblatt wrote that under Oslo, Rabin pledged
“an independent state for the Palestinians in return for peace with Israel.” That is a widespread
misperception. In fact, Rabin was always opposed to the formation of a Palestinian state, to any
division of Jerusalem, or to any concessions on the Jordan Valley. His political red lines remained
guided by the Allon Plan under which Israel would retain around thirty percent of Judea and Samaria.
In his October 5, 1995 Knesset speech presenting the Oslo 2 accords – it was to be his last speech
before the Knesset – Rabin said that any agreement would be with a Palestinian “entity that is less than
a state”; that “we will not return to the June 4, 1967 lines”; that Israel would keep “united Jerusalem,
which will include both Ma`ale Adumim and Givat Ze`ev, as the capital of Israel, under Israeli
sovereignty”; that “the security border of the State of Israel will be located in the Jordan Valley, in the
broadest meaning of that term”; and that Israel would retain “Gush Etzion, Efrat, Beitar and other
communities” and establish “blocs of settlements in Judea and Samaria, like the one in Gush Katif.”
A few months earlier, Rabin stated that if peace requires “giving up on a united Jerusalem under Israeli
sovereignty, my reply would be `let`s do without peace.`”
(...)
Barak completed Labor`s abandonment of Rabin`s principles when he offered to divide Jerusalem, give
up all of the Jordan Valley, and withdraw nearly to the 1967 borders. As a result, the international
community now expects Israel to withdraw from at least 95 percent of Judea and Samaria, in complete
contrast to Rabin`s red lines.
Ironically, it is now Prime Minister Sharon who is most guided by Rabin`s core principles, calling for
the annexation to Israel of settlement blocs, for an undivided Jerusalem and for retention of the Jordan
Valley. But as a result of the weakening of the settlement movement over the last decade, Sharon,
unlike Rabin, accepts the notion of a Palestinian state and has dropped hints that he might be willing
to cede Arab neighborhoods in outlying parts of Jerusalem and compromise over the Jordan Valley.
#
Wie man sieht wurde Rabin zum Friedensheld aufgeplustert, nachdem er umgebracht worden war. So
viel mit der Realität hat das nichts zu tun.
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http://www.imemc.org/index.php?option=com_content&task=view&id=15511&Itemid=1
Über die israelische Siedlungspolitik in Ostjerusalem:
Enough is Enough
By MIFTAH - Friday, 16 December 2005, 12:21
56
According to a recent report issued by the Bethlehem-based Applied Research Institute-Jerusalem
(ARIJ), the infamous Israeli multimillionaire Irwin Moskowitz has new plans for judaizing more and
more areas of Arab east Jerusalem.
The report uncovers a "unilateral and detrimental scheme supported entirely by the Israeli Jerusalem
municipality to build and further expand illegal neighborhoods in Occupied east Jerusalem's
neighborhood of Sheikh Jarrah."
Under the illegal Israeli "Absentee Property” law, Israeli housing authorities have already issued an
order for the demolition of the Shepard hotel, which was "bought" by Moskowitz in 1985, despite the
fact that the descendants of the rightful owner of the hotel (Grand Mufti Al-Haj Amin Al-Husseini) are
still alive and resident in occupied Arab east Jerusalem.
The proposed plan seeks to build a housing complex on 30 dunums of land (including land the hotel
currently occupies), which will comprise 90 housing units including a kindergarten and a synagogue.
Since the beginning of the Palestinian uprising in late 2000, MIFTAH has repeatedly warned members
of the international community about Israel's continuous and concentrated efforts to judaize, seal off
and eventually drive out the 260,000 indigenous Arab inhabitants of east Jerusalem.
At a briefing in late July to the diplomatic corps in Jerusalem, MIFTAH's Secretary-General (and
Palestinian Legislative Council member) Dr. Hanan Ashrawi explicitly warned that the state of Israel was
in a mad rush to create new facts on the ground, especially in Arab east Jerusalem, and will "try to
maximize geography while minimizing demography." This process became more and more apparent to
Palestinians while the world’s attention was diverted by Israel's internationally- acclaimed unilateral
disengagement from Gaza.
During the disengagement period (15th August to 3rd September 2005), Israeli authorities confiscated
more than 1,585 dunnums (approximately 400 acres) of Palestinian land in east Jerusalem: 87
dunnums (22 acres) from the Mount of Olives neighborhood, 477 dunnums (119 acres) from AlIzariyyah neighborhood, 809 dunnums (202 acres) from Abu Dis neighborhood, and 212 dunnums (53
acres) from Al-Sawahra Al-Sharqiyyah neighborhood.
The recent report by ARIJ represents many things: first, the fact that this proposed new settlement is to
be built in the heart of Arab east Jerusalem can only be understood as a provocation by the State of
Israel under the leadership of a Prime Minister who supposedly adheres to the Road Map and who has,
ironically enough, created a new political party on the platform of making peace with Palestinians.
Second, the fact that these plans have been recently unveiled, that is, after the unilateral
disengagement from Gaza, represents Israel's continuing deceit, lack of good will, and unwillingness to
adhere to the road map that might bring about a peaceful solution to this decades-old conflict.
Lastly, it is imperative to stress that the act of illegal colonisation contravenes scores of international
agreements, most prominently the Fourth Geneva Conventions (governing the laws of armed combat)
and United Nations Security Council Resolutions 242 and 338. More to the point, the settlements are in
direct contravention of two resolutions that were specifically issued on the legal status of Jerusalem,
namely Security Council resolution 446 and General Assembly Resolution 2254.
Enough is enough; it is time for the international community to stop the State of Israel from its illegal
colonisation and land acquisition policies in Jerusalem, before too many more “facts” are put on the
ground. If peace is still the objective, the international community needs to be firm with Israel to make
it unequivocally halt all its expansionist and colonial policies. It is time for the world to stand up and
tell Sharon enough is enough; it is time for the world to make him, and his government, sit down and
negotiate in good faith with the Palestinian National Authority, or face a long awaited and overdue
Chapter 7 Security Council Resolution.
http://www.miftah.org
P.S. Miftah heißt Schlüssel – verwandt dem Verb Fataha (öffnen), und dem Namen den Fatah (vielleicht
Öffnung?), der Bewegung Yassir Arafats und jetzt Mahmoud Abbas/Abu Mazen.
57
Die „Judaisierung“ (schreckliches Wort) von eigentlich arabischen Vierteln dient dem „Fakten schaffen“,
es wird von einigen Gruppen und mindestens einigen Organen der Regierung bezweckt, jüdische
Bevölkerungsmehrheiten in so vielen Gebieten und Vierteln wie möglich zu erreichen (durch die
Vertreibung der Araber). In den Endstatusverhandlungen, die ja irgendwann hoffentlich mal geführt
werden, um die Errichtung eines palästinensischen Staates und die endgültige Grenzziehung usw.
festzulegen, ergibt sich dann wahrscheinlich aus den jeweiligen Bevölkerungsmehrheiten ein Anrecht
auf die Gebiete.
Auch die Mauer kann man im Kontext des Fakten Schaffens sehen (und weniger als
Sicherheitseinrichtung), die wohl auch die Grenzziehung beeinflussen wird. Negativ für die
Palästinenser, natürlich.
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Artikel über PRIME in Qantara.de
PRIME (Peace Research Institute for the Middle East) macht ein Schulbuchprojekt, in dem die Historical
Narrative, die Art und Weise, wie die Geschichte des Konflikts auf jeder Seite wahrgenommen wird,
gegenüberstellt. Die Wahrnehmung der Anderen Seite über den Konflikt wurd vermittelt, und das ist für
eine Aussöhnung fundamental.
Manchmal glaubt man nicht, dass es um die selbe Geschichte geht... Und dieses Projekt entsteht direkt
neben meiner Küche! Vor einer Stunde habe ich mit einer (sehr hübschen) palästinensischen Lehrerin
aus Hebron gesprochen, die bei PRIME dabei ist. Das ist die Basis.
http://www.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-468/_nr-436/_p-1/i.html
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http://english.aljazeera.net/NR/exeres/49137E4C-8E27-4556-B034-29A3A7A2C796.htm
Israeli settler population swells
Tuesday 07 February 2006, 1:52 Makka Time, 22:52 GMT
The overall number of Israelis living in settlements on Palestinian land increased last year despite the
pullout from the Gaza Strip, a new report by the settlement watchdog Peace Now says.
58
Around 10,000 Israelis moved into settlements across the occupied West Bank over the course of 2005
while around 9000 settlers were uprooted from 21 settlements in Gaza and four small enclaves in the
West Bank, Peace Now said on Monday.
Statistics published in December 2004 showed some 243,900 settlers were living in the West Bank and
Gaza Strip.
By December 2005, that number had jumped to at least 245,000, Peace Now secretary-general Yariv
Oppenheimer told AFP.
According to state records, however, some 253,748 people live in settlements on the Palestinian side
of the Green Line because most Gaza evacuees have still not officially registered a change in their
residency, he explained.
But the increase could be even higher than 1000 depending on how many Gaza settlers relocated to
the West Bank and have not yet registered a change in their address, Oppenheimer said.
By the end of 2005, the total number of Jewish settlements on occupied Palestinian land stood at 121,
compared with 146 a year earlier.
Efforts to "legalise" the 102 unauthorised settlement outposts were ongoing in 2005, with permanent
construction taking place in 33 of them.
No new outposts were established in 2005, but none were evacuated during the year, Peace Now said.
Makeshift settlements
The outposts are generally set up as makeshift settlements with caravans but are often later "legalised"
by the authorities.
Figures quoted in the report also showed that construction began on 1097 new housing units in the
first half of 2005, compared with 860 during the same period of the previous year.
Most construction is taking place in settlements to the west of the vast separation barrier Israel is
building across the West Bank, namely in Beitar Ilit, Modiin Ilit, Alfei Menashe and Maale Adumim, the
largest settlement.
The majority of work is intiated by the housing and construction ministry.
Gross violation
Chief Palestinian negotiator Saeb Erakat expressed anger over the ongoing Jewish settler growth and
accused the Israeli government of grossly violating its commitments under the stalled roadmap peace
plan.
"This shows the Israeli government is in total violation of the roadmap and we call on the quartet to
oblige the Israelis to meet their commitments," he told AFP, referring to the four powers that drafted
the document.
59
"The lack of action against Israeli settlement activity is really
"This shows the Israeli
alarming."
government is in total violation
of the roadmap and we call on
Under the roadmap, Israel is obliged to freeze all settlement
the quartet to oblige the
expansion and demolish all outposts established since March 2001.
Israelis to meet their
commitments"
Last week, Israeli police and soldiers razed nine houses in the Amona
outpost near Ram Allah following an appeal to the high court by Peace Saeb Erakat,
Now.
Chief Palestinian negotiator
"In response to the government of Israel's inability and unwillingness to ensure the rule of law in the
territories, Peace Now has been forced to turn to the high court in an effort to expose specific areas
and attempt to force the government to act on the issue," the group said.
Following the Amona ruling, the high court is to decide on additional Peace Now petitions about illegal
construction in three more outposts - Emunah, Harsha and Hayovel - within the next 30 days.
The international community considers all Jewish settlements in the occupied Palestinian territories
illegal, regardless of whether they are authorised by the Israeli authorities.
Flyer einer extreme religioesen und rechten israelischen Partei. Oben steht „Wo ist der Unterschied...“
(Abgebildet vlnr: Peretz (Arbeiterpartei), Olmert (Kadima), Netanyahu (Likud).
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http://www.haaretz.com/hasen/pages/ShArt.jhtml?itemNo=679064&contrassID=2
The New Anti-Semitism, cartoon division
By Bradley Burston
(…)
60
Of late, a new breed of anti-Semitic caricature has begun to circulate through Europe, an indication,
perhaps, of a new breed of anti-Semitism. But the Semites, in this case, are not Jews.
The message of a number of the Danish cartoons depicting the Prophet Mohammed in a variety of
derogatory caricatures is roughly this: Most Muslims are Arabs, and most Arabs are potential suicide
bombers.
The message is obscene. It is racist. It dishonors the bedrock spiritual beliefs of one of every six
people on the entire planet. In that sense, it also profanes the right of freedom of speech, distorting it
into the freedom to foster hatred.
Correctly, many rabbis have expressed their disgust at the cartoons. "I share the anger of Muslims
following this publication," French Chief Rabbi Joseph Sitruk said. "I understand the hostility in the Arab
world. One does not achieve anything by humiliating religion. It's a dishonest lack of respect."
Said the chief rabbi of Great Britain, Jonathan Sachs, "The only way to have freedom of speech and
freedom from religious hatred is to exercise restraint. The question is: can we learn to respect what
others hold holy?"
(…)
"In the West, one discovers there are different moral ceilings, and all moral parameters and measures
are not equal," the pan-Arab daily Asharq al-Awsat wrote.
"If the Danish cartoon had been about a Jewish rabbi, it would never have been published."
(…)
True, everyone here teaches hatred. We do. Our Muslim cousins do. But there's a serious lesson for all
of us to learn in the cartoon affair. You don't fight fire with arson. You don't redress one newspaper's
insult to an entire religion by burning the flag, profaning the symbol, of an entire people. You do not
restore honor to Islam and its prophet by demonstrating in Knightsbridge, London, dressed as a
suicide bomber, or carrying a banner reading "Butcher those who mock Islam."
It is right and proper to blame the people who are to blame. There is another name for blaming all
members of a group for the actions of a few. It is racism. Surely the fact that you are the victim of
racism, does not mean that you are immune from practicing it.
(…)
###
http://www.zmag.org/content/print_article.cfm?itemID=9622&sectionID=107
ZNet | Israel/Palestine
Good News About the Hamas Victory
by Gideon Levy; Ha'aretz; January 30, 2006
61
The good news from the occupied territories is that Hamas won the elections. As opposed to what the
chorus of national intimidation--speaking in one voice from Benjamin Netanyahu to Ami Ayalon--is
saying, the political change in Palestine could be good news. Not that the victory of an extremist
religious organization is not without dangers and problems, and that a secular, moderate and
uncorrupt movement would have been preferable. But, in its absence, one can find quite a few points
of light in the Hamas victory.
First, these are very authentic results, achieved through elections that were respectably democratic,
even though they took place under the least democratic circumstances imaginable, the occupation. As
usual, we were threatened by our experts with "anarchy," and, as usual, the Palestinians did not meet
those expectations. There was no shooting and no rioting; the Palestinian nation had its say with
admirable order. It said "no" to a movement that did not bring it any achievements in the just struggle
against the occupation, and it said "yes" to those who appeared to the voters to be braver and with
clean hands. The religious issue was set aside: Most of the Palestinians, it can be safely said, don't
want a religious state; they want a free state.
Second, both Israelis and Palestinians can learn important lessons from the results of the election. The
Israelis have to finally learn that applying force will not get the desired results. On the contrary. In
recent years, until the tahadiyeh, the lull, there wasn't a month that went by in which we did not hear
about the elimination of another "senior" Hamas official. From assassination to assassination, the
movement o nly grew in strength. The conclusion: Force is not the answer.
The Palestinians also have to learn that it was the moderation of the movement that led them to
victory. Hamas did not win because of terror attacks, it largely won despite the terror. It has been
moderating in recent months, changing its skin, agreeing to a lull that has lasted since November
2004. During all that, its power only grew. As opposed to the fragmented Fatah, whose heads have no
control over what happens on the ground, when Hamas wants, not even a toy gun gets fired. The few
terror attacks of the past few months were not the handwork of the violent and murderous group we
knew. This is an important lesson. Only Hamas can truly fight terror. The war Israel waged against
terror, with its innumerable assassinations, demolitions, arrests and detentions, has been far less
effective than one judicious decision by the heads of Hamas.
There's more good news. Only the right can do it? If that view is true, if only people of the right can
bring peace, like Ariel Sharon on our side, then we are now facing a new chance that should not be
missed. A peace deal with Hamas will be a lot more stable and viable than any agreement we sign with
the PLO, if Hamas were to oppose it. Hamas can make concessions where Fatah would never dare. In
any case, the Hamas that forms the government won't be the Hamas that sends suicide bombers. The
comparison to international terror organizations is also nonsense: Hamas is a movement fighting for
limited national goals. If Israel were to reach out to the extremists among its enemies, then maybe it
can reach a real agreement that would put an end to the tumor of the occupation and the curse of
terror.
To that end, both sides, Israel and Hamas, must free themselves of the slogans of the past. Those who
pose preconditions, like disarming Hamas, will miss the chance. It is impossible to expect that Hamas
will disarm, just as it is impossible to expect that Israel would disarm. In Palesti nian eyes, Hamas'
weapons are meant to fight the occupation, and, as is well-known, the occupation is not over.
Practically, and indeed morally, the armed are armed if they are equipped with F-16s or Qassam
launchers. If Israel were to commit to an end to killing Hamas operatives, there is reason to assume
that Hamas would agree, at least for a while, to lay down its arms. The months of tahadiyeh proved
that, even when Israel did not cease its own fire. In the coming months, the risk of terror attacks will be
further reduced: A movement that wants to consolidate its regime and win international recognition
will not be busy with terror. Nor will it allow Islamic Jihad to steal the show.
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Now is the time to reach out to Hamas, which is desperate for international, and particularly American,
recognition, and knows that such recognition goes through Israel. If Israel were to be friendly toward
Hamas, it could benefit. Not that Hamas will all at once give up its extremist demands and its
unrealistic dreams, but it will know, as some of its leaders have already declared, to set them aside if it
serves their interests. Israel, which in any case did not speak with Yasser Arafat or Mahmoud Abbas,
now has an opportunity for surprise. Instead of wasting more years with rejectionism, at the end of
which we'll sit down with Hamas in any case, let us reach out now to this extremist group, which was
democratically elected. Israel has nothing to lose from such an approach. We've already seen the
achievements of the hand that assassinates and demolishes, uproots and jails, we've already seen
those policies fulfilled in front of our eyes: Hamas won the elections.
Gideon Levy writes for Ha'aretz.
Bericht Nr. 4
Newsletter No 4: Neue Wohnung, neue Arbeit, alles neu: Die Eingewöhnung
19. Februar
Ich bin umgezogen!
Nach einem etwas kühlen Auszug (alle waren irgendwie beschäftigt und Esther nicht da, also habe ich
allein und etwas erleichtert meine Sachen zusammengepackt und habe ein Taxi gerufen) habe ich
meine neue Wohnung bezogen. Ich habe ein paar Möbel aus dem alten Wohnzimmer geholt, das ich
nicht benutzen werde und das randvoll mit altem verstaubtem Krempel ist. Mein Wohnzimmer zieren
jetzt drei Polstersessel, ein Tisch und ein Stuhl, und noch kahle Wände.
Was die Wohnung ein wenig unwohnlich macht, ist die Abwesenheit einer Heizung. Ich habe schon
geschrieben, das ist hier normal, wer baut schon eine teure Zentralheizung ein, wenn es neun Monate
im Jahr brütend heiß ist?
Bloß ist der Kerosinofen, der mit eigentlich Wärme im Radius von einem Meter schenken sollte, noch
kaputt. Aus diesem Grund hat es gerade, 23:57 Uhr, etwa 14 Grad in meinem neuen Heim. Wenn ich
heißes Wasser trinke (der Herd funktioniert noch nicht, deswegen auch kein Tee) gefriert mir sogar
kurz der Atem vor dem Gesicht... Zum Trost wurde mir gesagt, dass der Mensch 60 Watt Wärme
abgibt. Na immerhin, etwas wird hier geheizt, und wenn ich das Licht anschalte gleich doppelt soviel...
Das (von mir nicht benutzte) Wohnzimmer ist eigentlich das ursprüngliche Haus. Seine Mauern sind
etwa einen Meter zwanzig dick und es hat eine (leider verputzte) Gewölbedecke, wie es traditionelle
palästinensische Häuser haben. Drumherum wurde dann nach und nach das restliche Haus gebaut:
Meine Zimmer als Anbauten, und dann noch drei Stockwerke obendrauf. Das schöne alte Mauerwerk ist
unter neuer, zweifelhafter Architektur gefangen.
Samir, mein Vermieter, erweist sich als weit mehr rechts eingestellt als ich das gedacht hätte.
Nonviolence hält er für völlig sinnlos, wie auch Friedensgespräche, Oslo und alles. Lokale Initiativen
hält er für wirkungslos, weil er der Meinung ist, der Konflikt würde nicht im Nahen Osten ausgetragen,
seine Wurzel stecke in den USA und Europa. Er macht die Juden dafür verantwortlich, nicht nur die
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Israelis: Er glaubt an so etwas wie eine jüdische Weltverschwörung, die sich seiner Meinung nach durch
die Geschichte zieht: Am Ende des 19. Jahrhunderts hätten US-Wissenschaftler hier geforscht,
Archäologen usw. Er sagt, in Wirklichkeit hätten sie geschaut wo Menschen leben und wo Platz ist.
Die dänische Karrikaturenaktion setzt er auch in einen jüdischen Kontext, die hätten das angezettelt. Er
verlangt von der dänischen Regierung eine Entschuldigung, nicht nur eine Zeitung hätte das
veröffentlicht, sondern Dänemark als Ganzes und die Juden sowieso. Zur Verteidigung der
Pressefreiheit meinte er, dass man eingesperrt wird, wenn man über den Holocaust falsche Karikaturen
malt.
Er hat Recht in dem Punkt, dass eine Doppelmoral herrscht, die z.B. Islam- und Holocaustkarikaturen
mit zweierlei Maß messen würde. Er liegt weit ab vom Schuss, von wegen offizieller Entschuldigung
Dänemarks. Seine Bemerkungen zur jüdischen Weltverschwörung braucht man ja erst gar nicht zu
kommentieren.
Er hält den Nahen Osten für ein Zentrum der globalen Macht, wer hier die Macht hätte, hätte sie auch in
der Welt. Deshalb sei Amerika so dahinter her. Kann ich nicht so ganz nachvollziehen. Es stimmt, dass
die USA großes Interesse an einem starken Israel haben, als strategischen Partner im Nahen Osten. Was
daran die Besitzverhältnisse der Westbank und des Gazastreifens ändern, verstehe ich nicht.
Es ist ein Fakt (s. Artikel Uri Avnery: http://usa.mediamonitors.net/content/view/full/25232), dass die
Bush-Administration und überhaupt viele Positionen in Washington von Juden besetzt sind, teilweise
üblen Zionisten. Diese Menschen haben die US-Politik sicherlich mit den Interessen Israels abgestimmt.
Die USA stehen ohne Wenn und Aber hinter Israel. (Der Angriff auf Irak z.B. wird öfters mal in diesem
Kontext gesehen).
Einer jüdischen Weltverschwörung ist trotzdem ein Riesenblödsinn.
All diese Ansichten werden aus Samirs Hoffnungslosigkeit gespeist, seinen enttäuschten Hoffnungen,
dem täglichen und deutlich sichtbaren Verlust des palästinensischen Volkes in diesem mal lauwarmen,
mal heißen Krieg.
Zum SOS meint er, seine Eltern hätten ihm immer verboten, mit den Kindern dort zu spielen, weil man
dann immer dreckig oder zerfetzt nach Hause kam. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern...
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Heute habe ich einen Terroristen kennengelernt.
Weil Israel gute Geheimdienste hat beschreibe ich nicht, in welchem Kontext.
15, 20 junge Palästinenser haben sich getroffen, sie machen das immer, jeden Abend bei jemand
anders. Wir haben Tee getrunken, Falafel gegessen und Ferngesehen. Die Leute kamen nach und nach,
und mir wurde erklärt, dass einer der Typen von den Al-Aqsa-Brigaden sei, ein gesuchter Terrorist, der
entweder versucht hat, sich in die Luft zu sprengen, oder auf israelische Soldaten geschossen hat. Auf
jeden Fall steht dieser Mann auf einer Liste als kleiner, gefährlicher Fisch.
Er ist Ende 20, mittelgroß, bärtig, dunkel. Ein kleiner Bauch wölbt sich unter seiner schwarzen Jacke,
auf dem Ärmel ist eine palästinensische Flagge genäht. Er wirkt sehr selbstsicher, sehr sicher in dem
was er tut und was er tun will. Die anderen sagen später, er habe "no brrrains", sei wie ein Tier, wie ein
Schaf. So schlau sieht er auch nicht aus. Aber überzeugt.
Sein Handy ist voll mit Filmen, aus Beit Jala, Jenin, Nablus, dem Iraq. Steinewerfende oder schießende
Palästinenser, maskiert mit schwarzen Masken und weißem Schriftstirnband oder nur dem
Palästinensertuch. Explosionen, Schüsse, Rauch, rennende Menschen. Tote und sterbende israelische
Soldaten, Blut, ein verzweifeltes, schmerzverzerrtes junges Gesicht am Boden. Ein Film, wie
amerikanische Soldaten im Iraq entführt werden, ihr LKW wird von einer Panzerfaust getroffen und
explodiert, die Insassen sterben, andere Soldaten kommen und wollen das ganze absichern, sind aber
heillos in der Minderzahl, ergeben sich, um nicht erschossen zu werden. Filme, in denen Soldaten oder
Kämpfer beim Schießen plötzlich einknicken, als hätte eine unsichtbare Faust sie in den Bauch, in die
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Schulter getroffen. Sie sind in diesem Augenblick erschossen worden. Und die Bilder sind echt, kein
Hollywood.
Mein Gesicht hört gar nicht mehr auf, zu entgleisen. Man trifft sich zum Fernsehschauen und trifft auf
einen Kämpfer, einen Mann, der an Gewalt glaubt und sie auch tatsächlich umgesetzt hat, nicht nur in
Worten. Ich versuche locker zu wirken, man will ja nicht zeigen dass man von einem der Freunde der
Leute dort völlig schockiert ist.
Einer kommt rein, hört dass ich Deutscher bin und grinst "Hitler", hebt den Arm - nicht wirklich
ernsthaft, aber er und einige andere finden Hitler toll, sie sagen breit lächelnd und in dem Glauben, mir
zu schmeicheln, "you know, he killed the Jews!".
Ja, ich weiß, danke. Ich und mein Gastgeber, dem ich schon auseinandergesetzt habe, dass Hitler
52,000,000 Menschenleben auf dem Gewissen hat, erzählen das den anderen, beeindruckt sie aber
nicht. Ist auch nicht die Stimmung dafür, sowas anzunehmen und drüber nachzudenken, es ist alles
noch zu scherzhaft. Ich setze ihnen auf jeden Fall auseinander dass Hitler ein Drecksack war, und
setzte mein bescheidenes Arsenal arabischer Schimpfwörter dafür ein.
Dass ich so einen Menschen kennengelernt habe stürzt mich in einen Gewissenskonflikt.
Ich glaube an Gewaltlosigkeit.
Was soll ich nun machen? Wenn ich Gewalt verachte, sollte ich dem Shin Bet, oder welchem israelischen
Geheimdienst auch immer, eine Mail schreiben. Aber damit setze ich ebenfalls Gewalt in Gang, die
Armee kommt dann eines Morgens um drei oder vier nach Bethlehem reingebraust, bricht eine Tür auf
und führt einen Menschen und seine Brüder ab, der dann mit zweifelhaften Methoden verhört werden
wird. (Außerdem weiß ich nicht, was dieser Mann wirklich angestellt hat, ob der "Terrorakt" vielleicht
nur eine riesig aufgebauschte Version einer kleinen Angeberei ist).
Eine zweite Frage wirft sich auf: Darf ich mich in meiner Position als "Freiwilliger für den Frieden und
eine bessere Welt" überhaupt so auf eine Seite stellen? Darf ich auf einer Seite mitkämpfen, was
Denunziation ja bedeuten würde?
Muss ich ihn nicht denunzieren? Ich, genau ich!, könnte damit Menschenleben retten.
Was ich definitiv weiß, mich jedoch nicht aus dem Gewissen nimmt: Ich werde ihn nicht denunzieren.
Wenn diese Leute rauskriegen, dass ich ihren Bruder oder Freund bei den Israelis verpfiffen habe, liege
ich mit gutem Grund noch am selben Abend in einem Leichensack. Alles Gewissen ist schön und gut,
aber mein eigenes Leben ist mir, wie jedem Menschen, wichtiger als das eines anderen.
Übrigens war keiner dieser Leute von der Hamas, es gibt auch noch andere Milizengruppen in
Palästina.
Nie hätte ich gedacht, einmal so etwas zu erleben. So in einen Krieg einzutauchen, plötzlich an einer
wie eingefrorenen Front zu stehen. Wie ein Effekt im Kino, wo die Zeit stoppt und die Kamera die
eingefrorenen Gesichter und Situationen genau unter die Lupe nimmt. Ich kann die Augen der Kämpfer
und Soldaten sehen, kann Kugeln im gefrorenen Flug sehen, glaube, ihr Ziel zu kennen. Ich habe die
Macht, das Geschehen drastisch zu verändern. Ich kann einen Zweikampf - Geheimdienst gegen
Untergrundkämpfer/Terrorist - beenden, kann den Geheimdienst zum Sieger bestimmen, wenn ich
mag.
Palästina setzt mich doch einigem mehr aus als Zivi in Deutschland. Ich bin froh, hier zu sein, wenn
auch mit Frösteln.
Ein paar Gedanken über das Thema "Terroristen", "Freiheitskämpfer" und "Staatsterrorismus":
Palästinenser sind Terroristen (und keine Freiheitskämpfer), wenn sie gegen Zivilisten vorgehen.
Israel betreibt Staatsterrorismus, weil der Staat gegen Zivilisten vorgeht und dabei internationales
Recht bricht, oft genug die Menschenrechte.
Obendrein setzt Israel gezielt Zivilisten ein, um seinen Zionismus und Kolonialismus umzusetzen: Die
Siedler.
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Dass manche Palästinenser zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Siedler ebenfalls als Soldaten
angesehen werden können, weil sie durch die Bevölkerung der Siedlungen in diesem Konflikt
mitkämpfen, ist nachvollziehbar. Das gibt ihnen in ihrer persönlichen Moral das Recht, gegen diese
Zivilisten zu kämpfen.
Sehr wenige andere gehen noch weiter und sagen, alle Bürger Israels würden sich wie die Siedler
verhalten, und geben auch ihnen den Status eines direkten Besatzers. Das sind die Leute, die immer
noch der Meinung sind, Israel von der Landkarte wischen zu können. Dadurch kommen
Bombenattentate auf Discos oder Cafés zustande.
Die palästinensischen Terroristen verdienen diese Bezeichnung, weil sie Zivilisten zu töten versuchen.
Israel hat aber mit seiner Siedlungstaktik den Kämpfern moralisch Tür und Tor geöffnet. Es hat ihnen
einen Grund gegeben, gegen Zivilisten vorzugehen.
28. Februar 2006
Mein Vater hat mich gebeten, mal wieder einen "politischen Lagebericht" zu schreiben. Also werde ich
mal mein Expertentum ausbreiten...
Hamas ist, wie es aussieht, auf dem besten Weg, bereit zu sein, Israel anzuerkennen. Das hat der neue
Premierminister, Ismail Haniyya (Hamas) halb in Aussicht gestellt, unter der Bedingung, dass Israel die
im Krieg 1967 besetzten Gebiete (Westbank, Gaza und Ostjerusalem) räumt, dort ein souveräner
palästinensischer Staat geschaffen wird, die Gefangenen freigelassen werden und den
palästinensischen Flüchtlingen "das Recht auf Rückkehr gewährt wird" (ob mit dem Recht auf Rückkehr
dann ein Grundrecht auf die Rückkehr auch auf heute israelisches Gebiet (wovon im ersten Krieg 1948
die Palästinenser z.T. mit grober Gewalt und Massakern vertrieben wurden) gemeint ist, oder nur ein
Recht auf die Rückkehr der Flüchtlinge im Ausland in den zukünftigen Palästinenserstaat, weiß ich
nicht, und ist wahrscheinlich auch Verhandlungssache).
Wenn Israel diese Schritte unternimmt, ist der Frieden in diesem Erdteil nicht mehr weit entfernt. Dann
kann die Aussöhnung beginnen. Der Terror wird auf fast null schrumpfen - fast null, wohlgemerkt. Ein
paar Palästinenser werden immer noch der Meinung sein, sie müssten Israel zerstören, und wären dazu
in der Lage. Ein kluger israelischer Premierminister wird jedoch erkennen, dass das dann aber keine
von der palästinensischen Bevölkerung unterstützte Gewalt, sondern Einzelkämpfer sind (wie auch jetzt
schon). Er wird die Attentate dann nicht als Entschuldigung nehmen, weiter zu bomben und Gebiet zu
annektieren.
Ob Israel die obigen Schritte unternimmt, ist allerdings mehr als unklar, sagen wir mal sehr
unwahrscheinlich. Olmert, der Interims- und wahrscheinlich nächster richtiger Premierminister, hat
angekündigt, sich aus weiten Teilen der Westbank zurückzuziehen, ausgenommen drei große
Siedlungsblöcke, und dem Jordantal. Vielleicht kann man die Palästinenser mit einem Gebietsaustausch
zufriedenstellen, aber ich denke nicht so recht. Israel sollte diese Siedlungen räumen, sie sind ein
unnötiger Dorn im Fleisch.
Der Siedlungsbau und der Ausbau der Besatzung wird derzeit allerdings keineswegs gestoppt. In Har
Homa, einem Settlement gegenüber Bethlehem in seiner allseits sichtbaren Position, stehen die Kräne
nicht still, es frißt sich weiter und weiter den Hügel hinunter, auf dem es gebaut wurde. Das Jordantal
wurde still und heimlich nach und nach abgeriegelt, durch noch einen Roadblock, noch einen
Checkpoint, einer nach dem anderen, immer aus temporären Sicherheitsgründen. Die Beschränkungen
werden dann aber nicht mehr aufgehoben. Jetzt ist die Linie wohl komplett - kein Palästinenser kann
mehr an den Jordan. Dort sind jetzt nur noch Siedler, die den Palis das Wasser abpumpen. Und der
Mauerbau geht natürlich weiter, in Talitha bin ich in den letzten Wochen morgens immer von den
Baggern aufgewacht. Also keine sehr glaubwürdige Art, Rückzugspläne anzukündigen. (Und jetzt, Mitte
März, sind ja auch Pläne für eine neue Riesensiedlung östlich von Jerusalem in der Umsetzung).
Fazit: Israel hat die Möglichkeit, den Grundstein für den Frieden zu legen. Er ist schwer und wuchtig
und auch scharfkantig (man erinnert sich an die Räumung des "illegalen Außenposten" der (an sich
schon illegalen) Siedlung Amona vor ein paar Wochen, als sich der radikelste Anteil der Siedler heftige
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Schlachten mit den Soldaten geliefert haben). Aber danach muss Israel nicht mehr das Leben seiner
Soldaten aufs Spiel setzen, nur damit sie versuchen, eine hoffnungslose palästinensische Bevölkerung
unter Kontrolle zu halten. Danach werden (fast) keine Bomben mehr hochgehen. Kein Soldat wird mehr
erstochen werden. Und Israel kann seinen Verteidigungshaushalt reduzieren (wenn die Zahl die ich las
richtig ist, ist der pro Kopf 15mal so hoch wie in den USA (...) (naja, vielleicht stimmt sie wirklich nicht))
und stattdessen sein ersticktes Sozialsystem wiederbeleben. Israel hat in diesem Konflikt die größte
Macht, ihn zu beenden, denn er geht heute zu 90 % von der Besatzung aus.
Wie sich ein Staat für die Eroberung und Annexion eines Landes so groß wie halb Hessen so geißeln
und opfern kann ist mir schleierhaft. Zeit für ein wenig Pragmatismus und Mut zum Verzicht.
3. März 2006
Die Umzugsaktion hat sich anders entwickelt als ich mir das vorgestellt hatte.
Mein Plan war gewesen, in meiner Wohnung allein zu wohnen, aber starken Anschluss an die Familie
oben zu haben.
Nun muss ich aber seit zwei Wochen eine Diät halten, um einen Candidapilz loszuwerden, der sich in
meinem Darm eingenistet hat und giftigen Ethylalkohol produziert; er sollte also nicht dort bleiben. Um
ihn auszuhungern darf ich keinen Zucker mehr essen, und muss auf Weißmehl und geschälten Reis und
Hefe verzichten, d.h. ich muss separat bekocht werden.
Das ist meiner sehr vielbeschäftigten Vermieterin verständlicherweise zu viel. Samir war obendrein im
Krankenhaus wegen einer Darmentzündung und muss ebenfalls Diät halten, aber eine andere als ich.
Also wurde ich abgeschoben, ich solle die drei Monate, die ich die Diät durchhalten muss, selber
kochen. Ich bin also schon mal bei den Malzeiten allein.
Dann ist Tenny, meine Vermieterin, durch meine Anwesenheit spürbar gestresst, ich bringe ihr den
Tagesablauf durcheinander und ich störe sie, wenn sie jeden (!) Morgen nass wischt. Ich fühle mich
oben also auch sonst nicht so sehr wohl.
Gestern abend dann wurde mir der Haustürschlüssel für die Wohnung oben wieder aberkannt.
Eigentlich war ich ursprünglich dazu eingeladen worden, immer dort rumzuhängen wenn ich will,
Fernzusehen und das Internet zu benutzen, Teil der Familie zu sein. Aber Samir meinte, er bräuchte
den Schlüssel und „wir finden schon eine Lösung“, und das wars dann. Ich bin nicht tiefer gedrungen,
warum sie mir ihr Vertrauen entziehen, aber das ist vielleicht auch nicht nötig.
Also sitze ich jetzt hier unten allein in meiner Wohnung und bin etwas einsam. Ich bin zwar froh, die
Reibereien zwischen den Volos in Talitha losgeworden zu sein, aber ich vermisse die Anwesenheit von
Menschen in meiner Wohnung. Kein kleiner Schwatz, kein "wie wars heute". Ich bin zu sozial bzw. zu
kontaktsüchtig, um alleine zu wohnen.
Mal davon abgesehen dass ich nicht so besonders abwechslungsreich kochen kann - was sich wohl
bald mal ändern wird, hoffentlich.
Zu meiner allgemeinen Orientierungslosigkeit tragen alle drei Wechsel bei - Umzug, Arbeitswechsel,
Diät.
Allerdings habe ich im SOS viel Spass. Ich habe zwar keine regelmäßige und eindeutige Aufgabe, aber
ich gehe einfach mal hin und schaue. Heute habe ich den ganzen Nachmittag über Kinder angemalt
und wurde heiß geliebt. Ansonsten hänge ich mich an Nabil, den Jugendsozialarbeiter, ran, mit dem die
Kommunikation trotz großer Sprachbarriere gut klappt. Er hat mich schon ein paarmal zu sich nach
Hause eingeladen, da verwöhnen mich dann alle, bis es mir so richtig unangenehm wird. (Wer wird
schon gerne von gleichaltrigen Jungs bedient – und zwar wirklich bedient).
Seit einer Woche kenne ich außerdem eine Peaceworkerin aus den USA, Sis. Sie ist etwas über 70,
kommt aus Alabama, und arbeitet an Bethlehemer Schulen für eine Ausbildung der Lehrer in
Nonviolence-Techniken. Sie lebt mit ihrem Mann Jerry halb hier, halb in den USA. Beide sind stark mit
dem Nahen Osten verwurzelt, Jerry war in den 80ern als Journalist im Libanon und wurde dort von der
Hizbollah verschleppt (er ist eine der "forgotten American hostages", wenn das irgendjemandem noch
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was sagt). Was ihn in seinen Ansichten jedoch nicht antipalästinensisch hat werden lassen, sondern ihn
eigentlich nicht grundlegend verändert hat. Er kam nach ein paar Wochen (oder Monaten?) frei, durch
Gespräche, sonst nichts. Auf gewaltlose Art und Weise. Die anderen Geiseln wurden gegen USWaffenlieferungen eingetauscht...
Er hat danach seine wohl nicht unbeträchtlichen Karriereaussichten beim CNN geschmissen und ist
hiergeblieben. Derzeit arbeitet er beim CPT (Christian Peacemaker Team) in Hebron, wo er (wie Sarah,
die australische Volo von der ich schrieb) palästinensische Schulkinder, die durch das israelische
Settlement in der Altstadt von Hebron zur Schule laufen müssen, nur durch seine Anwesenheit vor
steinewerfenden und spuckenden israelischen Kindern zu beschützen versucht.
Beide gehen in einer Woche in den USA auf eine lange Vortragstour, wo sie versuchen werden, den
Amis die Situation der Palästinenser nahezubringen. Da es Amis gibt, die von der deutsch-chinesischen
Grenze sprechen und sonst außer dem Irak wahrscheinlich kaum ein anderes Land kennen, ist über den
Konflikt hier wohl recht wenig bekannt...
Sie hat Stefanie, eine 25jährige Public Health-Studentin mitgebracht, die hier die Auswirkungen der
Gewalt auf die allgemeine (auch geistige) Gesundheit untersucht.
Alle zusammen sind ein netter, idealistischer, und idealisierender Haufen, die mein Interesse ins
Nonviolence-Feld wieder geweckt haben. Sis hat mir geraten, einfach mal damit zu beginnen, Ghandi
zu lesen, und Martin Luther King. Das habe ich heue morgen getan, habe meine Sammlung von Kings
Reden und Schriften entstaubt und begonnen zu lesen. Das sind ganz wunderbare Gedanken, und ich
merke dass ich um die Ghandi-Lektüre nicht herumkomme, King bezieht sich stark auf ihn (z.B., dass
Ghandi der erste gewesen sei, der Christus' Lehre von der anderen Wange auch auf Massen angewandt
habe, und dadurch eine friedliche Revolution bewirkt hat).
Auf einem Vortrag von Sis habe ich dann noch einige Leute kennengelernt, die alle sehr clever und
interessant sind. Und alle friedenswillig und aktiv. Ghassan (Gh wird wie das deutsche R
ausgesprochen) hat zum Beispiel mit ein paar Freunden diverse Sprayaktionen an der Mauer
durchgeführt, der Spruch "Welcome to the Ghetto" stammt von ihm. Bei zukünftigen Sprayaktionen will
ich dabei sein, als "internationaler Beobachter"... Sowieso ist diese Mauer optimal, um beschrieben zu
werden. Sie ist so ein Schandfleck, dass sie hinter jede (qualifizierte) Aussage darauf das dickste
Ausrufezeichen setzt, dass man sich vorstellen könnte. Das Ding sind dann nur noch die Wachtürme
und die Militärpolizei...
7. März 2006
Man muss versuchen, eine Balance zu finden zwischen konstruktiven und destruktiven Gedanken,
Nachrichten, Informationen, Artikeln, Büchern.
Konstruktiv im israelisch-palästinensischen Konflikt: Idealistische, lösungsorientierte, moralische
Texte.
Destruktiv: Berichte über die Realität, über das Schlimme, was passiert ist; düstere bzw. negativrealistische Prognosen.
Es sind also Utopie und Realität einander gegenübergestellt.
Beide haben einen Sog, dem man leicht nachzugeben versucht ist, denn die Balance bringt
Spannungen, Unsicherheit und Enttäuschungen mit sich.
Die Utopie, wie z.B. Ghandi oder Martin Luther King zu lesen, erhebt einen in einen Zustand der
Hoffnung, man sieht einen Weg vorgezeichnet. Man ist gewillt, vorschnell Lösungswege zu zeichnen,
die Realität außer Acht zu lassen und einfache Antworten zu geben.
Die Realität beraubt den Sehenden seiner Hoffnungen, die Kräne in Har Homa lassen das Herz ebenso
sinken wie äußerst glaubwürdige Artikel, die die israelischen "Abzugspläne" als zynisches Mittel
entlarven, den Palästinensern noch mehr Land zu stehlen.
Wenn man sich nur noch der Realität hingibt, versinkt man wie mein Vermieter in Hoffnungslosigkeit
und wird dadurch seiner ganzen Kraft beraubt. Man wird zusätzlich radikalisiert. Dadurch gibt man
sich ebenfalls mit einfache Antworten zufrieden und zementiert einseitige Ansichten.
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Wenn man aber das Gleichgewicht wahrt, bzw. leicht von einem Zustand in den anderen wippt, hat man
etwas mehr die Möglichkeit, objektiv zu bleiben, aber gleichzeitig den Blick zu erheben, andere Wege
zu sehen, und Kraft zu schöpfen.
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Diesen Artikel habe ich für die WISE e.V.-Freiwilligenzeitung geschrieben, "Schwarz auf WISE"
(www.schwarz-auf-wise.de)
Wäre, könnte, müsste
8. März 2006
von Vinzenz Hokema
Ein stabiler und lang anhaltender Frieden im Nahen Osten ist innerhalb von ein paar Jahren auf
einfachste Art zu erreichen.
Die einzige Bedingung dafür ist der israelische Abzug aus der Westbank und Ostjerusalem und die
darauf folgende palästinensische Staatsgründung.
Der Terror wird automatisch auf ein Minimum schrumpfen und dann aufhören. Israel kann seinen
Verteidigungshaushalt verringern und die verrotteten Sozialsysteme wiederbeleben. Palästina kann
einen Staat aufbauen, die erste wirkliche arabische Demokratie. Die Wirtschaft wird in beiden Ländern
einen Aufschwung erleben. Die Menschen werden ohne Angst vor Bomben oder Checkpoints glücklich
sein. Politiker der ganzen Welt werden beide Staaten mit Glückwünschen überhäufen, ein doppelter
Friedensnobelpreis wird verliehen werden. Ein blutiges Kapitel wird in den Geschichtsbüchern
abgeschlossen: Der palästinensisch-israelische Konflikt.
Wie schön, wie leicht hört sich das an in einem Land, das ohne Frieden ist.
Warum ist es ohne Frieden? Warum geht Israel diese wunderbar einfachen Schritte nicht? Es gibt genug
Soldaten in Israel, eine Räumung der Siedlungen könnte zu jedem Zeitpunkt durchgeführt werden,
selbst wenn die Siedler Szenen wie in Amona machen. Die Räumung wird schließlich von
internationalem und israelischen Recht gefordert, niemand kann dagegen ernsthafte rechtliche Schritte
unternehmen.
Es ist also nicht unmöglich, sondern ungewollt. Man will noch keine Lösung des Konflikts. Was aber, als
Frieden und Sicherheit, will die israelischen Regierung?
Die Antwort ist recht logisch: Israels Außenpolitik ist eine kolonialistische. Es soll so viel Land, so viel
Wasser wie möglich hinter zukünftige Grenzlinien geholt werden, "Großisrael" soll soweit wie möglich
verwirklicht werden.
Der Gaza-Abzug hat der israelkritischen Öffentlichkeit einen gehörigen Stoß versetzt, man wusste
nicht mehr so recht, was man von Sharon halten soll. Nachdem er sich als einfacher Soldat und später
als General in Palästina und dem Libanon so tief in Gewalt und Mord und Menschenrechtsverletzungen
begeben hatte, kam der Abzug wie ein Sinneswandel vor, als ob Sharon plötzlich einen ehrlichen
Friedensschluss mit der Palästinensern plane.
Nun ist Sharon von der politischen Bühne verschwunden, und sein Nachfolger, Ehud Olmert, der allem
Anschein die israelischen Wahlen in drei Wochen gewinnen wird, hat wohl auch programmmäßig sein
Erbe angetreten: "Abzug aus den Palästinensergebieten", so lauten die Überschriften.
Beim weiterlesen stellen sich drei Dinge heraus:
Erstens sind mindestens die drei größten Siedlungsblocks "unverhandelbar", Ariel im Norden, Ma'ale
Adummim östlich von Jerusalem, und Gush Etzion im Süden Bethlehems. Wenn diese drei
Siedlungsblöcke bleiben, sind 46 % der Siedler der Westbank (von insgesamt 242.000) von den
Abzugsplänen nicht betroffen.
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Sharon hat außerdem noch drei andere, kleinere Siedlungen genannt, die er ebenfalls nur sehr ungern
hätte aufgeben wollen - damit wären wie schon bei 54 %, die bleiben dürften.
Diese Zahlen betreffen nur die Westbank. In Ostjerusalem gibt es 184.000 Siedler, davon sind
momentan alle "unverhandelbar". Das bedeutet, in Westbank und Ostjerusalem werden nach den
jetzigen Plänen 360.000 Siedler bleiben. Das sind 74 % der bisherigen Siedler. Nur 110.000 Siedler
werden abgezogen. Nur ein Viertel.
Zweitens werden nur Siedlungen, keine Gebiete geräumt - Olmert hat nicht vor, wie im Gazastreifen die
Siedlungen zu übergeben. Die Gebiete werden weiterhin von Soldaten kontrolliert werden. Für die
Palästinenser in diesen Gebieten ändert sich also fast gar nichts.
Drittens soll aus "strategischen Gründen" (vielleicht, um den neuen Staat Palästina territorial zu
isolieren; vielleicht auch nur, weil man Jordanien immer noch nicht so recht traut) das Jordantal unter
israelischer Kontrolle bleiben. Bis vor kurzem war ein weltweit unbemerkter Prozess im Gange, der das
Jordantal Stück für Stück für Palästinenser unzugänglich gemacht hat - durch immer neue Checkpoints,
Roadblocks, Permitpflichten, Kontrollen, sogar durch die Einrichtung eines "Naturschutzgebietes". Jetzt
ist er abgeschlossen. Das Jordantal ist abgeschnitten. Es ist einer der wasserreichsten Orte in Palästina,
viele israelische Farmen ziehen hier ihre Orangen.
Nachdem man diese Pläne gesehen hat wird klar, dass Sharon nicht aus Freundschaft zum
palästinensischen Volk den Gazastreifen verlassen hat. Er hat pragmatisch gehandelt und 9000 Siedler
aus einem Gebiet geholt, das mit 1,4 Millionen Palästinensern ähnlich dicht besiedelt ist wie Singapur.
Die Abzugspläne für die Westbank wurden von Olmert genau so formuliert: Die Siedler sollen aus den
Gebieten mit der Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung abgezogen werden.
Wenn man von der Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung spricht, spricht man nicht von der
Mehrheit des Landes oder des Wassers. Olmert wird dieses Ungesagte in die Tat umsetzen und soviel
Land wie möglich behalten, während er gleichzeitig versucht, die palästinensischen Ballungszentren
auszuschneiden. Er wird versuchen, die israelischen Grenzen einseitig (d.h. ohne Gespräche, sondern
sozusagen diktatorisch) festzulegen. Ganz im Sinne eines Sharonschen Statements: "Eine
Friedensvereinbarung, in der WIR die zukünftigen Grenzen des Staates bestimmen."
Die gesamte Entwicklung seit dem Gazaabzug kann als Versuch Israels gesehen werden, den Streit um
das Land so schnell und gewinnbringend wie möglich zu Ende zu bringen. Statt dem seit 1967
endlosen Versuch, 100 % der Westbank Israel anzugliedern, sichert sich Sharon, und nun Kadima, lieber
50 % der Westbank - aber dafür hinter Grenzen, die wie er wohl hoffte dann einmal die international
anerkannten Grenzen Israels bilden werden. Dafür ist Kadima vielleicht sogar bereit, eine
palästinensische Staatsgründung hinzunehmen, in dem blutenden, zerstückelten, verkrüppelten Etwas,
das einmal Palästina war.
Der "Frieden", der hierauf folgen wird, wird jedoch nicht dem gleichen, von dem ich im ersten Absatz
geträumt habe. Denn kein Palästinenser wird akzeptieren, sich endgültig in einem zerstückelten Staat
wiederzufinden. Sie werden kämpfen. Wie Ehud Barak einmal meinte, er würde sich einer
terroristischen Organisation anschließen, wäre er ein Palästinenser in Hebron. Eine dritte Intifada wird
kommen und viele Bomben werden viele Israelis töten. Viele Kinder werden Steine werfen.
Und alles nur, weil echter Frieden einem Ariel Sharon und einem Ehud Olmert nicht den kleinen,
kurzfristigen Schmerz einer Aufgabe der Westbank und Ostjerusalem wert ist. Weil ihnen Kolonialismus
vor Frieden geht.
Das Zahlenwerk ist aus Jerry Levins Artikel "While You Were Gone: The Stealth Hawks" vom 3. Januar
2006 entnommen.
Mir ist bewusst, dass meine Meinung sehr stark palästinensisch geprägt ist; wie sollte es auch anders
sein. Einige Texte und Aussagen sind mir beim zweiten Lesen auch zu extrem, oft nur im Ausdruck,
aber trotzdem. Die sind dann im Ärger oder Zorn über irgendwelche neuen Aktionen, Zeitungsberichte
oder Gespräche geschrieben. Auch in der nicht selten aufkeimenden Hoffnungslosigkeit.
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Um meine "Einstellungsschwankungen" nicht unter den Teppich zu kehren, lasse ich diese Beiträge
aber so wie sie sind.
9. März 2006
Heute morgen ist aus dem Wasserhahn vor meinen erstaunten Augen der letzte Tropfen Wasser
geflossen. Tenny, meine Vermieterin, meinte, "because of the Jewish" käme der Wasserlaster nicht
mehr, der Wasser in einen Tank auf dem Dach pumpt. Im kommenden Sommer müssten wir vorsichtig
sein mit dem Wasser.
Nach den Vereinbarungen von Oslo ist Israel für die gesamte Wasser- und Stromversorgung zuständig.
Das nutzen sie aus und schieben den Siedlern zigmal soviel wie den Palis zu. An einigen Orten haben
die Menschen 5 Liter Wasser pro Tag und Nase.
Aber das ist nur in Extremfällen. Bisher habe ich von der Wasserknappheit nichts gespürt. Um ein
Wasserglas abzuwaschen, wird hier der Wasserhahn voll aufgedreht und laufen gelassen, während man
sich im Gespräch umdreht. Das wird sich wohl jetzt wieder ändern...
14. März 2006
Gestern war ich auf einer Party in Westjerusalem, mit den Rainbow-Leuten.
Alle haben was zu essen mitgebracht und Niki, die Gastgeberin, hat ihre Verkleidekiste ausgepackt. Ich
habe mit einen Rock und ein Umstandskleid sowie eine riesige schwarze Afro-Perücke angezogen,
darüber ein Kopftuch, wie die orthodoxen Jüdinnen es tragen. An den Rock kann man sich ja fast
gewöhnen, nicht an die allgegenwärtigen schwarzen Fusseln der Perücke! Wir haben zusammen Musik
gemacht, Gitarre, Geige. Wieder waren viele neue Gesichter da.
Phönix (das ist sein Rainbow-Name (...)) hat indianische Wurzeln und sieht auch sehr danach aus. Vor
zwei Monaten hat ihm in Tel Aviv ein Araber ein Messer in den Bauch gerammt. Ich denke aber nicht,
dass das aus politischen Gründen war. Er scheint drogentechnisch sehr experimentierfreudig zu sein,
vielleicht dealt er um sich das zu finanzieren, und hatte dort einen Streit - wer weiß.
Eliyahu, ein orthodoxer Jude, mit Schläfenlocken, Kipa und Hippieklamotten. Er ist ein Peaceworker und
ist ab und an in Bethlehem, was ihm als Israeli verboten ist und auch von palästinensischer Seite nicht
unriskant ist - man weiß nie, was passieren könnte. Ohne palästinensische Begleitung auf den Straßen
zu laufen sei auf jeden Fall nicht drin, meint er. Er ist seit acht Jahren aktiv in der Friedensarbeit, vor
der Intifada hat er israelische Gruppen nach Gaza gebracht - auch damals eine kritische Angelegenheit.
Ein(e) Transsexuelle(r) aus Österreich, so alt wie meine Eltern, und seit Jahrzehnten reisend unterwegs.
Irmgard aus Österreich, die einfach nur wunderbar nett ist, ende dreißig, und die ich wahrscheinlich in
dreißig Jahren auf einem Rainbow in Nordnorwegen wiedertreffe...
Sehr schön, ruhig und angenehm, etwas verrückt.
Eliyahu hat mich dann für heute zu einer Konferenz eingeladen, die in Tantur stattfindet, einem
ökumenischen Zentrum außerhalb Bethlehems. Dem Tagungsort angemessen war es die Rolle der
Religionen im Konflikt (Konferenztitel: "Wo ist das himmlische Jerusalem?").
Es waren vor allem Amerikaner, Israelis und internationale Leute dort, aber auch etwa fünf
Palästinenser. Die Palästinenser haben es natürlich am schwersten, einer aus Bethlehem mit dem
seltsamen Namen Zoughbi Zoughbi hat sich wer weiß wie an der Mauer vorbeigeschlichen.
In einem Themenabschnitt gab es kurze Beiträge zu den verschiedenen Perspektiven auf das
Konferenzthema, über die jüdischen und muslimischen spirituellen Verbindungen zum heiligen Land.
Einer über die Erfahrungen einer Siedlerfamilie während des Gazaabzugs, "Die Erfahrung des Verlusts".
Die siebenfache Mutter hat zwei Filme gezeigt und recht wenig gesprochen. Beide hatten es in sich, in
vielerlei Hinsicht.
Es wurde der Tag gezeigt, an dem die Siedler ihr Haus räumen mussten. Im Vertrauen in die Eilanträge
an das Oberste Gericht in Israel (und in Gott) haben sie nichts gepackt, die Kamera zeigt, wie die
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Familie ins Haus kommt und anfängt, ein paar Bilder von den Kommoden zu nehmen. Alle stehen
herum (für die Kamera?), irgendwann fängt der Vater an zu weinen und zu beten, verdammt Israel,
dass die Juden soetwas machen, "...Gott, Dein Land aufzugeben". Dann zerreißt er sein Hemd, und
weist seine Familie an, das Gleiche zu tun, alle folgen unter verzweifeltem Weinen.
In der jüdischen Tradition werden die Kleider zerrissen, wenn jemand gestorben ist, oder wenn
irgendetwas sehr schlimmes passiert.
Zehn Minuten, eine Viertelstunde geht der Film. Ich finde es absolut ekelerregend, das eigene Leid so
zur Schau zu stellen und zu instrumentalisieren. Ich kann es verstehen, dass es schwer ist, sein
Zuhause aufgeben zu müssen, das man aus dem Nichts erschaffen hat, von staubigen Hügeln
(zumindest will es die Siedlermythologie so, ich weiß nicht wie verlassen das Land vor dem
Siedlungsbau wirklich war). Aber das Ding ist eben, dass diese Siedlungen illegal waren. 38 Jahre lang
waren sie dort und haben die Palästinenser unterdrückt, was die Siedler in ihrem Weinen völlig
vergessen zu haben scheinen. Ich habe also kein Mitleid mit den Siedlern, höchstens Mitleid für ihre
Blindheit für die andere, die palästinensische Lebensrealität.
In einem zweiten Video hält der Familienvater dann mit seinem Megafon eine endlose Rede vor den
Soldaten, von wegen dass sie friedlich gehen, dass Gott das alles nicht will, dass sie alles verlieren was
sie aufgebaut haben, dass seine Kinder die richtigen Israelis sind, wie Gott sie will, kein Alkohol, keine
Disco, etc.
Immerhin haben sich diese Siedler nicht am gewalttätigen Widerstand beteiligt.
Nach diesem Vortrag dann die palästinensische Perspektive, eine Schulleiterin aus Abu Dis, ein Stadtteil
von Ostjerusalem, spricht.
Abu Dis ist wenige Kilometer von der Altstadt entfernt, man kann die Kubbet as-Sahra, die goldene
Kuppel des Felsendoms, von dort aus sehen. Seit 2004 steht dort eine Mauer, die natürlich tief in
palästinensisches Gebiet schneidet. Das Haus von Terry, der Palästinenserin, steht direkt an dieser
Mauer. Sie zeigt Fotos davon, vom Bau, vom täglichen Schulweg vieler Kinder, die über meterhoch
aufgetürmte Betonblöcke klettern müssen. Von alten Menschen, deren Altenheim kein Essen mehr
hatte, weil die Transporte nicht durchgelassen wurden.
Sie zeigt ein paar Landkarten. Die von Palästina von vor 1948, das ist das Gebiet, das heute Israel und
Palästina zusammen bedecken. Dann die Linien nach dem 48-Krieg, das sind Gazastreifen und
Westbank. Und dann die Pläne: In Zukunft soll die Westbank in viele kleine Kantone zerschnitten
werden, fünf große und unzählige kleine, alle von einer Mauer umgeben (ein extrem linker israelischer
Journalist bezeichnet deshalb die politischen Pläne nicht mehr als Zweistaatenlösung, sondern als "fife
state solution").
In der Fragerunde danach hat sie einen ziemlich schweren Stand. Ein etwas verwitterter Mann mit Kipa
murmelt, das es vor 1948 so etwas wie das palästinensische Volk nicht gegeben hätte; die Mauer wird,
wie immer, als Sicherheitsvorkehrung verteidigt, Terror, Hamas, in diesem Stil. Sie kennt aber dieses
Programm offensichtlich schon und ist vorbereitet. Die Mauer sei von den UN als kolonialistisches
Mittel verurteilt, als "landgrab". Sie verspreche den Israelis im Namen der Palästinenser, dass bei einem
israelischen Rückzug in die 1948-Linien der Terror aufhöre. Sie bietet auch an, dass die Palästinenser
den Israelis liebend gern ihre Mauer bauen würden - aber eben auf der richtigen Linie...
Für sie muss der Siedlerfilm wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein (wenn es das schon für mich war).
Die Siedlerin hatte berichtet, die Sicherheitssituation sei in den letzten Monaten der Siedlungen im
Gazastreifen schrecklich gewesen, Raketen, Bomben, "the Arabs", usw.
Die schreiende Einseitigkeit, nur Augen für die eigenen Leiden.
Dann hat die Palästinenserin jedoch einen Fehler gemacht, indem sie das Wort "Holocaust" in den Mund
nahm. Meiner Meinung nach sagte sie, "wie kann ich meine Kinder zu menschlichem Verhalten,
Toleranz und Mitgefühl gegenüber Israelis erziehen, wenn sie ständig von Israelis bedroht und
eingemauert werden? Wie kann ich ihnen vom Holocaust erzählen?" Ich bin aber nicht mehr sicher, wie
sie es formuliert hat, ob sie nicht doch einen Vergleich von Holocaust und der palästinensischen
Situation gemacht hat, von wegen "hätten daraus lernen sollen".
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Jedenfalls ist plötzlich eine Frau aus der Reihe vor mir explodiert, sie ist aufgestanden und schon laut
rufend zum Publikumsmikrofon gelaufen, wie könne sie es wagen, sie würde das nicht zulassen. Beide
haben gegeneinander angeredet, und die Israeli hat irgendwann nur noch geschrien und keinen Ton
mehr gehört. Offensichtlich hatte sich während des Vortrags schon massenhaft Wut bei ihr aufgestaut.
Die Palästinenserin hat sich nach der Diskussionsrunde, um 12, stilvoll mit den Worten verabschiedet,
sie müsste jetzt leider gehen, weil sie um vier in Ramallah sein müsse und dafür noch vier Checkpoints
passieren müsste (Ramallah ist auf direktem Weg vielleicht 15 Minuten von Jerusalem entfernt. Der Weg
außenrum schließt miese Straßen ein und ist ein sehr großer Umweg). (Sie hatte auch erwähnt, dass es
in Palästina ca. 650 Checkpoint gäbe, davon seien aber nur sehr wenige (irgendwas unter 20) welche
zwischen israelischen und palästinensischen Gebieten. Der Rest sei zwischen rein palästinensischen
Dörfern.)
Später dann hat ein US-israelischer Historiker nebenbei seine Meinung zum Thema Gerechtigkeit
geäußert, dass es ein sehr schwammiger Begriff sei, individuell. (Als Historiker mag man sowas
natürlich gar nicht.)
In ihrer extremsten Form sei Gerechtigkeit für ihn, "dass die palästinensischen Flüchtlinge in ihre
Häuser und auf ihr Land zurückkehren können".
Damit hat er ein beachtliches Statement abgegeben: Letztendlich sieht er damit die Errichtung des
Staates Israel als illegal an und erkennt dessen Ablauf als ungerecht an (Vertreibung von Palis aus ihren
Dörfern, teilweise Massaker...).
Die Frau, die vorher beim Holocaust so explodiert war, hat sich auch gleich wieder aufgerichtet. Sie hat
nicht wieder angefangen zu schreien, aber sie hat gleich in diese Diskussion einsteigen wollen. Er hat
jedoch gleich abgewehrt, war ja auch nicht zum Thema, und er wollte sich wohl eine peinliche Szene
ersparen.
In einer der Pausen habe ich dann eine der Westen vom EAPPI gesehen ("Ecumenical Accompaniment
Programme in Palestine and Israel", die machen "internationale Aufsicht", d.h. stehen an Checkpoints
und sehen nach dem (den) Rechten, sprechen mit Leuten, deren Land konfisziert wird usw.) und habe
mich daran erinnert, dass eine schweizer Bekannte dort ja jetzt frisch angefangen hat zu arbeiten, sie
hatte in Deutschland den gleichen Arabischkurs besucht. Sie war’s dann natürlich auch - die Welt ist
klein (für ihre Berichte: www.nailas.blogspot.com).
14. März 2006
Hier zwei DPA-Meldungen, die die neuen politischen Entwicklungen zeigen. Eine Katastrophe, jede
Perspektive raubend.
Israel beginnt mit umstrittenem Bauprojekt im Westjordanland
Jerusalem - Israel hat im besetzten Westjordanland mit Bauarbeiten für ein international umstrittenes
Siedlungsprojekt begonnen. Um Jerusalem mit der jüdischen Siedlung Ma’ale Adummim [im Osten
Jerusalems] zu verbinden, wird nach Medienberichten zuerst eine Polizeistation errichtet. 3500
Wohnungen sollen dort einmal entstehen. Das Projekt war kritisiert worden, weil es eine
Landverbindung zwischen dem Süden und Norden des Westjordanlandes unterbricht. Dieses Stück wird
von den Palästinensern für einen künftigen Staat beansprucht.
© dpa - Meldung vom 14.03.2006 09:03 Uhr
Tel Aviv - Der amtierende israelische Ministerpräsident Ehud Olmert will die international umstrittene
Sperranlage im besetzten Westjordanland zur Grundlage für eine Staatsgrenze machen. Die Position
der Anlage werde aber an den Verlauf einer endgültigen Grenze angepasst, sagte Olmert in am Freitag
veröffentlichten Interviews.
73
Er hatte angekündigt, Israel im Falle eines Wahlsieges seiner Kadima-Partei bis 2010 feste
Staatsgrenzen geben zu wollen. Danach solle kein jüdischer Siedler mehr östlich der Sperranlage leben.
"Wir werden uns hinter dem Zaun sammeln. Jerusalem wird vereint bleiben. Die zentralen
Siedlungsblöcke werden erhalten und ausgebaut", sagte Olmert der israelischen Tageszeitung "Maariv"
(Freitagsausgabe). "Am Endes dieses Prozesses werden wir eine komplette Abtrennung von der
Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung erreicht haben."
Die Palästinenserführung fordert einen Abbau der Sperranlage, die streckenweise tief in das für einen
palästinensischen Staat beanspruchte Land einschneidet. Die israelische Regierung hat den Bau bisher
immer mit der Abwehr von palästinensischen Attentätern begründet.
Unterdessen riegelte die israelische Armee am Freitag das Westjordanland und den Gazastreifen für die
Zeit des jüdischen Purim- Festes ab, wie das Armeeradio berichtete. Palästinensischen Händlern und
Arbeitern sei der Zugang nach Israel verboten. Damit sollten Anschläge während der Feiertage
verhindert werden.
© dpa - Meldung vom 10.03.2006 14:14 Uhr
15. März 2006
Obige Bekannte aus der Schweiz, die beim EAPPI arbeitet, hat diese Nachricht an ihre NewsletterEmpfänger geschickt. Sie hat das sehr schön und sehr wahr getroffen...
"Wenn Ihr dieser Tage böse Bilder aus meiner Umgebung seht: Denkt bitte daran, dass jeweils gleich
links und rechts vom Bildausschnitt der Alltag seinen gemächlichen Lauf nimmt. Leute fahren zur
Arbeit, plaudern miteinander, grüßen selbst Fremde."
Ein palästinensischer Freund sagte über seine illegale Arbeit in Jerusalem vor der Al-Aqsa-Intifada: "I
had a Green Card from Arafat". Sehr schönes Bild, parodiert seinen Handlungsrahmen.
Er hatte auch eine israelische Freundin - das hat natürlich auch sein Ende gefunden...
Jetzt will er nur noch von hier weg, ab nach Deutschland, USA.
15. März 2006
Heute war mal wieder alles in heller Aufregung.
Gestern habe ich im Fernsehen noch die Szenen gesehen, palästinensische Sicherheitskräfte und
Gefangene aus dem Gefängnis bei Jericho standen in der Unterwäsche mit erhobenen Händen von
israelischen Soldaten bewacht vor dem Gefängnisgebäude, das gerade von einem Bulldozer traktiert
wurde (israelische Armeebulldozer haben sehr viel größere Dimensionen und sind sehr viel
einschüchternder als normale, das sind keine kleinen gelben Baggerchen, sondern riesige graue
Stahlungetüme). Dann bin ich nach Hause und habe den Rest des Tages nichts mehr gehört. Heute
morgen dann bin ich in die Innenstadt Bethlehems gelaufen, um einzukaufen. Fehlanzeige - alle
Geschäfte waren geschlossen, nur Bäckereien und einige Lebensmittelgeschäfte waren offen. Passanten
erklärten mir, es sei Idrab, Streik, um gegen die israelische Aktion zu protestieren und die Solidarität
mit Jericho auszudrücken. Als ich später an der Uni vorbeilief war dort großes Getöse, große
Lautsprecher, viele Studenten. Flaggen von Hamas, Fatah und (der linken, ehemals marxistischen) PFLP
waren überall nebeneinander drapiert, ein gutes Zeichen gegen die riesigen Rivalitäten. Reihenweise
Reden von Studenten aus viel zu laut eingestellten Lautsprechern.
In pseudo-Journalistenmanier habe ich mich auf die Suche nach bekannten Gesichtern gemacht, um
einige umwerfend neue Einblicke und Ansichten zu bekommen. Stattdessen bin ich in die Hände einer
schlimmen Machotruppe gefallen, die mir jedes Mädchen in der Cafeteria einzeln zum Sex angeboten
haben, sowie ihre Schwestern, und von ihren eigenen Sexabenteuern angaben, die ganz offensichtlich
Produkte ihrer Fantasie waren. Dann kam das I-Love-Hitler- Kapitel, das ich wie immer mit
Schimpfwörtern und He-Killed-52-Million-People zu bekämpfen versucht habe. Ich habe auch spontan
einen Anhänger gefunden (der sich diese Meinung sicher zwei Sekunden zuvor angeeignet hatte um
74
vor seinen Freunden als aufgeklärt dazustehen). Grauenhaft. Ich habe mich dann so schnell wie
möglich verzogen, nicht zugelassen, dass sie mir irgendwas zu essen oder trinken kaufen, habe ihnen
noch reingedrückt, dass ich nach Hause muss um zu kochen (was in Palästina als Mann natürlich völlig
undenkbar ist, man verliert mit sowas ernsthaft seinen Freundeskreis, wie AEI-Direx Fuad das schon
mal erlebt hat).
Grauenhaft.
Hoffentlich habe ich mir mit diesen Leuten meinen Ruf an der Uni nicht völlig versaut.
Zurück zum Politischen.
Die Aktion der Israelis ist schlicht gesagt eine Sauerei.
Es gab wohl vor einiger Zeit eine Übereinkunft zwischen Israel und PNA (Palestinian National Authority)
unter US-Vermittlung. Es besagte, dass Ahmad Saadat und einige Gefolgsleute ohne Anklage in einem
palästinensischen Gefängnis unter US- und englischer Aufsicht sitzen, und nicht mehr politisch aktiv
sind. Saadat wird beschuldigt, zahlreiche Attentate und Terrorgeschichten auf Israel koordiniert zu
haben, unter anderem die Ermordung des israelischen Tourismusministers Zeevi (der offen für die
Vertreibung der Palästinenser aus Israel/Palästina geworben hat).
Jetzt wurde der PNA vorgeworfen, ihren Teil der Vereinbarung nicht gehalten zu haben: Die
Außenkontakte der Gefangenen wurden angeblich nicht genug überwacht, und die Sicherheit der
englischen und amerikanischen Wächter sei nicht gegeben gewesen (vorgeschobenes Argument).
Allerdings sind die Leute wohl wirklich weiter politisch Aktiv gewesen.
Jetzt, zwei Wochen vor der israelischen Wahl, hat Olmert sich also wohl noch ein paar konservative
Wählerstimmen sichern wollen. Also hat er Aktionen im unilateralen Israel-Style gestartet: Rein und
drauf. Das Militär hat den Amis und Engländern bescheid gesagt, die haben das Gelände verlassen, und
eine Viertelstunde später waren die Israelis da. Sie haben das Gebäude übernommen, die Wächter und
die Gefangenen nach draußen getrieben, sie gezwungen sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen und
sie dort den ganzen Tag (von morgens 9 bis abends 6) stehengelassen.
Einige Aspekte davon haben wirklich schlechte Auswirkungen.
Erstens wird damit eine Institution der PNA über den Haufen gerannt. Nach Politik sieht das nicht aus Deutschland besetzt auch nicht mal eben Frankreichs Gefängnisse, behandelt die Wärter wie Gefangene
und kidnappt die Gefangenen. Wer soll in eine Institution Vertrauen haben, deren Organe einfach mit
dem Fingerschnipsen eines ausländischen Premierministers der Lächerlichkeit preisgegeben wird?
Warum muss Israel seine Überlegenheit mit der Geschicklichkeit eines Elefanten im Porzellanladen
demonstrieren?
Zweitens treibt das einen Keil zwischen Palästinenser und Engländer (die amerikanische Politik ist ja
sowieso nicht gerade heiß geliebt). Beide Länder haben bei dieser Militäraktion mitgemacht - das
Verlassen der internationalen Truppen war offensichtlich mit den Israelis koordiniert; damit sind sie in
palästinensischen Augen Mittäter. Mit einigem Recht.
Drittens, was ist das für ein Spiel, wenn, nachdem ein Abkommen von der anderen Seite nicht erfüllt
wird, einfach mit grober Gewalt eingegriffen wird? Man würde doch erwarten, dass man erstmal
versucht, an den Verhandlungstisch zu kommen. Selbst wenn es aussichtslos ist, das gehört dazu.
Danach ist immer noch genug Zeit, sich als mächtig toll und stark zu präsentieren. Das gilt auch, wenn
die Hamas angekündigt hat, Saadat freizulassen.
Viertens, die palästinensischen Gefühle sind mal wieder auf höchstem Level angelangt. Am Rachels
Tomb sind heute laut Buschtrommel Schüsse gefallen, mehr weiß ich nicht, alle waren mal wieder
sauer, ein Nagel mehr für den Sarg der geistigen Gesundheit der Menschen in diesem Land. Mal wieder
wird einem vorgeführt, was die PNA eigentlich machen kann - nichts. Alles hier kommt einem vor wie
ein Witz, die Politik, der "Friedensprozess", Abmachungen. Keine Perspektive, alles wird immer nur
schlechter, seit Jahren, seit Oslo.
16. März 2006
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Manar, eine junge Studentin aus dem AEI, wohnt nahe dem Rachels Tomb Checkpoint, also an einem
Hot Spot. Sie erzählt mir, dass gestern, nachdem sich großer Unmut gegen die Jericho-Aktion
aufgebaut hatte, dort von Palästinensern Steine geworfen und von Israelis zurückgeschossen wurde.
Wohl ohne Verletzte.
Sie erzählt weiter, von Explosionen und Schüssen im Al-Áida Camp (das ebenfalls neben dem
Checkpoint liegt), seit vier Tagen geht das. Bombardement?
"Ich habe mich daran gewöhnt", meint sie, sie hat ja schließlich die Intifada mitgemacht, und in diesem
Bezirk fuhren immer die Militärfahrzeuge durch, wenn sie nach Bethlehem reingingen.
17. März 2006
Letztendlich ist die Aktion in Jericho eine absolute Katastrophe. Sie wird teilweise als Maßnahme
gesehen, die PNA zu destabilisieren. Das liegt mindestens in Reichweite der Wahrheit. Will Israel
Palästina im Chaos versinken sehen, um irgendwelchen strategischen Vorteile zu haben? Man hat das
Gefühl, dass sich diese Handlungsweise öfters abzeichnet.
Außerdem ist das ganze natürlich eine Wahlaktion, um nicht als araberliebend hingestellt zu werden.
Angeblich hat es Kadima in Umfragen drei Sitze mehr gebracht. Was für ein Land, in dem sowas Wähler
anzieht. Bizarr...
20. März 2006
Gestern bin ich spätabends noch bei Freunden gewesen. Auf einmal war eine Salve Schüsse zu hören,
dann Stille, nichts mehr. Sie kamen von einer der Hauptstrassen Bethlehems, nicht weit von der
Wohnung. Da waren wohl israelische Soldaten nach Bethlehem reingekommen um ein paar Leute
gefangenzunehmen, und irgendwas ist schiefgegangen.
Auf dem Rainbow habe ich mich lange mit einem Israeli unterhalten, der während seiner Armeezeit
auch hier gedient hat. Einmal sind sie ins Deheisha Camp (ein Flüchtlingslager bei Bethlehem) rein, mit
vier, fünf Jeeps, um Leute festzunehmen. Auf einmal ist die Situation außer Kontrolle geraten und von
allen Dächern kamen Steine geflogen, dicke Brocken. Sie sind scheints nur knapp wieder
rausgekommen.
Beide Realitäten sind so unwirklich für mich. Die Geschichte hören dort, die Schüsse hören hier. Sonst
ist der Krieg hier immer eher statisch, zeigt sich in Checkpoints, der Mauer und nicht gewährten
Permits. Aber plötzlich kommt man in Situationen wie aus blutigen Kriegsfilmen rein, wie "Black Hawk
Down" oder so. Da kann man den Schweiß der Soldaten plötzlich riechen, ihr Adrenalin spüren, wenn
sie in ein Lager fahren müssen in der ihnen der Tod auflauern kann. Wie in "Black Hawk Down", in
meinem Kopf.
Vorgestern war ich auf dem Markt in Bethlehem einkaufen. Wegen meiner Diät bin ich immer stark am
Suchen; ob es nun Leinsamen oder bezahlbare Nüsse oder Haferflocken sind (dabei bin ich auf
Grünkern gestoßen, hier in Palästina! Man glaubt es kaum...). Also habe ich jeden verdächtig
aussehenden Shop abgeklappert.
Ich gehe in einen rein, der mit geöffneten Säcken voller Getreidesorten und Wänden bedeckt mit
Gewürzregalen vielversprechend aussieht. Drei Männer sind drin, ca. mitte dreißig, einer davon
sichtlich tief gläubiger Muslim, mit schwarzem Vollbart und weißer bestickter Kappe. Also
konservatives Milieu zu erwarten.
Drinnen werde ich erstmal auf eine Zwiebel, ein Riesenradieschen und Frischkäse eingeladen, die ich
zusammen mit dem frischgekauften und noch warmen Vollkornfladenbrot genieße. Wir quatschen so
ein bisschen im Englisch-Arabisch-Mix rum und kommen dann recht schnell auf das Thema, erraten,
Hitler. Er hat hier festgläubige Anhänger, denen der Konflikt ein wenig zu Kopf gestiegen ist und die
deshalb so antisemitisch sind, wie es ihnen ihre arabische (=semitische) Abstammung erlaubt.
Antijüdisch, jedenfalls.
76
Außerdem wollen sie mir klarmachen dass Deutschland kein freies Land ist, sondern wie Palästina
unter einer Besatzung leidet, der amerikanischen. Dass wir keine Armee haben (für deren Ersatz ich
hierherkommen bin). Die Meinung über die magische 6-Millionen-Ziffer steht ja sowieso außer Frage.
Die Diskussion dauerte etwa eineinhalb Stunden und war völlig fruchtlos, weil beide Seiten die Wahrheit
mit Löffeln gefressen haben. Was ich aber sehr schön und leicht satirische fand, war die Atmosphäre,
die immer freundlich war und von Mensch zu Mensch, nicht von Gegner zu Gegner verlief. Ich habe mir
auch schon so gut wie möglich die Techniken abgeschaut: So viele Verbindlichkeiten wie möglich
einbauen, Habibi (mein Schatz, was auf Arabisch aber nicht so komisch klingt von Mann zu Mann)
sagen, den anderen Berühren, ihm die Hand auf die Schulter legen oder seine Hand nehmen.
Und natürlich das unverzichtbare Wort Ismá, hör zu, das immer und überall gebraucht wird wenn
jemand seine einzigartige Sicht auf irgendetwas darlegen will. Sehr wichtig im Machovokabular.
Jedenfalls haben wir uns hinterher herzlich verabschiedet, jeder mit seiner Meinung vom Anfang, aber
ohne Groll. Ich hab ihm noch ein paar Dinge abgekauft und er war zufrieden...
Die satirische Seite der Medaille ist, dass mich während der Diskussion Esther angerufen hat, die mit
den anderen Volos seit der Jericho-Aktion in Talitha Ausgangssperre von Herrn Dürr verpasst
bekommen hat. Der und das deutsche Vertretungsbüro in Ramallah (wie eine Botschaft) haben sich auf
die sichere Seite geworfen und verbieten bzw. raten davon ab, auf die Strassen zu gehen. Man solle
doch bitte nur im nötigsten Fall seine Wohnung verlassen. Weil auch Amis und Briten darin verwickelt
waren, hat man Angst vor anti-Europäischen Ausschreitungen.
Und ich diskutiere währenddessen friedlich mit einem Typen, der bei der palästinensischen "Armee"
zwei Sternchen auf dem Ärmel trägt und dessen halbe Verwandtschaft wahrscheinlich ebenfalls in der
Armee ist und in Unterhosen vor dem Gefängnis in Jericho stand, und allen Grund hat so richtig sauer
zu sein.
Kulturell noch interessant: Sie haben immer wieder gesagt, „frag deinen Vater, frag deinen Großvater!“
Patriarchalische Gesellschaft – die Meinungsbildung findet viel stärker durch die Älteren statt, ist nicht
so ungebunden wie die westliche.
20. März 2006
Um die Politik von der 100-%-Marke abzudrängen, hier noch eine kulturelle Geschichte.
Wie jeden Montag bin ich heute um sechs nach Talitha gegangen, um mit den Volos Volleyball zu
spielen. Danach sind wir noch zusammen rumgehangen und haben die deutschen Nachrichten
geschaut. Plötzlich kam Jiwaro rein, einer der Guards, und hat uns eine riesige Tüte mit Knafe
überreicht (Knafe ist Käse, der mit Grieß und Zuckersirup gegart wird - lecker!). Seine Frau hat nämlich
ein Kind bekommen, einen Sohn. Mabruk! Herzlichen Glückwunsch!
Später sind wir dann zusammengesessen, auch mit den anderen Guards, bis auf Jamal Muslime, und
haben Bier getrunken (haram, religiös verboten, aber es gibt auch ein paar Leute, die sich um sowas
nicht scheren) und wir kamen auf das Thema, ob die Männer ihren Kindern die Windeln wechseln
würden. Große Ablehnung seitens Jiwaro und Raed, Jamal sagte aber ja.
Ein dritter Wächter, Ahmad, wurde per Funkgerät von seiner Runde gerufen. Er ist noch nicht
verheiratet, meinte aber, ja, wenn seine Frau "busy" wäre würde er Windeln wechseln, klar.
Die zwei, die abgelehnt hatten fühlten sich dann langsam etwas unwohl, denn sie waren von sieben
Europäern und zwei in Spuren feministisch denkenden Arabern umringt und standen als konservativ
und antifeministisch da.
Sie versuchten, das ganze abzumildern indem sie auf eine Definition von "busy" drängten und sonst
noch versuchten, die (vielleicht auch etwas übertriebene) Aufgeklärtheit der anderen zu relativieren.
Wie das denn mit dem Kochen sei (die Männer hier machen sich dann ein Ei oder gehen jeden Tag
essen, wenn die Frau nicht da ist).
Schlussendlich war dann die Stimmung nicht so lustig wie normalerweise, sondern etwas kühler...
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Dass Männer keine "Frauenaufgaben" übernehmen wollen liegt nicht nur an der männlichen Faulheit, es
ist hier auch sozial fest verankert. Fuad, der Leiter des AEI, hat auf seine kleinen Kinder aufgepasst als
seine Frau noch zur Uni ging und wenig Zeit für sie hatte. Er sagt, er hätte damals seinen gesamten
Freundeskreis verloren. Er und Elias, der Financial Director, helfen auch jetzt noch im Haushalt,
wischen Staub oder so. Aber das ist geheim, das darf keiner wissen.
Aber es zeigt, dass Teile der Gesellschaft langsam aufgeklärt werden. Jamal meinte auch, Frauen
würden härter arbeiten als Männer, 24 statt nur 8 Stunden. Und Ahmad meinte, er wäre sehr müde
gewesen nachdem er seine Wohnung geputzt hätte (bei sowas sind die Männer hier echte Memmen).
22. - 24. März 2006
In Jerusalem hat eine deutsch-israelische Organisation Namens DIALOG ein dreitägiges Seminar
veranstaltet, bei dem deutsche Volontäre (v.a. in Israel, aber auch die Talitha-Crew und ich) und
Israelis zusammen den Konflikt erörtern sollen und - easypiesy - eine Lösung finden sollen.
Der Tagungsort war in Sichtweite des Jaffatores der Altstadt, eine ziemlich edle Herberge. Alles wurde
vom Ministerium für Erziehung, Frauen, Jugend und - ähh, was? Senioren? - bezahlt.
Wir kamen also morgens an und sahen die ersten Volos schon stehen, und schon ging das ganze
Getratsche los. Die meisten von ihnen sind zwar an einen oder zwei deutsche Mitvolos gewöhnt, aber
so viele Deutsche auf einem Haufen zu sehen ist für viele ungewohnt. Auch für mich ist es spannend,
mal wieder andere junge Deutsche zu sehen, da hat man mal wieder die deutsche Mode, das ganze
Spektrum der Jugendlichen.
Der erste Redner ist ein Mittvierziger vom World Jewish Congress. Er ist ziemlich langatmig und hört
sich selbst gern reden, bis auf die Strukturlosigkeit und leichte Inhaltslosigkeit ganz OK.
Sehr viel interessanter ist der zweite, der ein Sprecher des israelischen Außenministeriums ist. Seine
Arbeitsstelle ist Programm - ein rund- und glattgeschliffener Vortrag, die Meinung perfekt auf junge
Deutsche abgestimmt. Seine Ansichten (bzw. die des Ministeriums) sind zwar mir halbem Pali oft sehr
fremd ("immer haben die Araber die Friedensangebote und Teilungspläne abgelehnt!"), sind aber so
gut präsentiert, er geht uns so dermaßen gut um den Bart, dass ich wieder Spass an dem Ganzen habe.
Er ist auch nicht so wahnsinnig radikal, erkennt palästinensische Basisrechte an usw. Aber er vertritt
eben die offizielle israelische Palästinapolitik, und da bestehen einige Differenzen mit meiner Meinung.
Die äußere ich dann, indem ich frage, wie sich die Juden fühlen würden, wenn die Kanaaniter, die hier
vielleicht vor 6000 Jahren gelebt haben, aus ihrem Exil im indischen Ozean zurückkehren und die UN
ihnen die Hälfte Israels geben will; wie die Israelis sich fühlen würden.
Wieder beweist er, was für ein guter Redner er ist. Er beantwortet nämlich nicht meine Frage (à la
"Natürlich wäre ich sehr traurig, aber..."), sondern zerpflückt meine Fragestellung und meine
Überzeugung, die dahintersteht. Nämlich hätte ich das gefragt, weil ich letztendlich den Juden nicht
das Recht auf eine nationale Heimstatt zugestehen würde.
Das sagt er dann alles in einem etwas lauteren und frontaleren Ton, um mir das Maul zu stopfen, und
benutzt dazu diese Argumentationsweise. Es wirkt auch, ich weiß nachdem er fertig ist auch ganz
genau, dass ich seine Argumentation nicht gut finde, aber mein Kopf ist Wüste und mangels sortierter
Argumente antworte ich dann auch nicht. Außerdem ist es mir zu hart, den anwesenden Israelis ins
Gesicht zu knallen, dass ich die Staatsgründung Israels für schlichtweg illegal halte (vielleicht nicht
nach juristischen Standards, keine Ahnung davon. Aber ungerecht war sie. Ich habe mich ein kleines
winziges Bisschen mit dem Zionismus beschäftigt, und was ich bisher gelesen habe zeigt eine völlig
herzlose Bewegung, die es größtenteils ohne zu Zwinkern billigt, für ihr eigenes Interesse ein Volk zu
vertreiben).
Am nächsten Morgen kam ein großer Brocken. Er war zu groß für mich, ich konnte irgendwann nicht
mehr zuhören.
Ein Vertreter von One Family, einer Organisation, die sich um Terroropfer und deren Hinterbliebene
kümmert, hat einen Vortrag über The Results of Terror gehalten. Dabei hat er so dermaßen rechte und
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rassistische Parolen von sich gegeben, dass ich nach "seht ihr? Auf unserer Seite der grünen Linie ist
alles grün und aufgeforstet, auf der anderen ist alles trocken und wüst. WIR kümmern uns um unser
Land!" aufgestanden und rausgegangen bin. Ich habe mich in die Sonne gesetzt, meine Haut auf- und
meinen Zorn abgekühlt.
Jetzt wünschte ich, dass ich geblieben wäre. Es wäre eine wirkliche Bereicherung für mich gewesen,
diese Sicht mir einfach mal anzuhören, die einzige wirkliche Erweiterung in diesem Seminar. Leider
habe ich sie vorbeiziehen lassen. Nächstes Mal weiß ich es besser...
Am Nachmittag bekommen wir eine fünfstündige Tour durch Jerusalem, geführt von Rachel, die sehr
gut Deutsch spricht und vielleicht Anfang vierzig ist. Sie hat eine ziemlich ausgeglichene Sicht auf den
Konflikt, und hat eine äußerst respektable Grundlage dafür: Sie hat in etwa jedes einzelne Dokument
gelesen, das jemals über diesen Konflikt verfasst wurde, jedes Memorandum, Agreement, alle Zusätze,
sehr viel Detailwissen.
Sie bringt uns vor allem die winzigen Dimensionen dieser Stadt vor Augen. Man überquert eine Straße
und hat historische Kampfeslinien überschritten, und braucht fünfzehn Minuten, um von der Ben
Yehuda, dem Herzen (des israelischen) Westjerusalems auf den Ölberg zu fahren, tiefpalästinensisches
Gebiet.
Ihr zweiter Hauptpunkt ist, dass alles in Jerusalem, in die heiligen Bezirke in Jerusalem konzentriert
liegt, dass der Konflikt auch ohne den ganzen Rest, Land, Mauer, Flüchtlinge, usw. schier unlösbar sei,
der Tempelberg und der Klagemauer reichten schon für den Konflikt.
Dass Ewigkeit ein eminentes Grundproblem darstellt: "Die ewig unteilbare Hauptstadt", die auf die
Ewigkeit bezogenen Machtansprüche von Judentum und Islam (das Christentum scheint keinen so
starken Wert auf politische Machtausübung im "Heiligen Land" zu legen und ist wohl deshalb nicht in
den religiösen Konflikt verwickelt).
Ihre These von der Ewigkeit raubt natürlich alle Hoffnung, denn sie sagt einen ewigen Kampf um die
Heiligtümer voraus.
Diese können so schwer voneinander getrennt werden, weil sie nicht nur wie die zwei Straßenseiten
voneinander entfernt sind, sondern an ein und demselben Fleck sind.
Der Fels, der heute vom Felsendom mit der goldenen Kuppel überbaut ist, ist den Juden heilig, weil
dort angeblich Abraham fast Isaak geopfert hätte, als Gottesprüfung.
Nach islamischer Lehre ist von dort aus der Prophet Mohammad in den Himmel gefahren, nachdem er
in einer nächtlichen Reise auf seinem sagenhaften Pferd von Madina (oder Mekka?) nach Al-Aqsa ("der
am weitesten entfernte Ort") in Jerusalem geflogen ist.
Der untere Teil der heutigen Mauern des Tempelbergs sind die Außenmauer des zweiten jüdischen
Tempels, der erste stand, etwas kleiner, auch dort. Heute steht auf diesen Grundmauern der
Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee. (Die Juden beten an der Stelle dieser Außenmauer, die dem alten
Tempelplatz am nächsten ist – der Klagemauer).
In Camp David hat Clinton vorgeschlagen, die Besitzansprüche folgendermaßen zu verteilen: Der
Tempelberg wird in zwei Hälften geteilt, die obere und die untere - sozusagen die Grundmauern, der
Teil, der vom wirklich jüdisch gebauten Teil des Tempelbergs (was von dessen Zerstörung im Jahr 70
noch stehengeblieben war) übrig ist, gehören den Juden. Was die Muslime obendraufgebaut haben (die
obere Hälfte der Mauer, sowie alles was draufsteht) sei ihres.
Das ist natürlich nicht zustandegekommen, wohl weil es ein so heikles Thema ist. Die Muslime bauen
außerdem wohl in Abrahams Ställen (einige Keller im Tempelberg) eine neue, große Moschee, die wohl
bis in den „jüdischen Teil“ hinabreicht und in deren Aushub, den die Palis einfach über die Mauer
kippen, jüdische Archäologen schon die wildesten Sachen sogar noch aus dem ersten Tempel gefunden
haben.
Sie hat also viele Fakten und Situationen aufgezeigt und uns damit den Kopf ordentlich zugestopft.
Dass alles so kompliziert und dicht auf einander oder am selben Ort ist. Sie hat auch keinen
Lösungsansatz für tauglich erklärt. Und dann das mit der Ewigkeit...
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Am Ende der Tour hat mich das zu der äußerst philosophischen These "Alles scheiße, und wird auch
nicht besser" gebracht. Rachel hat geantwortet, nein, man dürfe eben nie die Hoffnung aufgeben,
immer weitermachen. Immer hoffen.
Es ist seltsam, wie man in einem Satz alle Zukunftsaussichten rational ausschließen kann, und im
nächsten einfach ein diffuses Hoffnungsgefühl hochhält, das im Grunde der eigenen Logik
widerspricht. Wir sind doch alle sehr naiv...
Abends hatten wir dann einen sehr schönen Vortrag, der aber gar kein Vortrag war, sondern einfach
eine tolle Unterhaltung. Faten Mukarker, Hausfrau aus Beit Jala, die bis zu ihrem 20. Lebensjahr in
Deutschland gelebt hat und dementsprechend fließend auf Deutsch sprach, hat über ihr Leben
gesprochen, und genau das war der Trick dabei. Sie hat nicht über Politik geredet, nicht die Israelis
angeklagt und die Palis bemitleidet, sondern hat einfach aus der Publikumsfrage heraus, wie denn ihr
Tagesablauf aussehe, über ihr Leben erzählt. Wie sie morgens aufsteht und sich mit einem Kaffee auf
den Balkon setzt, ohne nach links zu schauen. Denn wenn sie nach links schauen würde, würde ihr
dass den Tag versauen. Denn dort steht die Mauer. In ihrem Garten.
In diesem Stil hat sie dann von allen Aspekten der Besatzung gesprochen. Wie sie ihre Kinder für
Musikstunden nach Israel geschickt hat, damit die Kinder lernen, dass es auch Israelis gibt, die nicht in
Uniformen stecken.
Ihre Tochter hat sie zu Balletstunden in Jerusalem geschickt. Als sie sie anmeldete, hat die Lehrerin
ganz gerührt gesagt, sie wäre so froh, auch ein palästinensisches Mädchen unterrichten zu können.
Dass Ballett lebenswichtig sei. Faten fragte sich, naja, schön ja vielleicht, aber wieso lebenswichtig?
Da hat die alte Frau den Ärmel hochgezogen und ihr die eintätowierte Nummer auf ihrem Arm gezeigt.
Sie habe überlebt, weil sie für die deutschen Soldaten getanzt hätte.
Wie, als die erste Intifada ausbrach, die Kinder nicht mehr mit der Geige in der Hand durch Beit Jala
laufen wollten, weil dann jeder wusste, dass sie wieder "zum Feind" gingen. Während ihre Freunde
Steine warfen.
Mit solchen schönen, bildhaften und für die Geschichte der beiden Völker so wichtigen Bildern und
Geschichtchen hat sie also ein Bild von der palästinensischen Lebensrealität entworfen. Und das alles
sehr ruhig, sie hat alle eingesponnen mit ihrer Stimme, die so schön und sanft und fest ist. Es hat
wirklich alle gerührt.
Tags darauf, am letzten Tag, war dann eine zweite palästinensische Stimme eingeladen, die völlig
gegensätzlich war. Es war ein jerusalemer israelischer Araber (die, die im 1948-Krieg nicht geflohen
oder vertrieben worden sind, haben einen israelischen Pass bekommen). Yasser arbeitet beim
Alternative Information Center in Jerusalem. Er war aber wirklich das völlige Gegenteil von Faten, er
wurde richtig wütend, als einer der Volos in Israel seine natürlich stark israelisch geprägte Meinung
über ein Thema loswurde, und da waren dann auch schon alle Weichen auf Konfrontation gestellt und
es gab überhaupt keinen Dialog mehr, nur noch ein großes Gegeneinander.
Am Ende des Seminars dann wurde die große Frage gestellt, was uns das Ganze den jetzt gebracht hat;
welche Lösungsansätze wir gefunden haben. Für mich das Wichtigste war die Erkenntnis, dass uns
eigentlich nur eine Politik der kleinen Schritte à la Willy Brandt aus diesem Konflikt herausführen kann.
Warum alles auf einmal machen? Die kleinsten Details sind schon schwer genug, dass sie einen eigenen
Vertrag verdienen. Soll doch erstmal eine Einigung über die Frage der Wasserverteilung gemacht
werden, das ist eines der großen Gespenster hinter dem ganzen Konflikt, schwer sichtbar, aber einer
der vielen tönernen Füße, auf denen der Nahe Osten ruht.
Was ich ebenfalls sehr interessant fand war, zu sehen, wie stark sich die Volos in Israel und die in
Palästina auf ihre jeweilige Seite haben ziehen lassen. Zwei, drei Stimmen dort waren wirklich ziemlich
rechts, und viele haben auch gar keine Ahnung gehabt - wie die israelische Jugend, sehr sehr
politikverdrossen. Oder sie wohnten in der Wüßte...
Und wir Palästinenser natürlich voll mit Politik, Meinungen usw. Umgibt uns ja immer.
Eine der Israel-Volos arbeitet in einem Kibbuz nahe dem Gazastreifen. Da fliegen ja andauernd
Qassam-Raketen durch die Luft. Einmal war sie auf einem Aussichtspunkt, hat in Richtung Gaza
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geschaut – und plötzlich stieg dort ein kleiner schwarzer Punkt auf, und sie folgte ihm mit den Augen,
wie die Rakete nahe der Stadt Sderot einschlug.
Eine andere Volo erzählte von einem Vorgänger in ihrer Stelle, der durch Tel Aviv lief, und auf der
anderen Straßenseite ist ein Bus explodiert.
Gruselig. Irreal.
Eines Abends während des Seminars waren wir zusammen in Jerusalem unterwegs. In einer Kneipe hat
eine Band mit amerikanischem Englisch und Kipot (=Mehrz. Kipa) gespielt, war sehr unterhaltsam und
angenehm, Rock, psychedelisch, Western... Alles. Zur Pause dann sind sie von der winzigen Bühne
geklettert. Dabei sah man den Griff der Pistole, die im dem Hosenbund des Gitarristen
steckte.
Was meinem Verständnis für den Konflikt noch fehlt, ist zu begreifen, wie emotional das alles läuft. Die
Palästinenser fühlen sich als die Verfolgten, Bestohlenen und stehen mit dem Rücken zur Wand. Das
heilige Land muss eigentlich von Muslimen kontrolliert werden, umso schlimmer wenn die allermeisten
nicht mal zum Ramadan nach Jerusalem können.
Die Juden sagen, sie seien das auserwählt Volk, das Land wäre ihnen von Gott gegeben worden. Es ist
heiliges Land. Hier wollen sie eine sichere Heimstadt aufbauen, wo sie ihre blutige und verlustreiche
Geschichte verarbeiten können. Wo sie keine Minderheit sind und angstfrei leben wollen.
Ich denke, bis ich verstehe, wie diese extrem starken, existenziellen und gegenseitig
existenzbedrohenden Emotionen den Konflikt und die Handlungsweise Aller beeinflussen, werde ich
den Konflikt nicht verstehen können.
27. März 2006
Auch wenn ich sie schon oft verflucht habe, ich werde langsam dankbar für die Diät, denn ich lerne
dadurch kochen, und zwar so richtig gesundheitsbewusst. Und weil ich nur sehr limitierte
Möglichkeiten habe (einen vernünftigen Topf und eine Pfanne, die die Qualität von Alufolie hat) ist das
ganze auch recht basic. Gerade genieße ich ein Ding (was ist eine recht trocken geratene Suppe?), das
aus Tomaten, Zucchini, Zwiebeln, Knoblauch, Hirse, Leinsamen, Sonnenblumenkernen, Buchweizen,
Haferflocken und darübergestreuten gehackten Nánáblättern (arabische Minze) besteht? Die eine Hälfte
der Zutaten habe ich dazuerfunden, weil ich genausoviel nicht im Haus hatte... Das Ganze macht Spass!
Wenn meine Diät auch langsam mal Wirkung zeigen könnte...
28. März 2006
Heute war ein schöner Tag.
Nachdem ich in Bethlehem einkaufen war (und doppelt so lange gebraucht hatte als geplant, weil ich
wieder tausend Schwätzchen halten musste) ging ich ins SOS. Dort begann mein Tag wie immer mit
Tee und Zigarette bei Mama Fadia, einer Mutter, bei der immer alle zum Quatschen zusammenhängen.
Ich habe ihr und den Kindern das Fotoalbum meiner Familie gezeigt, von allen bewundert (meine
Mutter hat mir auch ein wirklich wunderschönes gemacht), besonders die Bilder von unserem Garten.
Dann habe ich mit ein paar Kindern dieses Spiel gespielt, wo man oben in ein Brett mit senkrechten
Schlitzen und schachbrettartig angeordneten runden Löchern Spielsteine reinsteckt. Der Spieler, der es
schafft zuerst eine gerade Viererreihe zu formen, gewinnt („Vier gewinnt“?). Die Kinder kannten bis ich
kam die Regeln nicht so ganz. Jetzt wird es bei den Mittelgroßen (7-10) langsam der Renner, und ich
muss immer dabei sein, um für Ordnung und korrekte Reihenfolge zu sorgen und Machtspielereien zu
unterbinden. Interessant und schön zu sehen wie die Kinder beginnen, strategisch zu denken.
Dann habe ich zum ersten Mal seit vielleicht acht Jahren wieder Lego gespielt. Die Mädels, die da
rumbauten, haben irgendwie kein dreidimensionales Denken drauf und haben die Bauanleitungen nicht
verstanden. Also musste der Mann her...
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Gegen Abend kam SEBASTIAN!!! (so die Freudenschreie aller), der den SOS-Dörfern im Nahen Osten
vorsteht, ein Österreicher. Er lebt in Kairo, scheint aber ab und an zu kommen, weil alle Kinder ihn
kennen und heiß lieben. Für ihn wurde dann die bisher größte mir bekannte SOS-Hafla (Party)
geschmissen, alle Kinder und Erwachsenen versammelten sich im Nadi, dem Club/Raum wo alle
Aktivitäten sind. Es gab eine große Tafel mit Kuchen und Keksen und Sonnenblumenkernen und Saft
und allem, und die Musik wurde in die Kategorie "sehr laut" gedreht (dass die SOS-Kinder ihre Jahre
dort ohne Hörschaden überstehen ist ein Wunder) und alle haben getanzt, tausende sind auf meinen
Schultern geritten, haben mit mir getanzt. Es war einfach schön, die Kinder waren süß und gut drauf,
haben getanzt und viele Schüchterne haben sich dazu animieren lassen. Ich werde mehr und mehr bei
ihnen beliebt, das ist schön zu spüren.
Und ich habe bei Hsein einen Durchbruch erzielt (das H wird stark gehaucht ausgesprochen). Er hatte
sich immer sehr stark verschlossen und hat mich immer abgewehrt, sich über mein Arabisch lustig
gemacht und alles unternommen, um mich ihn hassen zu machen. Heute habe ich ihn in den Arm
nehmen können ohne dass er weggerannt ist, er hat sich dabei denke ich auch wohl gefühlt. Einmal
sogar ein kleines Lächeln... Er hat zwar die Fassade in seinem Gesicht noch nicht fallengelassen, aber
ich denke das ist auch zu viel verlangt bei so vielen Leuten. Dann habe ich noch ein wenig mit ihm
getanzt, ihn an beiden Händen genommen und so losgelegt. Er fühlte sich unwohl und konnte hier
seine Unsicherheit nicht mehr so ganz verbergen. Aber er hat versucht zu tanzen, mit mir, und das
freut mich sehr.
Um neun war dann alles vorbei und die Kinder sind in ihre Häuser geschickt worden, was eine gute
Weile gedauert hat, sie waren noch aufgedreht von den ganzen "Disco, Disco"-Sprechchören, als die
Musik abgedreht wurde.
Mit Mohammad Sáid (Sádo gerufen, weil hier ja jeder Mohammad heißt), der hier aufgewachsen ist und
jetzt organisatorische Jobs macht, habe ich dann noch Hseins Problem erörtert, und generell warum die
Kinder aus der Gesellschaft herausgefallen sind.
Hsein kommt aus einem kleinen Dorf, wo es außer Eseln und Hühnern nichts gibt. Seine Eltern sind
geschieden, auf Englisch hat Mohammad das zu den Traditionen passend so formuliert: "His father
divorced his wife".
Wenn einmal Ehen zerbrechen, geschieht das häufig wegen Drogen (Alkohol) oder psychischen
Problemen. Wenn man sich die vielen, vielen großen Narben anschaut, die die Kinder hier tragen,
schlägt das wohl häufig auch in Gewalt um.
Das ist dann auch eine Situation, in der man um eine Scheidung nicht mehr herumkommt. Also wird sie
(vom Mann) vollzogen und die Frau geht wieder zu ihrer Familie zurück. Die nimmt allerdings die
Kinder nicht an. Also müssen sie beim Vater bleiben, was ja wegen des Scheidungsgrundes nicht
gerade das Paradies bedeutet, und oft geht es dann oft auch einfach nicht wegen Armut oder
Verwahrlosung. Also fallen sie aus den Strukturen heraus und kommen ins SOS.
Ironischerweise sind die Frauen (Mütter oder Tanten genannt) im SOS-Dorf oft auch aus solchen
Situationen heraus hierhergekommen. Sie konnten nicht zu ihren Familien zurück aus welchen Gründen
auch immer, und dann brauchen sie einen Ort, zu leben. Und es gibt ja keine muslimischen Klöster...
1. April 2006
Wunderbar!
Wir Volos, Kristina, Susan (Deutschlehrerin in Talitha) und ihre Schwester haben zusammen einen
Gutschein eingelöst, der die Volos zum Kochen bei Kristina verpflichtete. Was es gab:
Backpflaumen, in Schinken gerollt und gebraten (seeeehr gut!)
Artischocken mit Senf-Himbeeressigsauce
Gebackene Pilze, gefüllt mit Ziegenkäse
Schweinekotelett mit Knoblauch-Pilz-Sauce.
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Von allem war das Schweinekotelett vielleicht das beste, denn das kriegt man hier nicht so oft. Es sind
ja nur die Christen, die das essen dürfen in diesem Land, und die machen es auch nicht so häufig. Also
das erste Mal in sieben Monaten mal wieder Schweinefleisch...
Und mit dieser Clique zusammenzusein ist auch einfach schön.
3. April 2006
Es ist mal wieder ein verrückter Tag.
Ich gehe morgens aus dem Haus und will kurz in ein Internetcafé, um meine Mails zu checken und dem
AEI etwas zuzuschicken. Allerdings ist jeder einzelne Laden geschlossen. Es ist Montag, es kann also
keine religiösen Gründe haben, und Mohammeds Geburtstag ist auch erst nächste Woche.
Ich gehe also direkt ins AEI und erfahre, "there is a martyr". Israelische Soldaten sind heute Morgen um
2 nach Beit Sahour (den Nachbarort Bethlehems) rein und haben einen Mann von den Al-Aqsa-Brigaden
erschossen.
Als ich um die Mittagszeit zurücklaufe, der Muezzin ruft gerade, ist der Manger Square, der Platz vor
der Geburtskirche, an dem auch die größte Moschee Bethlehems steht, rappelvoll mit Menschen, viele
in Schwarz gekleidet. Soldaten und Polizisten in Massen, die wie immer ihre Gewehre in sehr
männlicher Manier durch die Gegend tragen. Massenhaft Fahnen, Kinder klettern damit auf die Dächer
Eine ist mir neu - es ist eine schwarze, mit dem islamischen Glaubensbekenntnis in Gold darauf. – Es
ist die des Jihad Islami. Die Männer beten gemeinsam auf dem Platz. An der Seite steht ein
blumengeschmückter Leichenwagen. Die Stimmung ist angespannt.
Ich habe genug gesehen und gehe durch die leergefegten Straßen nach Hause. Als ich gerade meine
Tür aufschließe höre ich Schüsse, Salven, ganze Magazine. Der Trauerzug hat sich in Bewegung
gesetzt.
Was ich davon halten soll, weiß ich wie immer nicht so recht. Al-Aqsa verübt Attentate auf israelische
Zivilisten, ich bin mit ganzem Herzen gegen sie. Aber einfach diese Leute abzuknallen kann es nicht
sein. Warum wurde der nicht verhaftet, wie so viele andere? Ist es den Israelis schlichtweg zu stressig,
ihn einzusperren, zu verhören, wenn er Glück hat zu verurteilen? - Erschießen ist auf jeden Fall
einfacher.
Rechtsfreier Raum für einen, der im rechtsfreien Raum unterwegs war. Mal wieder haben alle Dreck am
Stecken. Die Palis nutzen den Vorfall, um sich als Opfer zu präsentieren und dem blöden Terroristen
ein halbes Staatsbegräbnis zu verpassen. Ich habe noch keine offiziellen israelischen Statements
gelesen, aber die werden ihm wieder mindestens fünf Attentate anhängen und alles als Zerstörung der
Infrastruktur des Terrors hinstellen.
Alles Trottel. Das einzige Feld, in dem Israelis und Palästinenser fruchtbar und herzlich
zusammenarbeiten, ist die nachhaltige Zerstörung dieses Landes.
Update hierzu, abends:
Jonathan, ein Deutscher, der an Beit Sahourer Schulen unterrichtet, erzählt mir dass die Menschen vor
allem wegen der Art und Weise, wie der Mann getötet wurde, so aufgebracht waren, weniger wegen der
Tatsache an sich. (Auch wenn die Ermordung von Palästinensern hier in der Bethlehemer Gegend sehr
ungewöhnlich ist, das passiert im Norden, Nablus, Jenin, und in Gaza täglich, aber nicht hier).
Und zwar ist wohl nur ein Jeep reingekommen, die Soldaten waren in Zivil und hatten Hunde dabei. Sie
haben den Mann gefunden und er ist weggelaufen. Auf dem Dach des Ararat-Buildings, ein hohes
Gebäude am Eingang Beit Sahours, haben sie ihn eingekesselt und wohl krass zusammengeschlagen.
Dann haben sie ihn von dem fünf, sechs Stockwerke hohen Haus runtergeworfen, und unten noch
vollends erschossen.
Wieso auf diese Weise? War das eine gezielte Provokation? Professionell war dieser Mord nicht. Sie
hätten ihn auf dem Dach einfach mit einer Kugel in den Kopf töten können.
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Eine junge christliche Palästinenserin hat auf die Frage, wie der Jihad Islami jetzt reagieren werde, in
völliger Selbstverständlichkeit gesagt: "Natürlich werden sie versuchen, Israelis umzubringen, was
sonst!"
Was also bezwecken die Israelis?
Oder war das nur ein mittlerer Offizier, der den Tod angeordnet hat, ist da gar keine wirklich hohe
Koordination dahinter? Ist das gar nicht taktisch, sondern chaotisch? Welcher vernünftige Mensch
macht sowas?
Jedenfalls wird demnächst ein Name, der durch die Medien geht, aus Bethlehem oder Beit Sahour
kommen. Ich hoffe, dass dieser Name nicht als Märtyrer auftaucht, sondern als Attentäter, der
rechtzeitig gestoppt wurde.
Vorgestern hat es in Strömen geregnet, die ganze Nacht durch kübelweise. Das hat ganz Palästina und
Jordanien unter Wasser gesetzt. War nach einem regenlosen Monat auch dringend nötig. Das Wetter
spielt diese Jahr scheints völlig verrückt, ab April regnet es eigentlich nicht mehr – jetzt hat es den
ganzen März nicht geregnet, und der Anfang des Aprils ist verregnet.
In Bil'in, einem Dorf irgendwo in der nördlichen Westbank, das seit Monaten gewaltlosen Widerstand
gegen den Sicherheitszaun/Apartheid Wall und die Siedlungsexpansion auf ihrem Grund leistet, ist ein
Mann ertrunken. Wassermassen hatten ihn gegen den Zaun gewaschen, dort ist er in den
Stacheldrahtrollen hängengeblieben und jämmerlich ersoffen. Sein Bruder ist nochmal knapp
davongekommen.
Was für ein Sarkasmus.
5. April 2006
Heute war Áid al-Tifel, der palästinensische Tag der Kinder. Das SOS und ein paar Schulen und andere
Kinderorganisationen sowie Beit Jemima, ein Behindertenheim, haben gemeinsam einen Marsch von der
Uni bis zum Manger Square vor der Geburtskirche unternommen. Weil das Wetter bescheiden war,
immer wieder regnerisch, windig und kalt, waren es statt den erwarteten 1000 Kindern nur ein paar
hundert, die Banner getragen haben mit der Aufschrift „A life without violence is possible“, „The
Separation Wall is discriminating and unjust“ usw., Palästinaflaggen und Poster (darauf Kinder,
Schulsachen, Spielzeug und Stacheldraht).
Am Manger Square hat dann ein Mann mit Keyboard und Mikro gewartet, der den Kindern ordentlich
eingeheizt hat. Er hat auch über Politik gesprochen, hat sie für die Vaterlandsliebe eingeschworen, von
wegen zusammenhalten in Jenin, Nablus, Tulkarem, Bethlehem, Jerusalem, Hebron, „und natüüüürlich
iiiiiin Gaaaaaazaaaaaaaa!!!“; wie die Palis die Checkpoints ertragen müssen, in die Richtung. Scheint
dabei die Israelis nicht allzusehr verdammt zu haben, hat sie zwar „Feinde“ genannt, aber das ist ja
auch der Fall.
Das Ganze habe ich leider nicht im Geringsten verstanden, wurde mir im Nachhinein erzählt.
13. April 2006-04-13
http://english.aljazeera.net/NR/exeres/254A8588-3089-495E-9D54-FE87479080DB.htm
Hamas 'willing' to recognise Israel
By Khalid Amayreh in the West Bank
Wednesday 12 April 2006, 17:43 Makka Time, 14:43 GMT
An official announcement by Hamas is expected within days
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The Hamas-led Palestinian government is willing to recognise Israel if the latter withdraws fully from
West Bank, East Jerusalem and Gaza Strip, AlJazeera.net has reliably learnt.
Sources close to Ismail Haniya, the Palestinian prime minister, described the Hamas decision as a
"significant change in policy".
"What it means is that the Palestinian government is willing to recognise Israel if Israel met certain
conditions, including a complete withdrawal from the territories Israel occupied in 1967," a source told
Al Jazeera.net on Wednesday.
Speaking on condition of anonymity as he was not authorised to speak to the media, the source added
that he expected the "new posture" to be announced officially by Haniya in the coming few days.
The Hamas-led government is coming under intense international pressure to recognise Israel,
abandon armed resistance and accept outstanding agreements between the Palestinian Authority and
Israel.
If true, the new development will constitute a significant departure from Hamas' dogged refusal to
accept Israel's right to exist.
Hamas' officials and spokespersons in the West Bank have refused to comment on the movement's
willingness to recognise Israel in return for a viable Palestinian state on 100% of the occupied
territories.
Aljazeera.net
Es hat sich lange abgezeichnet. Die Hamas laesst seit so langer Zeit solche Statements raus. Die
meinen das ernst!
Israel, ergreif die Chance. Die Hamas haelt die Hand halb ausgestreckt. Streck deine eigene Hand halb
aus, und dann koennt ihr gemeinsam zupacken. Einen guten Frieden machen.
Meiner Meinung nach ist das Problem aber weiterhin, dass es in Israels Regierung (im Gegensatz zur
Bevölkerung: 72 % für 2-Staaten-Lösung) noch keinen rechten Friedenswunsch gibt. Da stehen noch
andere Dinge an, unilaterale Schritte, die Israel viel Land zuspielen könnten, die Hälfte der Westbank.
Zu anderslautenden Hamas-Statements (z.B. die halbe Begrüßung des Attentats in Tel Aviv):
Hamas macht gerade einen krassen Wandlungsprozess mit, den im hamas-internen Spektrum natürlich
unterschiedlich verläuft. Da sind radikale, hasserfüllte Auge-um-Auge-Vertreter neben sehr viel
pragmatischeren Menschen. Einige haben den Wandel schon vollzogen, andere noch nicht – und
dadurch kommen völlig gegensätzliche Statements zustande, die dann jeweils als Titel für das
Hamasprogramm verwendet werden.
An den meißten Tagen komme ich mit der Hamas ganz gut klar. Aber wenn dann wirklich sowas wie
die Tel-Aviv-Statements rausgehauen werden, denke ich mir, wie dumm kann ein Mench sein? Ich bin
auch der Meinung, dass die Palästinenser ein Recht auf Selbstverteidigung haben. Aber damit begrüße
ich nicht den Tod von israelischen Zivilisten.
Was dieses Statement damals hat bewirken sollen, das wüsste ich gern. Hat auf jeden Fall nicht gerade
zur Lockerung der Finanzschraube des Westens beigetragen und auch sonst die palästinensischen
Interessen untergraben.
Karte Konvergenzplan einfügen/anhängen
16. April 2006
Uta (meine Chefin) und Jessica (meine Pali-Vorgängerin) sind zum Zwischenseminar gekommen. Es ist
schön, die zwei wiederzusehen. WISE ist eben weniger Organisation als Familie...
Interessant auch zu sehen, wie sich die Perspektive auf Jessi verändert hat. Zu Beginn unserer Zeit hier
waren wie Neulinge total beeindruckt von der Sicherheit, wie sie sich hier bewegte, wie sie Arabisch
sprach, alles. Jetzt haben wir viele der Erfahrungen, die sie gemacht hat, ebenfalls erlebt. Wir sind mehr
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auf einer Ebene mit ihr, auch wenn sie uns einiges Vorraus hat in dem Sinne, dass sie in einem
Flüchtlingslager gelebt hat, wo die Rückzugsmöglichkeiten in europäische Kreise und Gewohnheiten
sehr viel geringer sind als in Talitha Qumi oder meiner Wohnung, so dass ihre Integration sehr viel
tiefer gelang, als die des zweiten Palästinajahrgangs.
Wir haben an drei Tagen volles Programm gehabt, von morgens bis abends Gesprächsrunden, und uns
noch ein paarmal so getroffen, essen gehen, ein Projekt besuchen usw.
Neben den verschiedensten anderen Dingen (Integration, Sicherheit, was war, was kommt, Finanzen,
Vorbereitung für die nächsten Freiwilligen...) ging es natürlich um dir Projekte, unsere Arbeit, unsere
Entwicklung darin.
Da das AEI, wie man wohl an verschiedenen Stellen aus meinen Berichten herauslesen kann, nicht
meine Traumstelle war, und ich mich daraufhin in mich selbst verkrochen hatte und keinen Ausweg
sah, war der ganze Prozess, das Gespräch über alles, recht schmerzhaft und schwierig.
Allerdings habe ich einige Sachen gelernt, wenn nicht im Gespräch, dann im Nachdenken darüber.
Z.B. habe ich den Weglaufmechanismus bemerkt, den ich hier zur Perfektion auskristallisiert hatte und
der alle Veränderungen, die ich hätte starten können, blockiert hatte. Dass man selbst aktiv werden
muss, wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie sollen (so einfach das auch klingt, zum die Hand vor die
Stirn schlagen – aber in einer schon recht extremen Situation wie dieser hier lief ich eben mit einem
riesigen Brett vor dem Kopf durch die Welt und hatte keine Ahnung, wohin).
Allerdings schiebe ich die Schuld nicht allein auf mich, dass das AEI und ich nicht so gut miteinander
konnten, das AEI hat Valerie und mich von Anfang an hängen lassen. Dazu zwei, drei Gedanken:
In einem Arbeitgeber-Arbeitnehmerverhältnis werden ja normalerweise vom Chef Anforderungen
gestellt, die dann erfüllt werden sollen. Wenn sie übererfüllt werden, ist das sehr positiv, aber nicht
grundlegend verlangt.
Im AEI ist das Wort „Mitarbeiterführung“ ein Fremdwort, an Freiwillige sind keine Erwartungen
vorhanden. Man muss also ständig übererfüllen. Man muss etwas ausfüllen, das gar nicht existiert. Ich
wurde dabei zum Ballon, der sich weiter und weiter aufplusterte, platzte, und dann zerfetzt in der Ecke
liegenblieb (... ich übertreibe gerne!).
Das AEI hat in seiner Aufgabe, uns Anzuleiten und eine Arbeitsstelle für uns zu sein, völlig versagt.
Fuad und Anton wussten sehr genau, dass wir häufig über mangelnde Arbeit klagen. Toine, der vor
allem zu Hause arbeitet, hat das gar nicht mitbekommen. Sie hätten nur einmal bei ihm anrufen
müssen, er ist ja schließlich unser Mentor. Dann hätte er uns in einige Dinge miteinbinden können. Er
sagte, er hätte keine Ahnung gehabt, dass wir so sehr in der Luft hängen würden. Doch wir haben es
ihm gesagt, wenn auch vielleicht nicht so häufig wie Fuad und Anton, aber wir haben es ihm gesagt.
Anyway, vieles ist schief gelaufen, was und wie genau ist gar nicht mehr so sehr sichtbar. Und die
Veränderung dieser Situation ist jetzt wichtiger.
Und so hat mich Toine, nachdem wir uns nochmal getroffen hatten, jetzt in ein Projekt des AEI
eingebunden, in dem ein ganzer Haufen Potential steckt. Nämlich soll eine Webseite (www.palestinefamily.net), die die palästinensische Kultur dokumentieren soll, mit Inhalt gefüllt werden. Ich soll dann
z.B. Battir und Al-Khader, zwei Dörfer in der Umgebung, fotografieren, die alten architektonischen
Details wie Torbögen, Balköne, heek ishi – so was. Das Leben der Menschen, die Arbeit, die Umwelt.
Weiter soll ich in einigen pali-Familien einfach mal alte Dokumente durchstöbern, nach alten
Wasserrechnungen, Urkunden usw. suchen, Fotos einscannen, alte Stammbäume aufspüren und neue
machen. Mir Märchen erzählen lassen, sie aufnehmen, bearbeiten und online stellen. Fi ktir – es gibt
viel. Man muss es bloß wissen, man muss nur selbst aktiv werden und zugreifen.
14. April 2006, Freitag
Uta und Jessi haben mit mir natürlich auch das SOS besucht und ein Gespräch mit Abu Tamer, dem
Direktor, gehabt. Auch hier ging es um meine weitere Integration ins Dorf.
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Abu Tamer („Der Vater von Tamer“, die Männer werden hier ja nach ihrem ältesten Sohn benannt) ist
ein sehr sehr netter Mann, offen, herzlich, hilfsbereit, laut Selbstdarstellung in jeder Minute hart
arbeitend, hat aber immer für einen kleinen Schwatz und eine Zigarette Zeit.
Wir drei von WISE sind nach dem Gespräch mit Abu Tamer noch eine Weile im Dorf bei einer SOSMutter vor dem Haus im Schatten gesessen, haben uns mit Eirene und Nabil, den Sozialarbeitern
unterhalten, Tee und Kaffee bekommen, sind andauernd irgendwohin abgeschweift... sehr angenehm.
Jessi musste dann irgendwann gehen, und nachdem Uta und ich uns im kühlen Schatten beim
Springbrunnen noch eine ganze Weile über Politisches unterhalten hatten, sind wir in Richtung
Bethlehem aufgebrochen und haben uns dort zwei Fotoausstellungen im Peace Center angeschaut.
Die erste, „Portraits of Palestine“, war in schwarzweiß und stellte alle Aspekte des palästinensischen
Lebens dar, von den Traditionen bis zum Konflikt, bzw. ihre Interaktion. Keine Weltneuheit, aber schön.
Menschen, denen sich die Jahre in die Linien ihres Gesichts geschrieben haben. Touristenlose
Touristengegenden. Eine alte Marktfrau, die hinter ihren Kräutern im Sitzen schläft. Das
Schwarzweißbild gibt das Schimmern der schwarzen Lederjacke dahinter wieder, und die Sonne, die
durch ein weißes, weiß besticktes Kleid scheint, das draußen vor einem Geschäft hängt. Eine junge Frau
vor ihrem zerstörten Haus. Man kann lange das Gesicht der Menschen studieren, sich jede Pore und
Falte einzeln anschauen, den Winkel bewerten, in dem die Lippen gezogen sind. Sonst ist man ja immer
so bemüht, ja nicht zu viel Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen oder auszuteilen, man schaut
verstohlen, und huscht weg, wenn man dabei ertappt wird, ein Gesicht zu studieren.
Nebenan hängt eine Ausstellung namens „Transformations“.
Ein sehr dunkel gehaltenes Sepiabild zeigt die faltigen, verarbeiteten Hände eines alten Mannes, darin
hält er ein Foto seiner Frau, als sie jung war, frisch, lächelnd, das ganze Leben noch vor sich. Ein
Kreislauf von Erinnerung, der Reflektion von alten Hoffnungen, der Realität eines gelebten Lebens, von
Liebe.
An der Wand daneben drei Bilder. Sie zeigen alle den gleichen Mann, in der exakt gleichen Pose (ein
Torso, von unten her ernst in die Kamera schauend), der gleiche Bart, die Augen schauen mit der exakt
gleichen Intensität und Festigkeit. Es sind jedoch keine drei identischen Bilder, sondern die Kleidung
wechselt. Ganz rechts trägt er eine Kutte, die Kapuze bedeckt seinen Kopf.
Links daneben trägt er eine Quffiyya, das Palästinensertuch, und die Jalabiyya, das lange
(nachthemdartige) Gewandt der Männer, die in der Wüste wohnen und ein kühles Lüftchen stickigen
Hosenbeinen vorziehen.
Ganz links schaut ein orthodoxer Jude mit Anzug, Hut und Schläfenlocken in die Linse – es ist der selbe
Mensch wie nebenan, der Ausdruck, die Menschlichkeit ist gleich, seine Persönlichkeit, die durch das
Celluloid spricht. Nur Äußerlichkeiten unterscheiden die drei. Die Wahnwitzigkeit der Grenzen zwischen
den Menschen.
An der dritten Wand sind drei Bilder, ebenfalls vom selben Menschen, ein enger Ausschnitt des
Gesichtes. Jedoch sind nicht Äußerlichkeiten verschieden, sondern die Bilder wurde im Abstand von
mehreren Jahrzehnten gemacht, eines mit wohl Mitte dreißig, eines mit Mitte fünfzig, das Letzte mit
vielleicht siebzig. Der Zeitraffer zeigt, wie Falten an der Nasenwurzel ihre Form verändern, die
Mundwinkel absinken und die Lippen schmaler werden. Die Augenbrauen werden buschiger, die Haut
schlaffer und poriger, die Tränensäcke werden zu dicken Halbmonden. Die Nase bleibt gleich.
Es war mal wieder Zeit, sich Kunst anzuschauen.
Nachdem Uta und ich uns noch eine Weile in ein recht mieses Tourirestaurant gesetzt hatten, es gibt
keine rechten Cafés für Einheimische hier, ging ich nach Hause, um von dort aus gleich weiter nach
Jerusalem zu fahren, denn Esther hatte mir von einer Dabke-Performance in Ostjerusalem berichtet
(Dabke ist der palästinensische traditionelle Tanz und ähnelt teilweise dem irischen „Halbstepptanz“).
Ich nahm mir ein Taxi zum Checkpoint, stieg aus und lief ganz normal zu dem großen Stahltor, das auf
israelischen Wunsch die Mauer verschließt. Zwei Soldaten stehen an der Schranke und amüsieren sich
über irgendwas, was ich nicht sehen kann.
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Vor dem Tor biegt man dann links ab und geht an der Mauer entlang zu einer kleinen Tür, die zum
Füßgängercrossing, dem Terminal, führt. Ich biege also um diese Ecke und stehe mitten in einer
kleinen alltäglichen Besatzungsszene. Ein Soldat drückt gerade den Kopf eines vielleicht
fünfzehnjährigen Palästinensers an die Mauer, er kniet ganz schief und scheps auf dem Boden. Ein
zweiter Pali steht daneben und kann natürlich nichts machen. Ich bin etwas perplex und bleibe erstmal
stehen, schalte dann gottseidank schnell genug und gehe nicht gleich wieder weg. Mein offensichtlich
europäisches Aussehen verunsichert den Soldaten, einen recht kleinen dunkelhäutigen Kerl, vielleicht
zwanzig Jahre alt, in dem was er gerade tut. Er tritt sofort einen Schritt zurück, so dass der Pali
aufstehen kann. Ich frage den Soldaten auf Arabisch, fi mushkile, gibt es ein Problem? Der meint nur,
nein, ich solle abhauen („Imschi!“), und ich stehe noch ein paar Momente herum, tausche
Solidaritätsgesten mit den Palis aus, gebe ihnen die Hand, und habe dann das Gefühl, es ist besser zu
gehen, obwohl der Soldat keine Anstalten macht, die zwei Jungs gehen zu lassen. Also verschwinde ich
in Richtung Maueröffnung. Nachdem ich dort außer Sicht bin, drehe ich mich um und schaue nochmal
um die Ecke – gerade dreht sich der Soldat weg, und die Palis ziehen ab. Mein Gefühl hat mich also
nicht getäuscht, der Soldat wollte sich nicht die Blöße geben, sich von einem Europäer in seinem Job
beeinflussen zu lassen, bzw. den das wissen zu lassen.
Hinter der Mauer schaue ich nochmal zum Hauptgate und realisiere, dass die zwei Soldaten an der
Schranke dort sich über den Einschüchterungsversuch des Soldaten amüsiert hatten. Standen ganz in
Ruhe hinter ihrem Schlagbaum und ihren Gewehren, grinsend.
Es ist zum Heulen, dass mich sowas gar nicht mal mehr so erschüttert.
Nach dem Checkpoint, in dem ich den wild piepsenden Metalldetektor passieren darf, weil ich auf die
dämliche Frage „are you a tourist“, die aus dem zu lauten Lautsprecher schallt, mit ja antworte, setze
ich mich in den Bus, der mich am Damaskustor wieder ausspuckt. Ich frage mir auf immer besserem
Arabisch den Weg durch die (für meinen Geschmack ein wenig zu) dunklen Gassen der östlichen,
palästinensischen Neustadt, um zum Palestinian National Theater zu gelangen. Nach oftmals fragen
komme ich an, die Vorstellung ist schon halb um, aber ich drücke den Preis um die Hälfte in einem
Satz, indem ich sage ich sei Volo in Bethlehem.
In dem Saal sind massenhaft Palis versammelt, sehr sehr viele junge. Ich werde von einer Clique auf
einen freien Platz in ihrer Mitte gezogen und tauche mit ihnen in die Dabke-Vostellung ein.
Dabke ist ein Tanz in Richtung Steppen, ein bisschen wie das, was mein sehr schwammiger Begriff von
irischem Vokstanz ist. Hat aber auch eine unübersehbare arabischen Natur.
Sowohl Jungen als auch Mädchen tanzen Dabke, die hier sind etwa sechzehn bis achtzehn Jahre alt. Sie
haben traditionelle palästinensische Kleider an and schwingen die Beine in fast gleichwertigen Rollen
(die Männer sind dann doch noch einen Tick wichtiger). Aber ich bin ganz gerührt wegen, und stolz auf
die Mädchen, denn es sind die selbstsichersten und stolzesten arabischen Frauen, die mir in acht
Monaten begegnet sind. Die Körperhaltung ist kerzengerade, sie wissen genau, was sie tun, tanzen
ganz natürlich und gleichwertig neben den Jungs. Die Gesichter strahlen Ruhe und Kraft und Sicherheit
aus, die mich ganz für sie einnehmen. Professionalitaet, obwohl das sicherlich eine mindestens
Halblaiengruppe ist.
Zwischen den einzelnen Tänzen kommen die Musiker, die im hinteren Teil der Bühne aufgereiht sitzen
zum Einsatz. Oud (dickbauchiges gitarrenähnliches arabisches Musikinstrument), Zither (?, auch eine
Gitarrenverwandte), die arabische Flöte, einige Trommler, und zwei Sänger spielen und singen
traditionelle Lieder. Dazwischen schleicht sich auch das Lied, das von Palästina, der Liebe der
Palästinenser zu ihrem Land, von Unterdrückung und Befreiung singt. Jeder palästinensische Sänger
hat das mindestens einmal gecovert oder neu vertont, und der ganze Saal singt mit.
Meine neuen arabischen Freunde um mich herum brechen zwischendurch in „Fatah ist toll“- und „Abu
A’mar“- (Arafat) Sprechchöre aus, die aber gottseidank nach zwei Minuten wieder abklingen. So gern
ich ihnen den Gefallen tun würde, ich kann ihnen hinterher meine uneingeschränkte Zustimmung zur
und meinen Glauben in die Fatah nicht geben...
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Nach der Vorstellung finde ich Esther irgendwo im Publikum und verbringe mit ihr und drei anderen
noch einen schönen Abend auf dem Dach der Schmidtschule gegenüber des Damaskustores, von dem
man einen umwerfenden und ganz ungewohnten Ausblick auf die Altstadt hat, bei Argile (Wasserpfeife)
und Wein.
Esther und Julia, die ich jetzt erst kennenlerne, waren heute zusammen in Bil’in, einem Dorf bei
Ramallah, das seit einem halben Jahr jede Woche eine Demo abhält gegen die Mauer und die
Konfiszierung der Hälfte ihres Landes. Hier wird die Mauer nämlich wieder einmal dazu genutzt, die
Erweiterungspläne einer Siedlung zu ermöglichen.
Die Leute versuchen, durch Lücken im Stacheldrahtzaun auf die Militärstrasse zu kommen, die parallel
zum Zaun gebaut wird (hier ist die Mauer keine Mauer, sondern ein Stacheldrahtzaun), um dort zu
demonstrieren. Es demonstrieren Palis, Internationale, und linke Israelis. Die Israelis sind naturgemäß
die einzigen, die sich wirklich was erlauben können, weil die Palis fiese Gefängnisaufenthalte erwarten
könnten, und die Internationalen ein plötzlich eintretender Visamangel.
Julia hat einen Presseausweis, sie ist auf sechswöchiger Palästinareise, und hat ihn dafür beantragt –
bessere Bedingungen, um zu fotografieren, was ihr Job ist. Sie muss eine Böschung hochklettern, um
den Soldaten den Ausweis zu zeigen. Sie hätte weiche Knie gehabt, sagt sie später. Das erste Mal, sich
wirklich im Ernstfall als Journalistin ausgeben zu müssen, was sie nicht ist, studiert noch.
Das geht dann auch wunderbar, und Esther wird ohne Kontrolle ihres (nicht vorhandenen)
Presseausweises durchgewunken, sie wird als Assistentin ausgegeben. Dann laufen sie zwischen lauter
Militärfahrzeugen herum und interviewen Leute, die zwanzig Minuten vorher festgenommen wurden.
Später hebt Esther noch eine leere Tränengaspatronenhülse auf und nimmt sie mit. Aus Aluminium ist
sie, glänzend, fünfzehn Zentimeter lang, fünf im Durchmesser. Der Zünder an der Unterseite aus
Messing. Drinnen ein paar Chemiereste, riecht oder reizt aber nicht mehr.
Surreal.
15. April 2006, Samstag
Ich bin abends, nach dem WISE-Seminar, nach Jerusalem getrampt, um zu einer Party bei Ibrahim zu
gehen. Ibrahim habe ich soweit ich mich erinnere im letzten Bericht beschrieben. Er ist ein etwa
siebzigjähriger Peaceworker, der sein Haus für jeden geöffnet hat. Er wohnt im Erdgeschoss, die zwei
Stockwerke darüber werden von durchziehenden geldlosen Touristen, religiösen Freaks, Hippies, einer
endlosen Mischung von Menschen bewohnt, immer so zwischen einer Nacht und sechs Wochen.
Oak, ein Förster aus Cornwall, der hier ein halbes Jahr gelebt hat und die Palis irgendwie unterstützt
hat, musste wieder nach Hause, und so gab es eine kleine Abschiedsparty. So dachte ich.
Ich kam also dorthin, das Essen war schon fast fertig, so fünfzehn Leute da, die Stimmung nicht
überschäumend, aber lustig. Wir versammelten uns bei Kerzenschein um den Tisch, fassten uns bei
den Händen. Ibrahim selbst kam ebenfalls dazu, mit schwerem Gang, der Blick gebeugt. Er wurde
gleich in den Kreis aufgenommen, Arme wurden schützend um ihn gelegt, und einer begann zu
sprechen. Dass sie Mike nie vergessen würden, dass er immer in den Herzen der Menschen bleiben
würde, die ihn gekannt hatten. Dass seine Familie nun ohne Mann und Vater dasteht, aber dass sie
nicht alleine sind.
Ibrahim begann zu sprechen, leise. Dass er Mike zwei Tage zuvor bei Jericho, in der Wüste bei Nabi
Moussa, einem muslimischen Heiligtum begraben habe. Dass es noch mit ihm telefoniert hatte, bevor
er starb und Mike wusste, dass er seine Familie nicht mehr wiedersehen würde. Dass er versucht habe,
vor ihnen wegzulaufen. Aber sie hatten ihn doch noch erwischt. Sie hatten ihn erschossen, ihn in sein
Auto gesetzt, es mit Benzin getränkt, und einen Hang hinunterrollend angezündet. Gott habe ihm noch
einen letzten Moment lang Kraft gegeben, ihm die Tür geöffnet, er fiel hinaus, und das Auto brannte
unten völlig aus.
Dass Gott mit ihm sein möge. – Ibrahims Stimme bricht, und er setzt sich.
Ich habe meinen rechten Arm noch immer um Ibrahims Schultern gelegt, bin aber völlig verwirrt. Ich
war auf eine Abschiedsparty gekommen, nicht auf einen Leichenschmaus.
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Beim Essen frage ich meinen Nachbar, wo die Israelis diesen Mike denn erwischt hatten, und wer es
gewesen sei.
Mike war Ibrahims Neffe und wohnte ebenfalls auf dem Ölberg, er war verheiratet und hatte ein paar
Kinder.
Er war aber nicht von den Israelis ermordet worden, sondern von Palästinensern.
Die Geschichte ging so los, dass er das Haus seiner Mutter verkauft hatte, an einen Jordanier. Der hatte
es an einen Christen verkauft, der es einem Juden verschachert hatte. Und eines Morgens waren
jüdische Siedler in dieses Haus mitten auf dem Ölberg gezogen.
Jetzt verbreitete sich natürlich große Wut und Angst unter der Bevölkerung. Der Grundstein einer
jüdischen Siedlung ist der Grabstein eines palästinensischen Ortes. Wie lange alles dauerte, und wer
ihn dann genau umgebracht hat, weiß ich nicht. Es geht auch die Geschichte, dass der Jordanier einer
palästinensischen Mafia angehört, den Mike an den Pranger stellen wollte als er hörte, was dieser mit
dem Haus vorhatte. Das hat der natürlich nicht hinnehmen können. Und so musste einer von beiden
sterben.
17. April 2006
Bald ist das orthodoxe Ostern. Elias, einer meiner Chefs im AEI, ist orthodox, und erzählt mir, wie er
einmal vor ein paar Jahren die Osterzeremonie in der Grabeskriche in Jerusalem erlebt hat.
Es ist Brauch, dass ein Priester dort für drei Tage bleibt und ununterbrochen betet, die Tür wird
verschlossen. Am dritten Tag dann „kommt das Licht aus der Kapelle“, wie mir das alle beschreiben. Ich
kann mir nicht genau vorstellen, was damit gemeint ist. Doch Elias erzälte, wie plötzlich an den
Wänden der Kuppel, die über der kleinen Kapelle gebaut ist, überall Licht erscheint, und wie sich die
Kerzen in seiner Hand von selbst entzündet haben. Ich glaube ihm das, er ist kein Spinner. Und er sagt,
erst zu diesem Zeitpunkt, mit mindestens Mitte 50, wurde er religiös.
Ich hatte eigentlich vor, es zu besuchen und mal mit eigenen Augen zu sehen – doch nachdem ich auf
einer Party bis um kurz vor fünf wach war, war ich nicht so scharf darauf, um sieben wieder
aufzustehen, um rechtzeitig nach Jerusalem zu kommen.
Vielleicht habe ich ja damit meine christliche Erweckung verpasst...?
Ich komme mittags ins SOS, sage dem Torwächter hallo. Der schaut gerade fern. Auf Al-Jazeera die
Bilder des Attentats in Tel Aviv.
Hier kommt es alles noch unmittelbarer aus den Medien wie zu Hause, auch wenn es die selben Bilder
sind. Ich fühle, wie mir alle Freude weicht, alles ist scheiße, die Situation wird sich nie verbessern, alles
dreht sich in einer Spirale abwärts, die nicht zu stoppen ist.
Und es tut weh, die kleinen Effekte von soetwas zu spüren. Julia übernachtet bei mir und kommt zwei
Stunden später als geplant, weil der Bus in riesige Staus kam. Die Kontrollen waren nach dem Anschlag
angezogen worden.
Ich habe einen Intifada-Traum:
Ich komme in eine fremde arabische Stadt, ich treffe dort zwei Freunde. Ich gehe in ihr Hotel, mitten im
Zentrum. Plötzlich fängt unten alles an überzukochen. Ich habe eine sehr gute Kamera und robbe
damit zum Balkon, mache Fotos, robbe weiter – und plötzlich stehe ich mitten im Kampfgetümmel (wer
gegen wen?), und verfluche mich. Ich denke daran, dass ich meinen Pass oben gelassen habe. (Mein
Pass ist hier ja mein Freifahrtsschein durch alle Checkpoints).
Auf einem hohen Trümmerhaufen steht ein Kämpfer, schreit mich erst auf Englisch an und schießt
dann auf mich. Er trifft nicht, obwohl ich sehr nahe bin. Ich nehme meine Kamera und schieße damit
auf ihn, als wäre es ein Gewehr, das man sich vor die Augen hält. Ich bin verzweifelt und treffe nicht,
aber dann stelle ich die automatische Funktion ein, und er stirbt mit einer Kugel in der Stirn.
Die Kämpfe haben sich plötzlich größtenteils gelegt, und ich gehe zitternd ins Hotel zurück.
90
23. April 2006
Gerade war ich im Reem Al-Bawadi, ein Restaurant gleich in meiner Nachbarschaft. Ich habe mich mit
Sebastian und Andi getroffen, zwei Volontäre, die auf dem Weinberg arbeiten, einem Projekt namens
Tent of All Nations. Es ist ein Hügel 10 Sammeltaxi-Minuten von Bethlehem, der seit Jahrhunderten im
Besitz einer palästinensischen Familie ist, sie haben dort oben in Höhlen gelebt, heute jedoch fast alle
in Bethlehem.
Heute ist der Hügel von fünf Settlements umgeben und andauernd Übernahme-Angriffen ausgesetzt.
Der Besitzer hat seit fünfzehn Jahren einen Prozess laufen, der ihm einen Teil seines Landes, der
enteignet wurde und auf dem jetzt ein Teil der Siedlung Newe Daniel steht, zurückbringen soll. Aber
durch Verzögerungstaktiken, und durch das offensichtlich parteiische Gericht, zieht sich das schon so
lange hin. Viermal schon waren Bulldozer da, um die zwei Häuschen ein- und alle Bäume auszureißen,
konnten aber jedes Mal gerade noch im letzten Moment durch einstweilige Verfügungen gestoppt
werden.
Weil man als Palästinenser auf völlig verlorenem Posten steht, hat der Besitzer, Daher, den Hügel in
eine Begegnungsstätte umgewandelt, das Zelt der Nationen. Vier Freiwillige arbeiten dort, bestellen
Felder, ziehen Stacheldrahtzäune, und werfen Siedler vom Grundstück. Als ich vergangenen Samstag
dort zu Besuch war, wir waren gerade am weggehen, sehen wir, wie zwei Siedler mit Kipa und
Sturmgewehr die Strasse runterlaufen. Sie gehen an uns vorbei, und wir alarmieren den Zivi, der auf
dem Land geblieben ist, und gehen mit Kameras hinterher um zu dokumentieren dass sie auf das Land
gehen. Sie klettern dann auch tatsächlich drüber und wir kommen ihnen von innen entgegen. Sie
meinen, sie seien auf einem Shabbatspaziergang und nein, da sei kein Zaun gewesen. Wir laden sie zu
Tee ein. Daher hat diese Strategie, bestimmt, aber freundlich. Er ist zu diesem Zeitpunkt nicht da, und
so managen die Weinberg-Volos das.
Das Gespräch ist ein Drahtseilakt. Wir unterhalten uns in freundlichem Ton darüber, wie lange man den
Salbei im Teewasser lassen soll, ob die Familie hier lebt, oder nur am Wochenende kommt („Ja klar, die
leben hier, seit hundert Jahren schon“), ob die Häuser neu seien („Nein, die stehen hier schon ewig, hier
wird nur drübergeputzt“). Die Siedler versuchen so gut wie möglich auszuchecken ob wir irgendwas
machen dass „verboten“ ist – denn praktisch alles ist verboten. Keine Baugenemigungen werden von
Israel erteilt, so gibt es außer dem Generator keinen Strom, und die Wasserversorgung ist der Regen,
der in einer Zisterne aufgefangen wird. Wie es schon immer war...
Darüber, wie Israelis früher, vor der zweiten Intifada 2000, immer nach Bethlehem und Hebron zum
Einkaufen und Essen gingen. „It’s a pity we can’t go there anymore“, meint der eine.
Nachdem er Tee ausgetrunken ist, brechen wir alle auf, und die Siedler wollen doch tatsächlich in die
Richtung weitergehen, die sie vorhin eingeschlagen hatten, quer über das Grundstück. Sie werden aber
zurückgepfiffen, man könnte dort nicht raus, sie sollten bitte durch das Tor gehen (das immer, immer
mit einem dickem Vorhängeschloss abgeschlossen ist, nicht mal für drei Minuten offengelassen wird).
Die Weinberg-Volos unterhalten sich darüber, wie oft die Siedler jetzt kommen, am Mittwoch der
selben Woche waren sie schon dagewesen. Ob der eine Siedler damals auch schon dabeigewesen war.
„Keine Ahnung, mit ihren Gewehren sehen die sowieso alle gleich aus.“
Jetzt sitze ich mit den zweien, Basti und Andi, im Reem Al-Bawadi, und frage sie, was sie nach
Bethlehem verschlagen hat. Sie meinen, sie hätten eigentlich mit einem palästinensischen Freund
seinen Geburtstag feiern wollen, daraus wäre aber nichts geworden. Der Freund hatte einen Anruf
bekommen, dass sein Cousin erschossen worden war.
Die Israelis sind wohl am frühen Nachmittag nach Bethlehem reingegangen und haben zwei Leute
ermordet.
Drei Männer von den Al-Aqsa-Brigaden saßen in diesem Auto. Die Israelis waren in Zivil in der Stadt
und haben von einem Spitzel irgendwo den Tipp bekommen, wann und wo das Auto der zwei
gesuchten Männer fährt.
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Den Fahrer haben sie sofort in den Kopf geschossen. Der Beifahrer hat dessen Pistole genommen und
zurückgeschossen, hat aber nichts genutzt, er hat Kugeln in Bein und Hand erwischt. Die Soldaten
haben ihn aus dem Auto gezogen, zusammengschlagen, und auf dem Boden zu einer Garage
geschleift. Dort musste er sich ausziehen und wurde von hinten in den Rücken geschossen.
Er war nicht sofort tot und wurde in ein israelisches Krankenhaus gebracht, wo er starb. Als er
zurückkam, waren die Hälfte seiner Organe verschwunden.
Das war der Cousin des Freundes der Volos.
Wenn die Geschichte so stimmt (sie kann in den Details übertrieben sein, z.B. das mit den Organen
könnte dazugedichtet worden sein), ist sie ungewöhnlich insofern, dass die Armee normalerweise nicht
tagsüber in Bethlehem ist, die kommen ab und an (wöchentlich, wie oft genau weiß ich nicht) so
zwischen 2 und 4 Uhr morgens mit zwei, drei Jeeps, nehmen welche fest und verschwinden wieder. In
letzter Zeit auch mehrere Ermordungen, in den letzten drei Wochen sind mindestens fünf umgebracht
worden, das ist neu, die ersten sieben Monate meines Dienstes hier ist das gar nicht passiert.
Und jetzt sind noch zwei Leute mehr tot, und die Stimmung mal wieder auf dem Tiefpunkt.
Und morgen ist wieder Streik, und ich kann nicht zum Friseur.
[Später sehe ich die Bilder vom Begräbnis im Fernsehen. Die Leiche des einen Mannes wurde aufgebart,
mit Flaggen und Palaestinensertuch dekoriert, zwei Wattestopfen in den Nasenlöchern. Massen-,
massenhaft Menschen ziehen vorbei und geben ihm die palästinensischen Wangenküsse (wie Bisous in
Frankreich). Danach ein langer Trauerzug zu einem Märtyrerfreidhof beim Deheisha-Camp. Man kann
die Gedanken förmlich aus dem Bildschirm flimmern sehen – „Israel wird dafür bluten“, „Wir werden
ihnen eine Lektion erteilen“.]
Am abend zuvor um sieben hatte ich vom Manger Square laute Stimmen, Megafonquäken, Sprechchöre
gehört, eine Demo. Schüsse, aber keine ernsten, nur in die Luft.
Weil ich immer die Stimmung gerne verfolge, man will ja keine Überraschungen erleben in diesem
Land, rufe ich meine Vermieterin an, was das denn sei. Sie meint irgendwelche Konflikte zwischen
Hamas und Fatah, ich solle mir keine Sorgen machen. Wenn sowas passiert, bleibe sie einfach zu
Hause, und am nächsten Morgen sei alles wieder wie vorher.
Die zwei Volos erzählen mir jetzt den Hintergrund. Und zwar hat Abbas ja, im Gegensatz zur Hamas,
den Anschlg in Tel Aviv letztens verurteilt. Daraufhin hat die Hamas Abbas irgendwie beschuldigt und
zu Entschuldigungen oder sonstwas aufgefordert, was die Fatah nicht auf sich sitzen ließ, und diese
Demo organisiert hat, die mir übers Tal so bedrohlich klingt.
Also Friede, Freude, Eierkuchen in einem Land, das zu allen Seiten hin zerrissen ist. Israelis und
Palästinenser, Juden, Christen, Muslime, Hamas, Fatah und PFLP, Gaza und Westbank, Tauben und
Falken, Nonviolence-Aktivisten und Kämpfer, Siedler, Orthodoxe, Säkuläre, arabische und europäischamerikanische Juden... Hier wird es wohl nie Frieden geben. Wenn es zwischen der jüdischen und
palästinensischen Nation Frieden gibt, zerfleischen die zwei sich jeweils untereinander.
Während wir drei also in diesem Restaurant saßen, kamen nebenher Nachrichten auf Al-Jazeera. Weil
wir es nicht verstehen koennen (Hocharabisch), haben wir nur ab und an mal hochgeschaut. Bei einer
sehr ruhigen, deutlichen, angenehmen Stimme, die eine ganze Weile lang sprach, haben wir kurz
hochgeschaut – um das Bild Osama Bin Labdens auf dem Bildschrim zu sehen. Andi meinte, ein sehr
guter Nachrichtensprecher sei an ihm verloren gegangen...
27. April 2006
Wie ich auf Al-Jazeera lese, hat Israels Generalstaatsanwalt nicht genug Beweise fuer die Verstrickung
von Ahmad Saadat in die Ermodung des damaligen israelischen Tourismusministers Zeevi (2001)
feststellen koennen.
Da fällt mir doch wirklich die Kinnlade runter. Erst wird dieser Mann mit einem riesigen Rundumschlag,
unsensibel und zerstörerisch in alle Richtungen, aus einem palästinensischen Gefängnis gekidnapt, mit
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der Begründung, einen Terroristen vor Gericht zu stellen, und jetzt sind plötzlich alle Beweise wieder
verschwunden? (Mal davon abgesehen, dass Saadat aufgrund eines Vertrages zwischen Israel und
Palaestina, unter Aufsicht von USA und UK, in diesem Gefängnis saß – von wegen der Justiz zuführen,
ja???).
Dass jetzt die Beweise fehlen zeigt wenigstens, dass die israelische Justiz noch nicht voellig in dem
Sumpf versunken ist, der auch die Administrativhaft moeglich macht (die unbefristete Festnahme von
Palaestinensern ohne Anklage, Zugang zu einem Anwalt, usw.).
Aber was es ebenso zeigt ist, dass Israel offensichtlich nur noch provozieren will. All die Ermordungen
in Bethlehem, so viele Aktionen koennen in diesem Kontext gesehen werden, auch Jericho. Was
bezweckt Israel?
Dass Saadat jetzt, nach der krassen Übertretung aller politischen Regeln in Jericho, nichts
nachgewiesen werden kann, kann natuerlich auch ein Zeichen fuer die Abkopplung der Militärfuehrung
von der Justiz sein. Ein (äußerst rechter) Journalist hat Israel neulich sogar als von einer Militärjunta
regiert beschrieben. Na ja ...
26. April 2006
Dhian, ein israelischer Bekannter, der immer irgendwie für den Frieden unterwegs ist und verschiedene
Projekte hat, und ich hatten die Idee, in Al-Khader bei Bethlehem ein israelisch-palästinensisches
Treffen zu veranstalten. Al-Khader eignet sich dafür insofern, dass sich Israelis und Palästinenser dort
treffen können, dort ist es für kennen von beiden illegal oder gefärlich.
Weil uns die Überschrift „Israelisch-Palästinensischer Austausch“ zu schwer ist, hat Dhian die Idee, das
Ganze als „Family Gathering“ laufen zu lassen, als fröhliches Beisammensein, einfach zusammen Spass
haben, ohne versuchen zu wollen, den Konflikt zu lösen oder darüber zu sprechen. Das Israelis und
Palästinenser zusammenwachsen auf menschlicher, nicht politischr Ebene.
Dhian kann sich an eine Wiese nahe dem Taxiplatz erinnern und wir vereinbaren, das Ganze dort
stattfinden zu lassen.
Dann hat Ahmad angerufen, er ist einer der Guards Talithas. Er fragte, wo das Family Gathering denn
jetzt sein sollte, in Al-Khader oder auf einem anderen Stück Land. Ich sagte ihm, dass Dhian und ich
uns auf Al-Khader geeinigt hätten, wenn wir einen guten Platz finden. Dass Dhian sehr überzeugt sei,
dass es sicher ist.
Ahmad hat sich gewunden, aber durch die Blume hat er mir gesagt, dass er höchstwahrscheinlich nicht
nach Al-Khader kommen „kann“. Es ist ihm zu unsicher. Esther sagte später, er sei an diesem Abend
ganz aufgwühlt gewesen.
Was also soll ich machen? Ich höre Stimmen sagen „Sicherheit abwägen“, „keine Risiken eingehen“.
Ist das ein Risiko? – Ja.
Ist es ausgewogen? – Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.
Sollte man seine Sicherheit, vielleicht sein Leben, einem anderen Menschen so leichtfertig anvertrauen?
– Nun ja,...
Dhian sagte, meine und Ahmads Angst wären wie der Grund, aus dem die Mauer gebaut wird: Aus
unrealisischer Angst. Dhian hat viel Erfahrung damit, sich als Israeli in palästinensischem Umfeld zu
bewegen. Ich vertraue ihm in diesem Punkt eigentlich. Doch was, wenn...? Auch Elias hat mir
abgeraten. Er wolle dann nachher nicht Verantwortung tragen, sagt er.
Dhians Argumentation ist, dass niemand damit beginnen wird, auf eine Gruppe picknickender
Menschen mit kleinen Kindern Steine zu werfen, wenn die nur Musik machen. Dass Friedlichkeit nicht
so schnell umschlagen kann, und auch Verletzlichkeit nicht.
Ich bin ein, zwei Tage später, vor dem Gathering, nochmal nach Al-Khader gefahren, um mir den Platz
nochmal anzuschauen, und stelle fest, dass die Wiese inzwischen bebaut und nicht mehr für ein
Picknick geeignet ist. Das kommt mir sehr entgegen, wie man oben lesen kann war mir das Ganze
selbst nicht mehr geheuer. Ich hatte an das St. Georgs-Kloster gedacht, das eben dort steht, denn die
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haben eine große Olivenwiese, die von einer Mauer umgeben ist. Genau das, was wir brauchen – einen
neutralen, sicheren Ort. Ich klopfe, und der griechische Priester hat nichts dagegen, was mich
überrascht, es kann ja auch immer was passieren, wenn Israelis im Spiel sind, ein Mob kann sich
schnell bilden. Er meint nur, er hätte für nichts Verantwortung, die läge bei uns, ebenso die
Versicherung sei unser Bier.
Erleichtert rufe ich die anderen an, und auch Ahmad ist es jetzt sicher genug.
Das Gathering findet statt, wir haben noch „King David“ (auch „crazy David“ genannt) bescheid gesagt.
Er ist Brite, der lange Zeit Militärarzt war und dermaßen verpeilt ist. Er ist im Ruhestand, sicher über
siebzig, und lebt mal hier mal dort in Israel und Palästina. Er ist auch in der Friedensbewegung.
Er bringt eine Familie aus Halhul mit, ein Dorf hier irgendwo, drei Mädchen, zwei Jungs und die Mutter.
Ich habe mich um die Internationalen gekümmerrt, alle Volos eingeladen die ich kenne, Esther, die
Leute vom Weinberg.
Dhian hat noch zwei Israelis mitgebracht, Mirella, die erst vor kurzem aus Holland eingewandert ist,
und Nitzan. Die zwei sind sehr nett, Mirella bewegt sich wie selbstverständlich unter den
Palästinensern, Nitzan hat etwas Schwierigkeiten, aus dem Staunen wieder herauszukommen.
Denn die Stimmung ist wunderschön, sehr harmonisch, überhaupt nicht so abschätzend von wegen
„wie reagiert der von dern anderen Seite, wenn ich dies und jenes sage“. Man scherzt und quatscht und
futtert und wir klampfen der Reihe nach rum.
Am Ende wars ein absoluter Erfolg, wir waren vielleicht 25 Leute von überall her, satt und zufrieden
und in einer guten Stimmung, in der nichts von den täglichen Gefühlen über die andere Seite
mitschwang.
30. April 2006
Ich sitze zusammen mit Israelis an einem Shabbatabend, und es werden gut Wünsche für die neue
Woche gesprochen. Einer schlägt mir auf den Magen. „Möge die nächste Woche viel Frieden bringen.“
Wie viele werden diese Woche verhaftet und erschossen in Bethlehem? Dieser Gedanke sackt mir in den
Bauch und bleibt da erstmal. Ich sage ihn nicht laut, ich möchte die Stimmung nicht zerstören. Doch
ein Pfeil trennt uns, die Israelis und mich. Sie denken nicht darüber nach, dass seit drei Wochen
soundso viele Palis erschossen und verhaftet wurden. (Ich weiß natürlich nicht, wie präsent
Terroranschläge und die Gefahr in ihrem Denken ist).
Ich muss bei manchen damit völlig unzusammenhängenden Dingen zuerst mal an ein neues Target
Killing denken. Beispiel heute: Rakan, einer der Jungs im SOS, erzählt mir auf Arabisch irgendwas mit
Beit Jala. Ich verstehe es nicht, und der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt ist, irgendwas in
Beit Jala ist passiert, irgendwer ist erschossen worden. Irgendwas von diesem wechselwarmen Krieg ist
dort passiert.
In Wahrheit hat Rakan von der Gruppe gesprochen, die uns im SOS-Dorf besucht.
13. Mai 2006
Dieser Bericht ist jetzt mal wieder entgegen meinen Versprechungen über dreißig Seiten lang
geworden. Eigentlich wollte ich ihn schon nach der ersten Hälfte schicken, aber dann ist wieder alles
dazwischengekommen und so blieb er liegen und ich musste die ganzen neuen Sachen noch
unterbringen.
Dieser Bericht ist allerdings irgendwie ein etwas unzusammenhängender Flickenteppich. Aber damit
wenigstens der ankommt, wird er jetzt unbarmherzig abgeschickt.
Noch ein paar Dinge will ich aber loswerden.
Ein paar mal hört sich dieser Bericht nach Grabesstimmung an und so, als obs mir hier überhaupt nicht
gefällt. Dann kommen aber auch wieder die positiven Erfahrungen.
Generell kann ich trotz allen Problemen mit der Arbeit und sonst sagen, dass ich riesig froh bin,
hierhergekommen zu sein. Sowas ist einzigartig.
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In diesem Sinne danke ich auch meinen Spendern, die das Ganze möglich machen. Ein paar davon
haben sich wirklich riesig hervorgetan und Beträge überwiesen, die ich nie erwartet hätte, 500; 333,33;
200; 150 Euro... Vielen Dank – Shukran ktiran!
Wenn es noch jemanden gibt, der sich dank der Berichte zum Spenden inspiriert fühlt und meinen
Einsatz unterstützen will, kann dies tun unter:
Konto: 861 1300
BLZ: 550 20 500
Bank f. Sozialwirtschaft
Verwendungszweck:
SPENDE WISE e.V. 92005
(Bitte bei Verwendungszweck bitte wirklich nur „SPENDE WISE e.V. 92005“ angeben!)
Im AEI arbeite ich ja jetzt an dieser kulturellen Webseite. Wenn ihr mal reinschauen wollt:
www.palestine-family.net
Auch dieser Bericht steht zusammen mit den drei vorherigen im Internet unter
www.nahostkonfliktloeser.blogspot.com – die ältesten Berichte ganz unten, die neuen jeweils darüber.
Da gibts auch einen Link zu meiner Yahoo-Fotoseite (die aber mega unaktuell ist).
Ich danke allen, die es wieder bis zum Ende geschafft haben, und freue mich auf Kritik, Rat und alles
andere. Ich hoffe euch geht es allen wunderbar, und ich freue mich schon darauf, euch um
Weihnachten herum, wenn ich insha’allah in Deutschland ankommen werde, wiederzusehen. Alles
Gute!
Vinzenz
***
Vinzenz Hokema
Zivildienstleistender über den WISE e.V. in Bethlehem, Palästina
Adresse in Deutschland:
Vinzenz Hokema
Am Studentenwäldle 4
73525 Schwäbisch Gmünd
Tel: 07171/2034
Adresse in Palästina:
Talitha Kumi
Mr. Vinzenz Hokema
c/o Lutheran Church of the Redeemer
P.O. Box 14076
Jerusalem
Israel
95
Handy in Palästina:
052-2095948
Email: [email protected]
Skype: vinzenz.hokema
Webseite: www.nahostkonfliktloeser.blogspot.com
Spenden an:
Konto: 861 1300
BLZ: 550 20 500
Bank f. Sozialwirtschaft
Verwendungszweck:
„SPENDE WISE e.V. 92005“
(ohne meinen Namen, nur das in Anführungszeichen)
Bericht Nr. 5
23. September 2006
Wieder zu Hause!
Da bin ich wieder, zu Hause, im grünen Deutschland!
Am 23. Juli hat mich ein Flugzeug in Stuttgart ausgespuckt, und seither bin ich wieder in Schwäbisch
Gmünd.
Auf Deutschland reagiere ich mittelmäßig. Es ist seltsam, hier zu sein. Nach zwei Wochen verging
dieses Gefühl, fehl am Platz zu sein, doch richtig angekommen bin ich manchmal immer noch nicht.
Gleichzeitig fühlt sich Bethlehem unendlich weit entfernt an, ich habe kein Gefühl mehr für die Lage
vor Ort, ich kann nicht mehr mit der Nase die Stimmung, die Situation erfassen, kann keine Leute über
die Politik ausfragen, sehe die typische Architektur, die Landschaft, die Menschen nicht mehr.
Ich vermisse den Nahen Osten, vermisse aber nicht mein Leben dort, es war oft genug hart. Ich habe
richtige Heimatgefühle, wenn ich jetzt eine Frau mit Kopftuch sehe. Mit dem Dönertürken habe ich
mich schon verbrüdert. Der Nahe Osten hat in allen Facetten seine Spuren hinterlassen!
Ich sehe einen Militärlastwagen auf der Autobahn, innerlich zucke ich zusammen, Israelische
Soldaten! Dann merke ich, dass ich in Deutschland bin. Seit vielen Wochen habe ich keinen Soldaten
mehr gesehen...
Seltsamerweise sind aber die Menschen, die ich am stärksten vermisse, Israelis und Ausländer,
weniger die Palästinenser. Die kulturelle Oberflächenspannung hält uns alle brav und fest in den Armen
der eigenen Kreise, Traditionen und Denkweisen. Wie Öltröpfchen im Wasser finden wir uns blind. Die
westlichen Israelis denken wie ich, haben eine fast identische Kultur. Eine Freundschaft über kulturelle
Grenzen ist zunächst harte Arbeit. Ich weiß jetzt, wie schwer es ist, sich zu integrieren, und kann auch
alten Türken, die, seit dreißig Jahren in Gmünd, kein Wort Deutsch sprechen, viel mehr Verständnis
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entgegenbringen. Auch wenn ich es ablehne, sich abzuschotten, und ich hatte auch arabische Freunde.
Doch es ist ungeheuer bequem, innerhalb der eigenen Kultur zu bleiben.
Ansonsten kämpfe ich etwas mit anderen Altlasten. Meine Amöbeninfektion, die mich das ganze Jahr
durch hat krank sein lassen, ist zwar weg (das heist aber nur, dass die Viecher sind nicht mehr
nachzuweisen sind...), doch mein Darm erholt und erholt sich nicht und macht mir Ärger. Ich bin aber
in guten Händen und zuversichtlich, irgendwann mal nicht mehr Diät halten zu müssen und lauter
homöopathisches Zeug schlucken zu müssen. Alhamdulillah – Gott sei Dank...
Letztendlich dauerte mein „Jahr“ in Palästina nur 11 Monate, ich habe fünf Wochen vor offiziellem
Ende abgebrochen. Das hängt vor allem mit meiner Gesundheit zusammen, die irgendwann mal nicht
mehr so witzig war. Den Zivi bekomme ich trotzdem anerkannt.
Weil ich eigentlich noch eine exzessiv lange Reise vorhatte, nämlich ab September drei Monate lang
von Palästina über die Türkei und den Balkan nach Hause zu trampen, hatte ich mich nicht für einen
Studiengang beworben. Die Reise ist dann wegen der Krankheit ins Wasser gefallen, aber gleichzeitig
dachte ich, ich wäre nicht fit genug für ein Studium – deswegen habe ich die Anmeldefrist verstreichen
lassen.
Jetzt wäre ich fit und verfluche mich, dass ich mich nicht für alle Fälle mal beworben habe.
Sollte ich nicht im Uni-Lotto gewinnen und in Konstanz oder Potsdam im Losverfahren gezogen
werden, habe ich jetzt ein Jahr Zeit, denn Politik- und Verwaltungswissenschaften fangen für
Erstsemester nur zum Wintersemester an.
Dieses Jahr will ich zum Arbeiten und für Praktika nutzen. Ich will nach Frankreich, damit mein unter
dem Arabisch begrabenes Französisch mal wiedererweckt wird. An dieser Stelle – wenn jemand
Kontakte nach Frankreich hat, die mir in irgendeiner Form einen Job anbieten oder vermitteln könnten
– ich nehme alles zwischen Trauben pflücken und Verwaltungspraktikum in einer humanitären
Organisation. Arbeit mit Behinderten eingeschlossen! In Deutschland würde ich auch gern in einer
humanitären oder politischen Organisation, einem Ministerium oder sonst was arbeiten.
Derzeit arbeite ich in der Gärtnerei, meine Hände sind teilweise von Blasen bedeckt, weil ich gestern
einige Pflanzen in der Erde verbuddelt habe.
Ich möchte allen nochmal ganz, ganz herzlich danken. Allen meinen Spendern, die mir den Einsatz
ermöglicht haben; allen, die an meinem Leben Anteil genommen haben; allen, die am Nahen Osten
Anteil nehmen, denn das ist das Allerwichtigste. Allen meinen Freunden, ob sie nun in Schwäbisch
Gmünd, in Palästina, in Europa oder sonstwo leben und mich wirklich unterstützt haben in diesem Jahr.
Und natürlich, wie sollte es anders sein („last but not least“) meine Familie, die mich unterstützt und
fordert.
Ein Dankeschön von mir sind diese Berichte, die ich zwar so lang gehalten habe, dass man sich
wirklich etwas anstrengen muss, um sie zu lesen (man kann ja auch mal querlesen), die aber von
meinem Leben und der Situation vor Ort berichten, nicht nur in „Mir geht’s gut und tschüss“-Manier.
Ein zweites Dankeschön werden die Vorträge sein, die vom WISE e.V. gefordert werden und die ich
gerne halten möchte; Ort und Datum stehen noch nicht fest, sicher kommt einer in Schwäbisch Gmünd,
wahrscheinlich in der Waldorfschule. Aber davon werdet ihr noch hören.
Wie immer freue ich mich, wenn ihr den Bericht weiterleitet.
Die vier letzten Berichte könnt ihr unter
www.nahostkonfliktloeser.blogspot.com
nachlesen.
Und jetzt geht’s wieder mit dem Bericht los!
3.Mai 2006
97
Mit Carola, einer Sizilianerin, die seit zwanzig Jahren in Frankreich lebt und vor einem Jahr für ein
paar Monate im AEI volontiert hat, gehe ich Mittagessen und wir unterhalten uns über dies und jenes;
Zum Beispiel erzählt sie, dass bisher jeder Freiwillige im AEI unzufrieden war (...).
Über ihre Heimat, Sizilien, die sie verlassen hatte, weil damals dort die Akzeptanz von
unverheirateten Pärchen genauso groß war, wie sie es heute in Palästina ist, und die Ehen mindestens
halb arrangiert waren; wie man als Frau nicht alleine leben konnte.
Das hat ihr natürlich einen optimalen Hintergrund für die Arbeit mit Frauen hier gegeben. Sie hat
während der Arbeit im AEI zweimal die Woche Fitness mit ihnen gemacht, was für die Frauen hier sehr
ungewöhnlich ist. Ihre größte sportliche Aktivität scheint das Gebären vieler Kinder zu sein...
Durch das Fitness-Thema ist sie gleich auf das Thema weiblicher Körper und Sexualität
übergegangen, z.B. zu den Möglichkeiten, wie man verhüten kann, ohne dass der Mann es
mitbekommt.
Über Fuad hat sie gleich noch ein paar Geschichtchen erzählt, z.B. wie er in eines eben dieser
Meetings kam und sich kurz dazusetzen wollte um zu schauen ob auch alles richtig läuft. Sie hat ihn
achtkantig rausgeschmissen, und er hat wohl überhaupt nicht verstanden, warum...
Ebenfalls, wie es zu dieser Zeit gerade eine Clanfehde aufflammte wegen eines muslimischen Jungen,
der mit einem christlichen Mädchen durchbrennen wollte (das Ganze endete damit, dass er ein Auge
verlor, seither ist Ruhe). Fuad hat daraufhin in allen Parents Group Meetings von der Unmöglichkeit
interreligiöser Ehen gesprochen, und hat die Trennung letztlich unterstützt (wie auch fast
ausschließlich alle Palis). Kurz vor Ende ihrer Zeit in Bethlehem hat sie ihm dann unter die Nase
gerieben, dass ihr Mann marokkanischer Muslim ist, was Fuads Kiefer wohl einen plötzlichen und
dauerhaften Absturz beschert hat.
Anschließend bin ich zu Marguerite L’ama gegangen, meiner Nachbarin. Sie ist eine etwas über
siebzigjährige Christin, die allein in einem dreihundert Jahre alten Haus lebt, das sich seit dem Bau
praktisch nicht verändert hat.
Ich soll mit ihr für www.palestine-family.net arbeiten, die kulturelle Seite, zu der das AEI beiträgt.
Sie holt mich vom doppelt verschlossenen Gartentor ab und führt mich in ihrem Haus herum. Sie
entschuldigt sich, dass alles so dreckig und unordentlich sei. Ihr Herz ist sehr schwach und Geld hat
sie sowieso nicht, da kann sie den langsam herabfallenden Deckenverputz nicht ersetzen und richtig
sauber halten auch nicht („nicht mal mich selbst!“).
Das ganze Haus ist aus dem typischen hellbraunen Kalkstein gemauert. Dabei wurden für jede Wand
zwei parallele Mauern errichtet, im Abstand von vielleicht dreißig bis fünfzig Zentimetern, und die
Zwischenräume mit einem Gemisch aus Kalkbruch und Erde gefüllt. So entstehen sehr dicke Wände, die
im Winter die Kälte draußen und im Sommer drin halten.
Das Haus besteht aus drei recht großen Räumen in einer Reihe, alle haben eine Gewölbedecke, die
ebenfalls mit dem Erde-Kalkgemisch verputzt sind und der wie Zeitlupenregen gelegentlich herabfällt.
Im ersten Raum lebt Marguerite, dort steht ihr Bett und ihr Schrank und ihr Fernseher und ihre
Sauerstoffflasche.
Der Raum in der Mitte war wohl mal der Hauptarbeitsraum oder Wohnraum, er ist größer als die
anderen; ein Esstisch steht dort, Anrichten und Schränke. Die neu eingebaute Küche (traditionell ist sie
in einem kleinen Haus neben dem Haupthaus) ist auch dort, sowie ein Bad, dass das Klohäuschen auf
der anderen Seite der Zwiebelbeete ersetzt hat.
Im dritten Raum stehen massenhaft alte Möbel herum; sehr schöne feudale Polstersessel und aller
möglicher antiquarischer Kram, der aus den verschiedenen Schränken quillt. Man könnte sich hier drin
tagelang aufhalten und immer noch etwas Neues altes finden.
Ich schaue mir noch eine der zwei Zisternen an, die auf ihrem Grundstück stehen. Sie sind völlig in
die Erde eingelassen, man sieht nur den Deckstein mit der Klappe darin. Das Wasser, das im Winter den
Hang hinunterfließt oder auf dem Hausdach landet, wird dort gesammelt und über das Jahr
aufgebraucht. Sie benutzt heute auch Leitungswasser, ihre Nichte benutzt in ihrem Haus allerdings
weiterhin das aus der Zisterne. Einmal im Jahr müssen die Zisternen mit einem Mittel behandelt werden
98
(früher war es Petroleum (...)), damit die verschiedenen Spezies, die sich hier breitgemacht hatten,
wieder abgetötet werden.
Sie macht Yarmur- und Yansun-Tee, (vielleicht Dill?) und ich muss von den Dattelmarmeladekeksen
essen, die sie nicht essen darf und noch von Ostern übrig hat. Dann setzen wir uns raus auf die
Terrasse, die gleichzeitig das Dach eines kleinen (ebenfalls uralten) Häuschens gleich neben dem
Haupthaus ist und schauen auf den gegenüberliegenden Hang wo die Geburtskirche steht. Sie erzählt
mir, wie alles früher war. Welche Häuser schon standen, welche Ländereien ihrer Familie gehörten. Es
ist unheimlich interessant und ich fühle mich wohl bei ihr. Sie zeigt Fotos, eins davon, von der
genügerliegenden Hangseite aufgenommen, zeigt ihr Haus um 1920. Jeder Stein, den ich jetzt sehen
kann, war damals schon am selben Ort.
1920, als alles noch so unschuldig war, die Politik sich noch nicht so sehr eingemischt hatte...
Während wir so auf der Terrasse sitzen, geht plötzlich in Bethlehem wildes Geballer los, aus der
Umgebung der Uni. Marguerite telefoniert ein bisschen herum, um herauszufinden was da los ist. Sie
gibt Entwarnung: Es sind nur Fatah-Anhänger, die den Wahlsieg im Uni-Studentenbeirat feiern (Fatah:
12 Sitze, Hamas 7, PFLP 1 – Gerade andersrum als in den Parlamentswahlen! Jihad Islami hat im
Gegensatz zu den Parlamentswahlen auch teilgenommen, er bekam glaube ich keine Stimme).
Das Geballer ist zwar jetzt kein Zeichen mehr für Gefechte der israelischen Armee, was eine
unschöne Neuerung in meinem Alltag wäre (ich habe nie irgendwas wirklich ernstes live erlebt), aber
die Geräuschkulisse von hellem kleinen „Taktaktak“ zu „Boom! Boom!“, von Einzelschüssen über ganze
Magazine bis hin zu automatischen Waffen, ist doch nichts so entspannend.
Ich hatte mich mit Esther und einem deutschen Freund in Jerusalem verabredet, und so muss ich die
Terrasse verlassen. Die Sonne ist ohnehin schon untergegangen und es wird zu kalt für Marguerite
draußen.
Ich verabschiede mich, laufe den steilen Hang hinauf, winke oben an der Straße ein Sammeltaxi
heran. Das bringt mich zum Checkpoint, mit größter Normalität gehe ich durch den Checkpoint, der
mich anfangs so geschockt hatte. Der arabische Bus auf der anderen Seite bringt mich nach Jerusalem.
Es wird dunkel und ich gehe zur Jaffa Street, der Schlagader Westjerusalems.
Plötzlich höre ich eine Explosion. Mein Herz zuckt zusammen, ich denke es sind Schüsse, meine
Schritte kommen aus dem Takt.
Dann schaue ich auf und sehe über den Häusern das Feuerwerk.
Ich schelte mich, dass ich so empfindlich geworden bin in diesem Land. Ich kann aber die ständigen
Explosionen nicht aushalten, möchte am liebsten davonrennen, es macht mir das Herz ganz unruhig.
An mir geht ein älteres israelisches Pärchen vorbei. Der Mann, vielleicht 40 und bärtig und dick, hält
seiner Frau die Ohren zu. Sie versucht, vor den Lauten, dem Knallen des Feuerwerks zu entkommen, ihr
Gesicht ist ganz in sich selbst verkrochen, sie läuft geduckt. Sie ist traumatisiert. Was ist ihr wohl
zugestoßen? Ist ihr schon mal ihr Alltag um die Ohren geflogen, wurde sie Opfer eines Attentats? Oder
sind es nur die Medien, die sie traumatisieren?
Ich finde Esther und Andi, sie erklären mir, dass das Feuerwerk irgendwas mit der Unabhängigkeit zu
tun hat; entweder ist es der Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung, oder der Tag, an dem Israel den
Krieg gewann. Alles ist in heller Aufregung, denn der Nationalismus ist groß in Israel; seit Tagen schon
ist alles mit dem „Sternenbanner“ voll, an Autos, an öffentlichen Gebäuden, an Balkons. Alles feiert.
Wir lassen uns mittreiben und landen in einer kleinen Jazzkneipe, winzig. Es gibt nur einen langen
Tisch, dazu ist eine kleine Küche in den Raum gedrängt, in der verschiedene Sorten Suppen gemacht
werden (weshalb auch immer). Vier Jungs (zwei mit Kipa, zwei ohne) spielen, es ist der Hammer. Die
Bedienung stellt sich ab und an dazu und singt. Kein Feuerwerk...
12. Mai 2006, Freitag
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Freitagmittags bin ich im SOS und sehe, wie Nabil, Mohammad Said und Taufiq, alle drei religiöse
Muslime aus dem SOS-Dorf, zur Moschee aufbrechen. Mir schießt kurz Utas Warnung durch den Kopf,
mich nicht zum Freitagsgebet bei einer Moschee aufzuhalten, aber die drei wissen ja, dass der Imam
die Massen dort nicht auf mich hetzt. Also gehe ich unbesorgt mit.
Wir fahren nicht zur Hauptmoschee Bethlehems, gegenüber der Geburtskirche, sondern zu einer
kleinen im kleinsten Flüchtlingslager Bethlehems, Al-Ázza’.
Als wir ankommen, singt der Muazzin (das a betonen; das z als weiches s gesprochen wie bei
Saarland) schon, und die Moschee füllt sich mit Männern (Frauen und Mädchen beten wohl woanders?
Zu Hause? Ich sehe keine einzige Angehörige des weiblichen Geschlechts). Ich bleibe draußen und
Nabil bleibt bei mir.
Alle setzen sich irgendwo hin und lauschen dem Muazzin, der seine Predigt vom Minarett schallen
lässt. Ich bekomme einige verwunderte Blicke ab, aber auch massenhaft Salaam-aleikum-Grüße.
Als der Muazzin fertig ist, werden die Gebetsteppiche nach Mekka hin ausgerichtet, und mit einem
„Allahu akbar!“ (Gott ist groß) beginnt das Gebet. Jeder steht, die Arme waagerecht über dem Bauch
verschränkt, und betet still, manche schließen die Augen. Die Lippen bewegen sich stumm
Zu weiteren Rufen vom Muazzin fallen die Männer auf den Teppichen auf die Knie und berühren mit
der Stirn den Boden, richten sich auf und beten kniend, fallen wieder nieder, stehen auf.
Sie halten die Handflächen knapp unter Kopfhöhe dem Gesicht zugewandt, beugen sich hinunter...
Wenn sich auf den Ruf des Imams alle niederknien oder beugen, entsteht plötzlich ein Meer aus
niedergebeugten Rücken...
Nach zehn Minuten ist das Gebet vorbei, alle die in der Moschee waren versuchen jetzt, ihre Schuhe
wieder zu ergattern, die man ja beim Betreten ausziehen (und sich Füße, Hände und Gesicht waschen)
muss. Alle tauschen Grüße aus und halten kleine Schwätzchen, ich schüttle die Hand des Sheikhs und
anderer Honoratioren.
Ich verabschiede mich von Nabil und den anderen und biege in Richtung Jerusalem ab. Ich muss, um
meine Amöben endlich mal richtig zu behandeln, nach Jerusalem zu einer Alternativärztin, die mir
schon empfohlen worden wahr.
Nachdem im Checkpoint ein Mädchen zehnmal etwas neues ablegen muss, bevor der Metalldetektor
nicht mehr piepst, und ich an der anderen Seite ewig auf einen Bus warten muss, komme ich
tatsächlich in Jerusalem an und mache mich auf den Weg zu dieser Ärztin. Ich treffe mich auf dem Weg
dorthin mit einem israelischen Freund, Dhyan, mit dem ich das erste Family Gathering organisiert
hatte, denn die Ärztin ist russischstämmig und spricht schlecht Englisch. Er hat sich bereiterklärt, mir
zu übersetzen.
Wir kommen in der Praxis an und stellen fest, dass die Ärztin nicht da ist. Wir warten eine Stunde und
geben dann auf, die Putzfrau, die uns reinließ, hat auch keine Ahnung wo Madame ist.
Wie sie mir am Sonntag dann auf die Mailbox spricht, bewies Dr. Gural ihre schlechtes Englisch beim
Ausmachen des Termins. Sie meinte eigentlich Donnerstag statt Freitag...
Ich entschuldige mich bei Dhyan und wir verabschieden uns. Ich mache mich auf den Weg in
Richtung Stadtzentrum. Es ist vier Uhr, und ich habe bis um acht Zeit, denn ich wurde von einer
befreundeten, frisch immigrierten Holländerin zu einer Shabbatfeier eingeladen.
Ich setze mich auf der Denmark Plaza auf eine Bank in den Schatten, betrachte die riesige
Stahlskulptur, die ein Schiff stilisiert, und lese die Plakette. Es wird den dänischen Volk gedankt, das
einen Aufstand gegen die Nazis gewagt haben und innerhalb von zehn Nächten fast die gesamte
jüdische Bevölkerung Dänemarks, 7000 Menschen, mit Fischerbooten nach Schweden geschippert
haben.
Ich esse Brot und Kekse und gebe einem Bettler statt der geforderten zehn Shekel nur einen – ich
hätte ihm eine Scheibe Brot geben sollen stattdessen, doch ob seiner Aufdringlichkeit habe ich gar
nicht daran gedacht.
Ich rufe Mirella an, meine Shabbat-Gastgeberin, und frage ob ich etwas früher kommen kann. Sie
lädt mich in die Synagoge ein, ich bin begeistert und ich beeile mich, zu ihr zu kommen.
100
Mirella ist eine neue Einwanderin in Israel, erst vor eineinhalb Jahren hat sie Áaliyah gemacht, wie das
Einwandern von Juden nach Israel heißt. Sie war auch auf dem Family Gathering dabei, eine sehr
herzliche und offene Frau.
Als ich bei ihr zu Hause ankomme, sind die anderen Gäste auch schon da – Menno, ein christlicher
Holländer, den ich von wer weiß woher in Bethlehem kenne; Edith, ebenfalls holländisch-israelische,
orthodoxe Jüdin; Paula eine Jüdin aus Südafrika; Mirellas Eltern und ich.
Wir treffen die letzten Vorbreitungen für das Abendessen, denn nach der Sirene am Freitagabend, die
den Beginn des Shabbat anzeigt, darf ja nicht mehr gekocht werden. Ich habe leichte
Orientierungsschwierigkeiten, denn plötzlich muss ich mich in einem kosheren Haushalt bewegen.
Kosher bedeutet vor allem, dass Milch und Fleisch völlig voneinander getrennt bleiben müssen.
Spiritueller Hintergrund ist, dass die Möglichkeit zur Gänze ausgeschlossen werden soll, dass ein Kalb
in der Milch seiner Mutter gekocht wird. Die Regel wurde ausgeweitet, und so gilt es jetzt auch für alles
andere. Dabei geben die meisten Geflügelsorten ja recht wenig Milch ab...
Aber ich will das Ganze nicht werten. Edith, die Orthodoxe, meinte, je mehr sie selbst über das
Kosherhalten der Nahrung lerne, desto mehr sehe sie den Sinn dahinter. Sie ist in einer säkularen
Familie aufgewachsen und hat sich erst spät der Religion zugewandt.
Die praktische Umsetzung der einfachsten Dinge – Shabbatkelche abwaschen zum Beispiel – wird
dann ein ziemlicher Drahtseilakt. Im Waschbecken ist ein Korb aufgestellt, in dem Kelche schon liegen.
Ich werde gewarnt, ich soll sie nicht das Waschbecken berühren lassen, denn das ist nicht kosher, hier
werden ja sowohl Fleisch- als auch Milchgeschirr - alles doppelt vorhanden - abgewaschen.
Bevor ich das Handtuch nehme, um die Kelche abzutrocknen, warte ich erst ein bestätigendes Nicken
ab, und lege mein mitgebrachtes Brot wieder in meinen Rucksack zurück, denn es hat keinen KosherStempel.
Wenn man einen Fehler macht, z.B. wenn die Kelche das Waschbecken berühren, ist die
Reinigungsprozedur wohl ziemlich umständlich. Man muss erst den jeweiligen unreinen Gegenstand
stundenlang kochen, dann ein paar Tage lang ruhen lassen, Gebete sprechen – erst dann kann man ihn
wieder benutzen.
Nach der Sirene gehen wir alle zur Synagoge, die sich in einem alten, vor dem 48er Krieg arabischen
Viertel befindet. Wir gehen viele verwinkelte, gewundene Gassen entlang und an vielen schönen
Torbögen und altem Mauerwerk vorbei.
Die Synagoge ist irgendwas stark reformerisches, irgendein Rabbi hat wohl einmal viele der strengen
Regeln über den Haufen geworfen, und diese Synagoge wird nach seinen Ideen betrieben.
Die Männer sind im vorderen Teil, die Frauen davon durch einen ziemlich durchsichtigen Vorhang
getrennt im hinteren Teil des Raumes, das hat sich nicht geändert. Ganz vorne das Allerheiligste, ein
durch Vorhänge abgeschirmter großer Schrank. An einem Pult einige Meter davor betet schon jemand
laut, die Bändel an seinem Stramel, dem Gebetsschal, wippen mit im Takt seines Shokelns.
Ich rücke mir meine Lederkipa zurecht, verteile „Gut Shabbes“ nach allen Seiten, und suche mir einen
Stuhl, weiter vorne ist noch was frei. Die Kipa wurde mir aus einem Lost & Found-Karton in den
Vorraum gereicht, erst dann konnte ich eintreten. Eine Synagoge dürfen Männer nur mit
Kopfbedeckung betreten, und wenn es eine Schiebermütze ist.
Der Mensch am Pult rezitiert weiter die Torah, mit starkem amerikanischem Akzent. Wieder mal wird
deutlich, wie nah sich Judentum und Islam stehen, denn auch er spricht sie nicht, sondern singt sie. Es
ist wunderschön, und ich betrachte all die gläubigen Menschen um mich herum, orthodoxe, normale,
orthodoxe Hippies, die dem Wechselgebet antworten.
Nachdem die Gebete gesprochen (und gesungen) sind, fängt der für diese Synagoge typische Teil an:
Es wird gesungen, und zwar lange. Manche der Lieder sind getragen und ruhig, aber die meisten haben
großen Drive, die Menschen beginnen zu klatschen und tanzen, es herrscht keine Distanz zu den
Liedern. In der Mitte entsteht ein Kreis, der zu seinem schönen und lauten Gesang tanzt und lacht.
„Von glückäugigen Chassidim umringt...“, wie Rose Ausländer schreibt.
Nach einer Stunde ist die Feier (was ist der rechte Ausdruck?) um, und wir machen uns auf den
Heimweg.
101
Edith eröffnet den Shabbat mit dem Ritus. Sie füllt den großen Kelch bis zum Rand, spricht ein Gebet
darauf und leert ihn zur Hälfte. Den darin verbliebenen Wein verteilt sie auf die kleinen Kelche, jeder
von uns bekommt einen und wir trinken.
Dann waschen wir uns die Hände. Man nimmt einen Krug und gießt sich dreimal Wasser erst über die
rechte, dann über die linke Hand. Danach spreche ich Edith das hebräische Gebet nach, ich werde ein
wenig davon überfallen und fühle mich nicht unbedingt wohl, Worte zu plappern, die ich nicht verstehe
und die sich an Gott richten. Aber die Kurzübersetzung ist wohl so etwas wie „Danke, Gott, dass ich
mir meine Hände waschen kann“. Damit kann ich leben...
Nach dem Händewaschen darf man kein Wort mehr sprechen, und so setzen wir uns still an den
Tisch und warten, bis Mirellas Vater das Brot bricht.
Er hat offensichtlich keinen großen Draht zum Judentum, es scheint eins der ersten Male zu sein,
dass er das tut. Unter dem stummen Dirigieren Mirellas und Ediths hebt er zwei Brotlaibe wie als
Respektsbezeugung hoch, legt sie wieder hin, streut Salz darüber (irgendwann kommen „das ist jetzt
aber wirklich genug!“-Handzeichen von den beiden Shabbatdirigentinnen) und reißt dann kleine Stücke
ab, der Reihe nach bekommt jeder eines, das uns vom Sprechverbot erlöst.
Und dann geht’s mit dem Essen los, wunderbar genießbar und nicht zu unterscheiden von
unkosherem Essen. Kokos-Ingwer-Sojasuppe, guter Hummus, indischer Dhal, Ziegenkäsesalat,
geräucherte Makrele, Salat mit Dattelsirupsalatsauce...
Die warmen Speisen standen auf einer Heizplatte, die angeschaltet wurde, bevor Shabbat begann –
denn schon das Bedienen eines Licht- oder Heizplattenschalters gilt als Arbeit, und die ist am Shabbat
verboten. Ebenso ist es das Entzünden von Kerzen, und so zündeten wir auch die an, bevor wir in die
Synagoge gingen. Früher, als es noch keine Strom gab, war der Shabbatabend schlicht zu ende, wenn
die Kerzen ausgegangen waren...
Wir unterhalten uns angenehm, natürlich auch viel über Politik mit so vielen Grenzgängern und
Ausländern an einem Tisch, und ich genieße es, mit Israelis am Tisch zu sitzen, unter denen keiner ist,
der uns mit irgendwelchen rechten oder rassistischen Sichtweisen das Essen verdirbt.
Irgendwann um halb eins brechen Mirellas Eltern auf, und wir anderen bleiben noch ein wenig
zusammen sitzen, weil Edith das abschließende Gebet vergessen hatte und es noch nachholen will.
Danach gehe ich mit zu ihr, sie hat mir ihr Sofa angeboten, was mir das Taxi oder die nächtliche
Wanderung zu Ibrahims offenem Haus auf den Ölberg erspart.
In ihrer Wohnung brennt nur im Bad das Licht, und wird auch an bleiben, bis Samstagabends um acht
die Sirene wieder Shabbatende signalisiert. Sonst sind alle Lichter aus, und ich beziehe im Dämmerlicht
das Bett und werde vor den Katzen und dem Vater gewarnt. Es leben nämlich sieben Katzen in der
recht kleinen Wohnung (was einem als unübersehbare Duftnote an der Tür entgegenschlägt) von Ediths
Mitbewohnerin. Das scheint nur ein kleiner Vorgeschmack zur Farm ihrer Eltern bei Miami zu sein, wo
20 Katzen und vier Hunde leben...
Das Apartment gehört dem Vater von Ediths Mitbewohnerin, der schon schläft, aber Edith warnt
mich, ihm nicht allzu leichtfertig unter die Nase zu binden, wo ich arbeite, er sei ziemlich rightwing.
Beide Warnungen stellen sich morgens als berechtigt heraus. Ich wache von einem resoluten und
nachhaltigen Zwicken in meinen rechten großen Zeh auf, der unter der Decke hervorgeschaut hatte. Ich
ziehe ihn schleunigst wieder in Sicherheit, und beginne eine kleine Jagd mit der Katze, die versucht,
den Zeh durch die Decke zu verfolgen. Irgendwann reichts mir dann aber doch, ich kippe die Katze
vom Bett und drehe mich nochmal um.
Später kommt dann der Vater aus der Torahschule zurück und schmeißt uns alle raus, weil meine
Gastgeber wohl irgendwo zu Mittag eingeladen sind. Ich habe eine Unterhaltung mit ihm, er fragt was
ich hier mache, und ich sage ich arbeite in einem SOS-Kinderdorf. Mein Versuch, so lange wie möglich
auf den Details der Struktur des SOS rumzuhacken scheitert, er fragt dann doch wo es liegt und ich will
nicht lügen. Er reagiert nicht mit Gift und Galle auf den Namen Bethlehem und bleibt locker, und ich
kann mich wieder ein bisschen entspannen. Er fragt, ob „sie“ mir das Leben schwer machen, und meint,
ich werde jeden Tag einer Gehirnwäsche unterzogen. Auf seine indirekte Frage, auf welcher Seite ich
stehe, antworte ich, ich stehe auf der Seite der Menschenrechte, was mir oft Probleme mit dem Staat
102
Israel machen würde. Daraufhin kommt gleich die ganze Leier von wegen wir-wollen-es-der-armenArabern-doch-nicht-schwer-machen-aber-was-sollen-wir-denn-tun? Einer, der auf seine eigene
Propaganda reinfällt.
Wir sind uns dann einig, dass die Medien ein falsches Bild vermitteln. Er fährt fort, das sei nämlich
so, weil die Medien einfach immer nur die linke Seite vermitteln würden, weil sich die rechte nicht so
gut verkaufe. - Das nimmt mir kurz den Atem, bringt mich aber gleichzeitig fast schon zum Lachen, ist
ja meine Meinung über die Ausgewogenheit der Medien gerade andersherum. Um kein echtes
Streitgespräch an einem Shabbatmorgen aufkommen zu lassen nicke ich aber nur ein paar mal mit dem
Kopf, und dann müssen wir gottseidank bald schon wieder gehen. Der Vater entschuldigt sich noch,
dass er mich nicht mit dem Auto zur Hebron Road fährt, aber es ist ja Shabbat...
Sehr sehr nette Leute, bloß diese zwei drei politischen Einstellungen des an sich netten Vaters sind
etwas seltsam... Aber er schafft es, dass er den Gegenüber trotzdem noch respektiert.
14. Mai 2006, Sonntag
Ich sitze nach einem Tag im SOS noch mit Raji, einem ehemaligen SOS-Kind, zwei Monate älter als
ich, und zwei SOS-Müttern auf einer Bank und wir lassen den Tag ausklingen. Auf verschlungenen
Pfaden kommen wir zum zweitwichtigsten Thema Palästinas, der Religion, und Raji erzählt den beiden,
dass ich keine Religion habe.
Wie immer zieht das großes Staunen nach sich und ich sehe mich genötigt zu erklären. Ja, ich glaube
an Gott, wenn auch nicht an irgendwelche weißbärtigen alten Männer, sondern an etwas unfassbares,
das wir beschränkten Menschen nicht verstehen können. Diese Denkweise ist übrigens auch dem Islam
eigen, Gott wird als so groß beschrieben, dass man ihn nicht fassen kann – für eine Mikrobe, die auf
meinem Bauch lebt, ist der auch nur eine riesige Ebene, die sich wie wild durch die Gegend bewegt,
und sie kann noch so weit laufen, sie wird nie lange genug leben, um meinen ganzen Körper sehen und
verstehen zu können. Ihr fehlt schlicht der Überblick. Wie die Maya-Felszeichnungen, die man nur aus
dem Weltraum zusammenhängend betrachten kann...
Ich werde gefragt, wie ich denn Gott danke, und antworte, dadurch, zu versuchen, so gut wie
möglich zu leben, dass sei ja, was Gott letztendlich wolle.
Mit diesen zwei Meinungen habe ich einen gehörigen Stein im Brett bei den zwei ziemlich
strenggläubigen Muslimas, sie sind ganz be“geist“ert.
Und wirklich, seit ich hier bin, hat sich meine Perspektive auf die Religion verändert, ich nehme an,
dass es sozusagen eine zweite Ebene der Physik geben muss, eine Welt, die ebenfalls mit Energien und
Gesetzen waltet und die die verschiedensten religiösen und esoterischen und nochwas-Phänomene
erklären könnte. Ich glaube aber immer noch nicht an ein bewusstes Wesen da oben. Dass ich dann
den dreien von Gott und was er will erzähle, hat damit zu tun, dass man in diesem Land auf sehr viel
mehr Verständnis stößt, wenn man wenigstens an einen Gott glaubt, wenn schon nicht an eine
Religion, und zweitens, dass die Quintessenz dessen, was den Gottesglauben wohl so ausmacht,
meiner Meinung nach eine Art Prinzip Hoffnung und eine Suche nach Geborgenheit ist, die irgendwo
allen Menschen innewohnt. Die habe ich auch, warum also soll ich sie nicht wie alle anderen „Gott“
nennen?
Raji lädt mich später am Abend noch zum Essen ein. Wir gehen in eine Pizzeria (die einzige in
Bethlehem, die richtig westliche Pizza macht), und treffen dort Freunde von ihm.
Einer von ihnen wohnt beim Checkpoint und erzählt von den israelischen Armeejeeps, die jede Nacht
nach Bethlehem kommen – zwei bis vier, die jede Nacht vier oder sechs neue Gefangene aus Bethlehem
holt. Es scheint mir ein passives russisches Roulette zu sein, das die Palästinenser ihr ganzes Leben
lang spielen müssen...
Genuss:
103
Um alle Dinge genießen zu können, muss man alle Erwartungen, Erfahrungswerte und Gewohnheiten
herabschrauben und gut wegschließen.
Der Flugsame einer Distel hat eine wunderbar geäderte, glänzende Oberfläche. Die sieht man nur,
wenn man mit einem Kind geht und dann lang auf dieses kleine Stückchen Natur schaut.
Wenn man in ein anderes Land kommt und das Essen nicht kennt, darf man nicht werten. Alles essen
und zur Kenntnis nehmen. Was auf Anhieb nicht so gut schmeckt, einfach nur schmecken, was so drin
ist, wie es ist – und in keine Werteskala einordnen.
Jeden Tag neu ein Ding genießen, sich dafür einen Augenblick Zeit und ein kleines Bisschen
Aufmerksamkeit nehmen, und das Leben wird von kleinen wunderschönen Dingen angefüllt sein.
15. Mai 2006
Es ist Lag ba-omer, ein israelischer Feiertag, an dem Lagerfeuer entzündet werden. Das Fest hat
soweit ich weiß kaum oder keinen religiösen Hintergrund, sondern hängt mit der Staatsgründung
zusammen...?
Der 15. Mai ist außerdem Yom an-Nakba, der „Tag der Katastrophe“. Israels Staatsgründung wird
von den Palästinensern als Katastrophe bezeichnet (was es für ihre nationale Entwicklung ja auch war).
An diesem Doppelfesttag organisiert Dhyan (und ich ein bisschen) das zweite Family Gathering.
Er hat einen Platz ausgewählt, der in vieler Hinsicht besonders ist.
Es ist eine Quelle ein paar Kilometer von Beit Jala entfernt. Das Land gehörte einmal zu Al-Walaja,
einem Dorf nahe Beit Jala. Das Dorf selbst ist über die Spitze des Berges verteilt. Auf drei Seiten
schneidet jetzt die Mauer die Hänge ab, die Ländereien sind teilweise schon lange enteignet. Von den
ursprünglich 22 Quellen, die dem Dorf sein Bauernleben ermöglicht haben, sind jetzt 20 auf der
„israelischen“ (=illegal besetzten) Seite der Mauer, die jetzt gerade gebaut wird.
An einer der größten dieser Quellen, Ain al-Haniyya, treffen wir uns. Die Quelle entspringt ein paar
hundert Meter von der Straße entfernt, wird ein wenig weitergeleitet und fließt aus einer sehr schön
gebauten Quelle – mit einem kleinen, schön behauenen „Portal“ für das Wasser – im hohen Bogen
einem Becken zu, das fast zwei Meter tief und vielleicht zehn mal sechs Meter groß ist. Gerade ist das
Wasser darin ziemlich grün. Irgendjemand hat einen der kleinen Kanäle leicht beschädigt, so dass nicht
alles Wasser hineinfließt, der Wasserspiegel tiefer ist und der Hauptabfluss nicht mehr die ganzen
Algen rausschwemmen kann.
An diese Quelle kommen fast nur Siedler, die v.a. in Gilo leben, einem Settlement neben Bethlehem.
Vielleicht wollten ein paar Palis denen den Spaß verderben. Wer weiß...
Dhyan, Mohammad und Hamza aus Nahhalin und ich kommen als erste dort an, kurz darauf zwei
Jungs aus Battir (beides Dörfer bei Bethlehem) mit dem Fahrrad. Wir packen unsere Teppiche aus und
Brot und Hummus und Saft, und schon kommt auch schon „King“ David, ein englischer Arzt, um die 70,
der mit dem einzigen Smart Palästinas jeden Quadratkilometer des Nahen Ostens abfährt auf seiner
Suche nach Frieden. Er bringt ein randvolles Taxi mit Leuten aus Halhul bei Hebron mit, fünf Mädchen
und die Mutter, und weitere Taxis kommen und Busse, so dass wir irgendwann vielleicht 50 Leute sind,
mehrheitlich Palästinenser, einige Israelis.
Einige Siedlerjungs, 17, 18 Jahre alt, sind gerade mit Schwimmen fertig als wir kommen und ich lade
sie ein, sich zu uns zu setzen. Ich weiß schon vorher ziemlich sicher, dass sie nicht kommen werden,
aber es soll ein Signal sein an sie.
Ich gehe also hin und lade sie ein und komme natürlich mit ihnen ins Gespräch, das sofort und
unwiderruflich in die Politik abrutscht, was eigentlich völlig sinnlos ist, wenn man von so
gegensätzlicher Überzeugung ist.
Sie haben dann auch sehr starke rechte Einstellungen, von wegen Israels-Land-ist-Gottgegebenund-wir-dürfen-es-niemals-aufegeben, und Vertreibung der Araber, die sollen doch nach Jordanien,
Syrien und Ägypten auswandern. Sie freuen sich auf den Armeedienst (laut Dhyans eigener Erfahrung
wird sich das sehr bald ändern und sie werden die Armee hassen) und sind überzeugt von ihrem Staat,
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von ihren Ansichten und davon, dass Gott ihnen ein Abonnement auf Rechthaben mit dem Land gleich
mitgeschenkt hat.
Die Diskussion ist also völlig unfruchtbar und sie ziehen ab, etwas konsterniert ob der vielen
Palästinenser, die jetzt am „Pool“ sitzen; normalerweise sind hier nur Siedler. Sie trampen unten an der
Straße, und ein Auto kommt aus der falschen Richtung, dreht um und nimmt sie mit. Sie haben ständig
nach oben zu uns geschaut – haben sie aus Angst vor den Arabern den Fahrer bequatscht, sie da
wegzubringen?
Es ist dann sehr angenehm, ich gehe als erster schwimmen und einige der kleineren Kinder folgen.
Einige davon können kein bisschen schwimmen, es gibt in ihrem Umfeld einfach keinen Ort, an dem
man das lernen könnte, und ich trage sie durchs Wasser. Die können nicht mal hundeln (wenn das ein
gesamtdeutscher Ausdruck ist), die würden hoffnungslos absaufen in der Sekunde in der ich sie
loslasse. Macht großen Spaß, ich habe aber viele leicht panische Kinder buchstäblich am Hals, die mir
mit Vorliebe die Luft abdrücken oder mich ertränken wollen in ihrem Versuch, sich an mich zu
klammern.
Später grillen wir und die Argile, die Wasserpfeife, wird angeworfen, mehr Israelis kommen, die
Sonne geht unter, die Stimmung wird immer distanzloser und fröhlicher.
Die Distanzlosigkeit wird für mich etwas unangenehm in den Augenblick, als Fatwa, ein Mädchen aus
einem Flüchtlingslager bei Hebron, beginnt, sich offensiv an mich ranzumachen. Sie will auch mal im
SOS arbeiten, sagt sie, sie hat Sozialarbeit studiert und möchte Erfahrungen sammeln. Sie will meine
Handynummer, damit ich ihr eine Verbindung zum SOS herstelle. Bei ihrer Freundin löst der
Nummertausch schon Kicheranfälle aus und ist ziemlich peinlich für alle.
Aber als es dann etwas kühler ist und ich mich in meinen Poncho gewickelt habe, kommt sie doch
tatsächlich und klemmt sich mit unter den Poncho, der nicht gerade riesig ist. Ihre Freundin reißt die
Augen auf, shu bitsaui, was machst du denn da?, und ich überlasse galant ihr den Poncho. Besser
frieren. Ich muss mich nicht mit ihren männlichen Familienangehörigen angelegt haben, die zwar nicht
dabei sind, aber wer weiß was erzählt wird.
Irgendwann um sieben bricht die Familie aus Halhul auf, zu deren Mutter gehören all die kleinen
Kinder (und meine „Freundin“). Sie können nicht ewig nach Sonnenuntergang unterwegs sein, auch
wenn ihr Taxifahrer die ganze Zeit dabei ist.
Fatwa klingelt mich später noch einige Male an, aber ich rufe nicht zurück. Es ist 1. völlig unmöglich,
mit einem Mädchen aus einem Flüchtlingslager eine Freundschaft zu haben, geschweige denn eine
Beziehung. Mal davon abgesehen, dass sie nicht mehr als zwanzig Worte Englisch spricht und wir uns
immer auf Arabisch abmühen, bis die Verständigung klappt.
Wegen dem SOS hat sie mich nie angerufen...
So um acht dann kommen noch einige Israelis, die noch gearbeitet hatten, und es geht musikalisch
los. Oded hat sein Akkordeon dabei, Daphna spielt Gitarre was das Zeug hält, Flöte, Trommeln,
Schellen. Mohammad und Hamza rauchen ihre Wasserpfeife, Musik, Gespräche, Lagerfeuer...
Gegen Mitternacht gehen alle außer Dhyan und ich; wir räumen noch ein bisschen zusammen.
Währenddessen finden sich 50 Meter weiter zwei Partygruppen ein, die einen haben einen Generator
mitgebracht und Scheinwerfer, beide grillen. Bei beiden will das mit der Kohle wohl nicht so ganz
fruchten, und so sieht man von Zeit zu Zeit größere Stichflammen von den Feuerstellen ausgehen, die
den Autos auch mal sehr nahe kommen und dem Fleisch sicher eine spezielle Note geben.
Sie haben auch Musik mitgebracht und ich bin recht verwundert, lauten arabischen Pop zu hören bei
den klar israelischen Leuten. Wir gehen hin und laden unser Zeug ins Auto und quatschen mit ihnen.
Ich habe meine Quffiyya um den Hals und keine Lust sie abzumachen und zu verstecken, wozu auch.
Sie sind nicht allzu verwundert, und auch sehr tolerant mit dem Fakt, dass ich in Bethlehem lebe.
Die meißten von ihnen sind gerade bei der Armee, ich unterhalte mich kurz mit Nir, der an einem
Checkpoint bei Tulkarem dient. Ich frage ihn, ob ich ihn besuchen kommen kann und einen Tag lang
bei ihnen am Checkpoint stehen kann, das hatte ich schon lange vor. Er war auch ganz offen dafür, ich
solle einfach ein paar Tage bevor ich komme anrufen, damit er das mit seinen Vorgesetzten abklären
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kann. Ich habe seine Nummer und will es auf jeden Fall probieren. Ich möchte endlich mal die
Perspektive der Soldaten sehen.
Und wenn ich dann schon mal dort bin, kann ich auch gleich Sebastian besuchen. Er ist Deutscher,
den ich auf einem Seminar kennen lernte. Er hat zunächst bei Tel Aviv in einem Behindertenheim
gearbeitet, hat aber in die tiefsten Tiefen Palästinas gewechselt, ins Flüchtlingslager in Tulkarem.
Diese Reise wird meinen Kopf wieder arg strapazieren...
Ich rufe Nir einige Tage später an, doch er geht nie dran. Ich bin etwas verwundert, frage mich, ob er
es sich anders überlegt hat. Nach einer Woche schreibe ich noch mal eine SMS, kann ja nicht schaden.
Es kommt raus, dass er eine schwere Kieferoperation hinter sich hat, keinen Ton sprechen kann, und
auch nicht so schnell wieder bei der Armee sein wird. Ich frage ihn, ob er mir die Nummer eines
Kollegen geben kann, den ich dann besuchen kann, aber er antwortet nicht mehr. Schade, denn so ist
mir eine sehr wertvolle Erfahrung verloren gegangen.
Plätze haben in diesem Land keine Unschuld – immer ist in diesem Land an diesem Ort etwas
geschehen. Auch in Deutschland ist das so, in diesem oder jenem Haus hat vielleicht eine jüdische
Familie gelebt, die samt und sonders in Auschwitz ermordet wurde. Doch in Deutschland sind diese
Wunden verheilt, oder zumindest verdeckt worden. Der Konflikt in unserem Land wird nicht jeden Tag
weitergetragen.
Hier werden alle Wunden offengehalten, dadurch, dass die Besatzung weitergeht und die
Bedingungen ständig schlechter werden, ständig passiert etwas, das damals auch passiert ist –
Vertreibung, Enteignung, Zerstörung von Häusern. Bomben auf israelische Zivilisten, die Raketen aus
Gaza.
Auch halten die Palästinenser ihre Geschichte wach, Leute meiner Generation lieben „ihr“ Haus und
„ihr“ Land noch immer so sehr wie die Großeltern, die darauf gelebt haben und von dem sie vertrieben
wurden. Alte Haustürschlüssel sind ein Familienheiligtum.
16. Mai 2006
Im AIC lief ein Film über Arundhati Roy, eine indische Schriftstellerin, die sich politisch sehr engagiert
und ihre Stimme gegen US-Kriege, CIA-Aktionen, Globalisierung, Medienschweinereien usw. erhebt.
Darin kamen viele Konflikte vor, Chile 1973, Irak 2006, Vietnam 1975, Deutschland 1945. Und Israel
und Palästina 1917-2006.
Es war so einfach, Berichte über Gräueltaten oder Ungerechtigkeiten, über Folter oder Kriege zu
hören, die weit weg sind, wie wir das im sicheren Deutschland gewöhnt sind. Der Part über den Nahen
Osten war um so schlimmer, berührte mich.
Überall sonst in unserer westlichen heilen Welt kann man vor den Konflikten einfach die Augen
verschließen. Hier geht das nicht. Man lebt mittendrin. Die deutschen Selbstschutzmechanismen vor
den ganzen schrecklichen Bildern funktionieren hier nicht.
20. Mai 2006
Ich treffe mich mit einem ehemaligen SOS-Kind, Majdi. Er lebt allein und sucht noch einen
Mitbewohner, denn kein Palästinenser kann ganz alleine leben.
Er ist 25, hat vor einem Jahr sein Architekturstudium an der Bir Zeit Uni bei Ram Allah abgeschlossen
und arbeitet jetzt in Bethlehem bei einem Architekturbüro.
Er ist ein ziemlich normaler Palästinenser, etwa kitschig (Fotos sind hier der Ausbund – gestellt wie
Hölle, mit aufgeschlagenen Augen und geneigtem Kopf, Fototapete im Hintergrund), aber auch sehr
professionell. Er ist sehr stolz auf seinen Bir Zeit-Abschluss, das schafft nicht jeder. Und Kinder aus
dem SOS in der Regel erst recht nicht. Man könnte fast sagen, er wäre gut organisiert!
106
Außerdem hat er ein großes Herz und hilft immer jedem. Von neun bis um elf Uhr abends gibt er
noch Computernachhilfe für einen SOS-Bruder.
Wir gehen uns seine Wohnung anschauen. Sie liegt am anderen Ende der Stadt, was aber wegen der
ständig fahrenden Sammeltaxis kein Problem ist (ein System, das Deutschland braucht! Anarchisch,
flexibel, bei Tag kommt man überall hin). Es ist ein kleiner Anbau, zwei Räume. Im ersten ist eine
kleine Küche, eine Matratze liegt in einer Ecke. Im zweiten Zimmer Majdis Bett und der obligatorische
Fernseher.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, mit ihm zusammen zu wohnen, und wir kommen überein, dass ich
eine Woche auf Probe einziehe – ich habe keine Lust, nochmal so unvermittelt auf die Nase zu fallen
wie bei der ersten Wohnung, wo ich plötzlich allein und isoliert dastand.
Wenn wir zu zweit wohnen, kann man sich außerdem die Miete teilen – statt meinen 220 Dollar zahle
ich nur noch 50 im Monat, ein Schnäppchen für Palästina.
Ich ziehe ein, und es klappt wunderbar. Majdi arbeitet viel und wir sehen uns nicht mehr als ein, zwei
Stunden am Tag, aber es ist angenehm mit ihm.
Mo, 22. Mai 2006
Ich unternehme zusammen mit Dhyan einen zweiten Versuch bei der Jerusalemer Ärztin. Es klappt,
sie ist tatsächlich da, und wir radebrechen auf Englisch. Was sie mir nicht verständlich machen kann,
übersetzt Dhyan.
Sie wischt die Behauptung des ersten Arztes, der mich mit Antibiotika behandelte, mit einer Hand
vom Tisch, Antibiotika seien gegen Amöben letztendlich wirkungslos, weil sie nur 99,9 % erwischen,
das Promille überlebt und breitet sich nach drei Monaten wieder aus.
Also verpasst sie mir eine alternative Behandlung. Sie kocht mir eine Jod-Lösung und gibt mir noch
zwei homöopathische Präparate zur Reinigung und Heilung. Ich soll eine Trennkost-Diät machen, weil
das den Verdauungstrakt entlastet.
Die Behandlung soll sich über drei bis vier Monate ziehen, sagt sie – Amöben scheinen hartnäckig zu
sein.
Die Sprechstunde geht zu ende, und ich werde zur Kasse gebeten. 300 Shekel für die Sprechstunde;
irgendwas an die 200 NIS für die Medikamente. Dabei hat sie mir insgesamt mindestens 150 NIS
nachgelassen... Aber 100 € muss ich doch liegen lassen... Sie verspricht, mir beim nächsten Mal die
Sprechstunde umsonst zu machen, das rührt mich ganz.
Abends bin ich im AIC (Alternative Information Center) in Beit Sahour, wir schauen uns einen Film an,
Szenen aus Palästina.
Am Eingang eines Krankenhauses irgendwo in der Westbank steht eine Truppe junger Soldaten, die
die Ausweise überprüfen und viele Leute wieder zurückschicken, Besucher z.B.. Eine Frau lassen sie
nicht durch, die ihre Schwester besuchen will. Sie verlangt immer wieder, hineingelassen zu werden,
hat genug davon, immer zu verlieren in den täglichen kleinen Kriegen der Besatzung. Sie gibt nicht auf,
beharrt auf ihrem Recht, doch hat keinen Erfolg. Die Soldaten werden zunehmend ärgerlich und
verunsichert, reagieren mal arrogant, mal aggressiv, mal zurückhaltend.
Ein palästinensischer Mann, der das Krankenhaus gerade verlässt, bittet sie, mitzukommen, sich
nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Er redet auf sie ein, die Soldaten reden auf sie ein, sie verlangt
weiter von den Soldaten, durchgelassen zu werden – doch die meinen, konsequent bleiben zu müssen
– wie Lehrer, die einem Kind etwas verweigert haben, und auch beim schlimmsten Quengeln nicht
nachgeben können – was lernte denn dann das Kind daraus?
Ihr Trotz und ihre aufrechte Haltung bekommen immer mehr Risse, ihre Stimme schwankt, die Bitten
des Palästinensers reißen ihre letzte Kraft ein. Sie beginnt zu weinen, sackt in sich zusammen, gibt
schließlich auf, dreht um und geht. Sie kann ihre Schwester nicht besuchen, doch darum geht es schon
längst nicht mehr. Sie hatte, wie Rosa Parks vielleicht, eine Schlacht in diesem Konflikt gewinnen
wollen, wollte einmal nicht Verliererin sein. Doch sie hat verloren.
107
Der selbe Durchgang, etwas später. Die Soldaten stehen noch immer da, kontrollieren IDs.
Von drinnen kommt ein Palästinenser, das Handy am Ohr, und geht einfach zwischen ihnen durch.
Die Soldaten sind völlig überrumpelt. „Hast du ein Permit?“, fragen sie seinen Rücken. Auf diese
Totschlagfrage der Soldaten kommt ein einfaches, lapidares – „Nein!“. Er geht noch drei Schritte weiter,
die Soldaten staunen. Ein Auto kommt herangefahren, der Fahrer gibt ihm irgend etwas durchs Fenster,
fährt weg, der Mann geht wieder zurück, durch dir Tür, an den Soldaten vorbei, die völlig perplex
dastehen, wünscht einen schönen Tag, und weg.
Das ganze AIC biegt sich vor lachen, die Situation ist urkomisch. Die Soldaten, in einem Moment
ganz Herr der Lage, verlieren völlig unvermittelt die Kontrolle, jemand tanzt auf ihren Nasen herum
und sie kommen aus dem Staunen gar nicht mehr hinaus. Wir können nicht mehr...
Das ist, was manchmal wieder die Batterien auffüllt. Wie der Busfahrer, der am Checkpoint einfach
aufs Gas drückt, statt sich zum hundertsten Mal an diesem Tag überprüfen zu lassen. Die Soldatinnen
schreien hinterher und fuchteln mit den Armen. (Diese Situation ist natürlich nicht ungefährlich; sie
hätten auch schießen können, oder mindestens mit einem Jeep hinterher.)
Wir brauchen eine Rosa Parks!
Und eine Situation, in der sie nicht nur in eine Zelle gesteckt wird, sondern in der daraus etwas
erwächst...
Mi, 24. Mai 2006
Für zwei deutsche Gäste, Florian und Katharina, spiele ich den Touriguide, und begleite sie auf einen
Ausflug nach Jericho.
Morgens fahren wir mit Youssef, dem AEI-Taxifahrer los. Es geht durch das Wad en-Nar, das „Tal des
Feuers“ im Süden Bethlehems und den dortigen Checkpoint. Wir müssen einen langen, heißen, blöden
und schlaglöchrigen Umweg in Kauf nehmen, weil Youssef natürlich nicht nach Jerusalem kann –
wodurch uns eine Stunde Fahrt erspart bliebe (wenn man am Checkpoint gleich durch kommt...).
Nach einem ausgiebigen Bad im Toten Meer (das Tote Meer wird mir langsam etwas langweilig, weil
man außer vorsichtigem Planschen nichts machen kann – keine Wellen, und keine Wasserspiele, weil
das Wasser ja nicht in Augen, Mund oder Nase kommen darf) fahren wir nach Jericho selbst, um etwas
zu essen. Im Restaurant läuft wie immer der Fernseher, und als die allgemeine Aufmerksamkeit sich
darauf richtet, schauen auch wir mal hin.
Es sind Live-Bilder aus Ramallah, von einem Kreisverkehr im Zentrum, ich war dort schon drei, vier
Mal. Die sonst sehr geschäftigen Straßen sind leergefegt, nur drei grüne Armeejeeps und Humvees (die
Jeeps aus dem amerikanischen Armeefilmen) fahren dort in der Gegend herum. Teilweise feuern sie in
die sternförmig wegführenden Straßen, mit schweren Maschinengewehren, dem Klang nach zu urteilen.
Von den Bildrändern her kommen mal mehr, mal weniger Steine geflogen, auf den Dächern sind ein
paar Kinder oder jugendliche, 10, 15 ganz mutige 13- bis 16jährige sind in einer von der Kamera
einsehbaren Seitengasse und werfen aus dieser Deckung faustgroße Steine, die auf die Dächer und an
die Türen der Jeeps donnern, aber wahrscheinlich nicht mal eine Delle hinterlassen. Ab und an öffnet
sich eine der Türen, und ein Soldat gibt ein paar Schüsse in ihre grobe Richtung ab, trifft aber niemand,
oder will auch niemanden treffen.
Am Straßenrand beginnt ein Auto zu brennen, die Feuerwehr kommt, aber fährt wieder weg, es traut
sich wohl niemand, auszusteigen. Das Feuer greift aber auch nicht um sich, es schmaucht friedlich vor
sich hin und Flammen schlagen aus dem hinteren Fenster.
Irgendwann steigt roter Rauch auf – weshalb? Für eventuelle Unterstützung aus der Luft? Um
Kameras das Leben schwer zu machen?
Irgendwelche Sachen explodieren, von den Soldaten geworfen. Nebelgranaten? Der Platz ist schon
von Steinen bedeckt, Rauch liegt darüber, die Jeeps bewegen sich weiterhin langsam von hier nach
dort, schauen mal in diese Strasse rein, mal in jene. Es ist offensichtlich, dass sie Rückendeckung
geben und die Leute von den Straßen fernhalten wollen.
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Die Sprecherin (uns wird übersetzt) erklärt, eine Einheit sei in Zivil nach Ramallah rein, um einen
führenden Kopf des Jihad Islami aus Qalqilya, der sich in Ramallah versteckt hatte, festzunehmen. Bloß
ist das wohl aufgeflogen, sie haben sich in einem Haus verschanzt und Verstärkung gerufen, die Jeeps.
Man sieht zwar niemanden aus Häusern kommen und in die Jeeps einsteigen, aber nach eine Weile
ziehen die Jeeps ab und fahren an eine andere Kreuzung.
Der Kreisel hier, von dem sie sich zurückgezogen haben, füllt sich schlagartig mit Menschen, die
langsam den Jeeps folgen. Plötzlich geht wie eine Welle durch die 150-, 200köpfige Menge, sie
weichen zurück, ein paar Schüsse fallen. Dann gehen sie wieder weiter, der Jeep ist wieder
weitergefahren.
Ein Krankenwagen kommt, die Sprecherin berichtet von Verletzten, die Zahl steigt langsam von drei
auf elf, einer von ihnen stirbt. Die Zahlen erhöhen sich später, waren es zwei, drei, vier Tote?
Ein Teil des Lebens in Palästina.
30. Mai 2006
Die Israelis haben vier Hamas-Mitgliedern, die im Parlament sitzen, eine Frist von 30 Tagen gegeben,
um aus den folgenden drei Möglichkeiten zu wählen:
Die Hamas zu verlassen
Ihren Parlamentsposten aufzugeben
Ihr Ostjerusalem-Aufenthaltsrecht zu verlieren.
Das muss man sich mal überlegen. Israel greift damit in das politische Selbstbestimmungsrecht ein
(zu entscheiden, welcher Partei man angehört). Israel greift in die palästinensische Demokratie ein,
indem sie Menschen dazu zwingen will, ihren Parlamentsposten aufzugeben. Beides hat mit
Menschenrechten nichts zu tun und greift tief in demokratisch gewählte Strukturen ein. („Einzige
Demokratie im Nahen Osten“?).
Der dritte Punkt ist nichts so besonderes, es ist nur das Druckmittel. Die Gefahr, die Jerusalem-ID zu
verlieren, schwebt über jedem Jerusalemer Palästinenser, denn Israel hat ein Interesse daran, langfristig
die Palis aus Jerusalem rauszuekeln („ewig unteilbare Hauptstadt“).
Die ständig vorhandene Möglichkeit der Vertreibung, das Warten auf den Brief oder das Klopfen an
der Tür – wer hält das aus? Damokles’ Haar ist hier nur politische Willkür, politisches Dartspielen.
Eine britische Hochschulunion (National Association of Teachers in Further and Higher Education
(Natfhe)) hat beschlossen, israelische Institutionen, Unis usw. zu boykottieren, wenn die sich nicht
öffentlich gegen die Besatzung Palästinas, die Mauer „und die Apartheid“ aussprechen. („Under the
boycott, members of the National Association of Teachers in Further and Higher Education (Natfhe) will
not submit articles to Israeli research papers and exchange programmes with Israeli academic
institutions involved directly or indirectly in Israeli apartheid policies.”, Aljazeera.net).
Das hört sich brutal an und lässt besonders uns Deutschen erst mal eine rote Alarmleuchte
aufleuchten.
Ich bin aber sehr froh über diese Entscheidung (zusammen mit 100 % der Palis), weil es eine
Anerkennung dessen darstellt, dass Israels Besatzung von Palästina illegal ist, die Menschenrechte
missachtet und starke Parallelen zu einem Apartheidsystem aufweist (ein schwarzer Südafrikaner
sagten neulich, in Palästina sei es heute schlimmer als jemals in Südafrika).
Es ist mir in den letzten Tagen nochmal richtig klargeworden, bei was für einen Wahnsinn die
israelische Öffentlichkeit eigentlich zuschaut, ihn teilweise sogar unterstützt. Avraham Burg sprach von
einem Prozess des moralischen Verfalls in Israel und hat damit große Aufmerksamkeit erregt (das war
vor drei Jahren oder so). Ich kann ihm nur zustimmen – territorialer Massenegoismus, und/oder völlige
Gleichgültigkeit gegenüber den Palästinensern, weit verbreiteter Rassismus, Bereitschaft, die
Menschenrechte für unüberprüfte Sicherheits-Militäraktionen abzuschalten.
Dass das alles von der israelischen Öffentlichkeit akzeptiert werden kann, kommt aus der
Geschichte, die in die Gegenwart hineinspielt.
109
Die Israelis bzw. Juden entkommen seit Jahrtausenden nur knapp verschiedenen
Existenzbedrohungen (ob nun immer Realität oder auch mal Legendenbildung). Der Holocaust stellt
natürlich einen riesigen Höhepunkt dar, der in sehr frischer Erinnerung steht.
Israel ist auf dem Holocaust gebaut, ich nehme an, dass die große Mehrheit der europäischen Juden
als Folge des Holocaust immigrierten. Die UN hat nur unter dem Schock des Holocaust der
Teilungsresolution von 1947 zugestimmt.
Israel wurde gegründet, endlich gab es eine Heimstatt, einen sicheren Ort, eine jüdische Mehrheit.
Ich nehme mal an, das Gefühl für die Juden war damals, wie wenn man sich nach harter Feldarbeit mit
einem aus der Tiefen kommenden „Ufff...!“ in einen Sessel fallen lässt.
Nur ging das Ding mit der Existenzbedrohung aber gleich weiter, verschiedene Kriege kamen, alle
mussten aus diesem Sessel, den sie gerade erst neu als so weich und angenehm gespürt hatten,
aufstehen, all ihre Hoffnungen waren bedroht, ihr Sessel am Abgrund.
Das hat dazu geführt, dass man in Israel den Militärdienst nicht verweigern kann, ohne sich Ansehen
und Zukunftsaussichten zu verbauen. Dann denken nämlich alle, man wolle sich davonstehlen und ein
Teil vom Kuchen (Israel) bekommen, obwohl man ihn nicht mitbezahlt hat (mit seinem Blut in den
verschiedenen Kriegen).
Armee und Kampf sind Teil der israelischen Identität; den riesigen Entwicklungssprung, den man
nach dem Verlassen der Schule macht (...), machen diese 18jährigen in der Armee.
Besonders seit der zweiten Intifada, aber eigentlich schon immer seit den ersten Aufständen in den
1920ern, verursacht Palästina dieses Existenzbedrohungsgefühl. Wenn ein Selbstmordattentäter sich in
einem Cafe in die Luft sprengt, vermittelt er ja auch diese Intention – „Ich komme, und versuche, so
viele Israelis wie möglich zu töten. Ich will einen kleinen Teil dieses Staates zerstören.“
Wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, ist man bereit, sich mit allen Mitteln zu verteidigen, ob
sie nun gegen die Menschenrechte verstoßen oder nicht.
Wenn man glaubt, mit dem Rücken zur Wand zu stehen, ist man zum Selben bereit.
Das Erklärt für mich die Bereitschaft der Israelis, „Target Killings“, die „gezielten Tötungen“,
hinzunehmen, den Mauerbau usw.
Eine zweite Bewegung in Israel wird damit jedoch noch nicht erklärt: Die zionistische, die
kolonialistische, die, die „Großisrael“ erreichen will, die die Palästinenser in die anderen arabischen
Länder vertreiben will und Gaza und Westbank als Teil Israels haben möchten.
Ich muss zugeben, dass mein Wissen über den Zionismus recht sporadisch ist, ich habe nur bei
Norman Finkelstein ein paar eher generelle Sachen darüber gelesen.
Neben Menschen, die von Anfang an einen binationalen Staat mit den Palis wollten, gab es im
Zionismus wohl immer sehr viele „Palästinaleugner“, wenn man so will. Sie haben abgestritten, dass es
Palästinenser gibt, und haben vom „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ gefaselt. Sie haben sich in
einem mir unvorstellbaren Egoismus in den Häusern der Palis breitgemacht und wahrscheinlich noch
nicht mal drüber nachgedacht. Oder sich selbst vor Gott gefeiert.
Von diesen Leuten gibt es heute noch genug. Das sind die, die aus ideologischen Gründen in den
Siedlungen leben, die palästinensische Bauern terrorisieren, der Typ Hebron-Siedler.
Sie glauben fest daran, dass Gott ihnen das Land gegeben hat, und sind nicht bereit, die Westbank
zu verlassen. Diese Leute werden beim Siedlerabzug aus Teilen der Westbank (nicht Armee-Abzug!!!),
den Olmert ja vorhat, ein riesiges Theater machen und Steine und Farbe und werweissnichtwas auf die
Soldaten werfen.
Neben den Ängstlichen und den Radikalen gibt es die Mitläufer, die die in Tel Aviv ihre Parties feiern
und keine Ahnung haben, wer der eigene Premierminister ist.
Diese drei Gruppen ermöglichen diese unglaubliche Besatzung, gegen alles, wofür die UN und jede
Verfassung (die israelischen Gesetze eingeschlossen) steht, und was die Geschichte uns allen
beigebracht hat, oder hätte beibringen sollen.
Den britischen und kanadischen Unidozenten bin ich dankbar, dass sie sich dagegen auflehnen.
110
Seit Monaten bekommen 165.000 Beamte kein Gehalt mehr. Die PNA (Palestinian National Authority)
hat kein Geld mehr für sie, seit die internationale Gemeinschaft die Spendengelder aufgrund der
Hamas-Wahl zurückhält und die Israelis die Zolleinnahmen stehlen.
Jetzt sollen sie 1.500 NIS ($330) an Vorschuss bekommen. Bis zum nächsten Vorschuss, in wie vielen
Monaten?
10. Juni 2006
Was passiert bloß in diesem Land.
Die israelische Armee beschießt seit dem Abzug (seit 8 Monaten) den Gazastreifen mit Granaten. Man
hat sich fast daran gewöhnt, gewöhnt sich jeden Tag neu daran, dass dabei immer und immer wieder
Menschen getötet werden, die mit Qassam-Raketen nichts am Hut haben, die einfach nur ihr Leben in
Würde und Frieden leben wollen.
Man hat sich auch an den Wahnwitz gewöhnt, dass diese Granaten keine Terroristen töten.
Heute schlug eine Granate am Strand bei Gaza ein. Sieben Menschen sterben, darunter 3 (?) Kinder,
eines davon nur Monate alt. Ich sehe die Bilder in den Nachrichten, mein Magen zieht sich zusammen.
Wahn, Wahn, Wahn. Dieses kleine Gesicht ist bleich und leer, und wird von weinenden Männern in sein
Grab gelegt. Wie unmenschlich ist das alles. Diese Welt erlaubt es uns, auf einen Knopf zu drücken,
und Kilometer weiter stirbt ein Kind, seine Mutter, sein Onkel, sein Nachbar. Wir müssen es uns nicht
anschauen, wir nesteln an der Uniform und lehnen uns nach getaner Arbeit zurück.
Was macht diese Land nur. Wie kann ein Staat, bevölkert von der Intelligenzija des gesamten
Westens, aus Deutschland und Europa vertrieben und fast ausgelöscht, diese Dinge tun. Wie kann
"Kollateralschaden" nur so ein kaltes, steriles Wort sein.
Sieben Menschen sterben, Demonstrationen werden abgehalten, man sieht einen kleinen Jungen eine
Flagge des Jihad Islami schwingen.
Die Hamas kündigt ihren Waffenstillstand auf.
Sechzehn Monate meiner Hoffnung lösen sich durch diesen fast nebensächlichen Fakt in
Unfassbarkeit auf. Diese Bewegung hatte eine so positive Entwicklung vor sich, weg von der Gewalt, hin
zu einem winzigen Fenster für den Frieden in diesem Land.
Was jetzt?
Die Hamas hat sich wohl gezwungen gesehen, zurückzuschlagen. Vielleicht hätten sie sonst ihre
Glaubwürdigkeit vor dem palästinensischen Volk verloren, als Feiglinge dagestanden. Sie hätten ja
wieder nur Worte loslassen können.
Und: Kann man über sechzehn Monate die Hand ausstrecken, ohne dass diese Hand ergriffen wird?
Keinerlei Reaktionen kamen, die meisten Israelis wussten nicht mal was vom Waffenstillstand. Israel hat
die Chance vertan und unternahm stattdessen nichts. - Davon mal abgesehen, dass Israel während
dieser Zeit keine Hamas-Führer getötet hat.
Den Sprecher des israelischen Verteidigungsministeriums erkenne ich auf dem Bildschirm wieder, er
hatte einen Vortrag bei einem Volontärsseminar gehalten. Dort ist er genauso glatt und sicher
gewesen.
Er sagt, es sei kein Krieg gegen das palästinensische Volk.
Gegen wen denn sonst? Wer stirbt, wenn eine Granate auf ein Wohnhaus fällt, das in der "Firing Zone"
steht? Wer in der israelischen Armee ist dumm genug, nicht zu erkennen, dass die Leute, die die
Qassam abgeschossen haben, längst weg sind wenn die Israelis beginnen, den Abschussort zu
bombardieren?
16. Juni 2006
111
Gestern wurde feierlich der Abschluss der Religions-Studenten der Bethlehem Uni gefeiert, dortselbst
in der Uni-Kapelle. Mein Chor sang einiges gesungen („Ave Maria“ von Da Vittoria, „And The Glory Of
The Lord“ aus Händels Messias, einige kleinere Stücke). Trotz Probenmarathon waren wir noch nicht
ganz fehlerfrei, aber ich glaube nicht, dass es allzu viele Leute gemerkt haben, dass beim Händel an
einer Stelle nacheinander Alt, Tenor und Bass abgestürzt sind...
Dieser Chor ist ein Glücksfall für mich!
Es waren einige Würdenträger da, unter anderem der Bischof von Nazareth. Er sprach dieses
wunderschön übertrieben ausgesprochene Hocharabisch, das man sonst nur in der Predigt von der
Moschee hört. Selbst bei Al-Jazeera ist es nicht so schön.
Hocharabisch ist ja die Sprache des Qur’ans und man hört es am häufigsten vom Imam. Akustischinstinktiv wusste ich, dass diese Stimme einem Sheikh, einem islamischen Würdenträger, gehören
muss.
Als er ein Ave Maria zu singen begann, fiel mir meine instinktive Religionszuschreibung auf, ich
musste schmunzeln
Staunen musste ich anschließend, als ich hörte, dass der Bischof gar kein Araber, sondern ein
Italiener ist. Lange, lange Stunden muss der gesessen und gelernt haben...
18. Juni 2006
Tulkarem liegt direkt an der grünen Grenze (der 1948ger-Waffenstillstandslinie), auf mittlerer Höhe
des nördlichen Westbankteils. Es ist eine völlig hoffnungslose Stadt. 95 % Arbeitslosigkeit, lese ich, die
Mauer drumherum, umgeben von Siedlungen. Vor der zweiten Intifada arbeiteten fast alle in Israel, die
Mittelmeerküste ist nur 15 Kilometer entfernt. Dieser Lebensfaden wurde abgeschnitten, Permits
werden an den Checkpoints verlangt, aber nicht ausgestellt. Die Bevölkerung lebt vom UN-World Food
Programme, niemand hat Arbeit, niemand hat Geld, die Hoffnung ist am Ende.
Genau dorthin fahren wir. Ich hatte fast eher einen Checkpoint-Road Trip mit Kurzaufenthalt in
Tulkarem befürchtet, doch alles ging glatt – aber der Reihe nach.
Morgens um halb neun hätten wir uns am Nord-Busbahnhof in Ostjerusalem getroffen. Wurde
natürlich 10, jemand hatte seinen Pass vergessen und musste wieder nach Hause. Denn wo kommt
man in diesem Land schon ohne seinen Ausweis hin?
Wir, das sind Esther, Jan und Bastian vom Tent of Nations, und drei andere - ein Touri und zwei
Jerusalem-Volos, die ich nicht so gut kenne. Und ich.
Wir setzen uns also in einen der arabischen Busse, die uns nach Ramallah direkt im Norden
Jerusalems bringen sollen. Eine Dreiviertelstunde später sind wir dort, ohne Checkpoint (beim Betreten
Ramallahs gibt’s keine Kontrolle – beim Verlassen schon), und steigen in eins der gelben Siebenertaxis,
das uns für 20 Shekel pro Nase nach Tulkarem bringen soll, was wunderbar klappt, eineinhalb Stunden.
Wir fahren reibungslos durch die Gegend, auf Straßen verschiedener Qualität, einmal auf einer
breiten Siedlerstrasse, dann auf Serpentinen (die Siedlerstraße in Sichtweite – warum wir da nicht
langdürfen, weiß ich nicht). Verschiedene Checkpoints, mobile und permanente, alle in die andere
Richtung aufgebaut. Wir fahren vorbei.
Das Land ist hügelig, wie ganz Palästina, doch hier ganz besonders. Hügel um Hügel bedeckt von
Olivenhainen, die Erde darunter verbrannt und trocken, trockenes Gras und Gestrüpp, bloße Erde. Die
Farbpalette ist braun, olivgrüne Teppiche darübergelegt. Der graubraun verwitterte Kalkstein kommt
überall durch die dünne, fruchtbare Erdschicht. Der blaue Himmel darüber, keine Wolke verdeckt die
heiße Sonne. Viele Aussichten eröffnen sich uns, die Natur ist wunderbar, die Politik deutlich zu sehen.
Viele Hügelkuppen sind mit westlichen Häusern, Häuserblocks, Wohncontainern (bei jungen
Siedlungen), Wassertürmen, Wachtürmen, Stacheldraht und Zäunen bedeckt. Weiter unten im Tal kleine
palästinensische Dörfer, hiesige Architektur, Flachdächer und gewachsene, enge Sträßchen. An den
Zufahrtstraßen gelegentlich ein Armeejeep, ein Humvee, die fiesen Riesenjeeps mit dem hinten schräg
abfallenden Dach, die man in den Amifilmen sieht. Ein mobiler Checkpoint, die olivgrünen Soldaten alle
in schusssicherer Weste, behelmt, unten an vielen der Sturmgewehre sind etwa vier Zentimeter
112
durchmessende Rohre angebracht – damit können kleine Granaten und vor allem Tränengaskartuschen
abgeschossen werden. Die Fenster der Jeeps sind außen vergittert, um sie vor den steinewerfenden
Kindern zu schützen. Die Soldaten sind recht entspannt, lassen uns sehr schnell durch und reden in
nicht unbedingt unfreundlichem Ton mit dem Fahrer (natürlich ein Palästinenser).
Sie machen auch mit uns, der Taxiladung Ausländer, einen auf freundlich, von wegen „Mondial“, der
Weltmeisterschaft, und was wir hier machen würden während in Deutschland der Fußball am Kochen
ist. – Ist natürlich schön, wenn man nicht angeschnauzt wird. Aber man fühlt sich von den
Palästinensern getrennt, die Sekunden später, als man lächelnd durchgewunken weiterfährt,
angeraunzt werden. Man wird zum Mensch erster Klasse gemacht, zum Übermenschen, ohne etwas
dagegen tun zu können.
Irgendwann taucht auf der linken Straßenseite eine Ansiedlung auf, die ganz klar ein Flüchtlingslager
ist – enge Gassen, verschachtelte Häuser, blanke Betonwände, nicht mit Kalkstein verkleidet wie alle
übrigen palästinensischen Fassaden. Nour Ash-Shams („Sonnenaufgang“), das große Lager außerhalb
Tulkarems.
Wir fahren daran vorbei zum Stadtzentrum, ein eher verschlafener als belebter Platz beim Rathaus
(das hier übrigens nicht wie in Europa durch irgendwas hervorsticht, Größe oder Pracht. Steht einfach
dran, vielleicht noch ein, zwei Fahnen – ansonsten ein Gebäude wie alle anderen auch, dreckig, ärmlich,
alt).
Wir treffen Ala’, einen Pali aus Nablus, der mit den anderen Volos befreundet ist. Er ist Anfang 30
und hat einen Klamottenladen in Nablus. Sehr netter Typ, es macht Spaß mit ihm zu sein. Esther
beschwert sich, dass er wie die Hälfte ihrer palästinensischen männlichen Freunde in sie verliebt ist...
Erstmal gehts essen, Salataat, Salate (Hommos, Krautsalat, Rüben etc.) mit Falafel und Brot. Wir
werden etwas über den Tisch gezogen, aber was soll’s, es kommen so selten Ausländer hier her und
die Situation der Leute ist zum Heulen – man zahlt dann halt.
Dann treffen wir jemandem aus dem Tulkarem Camp, einem Flüchtlingslager, das der Stadt selbst
direkt angeschlossen ist, nicht wie Nour Ash-Shams weit außerhalb liegt.
Wir kommen in ein PLO-Büro, zusammen mit der UNRWA die Organisation, die das Lager am Leben
hält. Bevor wir so was erfahren, müssen wir aber erstmal einen Becher klebrigen Saft leeren. Arabische
Gastfreundschaft ohne Erbarmen. Die Kinder des Projekts bekommen den Rest in der Flasche und
ziehen glücklich ab.
Das Büro sorgt für Strassen, Strom und Abwasser (Gas, Wasser, Khara) usw., die UNRWA für Nahrung,
Jobs, Müll usw. Daraus, dass Mourad, der PLO-Vertreter, sich sehr schnell zu betonen beeilt, dass die
Arbeit von PLO und UNRWA etwa gleichwertig sei, kann man schließen, dass die UNRWA sehr viel mehr
bewirken kann. Sie hat immerhin den (zwar selber geldlosen) UN-Apparat hinter sich, doch wenigstens
ein politischer Hinterbau gegenüber Israel.
Die UNRWA ist eine recht spezielle UN-Unterorganisation, die „United Nations Relief and Works
Organisation for the Palestinian Refugees“. Während sich um jeden anderen Flüchtling auf der Welt die
UNHCR (UN-Flüchtlingskommission) kümmert, haben die Palis eine eigene Organisation bekommen,
keine Ahnung weshalb. Zeigt mal wieder, dass das Geschehen hier nicht so ganz normal ist...
Neulich habe ich eine Kritik gelesen, die UNRWA würde dazu beitragen, dass die heutigen PaliFlüchtlinge immer noch als Flüchtlinge zählen, Jahrzehnte nach der jeweiligen Flucht oder Vertreibung.
Kann ich nicht einschätzen, jeweils ist sie wenn dann nicht allein dran schuld, denn viele der
„Gastgeber“-Länder sind gar nicht so sehr Gastfreundlich. Und der Schreiber (ein Israeli) ist ein blöder
Sack ganz weit rechts außen, der über jeden Pali froh ist, der in seinem Lager in Syrien versumpft.
Anyway.
Mourad erzählt etwas vom Camp. Es leben hier 18.000 Menschen, 4.400 kamen nach 1948, 10.000
nach 1967 (die heutige Zahl bei dem hohen palästinensischen Bevölkerungswachstum ist deshalb so
gering, weil viele Flüchtlinge in die Umgebung abwandern und sich außerhalb des Camps ein Haus
bauen).
Mehr als die Hälfte der Einwohner sind Kinder, die bis zur Mittelstufe in eine gemischte Camp-eigene
UNRWA-Schule gehen. Wer weitermacht (und das werden nicht gerade massenhaft viele sein) geht in
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die Schule in Tulkarem. Der Bildungsstandard ist also nicht so der Wahnsinn. UNRWA-Schulen sind in
etwa so das mieseste Gebilde, das immer noch als Schule bezeichnet werden kann.
Wir gehen los und schauen uns mit Mourad im Camp um. Er führt uns zu einem Haus, das in Teilen
von der UNRWA sehr neu gebaut wurde. Die Familie (Mutter, arbeitsloser Vater, 8 Kinder) lebte bis vor
ein paar Monaten in einem etwa vier auf vier Meter große Haus gewohnt, für die letzten sechs Jahre. Es
gab einen kleinen Wellblechverschlag draußen, und einen Baum im kleinen Hof. Beide sind zwei neuen
Räumen und einer Treppe aufs Dach gewichen, teilweise fehlen noch die Bodenkacheln, ein Teppich ist
auf den geschotterten Boden gelegt. Der Familienvater lamentiert, keine Arbeit, kein Geld, kein gar
nichts. Diese Familie hat nichts, außer vielen Kindern. Ein klein wenig Aufklärungsunterricht mit
Schwerpunkt Verhütung und Familienplanung wäre da wohl nicht fehl am Platz.
Ala’ erzählt von einem palästinensischen Kabarettisten, der in einer Show seine Kinder verkaufen will
– ein blühender Industriezweig!
Wir gehen weiter und treffen auf der Strasse zufällig eine Frau, die uns einlädt, uns ihre
Lebenssituation anzuschauen. Unser Guide fällt aus allen Wolken, er ist das erste Mal, dass er in diesen
Hinterhof kommt.
Drei kleine Häuschen stehen dicht beisammen, alle etwa vier auf vier Meter groß. Das erste ist alt,
älter als das Lager selbst, vielleicht knappe hundert Jahre. Das zweite wurde vor vielleicht vierzig Jahren
von der UNRWA gebaut, das dritte erst vor ein paar Jahren, gehört aber wohl nicht zur Familie.
Ich trete in den kleinen Hof, den die Häuschen formen, und falle ebenfalls aus allen Wolken, in eine
Rauchwolke: Diese Familie kocht auf dem Feuer, sie haben kein Gas – zu teuer. Wasser kommt aus
einem Hahn in der Ecke des Hofs, neben dem Maulbeerbaum; im Hintergrund faselt der Fernseher aus
dem neueren Haus.
Das alte Haus ist völlig am Ende. Das Wellblechdach hat drei Löcher, durch die das Tageslicht in
schrägen Streifen durch die rauchige Luft fällt. Der Boden ist nass, das ganze Gebäude feucht, auf dem
Boden liegen ein paar verschüttete Linsen.
Im neueren Häuschen sind entlang der Wände dünne, schmale, alte Schaumstoffmatratzen
aufgereiht, ein paar der Kinder hocken vor der Glotze.
Ich will wissen, was es zu essen gibt, denn es wurde erzählt, dass die Familie von Essensrationen
lebt, die von der UNRWA kommen – „Reis, Linsen, Mehl“. Ich frage, ob es auch Gemüse, Khudra, gibt –
nein, sagt sie, und nimmt den Deckel vom Topf. Es ist Reis, mit Linsen vermischt. Das war’s, mehr
nicht, kein Gemüse dazu, keine Vitamine, kein Fleisch oder Ersatz für die Nährstoffe, die wir daraus
ziehen. Alle paar Wochen komme mal ein wenig Gemüse von der Mutter oder einer Schwester.
Auch diese Frau hat sieben Kinder, die alle um sie rumspringen, und trotz der materiellen Leere, die
in ihrem Leben herrscht, keine emotionalen Krüppel zu sein scheinen – scheinen...
Der schöne Schein, der immer gewahrt werden muss, wird schön von der Szene gezeigt, die wir
sehen. Die Mutter, 43, aber viel jünger aussehend, steht da in ordentlich aussehenden, recht neuen
Kleidern und modischem Kopftuch (auch wenn ich da nicht genau durchblicke – Kopftuchmoden sind
seeeeehhhr wichtig, und die Dinger oft zu echten Kunststücken umgebunden! Drei Lagen
verschiedener Stoff, die nacheinander an der Stirn zum Vorschein kommen, Perlen, Nadeln,
Troddeln...), auch die Kinder sind nicht irgendwie abgerissen angezogen.
Daneben die Häuser, leer, nichts dort drin, absolute Leere und Abwesenheit jeglichen Besitzes.
Gekocht wird auf dem Feuer, was ich in Palästina noch nie gesehen habe.
Man muss sehr genau hinschauen, um die wirkliche Situation der Menschen zu sehen.
Mourad führt uns weiter durchs Camp, zur Mutter eines Shaheeds, eines Märtyrers. Der Junge, etwa
14, war abends mit seinen Freunden auf der Hauptstraße unterwegs gewesen. Auf einmal tauchten
Armeejeeps auf. Irgendetwas ist passiert, vielleicht warfen die Jungen Steine, vielleicht interpretierte
einer der Soldaten eine Bewegung falsch – der Junge wurde erschossen. Später stehen wir an dem Ort.
Ein ganz normales Stück Asphalt, wie jeder andere in Palästina...
Zum Abschied haben seine Freunde ihm ein großes, glänzend gedrucktes Märtyrerplakat gestaltet.
Ein Foto von ihm darauf, ein kleiner Junge, ein Kind. Um das Bild sind auf dem Plakat kitschige Blumen,
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Gewehre und die Flagge einer Partei, Hamas oder Fatah, drapiert. Ein Tisch im Haus der Familie ist in
seinem Andenken drapiert.
Nach noch einigen anderen deprimierenden Stationen haben wir dann genug vom Lager und machen
uns auf den Rückweg. Nachdem wir uns vom Taxifahrer beim Aushandeln des Rückfahrpreises über
den Tisch ziehen lassen, fahren wir zurück.
Bevor wir die arabisch verwaltete Zone um Tulkarem verlassen (die Straße führt am Zaun entlang,
eine vielleicht drei Meter hohe, elektrisch geladene Sperranlage), wird die Straße zu einer maroden
Schotterpiste. Alle Autos ziehen große weiße Staubschleppen hinter sich her. Die Wiesen und Bäume
umher sind von einer weißen Schicht bedeckt, es sieht gespenstisch aus – wie ein Schwarz-Weiß-Bild
mit strahlend blauem Himmel. Die Disteln am Straßenrand, eigentlich stahlblau, sind stachelig in weiß.
Hinter einer Kurve der gewundenen Straße ein Checkpoint, die Grenze zwischen A- und C-Zone (A =
arabisch verwaltet, C = israelisch verwaltet; B = arabische Zivil, israelische Militärverwaltung; Zonen
wurden im Oslo-Abkommen eingerichtet). Wieder ist das Taxi voll mit Ausländern besetzt, der Fahrer
zieht an der langen, langen palästinensischen Autoschlange vorbei und stellt sich ganz vorne an.
Ausweis-Check, ein paar kritische Blicke der Soldaten, wir sind durch.
Wir fahren einen anderen Weg als auf der Hinfahrt, quer durch Siedlungen. Ich erkenne an den
Straßenschildern, dass wir uns mitten im Siedlungsblock Ari’el befinden, ein Politikum. Viele kleine
Siedlungen, die auf fast jeder der umliegenden Hügelkuppen verstreut sind, und zusammen den Ari’elSiedlungsblock bilden. Er ist einer der größeren Steine im Weg zum Frieden, ich habe viel darüber
gelesen. Plötzlich bin ich mittendrin. Die Nachmittagssonne lässt die Hänge golden aufleuchten, das
Grün der Bäume und Felder im Gegenlicht ist so frisch und lebendig. Die Hänge sind steil und karg,
stachelig die Vegetation, Fels schaut aus den Hängen hervor. Wie friedlich alles ist...
Von den Soldaten abgesehen, die alle paar Kilometer unterwegs sind, an Kreuzungen stehen,
„Präsenz zeigend“.
Wir biegen um eine lange Kurve an einer Hangkante, und dort steht der höchste Wachturm, den ich je
gesehen habe. Schlank wie alle anderen, aber hoch... ich wage nicht zu schätzen, aber nichts unter 25
Metern, riesig. Er muss jeden der umgebenden Hügel weit überragen.
Wir kommen wieder am Qalandia-Checkpoint vor Ramallah an, diesmal verlassen wir die Stadt – von
Norden kommend gibt es nur kleinere Checkpoints, durch die die Taxis fahren können. An Qalandia
benutzen wir den Fußgängerüberweg, wir haben keine Lust auf den Umweg ohne das Umsteigen.
Es ist das erste Mal, das ich durch den neuen Qalandia-Checkpoint gehen. Er wurde erst kurz zuvor
fertiggestellt, ebenso wie die Mauer an dieser Stelle. Er ist wie bei Bethlehem, nur ist er für größeren
Menschenandrang gebaut.
Es ist eine offene Konstruktion. Das Areal ist überdacht, aber die Wände bestehen meistens nur aus
blau gestrichenen Gitterstäben, die das Schlachtvieh (will sagen, die Menschen) leiten. Drehtüren wie in
Bethlehem, größere Menschenmassen als dort.
Es gibt drei Check-„Straßen“. An der Aktiven ist eine Schlange, wir stellen uns hinten an, aber es wird
gerade keiner überprüft. Nach kurzem Warten schickt uns der Soldat von seinem schusssicheren
Verschlag aus zur zweiten „Straße“.
In einem Checkpoint herrscht immer große Anspannung. Als Palästinenser weiß man nie ob man
passieren wird, ebensowenig, wie lange die Prozedur dauern wird. Jedes Passieren eines Checkpoints
wird zu einer kleinen Unterdrückung, zu einer abgepressten Anerkennung, einer Unterordnung unter
die Besatzung und deren Willkür. Zur Aufgabe in einem täglichen persönlichen Freiheitskampf.
Zu den geschundenen Seelen kommt noch, dass es Araberseelen sind, die großen Wert auf ihren
Stolz legen.
Als sich die Schlange auflöst und an anderer Stelle neu formt, entlädt sich die Spannung des
Moments im Fluch eines Arabers - „Abuk haiwan!“ – „Dein Vater ist ein Tier!“
Darauf, dass ich das verstehe bin ich recht stolz, denn den Fluch kannte ich noch nicht...
115
(Dass der Vater des Soldaten beschimpft wird und nicht er selbst, spiegelt den Stellenwert der Familie
wieder.)
Sebastian ist ein deutscher Freiwilliger, der ein halbes Jahr bei Tel Aviv in einem israelischen
Behindertenheim gearbeitet hatte. Esther, die Talitha-Volos und ich hatten ihn auf einem Seminar in
Jerusalem kennen gelernt. Er ist ein kluger Kopf, der sehr gut und begründet argumentieren kann und
aufgrund seines sechsmonatigen Umfelds eine starke israelische Einstellung hatte.
Einige Zeit nach dem Seminar schrieb er mir eine SMS, er wolle Bethlehem besuchen, ob er bei mir
übernachten könnte.
Er wollte nach Tulkarem ins Flüchtlingslager, um dort für einige Zeit Englisch zu unterrichten, und
schaute auf dem Weg in Bethlehem vorbei – damit haute er mich glatt vom Hocker. Bei seinen starken
Israel-lastigen Überzeugungen hätte ich ihm das nicht zugetraut.
Aber die Arbeitsstelle in Tel Aviv war wohl nicht das Optimum, und er fragte in Tulkarem um Arbeit
nach. Damit machte er genau das, was richtig ist: Auf beiden Seiten arbeiten und leben. Denn die
andere Seite in der Freizeit richtig kennen lernen zu wollen ist aussichtslos; man adoptiert
zwangsläufig die Meinungen derer, mit denen man lebt.
Er begann also, im PLO-Büro Tulkarem zu arbeiten, nachdem er bei mir übernachtet hat. Wir
unterhielten uns lange, und ich empfahl ihm, die Palästinenser nicht mit den Argumenten zu
konfrontieren, die er mir genannt hatte, es hätte sein Ansehen und vielleicht sogar seine Sicherheit
gefährdet.
Bevor wir nach Tulkarem fuhren, versuchte ich ihn zu erreichen. Ich schaffte es am Tag, als wir
hinfuhren – er hatte am Vortag Tulkarem verlassen.
Das PLO-Büro war in einen Korruptionsskandal verwickelt, die Angestellten wurden von den
Flüchtlingen beschuldigt und wohl auch bedroht. Sebastian war eng genug mit ihnen verbunden, dass
ihm die Situation zu heiß wurde.
Die Korruption wird den überlebenden Rest Palästina noch umbringen. Und Sebastian hat einen
gebührenden Abschied von Palästina bekommen. Ich habe nicht mehr mit ihm gesprochen, seit er nach
Tulkarem ging – wie stark die zwei Monate seine Meinung verändert haben, wüsste ich gerne...
21. Juni 2006
Heute findet wieder ein Family Gathering statt. Das sind die Treffen von Palästinensern und Israelis,
bei denen einfach nur gepicknickt wird, bei denen die Menschen sich nicht über die Politik in die Haare
geraten, sondern sich einfach kennen und schätzen lernen. Friedensarbeit...
Mein israelischer Freund Dhyan und ich hatten die Idee, so etwas zu machen, und haben sie
tatsächlich umgesetzt. Fünf, sechs mal trafen wir uns, an verschiedenen Orten – in einem Kloster bei
Bethlehem (wo die Geschichte von St. Georg ihren Ursprung hat), an der Quelle Ain al-Haniyya, in
einem Friedensprojekt.
Heute treffen wir uns wieder an der Quelle, es scheint der beste Platz zu sein. Sowohl Palästinenser
als auch Israelis haben die Möglichkeit, sich dort legal zu treffen, und es ist wunderschön. Ein großes
Steinbecken wird aus einer Quelle gespeist, ich gehe mit den Kindern baden (die kein bisschen
schwimmen können). Ein Feuer wird entfacht, eine Wasserpfeife geraucht, Fladenbrot und Hummus
gegessen.
Am Schluss wird es nochmal ganz besonders.
Die Familie aus Halhul bei Hebron hatte gegen 10 gehen müssen, weil einige kleine Kinder dabei
sind, die fünfjährige Mais und ihre älteren Schwestern. Sie wurden von zwei Israelis, Dhian und David,
nach Hause gefahren. Esther, einige Araber und ich sind noch für eine Stunde geblieben, Argile
(Wasserpfeife) rauchen, Kaffee machen. Während ich fies bitteren Ja’de-Tee für meinen Magen
bekomme (wurde mir von den Arabern empfohlen und gleich besorgt), bemerkt Mohammad, dass alle
Israelis weg sind. „If the soldiers come now, we are doomed“, meint er.
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Sie wahren früher am Abend schon mal dagewesen, als ich noch nicht dagewesen war, und hatten
Ärger gemacht, „ihr dürft hier nicht sein“. Ob der vielen Israelis zogen sie wieder ab. Hamza hat
daraufhin sein Auto weiter oben am Hang geparkt, denn das hat ein grünes (palästinensisches)
Nummernschild und darf wirklich nicht hier sein...
Wir trinken also unseren Kaffee aus und packen zusammen, plötzlich fast hektisch. Nervös.
Wir stopfen uns zu sechst ins Auto und fahren los.
Von der israelischen (C) Zone der Westbank wollen wir dann in die palästinensisch verwaltete (A)
fahren, am Rand von Beit Jala ist die Grenze. Der Checkpoint dort war seit zwei Monaten nicht mehr
besetzt gewesen und Hamza sieht die Soldaten gar nicht, die dort bei den Betonblöcken und
Tarnnetzen stehen. Alle erschrecken, nachdem wir uns vor den drohenden Soldaten am Ort des
Gatherings schon sicher gefühlt hatten. Wir können aber nicht mehr umdrehen, wir sind schon zu nahe
dran. Es sähe jetzt so verdächtig, dass wir auf jeden Fall gecheckt würden.
Also wird die arabische Musik abgedreht, die Innenlampe angeschaltet, langsam heranfahren. Wir
werden herangewunken, alle kurz mit der Taschenlampe angeleuchtet und die Pässe eingesammelt.
Der Kofferraum wird geöffnet, ein oberflächlicher Pseudocheck veranstaltet.
Aber die Soldaten sind in Ordnung. Da drei der Palis sehr gut Hebräisch sprechen gibt’s auch keine
Verständigungsprobleme. Wir sind alle ein bisschen schleimig, der doppelt besetzte Beifahrersitz
scheint die Soldaten nicht zu stören. Wir kommen schnell durch – halleluja! Hamza braust die Strassen
entlang, die Musik wird wieder laut gedreht.
Die Spannungskurve läuft nach den steilen Hügeln jetzt in Erleichterung aus...
26. Juni 2006
Im Bus in Westjerusalem sitzen mir im Bus zwei orthodoxe Jungen schräg gegenüber, in einem
Vierersitz. 10 Jahre alt, Turnschuhe, bunte Klamotten, Kipa und Schläfenlocken.
Der eine legt seine Füße auf den Sitz gegenüber. Sofort zeigt der andere auf das Schild, „Füße
hochlegen verboten“.
Schnell nimmt er die Füße runter. Den einen stellt er dafür auf den Luftschacht auf der Seite. Dann
diskutieren sie eine oder zwei Minuten lang ernsthaft darüber, ob das nun erlaubt ist oder nicht,
kommen aber zu dem Schluss, dass es legal ist und sind beruhigt.
Die Erziehung nach Regeln ist bei den orthodoxen Juden sehr stark – da nimmt selbst ein 10jähriger
die Füße „aus Überzeugung“ von der Bank runter. Masha’allah – Respekt! Und seltsam...
30. Juni 2006
Ich sitze im Bus von Haifa nach Jerusalem. Auf der einen Straßenseite war mir schon auf der Hinfahrt
aufgefallen, dass dort die Mauer steht, Westbank-artige Wachtürme, sichtlich arabische Dörfer mit
israelischen Siedlungen dazwischen. Das hat uns verwirrt, denn wir waren sicher, dass der Bus nicht
durch die Westbank fährt, er war ja auch nicht gepanzert und nichts.
Später, zuhause, habe ich auf der Karte nachgeschaut und festgestellt, dass die Autobahn keine
hundert Meter an der Grünen Linie (1948-Waffenstillstandslinie) vorbeiführt, und dass hinter den
immer nur recht kurzen Mauerabschnitten, direkt hinter der Mauer, Kalkiliya und Tulkarem und
tausend arabische Dörfer liegen. Gleichzeitig liegt diese Strasse aber nicht weiter als 15 Kilometer von
der Mittelmeerküste entfernt – dieses Land ist so klein, dass es einem die Vorstellung für Entfernungen
stiehlt.
Während der drei Tage in Haifa hatte ich kein Internetzugang und war so von meinen
Informationsquellen abgeschnitten.
Nur einmal mitten in der Nacht hatte ich während des Seminars kurz vor dem ins Bett gehen den
Fernseher angeschaltet, und sah zu meinem Entsetzen das Innenministerium in Gaza brennen, von
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israelischen Raketen getroffen. Die Israelis hatten verschiedenste Militärschläge gegen den
Gazastreifen unternommen.
Jetzt, wieder angekommen im trauten Bethlehem, beginne ich im Internet meine Newsletter von
AlJazeera.net (auf Englisch), tagesschau.de und Spiegel.de zu lesen, die sich während der drei Tage
aufgestaut hatten, und komme aus meinem Schock gar nicht mehr heraus.
Ein Drittel der Minister der Regierung und einige andere Spitzenpolitiker sind verhaftet worden.
Da Israel die Hamas als Terrororganisation ansieht, sind sie der Meinung, das Recht zu haben,
Regierungsvertreter zu verhaften. Es scheint völlig selbstverständlich zu sein, dass man die Immunität
eines Abgeordneten oder Ministers für nichtig erklären kann. Oder sie nicht einmal für nichtig zu
erklären braucht – man verhaftet sie einfach.
Diese Politiker sollen, und sind zum Teil schon, vor Militärgerichte gestellt werden, angeblich sollen
sie für längere Zeit im Knast bleiben.
Ich lese verschiedene Kommentare, die das sehr verschieden bewerten. Die rechte israelische Zeitung
Jerusalem Post meint wohl, die Politiker seien Tauschpfände für den Soldaten. Haaretz, eine eher
(pseudo) linke israelische Zeitung, schreibt, die Hamas-Regierung solle soweit destabilisiert werden,
dass sie zum Regieren unfähig ist. Spiegel das selbe, tagesschau.de hat einige israelfreundliche
Verschleierungstaktiken eingebaut, sagt zwar, dass die palästinensische Bevölkerung binnen kürzester
Zeit untergehen wird, meint dann aber, die Hamas sei ja selbst schuld.
Die Israelis haben in Gaza das wichtigste Kraftwerk zerstört, das 700.000 Menschen, die Hälfte der
dortigen Bevölkerung, versorgt hat. Offizielles Statement: Man hätte nicht gewusst, dass das Gebäude
ein Kraftwerk ist. Blödsinn! Wenn sie vorgeben zu wissen wo die Geisel ist (Humbug!), wissen sie auch,
wo der Strom produziert wird. Sind auch sehr schwierig zu finden aus der Luft, die Dinger, es führen ja
nur alle Stromleitungen darauf zu.
Die Palis haben jetzt ihre Kerzen. Das Benzin, das langsam Knapp wird, pumpt mancherorts noch
Wasser aus den Brunnen. Einige Stellen scheinen jetzt schon ohne Wasser zu sein, und wenn der Diesel
ausgeht, hat keiner mehr Wasser. Krankenhäuser sollen in drei Tagen kein Wasser mehr zur Verfügung
haben, und dann ist auch ihr Diesel für die Generatoren alle. Dass es der Bevölkerung entsprechend
schlechter geht, ist klar. Hamsterkäufe auf Wasserflaschen sind gerade angesagt.
Den Krankenhäusern gehen die Medikamente aus, vor allem Schmerz- und Narkosemittel.
Die Israelis haben den Gazastreifen abgeriegelt, niemand kommt rein, keine Wahren oder
Ressourcen. Jemand bezeichnet es als eine mittelalterliche Belagerungstaktik.
Brücken und strategisch wichtige Straßen werden zerstört, angeblich, um „Terroristen die Wege
abzuschneiden“. – Hallo, seit wann benutzen palästinensische Kämpfer Panzer oder x-TonnenLastwagen? Die brauchen nur einen Kleinwagen, können die Abschussrampen für ihre unseligen
Qassam-Raketen notfalls auch tragen.
Bei der Bombardierung geht es um Zerstörung von Infrastruktur, um die Destabilisierung des
Gazastreifens (falls das noch geht), wer weiß um was noch. Es geht jedenfalls nicht um
Terrorbekämpfung und definitiv um das Leben Gilad Shalits, des jungen israelischen Kriegsgefangenen
im Gazastreifen (oder ist er doch entführt worden? Dürfen nur Israelis Kriegsgefangene nehmen?).
Und wer bekämpft Unkraut, indem er mit Unkrautsamen nach ihnen schießt?
Die gesamte Liste da oben sieht mir nach einem systematischen Destabilisierungsplan für Gaza aus.
Wasser- und Stromversorgung für die Zivilbevölkerung werden direkt zerstört, die
Gesundheitsversorgung indirekt unterbunden, dem völlig instabilen politischen System wird jeder
Boden unter den Füßen weggezogen, politische Einigungspläne für die Beseitigung der
innerpalästinensischen Machtkämpfe werden unmöglich gemacht – wie kann den die Hamas jetzt noch
das Prisoner Document anerkennen, in dem sie Israel praktisch anerkannt hätten?
Fragt mich nicht, was den Israelis eine verzweifelte, wütende Steinzeit-Lage im Gazastreifen bringt –
ich weiß nur, dass es ihnen Selbstmordattentäter und Tote bringen wird.
Es gibt Leute, die das als das Mittel zum Zweck der israelischen Politik sehen. Ich halte das für zu
extrem und kann es mit meinem Glauben auf eine Restgüte im Menschen nicht vereinbaren, aber so
sind die Theorien: Sollten Palästinenser etwas unternehmen, das die Abscheu der Weltöffentlichkeit
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hervorruft (ein Riesenmassaker an israelischen Zivilisten vielleicht), besteht eine gute Chance, dass die
Weltöffentlichkeit eine Vertreibung der Palästinenser aus Gaza und Westbank oder Teilen davon nach
sonstwohin schweigend hinnimmt.
Egal wie die Planungen und Strategien sind. Wenn sich die Situation sich nicht drastisch und extrem
schnell um 180° dreht, hat Gaza in drei Tagen kein Wasser mehr, und die Kindersterblichkeit wird in
die Höhe schießen. Ein palästinensisches Hongkong ohne Notversorgung – Was für ein Bild.
Unterdessen wurde die Leiche des 18-jährigen Siedlerjungen bei Ramallah gefunden, mit einem
Kopfschuss umgebracht. Verfluchte Palis. Warum verstehen sie nicht, dass es jeden Israeli völlig aus
der Bahn schlagen würde, hätte man die Geisel gut bewirtet, gut behandelt, sinnbringend
„eingetauscht“? Was bringt es, das ekelhafteste Verbrechen zu begehen, die schädlichste Sorte
Vorurteile zu bestätigen? Wofür musste dieser Jugendliche, zwei Jahre jünger als ich, der ich immer
mehr erkenne wie jung ich überhaupt bin, sterben?
Und morgen muss ich in Ramallah die Hälfte eines Vortrages über die westliche Sicht auf die
palästinensische Geschichte geben. Und die deutsche Sicht ist nun mal geprägt vom Holocaust...
6. Juli 2006
Gestern war mal wieder ein interessanter Tag. Ich habe an einer Tour nach Hebron teilgenommen,
die von Breaking the Silence veranstaltet wurde.
Breaking the Silence ist eine Organisation von israelischen Ex-Soldaten, die in der zweiten Intifada
gedient haben und über ihre Erfahrungen reden. – Denn die Realitäten in Westbank und Gaza sind
Tabuthemen in Israel.
Hebron ist wohl in vieler Hinsicht ein besonderer Fall. Yehuda, unser 23jähriger Führer, erklärt im
Bus die Hintergründe.
In Hebron steht die Al-Ibrahimi-Moschee, das Grab Abrahams, des Vaters der semitischen Völker.
Islam und Judentum ist dieser Ort sehr wichtig.
Praktisch durchgängig durch die Geschichte gab es in Hebron eine jüdische Bevölkerung. Arabische
Juden, die mit ihren muslimischen Mitbewohnern zusammenlebten und kulturell einander sehr nahe
standen.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Immigration von nicht-arabischen Juden, z.B. aus Europa
oder Nordamerika, immer stärker. Westjuden, Ashkenazim, siedelten auch in Hebron zu der
bestehenden ostjüdischen, sephardischen Gemeinde. Die Einwanderungswelle machte den Arabern
Angst, sie fürchteten um ihre Heimat. Hier beginnt der Nahostkonflikt – die Araber begannen sich
gegen die Einwanderung der Ashkenazim zu wehren. Hebron war einer der Schauplätze. 1929 gab es
ein Pogrom, verübt am Markttag von muslimisch-arabischen Bauern aus den umliegenden Dörfern.
Mehr als 50 (?) Juden wurden umgebracht, Kinder, Frauen, Männer. Muslimische Nachbarn versteckten
viele Juden. Ich habe einen Film mit Zeugen und Opfern gesehen – ein Inferno aus Hass und Gewalt und
Hilfsbereitschaft und Tod. Das nicht auf religiösen Füßen steht. Die Aggression richtete sich gegen die
eingewanderten Ashkenazim, die Westjuden, die die zionistische, als kolonialistisch aufgefasste
Bedrohung darstellten. Der Mob hat auch etwa zehn Sephardim, arabische Juden umgebracht, doch sie
waren nicht das Ziel.
Es gab nach dem Pogrom bis 1936 noch arabische Juden, die ihre Heimat und Nachbarn nicht
aufgeben wollten, die jedoch schließlich wegen des wachsenden Drucks Hebron ebenfalls verlassen
mussten. Seither gab es keine jüdische Bevölkerung mehr in Hebron.
Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 wurde die Westbank von den Jordaniern verwaltet, damit auch
Hebron. Als Israel 1967 im Sechstagekrieg (neben dem Gazastreifen, der Sinai-Halbinsel und den
Golanhöhen) die Westbank eroberte, wurde eine jüdische Siedlung eingerichtet, jedoch von ganz
anderem Charakter als die einstige Siedlung von arabischen Juden, die in das lokale Leben integriert
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waren. Militante, fanatisch religiöse Siedler besetzten ein Haus in der Altstadt und besetzen seither
illegal Häuser und nutzen die Armee aus, um ihre Siedlung ständig zu erweitern.
Israelis, die in der alten arabisch-jüdischen Gemeinde in Hebron aufgewachsen waren, weigern sich,
in die neue Siedlung zu ziehen – sie wollen gerne nach Hebron zurückkehren, aber nicht als Besatzer.
Als Nachbar für die Araber, nicht als Feind. Sie würden in den Frieden von vor 1929 zurückkehren
wollen, nicht in die Zeit seither.
Seit den Oslo-Verträgen ist die Stadt geteilt. Die Altstadt und ein Korridor ins Umland ist die H2Zone, die neueren Viertel drumherum H1. H1 ist der arabisch verwaltete Teil, H1 ist israelisch verwaltet
und beherbergt die Siedlungen.
In H2 leben jedoch immer noch Araber, sie wurden bei der Teilung der Stadt nicht vertrieben. Doch
durch die Anfeindungen, Attacken, die Gewalt gegen sie durch die Siedler sind seit 1967 40 % der
Familien abgewandert, raus, nach H1. Die Siedler vertreiben die althergebrachte Bevölkerung täglich.
Yehuda erzählt von den Strategien, die die Siedler anwenden, um an neues Land, einen neuen
Straßenzug, ein neues Haus zu kommen.
Die Armee hat einen Schutzauftrag, soll also für die Sicherheit der Siedler sorgen. Sie hat nicht das
geringste Interesse daran, für die Siedler neue Gebiete oder Häuser zu erobern. Das Verhältnis von
Soldaten und Siedlern ist vielmehr ein ständiger Kampf, denn die Siedler sind ständig aggressiv und
machen den Soldaten Ärger. Und gegen die Siedler vorgehen dürfen die Soldaten nicht – nur die
Polizei, die untätig zusieht.
Wenn die Siedler also auf einer Straße fahren und aus einem von Palästinensern bewohnten Haus
beschossen werden, beschweren sie sich bei der Armeeführung, sie würde die Siedler nicht schützen,
ihrem Auftrag nicht gerecht werden. Also muss diese Straße „sterilisiert“ werden – Straßen werden
geschlossen, Geschäften werden die Klappläden zugeschweißt, ganze Straßenzüge zu Closed Military
Zones erklärt.
Jetzt ist also diese Straße sicher. Um sich eine zweite Straße zu sichern, benutzen die Siedler jetzt
aber verstärkt die noch „unsterile“ Parallelstraße, werden beschossen – und die Soldaten schließen
einen weiteren Straßenzug.
Sind die Straßen erst einmal „judaisiert“ (dieses Wort habe ich mal in einer israelischen Zeitung
gelesen), werden eins nach dem anderen die Häuser übernommen.
An einer Straßenecke wird ein junges israelisches Paar ermordet. Am Laden dahinter werden
Blumenbeete angebracht und Gedenktafeln - der Laden daneben wird besetzt. Die verschweißte
Ladentür wird aufgeflext und die Räume bewohnbar gemacht, eine kleine Familie zieht ein. Die Armee
und die Polizei schaut zu – um die Siedler ruhig zu halten, gibt man nach dem Mord ein wenig nach.
Die Siedler fangen jetzt an, durch die Häuser von innen vorzustoßen, die Mauern zu den angrenzen
Geschäften und Häusern aufzubrechen und ebenfalls bewohnbar zu machen. Und eines Morgens ist
plötzlich der Fensterladen eines unbewohnt geglaubten Verschlags offen, eine junge Familie lebt darin.
Ein Siedlerhaus wird beschossen. Nachdem das Haus, aus dem die Schüsse kamen, geräumt und
versiegelt wird, beantragen die Siedler beim Staat Israel, ihnen sichere Häuser zu bauen. Die Häuser
werden an sichereren Orten gebaut, mit schusssicheren Fenstern und Stahltüren. Neue Familien ziehen
ein.
Die alten Siedlerhäuser bleiben bewohnt.
In einem Video hatte ich schon mal über die Situation in Hebron gehört, Interviews, Bilder. Jetzt
stehen wir an den selben Stellen. Wir gehen eine „sterile“ Straße hinunter. Keine Menschenseele, kein
Araber. Ein paar Soldaten an einer Ecke, ein paar Siedler in schusssicheren Westen. Die Straße, früher
ein lebendiger arabischer Markt wie man ihn sich vorstellt, ist leer. Wunderschöne alte Häuser aus
gelbbraunem Kalkstein, Fensterbögen, mit Ornamenten verzierte Schmucksteine in den Fassaden, die
traditionellen Fenstergitter. Hinter manchen der Gitter palästinensische Kinder, die wohl noch nie auf
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der Straße unter ihrem Fenster waren, sie müssen sich wer weiß wie durch die Hinterhöfe schlängeln
um auf die nicht verbotene Straßen zu gelangen.
An einer Kreuzung steht in der Mitte, wie eine Kreisverkehrsinsel, ein Wachturm. Das ist nichts
besonderes an sich, Palästina ist voll davon.
Doch dieser hier wurde, wie alle modernen Häuser in Nahen Osten, mit Kalkstein verkleidet, um
original auszusehen, als wäre er kein Fremdkörper. Beete am Fuß, etwas Efeu klettert die Wände hoch.
Damit die Siedler keinen so hässlichen grauen Turm anschauen müssen.
Zynisch.
Wir gehen durch die israelische Siedlung. Jüdische Jugendliche, die zur Synagoge gehen, vermauerte
Straßen, Soldaten. Zwei große Tanks, in blau-weiß gehalten, arabische Arbeiter reparieren ein
jüdischen Haus. Leere Fenster, Fenster mit israelischen Fahnen, orangene Bändchen.
Ich schaue eine Straße hinunter, sie mündet in eine größere Straße der Altstadt. Doch die Mündung
ist mit einem großen Zaun, Stacheldraht, einem Wachturm versperrt. Sechs Monate zuvor war ich mit
palästinensischen Bekannten auf der anderen Seite gewesen, hatte mir angeschaut was vom
palästinensischen Leben in der Altstadt noch geblieben war – fast alle Läden geschlossen, kaum
Menschen auf den Straßen, ehemals der Suq, der Markt.
In der israelisch verwalteten Altstadt hat jeder Shop das gleiche halbrunde Blech-Vordach, die
Klapptüren vor den Shops sind die selben, alles ist im selben grün-türkisen Farbton gestrichen.
Israels Oberstes Gericht hat entschieden, dass den Palis die Türen zu renovieren sind, wohl wegen
der dauernden Zerstörung derselben durch die Siedler.
Die Vordächer, Türen, Farbe, Arbeiter wurden von der Europäischen Union bezahlt.
Der Einbau der Türen liegt schon mehrere Jahr zurück. Das Ganze wartet auf seine Einweihung, kein
Palästinenser hat seither die Läden betreten. Die Türen wurden inzwischen auch wieder „versiegelt“ –
sie wurden von der Armee zugeschweißt, sowohl um Palästinenser am eindringen zu hindern (da
könnte man rausschießen), als auch die Siedler, die sich dort einen Außenposten einrichten könnten.
Wir passieren ein arabisches Haus, drei Stockwerke, nah der Grenze zwischen H1 und H2. Yehuda
berichtet, dass zu besonderen Anlässen, z.B. jüdischen Festtagen, besondere Sicherheitsvorkehrungen
getroffen werden. Um palästinensische Scharfschützen zu verhindern, wird der israelische H2-Bezirk in
mehrere Bezirke geteilt, eine Gruppe Soldaten bekommt einen Bezirk. Alle Häuser im Bezirk werden
durchsucht – mehrmals. Wenn die Familie beim Gebet in die Moschee ist. Wenn sie wiederkommen.
Drei, vier, fünf mal am Tag.
Die Soldaten richten sich für den Tag auf dem Dach ein. Wenn jemand auf die Toilette muss, oder
Tee gemacht wird – immer poltern schwere Soldatenstiefel durch das Treppenhaus.
Aus dem Fenster des Hauses, auf dessen Dach Yehuda einige Tage verbracht hat, Schauen uns ein
paar palästinensische Kinder nach.
Wir besuchen eine arabische Familie. Dafür müssen wir erst quer über eine Wiese, eine wacklige alte
Treppe hinauf, durch Gestrüpp, steigen über Wurzeln, eine Treppe hinunter, und kommen so im Garten
an. Die Straße ist nicht zugänglich.
Hashem, der Vater, erzählt; er hat oft Besuch wie uns bei sich zu Hause, er ist routiniert im
Darstellen der Leiden seiner Familie. Auf einem Computer läuft später sogar ein Filmchen über einen
jüdischen Mob, der ein arabisches Haus stürmt und palästinensische Schulkinder mit Steinen bewirft.
Er erzählt, wie die Siedler von Tel Rumeida, deren Häuser gleich am Hang oberhalb seines
Grundstücks stehen, andauernd Müll hinunterwerfen, manchmal sogar Fäkalien. Sie haben so oft eine
Fensterscheibe eingeworfen, bis er sie durch mit Draht verstärktes Glas ersetzt hat – drei
Strahlenkränze aus Rissen zeigen, wo seither die Steine trafen. Die hohen, recht alten Weinstöcke in
seinem Garten wurden abgesägt, die Siedler kamen und kappten die Stämme, während die Familie sich
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im Haus versteckte. Manche der Weinstöcke hängen an einer winzigen zweiten Wurzel, die anderen
sind vertrocknet.
Wir gehen weiter, quer durch Gestrüpp, an Stacheldrahtrollen vorbei, und kommen auf eine Straße,
die die Siedler benutzen. Überall Soldaten. Wir gehen zu einem Aussichtspunkt, die Tour nähert sich
dem Ende. Yehuda erzählt uns mit Blick auf Hebron mehr zu seiner Armeezeit.
Er wurde noch während der Grundausbildung an einer speziellen Waffengattung ausgebildet, dem
Granaten-Maschinengewehr. Das ist, so unvorstellbar es klingt, ein automatischer Raketenwerfer. Die
Raketen haben eine derartige Sprengkraft, dass sie jeden im Umkreis von 8 Metern töten und jeden im
Umkreis von 16 Metern verwunden. Weil Maschinengewehre unpräzise Waffen sind, erklärt er, zielt
man, schießt, schaut, wo die Granate einschlägt, korrigiert, schießt nocheinmal.
Diese Waffen werden in dicht besiedelten Gebieten verwendet, in einer Stadt.
Der Dienst in dieser Stadt sei am ersten Tag befremdlich gewesen, er habe die Befehle nur
widerstrebend ausgeführt. Am zweiten Tag sei es schon besser gewesen. Am dritten ganz normal.
Alle Soldaten aus Yehudas Einheit stammen sie aus linkem, kommunistischem Milieu, aufgewachsen
im Kibbuz. Sie hatten keine Hassgefühle gegenüber „den Arabern“, wollten den Palästinenser das Leben
nicht unnötig schwer machen. Deshalb kontrollierte sie anfangs nie die Ausweise.
Als Ihr Vorgesetzter das nach einer Woche erfuhr, befahl er ihnen, ihm nach jeder Schicht eine Liste
mit 20 Nummern vorzulegen, die kontrolliert wurden. Innerhalb kürzester Zeit wurde es zu einem
Sport zwischen den Kameraden, wer in den 8-Stunden-Schichten am meisten Ausweise kontrolliert.
100 oder mehr Ausweise seien kein Problem.
Die Ausweiskontrolle läuft folgendermaßen ab. An den Wachposten zwischen H1 und H2 gehen
Palästinenser vorbei, zum Markt, zur Arbeit, eine normale Straße. Die Soldaten rufen sie an, nehmen
ihre Ausweise und geben die Nummern über Funk durch, damit die Akte geprüft wird.
Die Nummer muss mehrere Stufen durchlaufen, von einem Schreibtisch zum anderen gefunkt
werden. Oben angekommen, wird sie in den Computer eingegeben, überprüft ob alles sauber ist, und
die Antwort wird über die Funkkette wieder hinuntergemeldet.
Diese Prozedur kann zwischen 15 Minuten und 2 Stunden dauern. Je nach Laune. Währenddessen
müssen die Palästinenser eben warten.
Yehuda kritisiert die Methode an sich – läuft denn jemand, der etwas zu befürchten hat, an einem
Soldaten vorbei? Der drückt sich durch eine hintere Gasse.
Wenn ich mich recht erinnere, weiß Yehuda von keinem Fall, bei dem ein Gesuchter so gefunden
wurde.
Wie der Sport, die meisten IDs einzusammeln, gibt es noch diverse andere Dinge, die die Armee mit
den Soldaten anstellt.
Die Wahrnehmung ihrer Arbeit verändert sich. Yehuda berichtet, dass der Dienst nach ein paar Tagen
zu einem Computerspiel wird. Triffst du den Reifen da hinten? – Na klar!
Die Soldaten müssen einen so surrealen Dienst leisten, dass sie den Sinn für die Realität verlieren –
dass die Häuser auf der anderen Talseite tatsächlich von Menschen bewohnt ist, deren Blut und
Emotionen genauso warm sind wie die eigenen.
Die plötzlich verliehene, absolute Macht tut ihr übriges. Ein 18jähriger Soldat steht am Checkpoint. In
seiner Hand ein Gewehr, in seinem Rücken ein Staat. Er ist das ausführende Organ dieses Staates.
Ein Auto kommt, hält zwanzig Meter vom Soldaten entfernt, die Menschen darin sind aufgeregt. Sie
warten.
Der Soldat hebt die Hand, streckt seinen Finger aus, winkt das Auto heran, darin eine Familie, ein
Mann im Alter seines Vaters am Steuer, ein Jugendlicher in seinem Alter, eine Frau wie seine Mutter.
Von diesem Finger, von seinem Willen ist in diesem Moment alles anhängig. Er kann „the Arabs“
gnädig durchlassen – es sind ja auch nur Menschen! Er kann es ihnen verweigern – dieser Mann hat
einfach nicht das richtige Papier, es verstößt gegen die Regeln, was kann ich schon tun!
Yehuda berichtet, dass man nach dieser Macht süchtig wird, man tut alles, um Menschen mit einem
einzigen Zucken eines Muskels zu kontrollieren.
122
Ebenso wie der Drang, „the Arabs“ zu erziehen – du hast keine Papiere? Nein, du kommst nicht
durch. Ich muss ein Beispiel setzen, damit sie es endlich mal kapieren!
Der Sog der Überlegenheit. Das, was bei machen Menschen die Faszination an Waffen ausmacht – die
absolute Macht durch die Möglichkeit, den anderen zu töten.
Die Soldaten sind nachts und Tags viel unterwegs, um „Präsenz zu zeigen“. Sie wolle wohl die
Palästinenser ständig erinnern, wer der Herr im Haus ist. Als ob das nötig wäre.
Sie durchsuchen zu irgendeiner Tages- oder Nachtzeit Häuser, die Bewohner warten draußen, die
Wohnung steht nachher völlig kopf. Sie Dröhnen an die Türen und verhaften die Männer.
Yehuda, der ja Friedensaktivist ist, war, als er seinen Dienst bereits beendet hatte, in Zivil bei
arabischen Freunden in Hebron, es war mittags. Soldaten kommen, wollen die Wohnung des Nachbars
durchsuchen, keine Reaktion auf die Schläge gegen die Tür. Yehuda geht hinaus und sagt den
Soldaten, dass der Mann nur kurz einkaufen gegangen sei, er wäre in ein paar Minuten zurück.
Die Soldaten sind natürlich völlig perplex, dass ihnen mitten im „gefährlichen“ Hebron ein völlig
entspannter Israeli entgegenläuft. Sie wollen sich jedoch von so einem dahergelaufenen Hansel nichts
sagen lassen und brechen die Tür mit Gewalt auf.
Wir verlassen die Innenstadt Hebrons und laufen durch den Korridor aus der Stadt hinaus. Vor der
Stadt steht ebenfalls eine jüdische Siedlung, Qiryat Arba. Sie ist ebenfalls von sehr radikalen Siedlern
bewohnt. Baruch Goldstein, der israelische Arzt, der vor Jahren in der Al-Ibrahimi-Moschee in
Armeeuniform mit einem Maschinengewehr viele muslimische Betende tötete, liegt hier begraben, die
Einwohner von Qiryat Arba haben ihm einen prächtigen Grabstein geschenkt.
Zehn Meter außerhalb der Zäune und Stacheldrahtrollen, die die Siedlung umgeben steht ein Zelt aus
farbigen Plastikbahnen mit hebräischen Slogans darauf. Es ist vielleicht vier auf sechs Meter groß, es
scheint leer zu sein, kein Mensch. Yehuda erzählt, es sei einer der Außenposten, die selbst die Israelis
als illegal ansehen. Siedler sind gekommen, haben das Zelt aufgebaut, und sind wieder gegangen. Es
steht auf arabischem Land, doch die Bauern haben sowieso zu viel Angst vor den Siedlern, um ihre
Felder zu bestellen.
Das Höchste Gericht Israels hat, wie vor einigen Monaten in Amona, die Räumung dieses
Außenpostens angeordnet. Sobald der Räumungstermin bekannt wird, werden aus ganz Israel und den
besetzten Gebieten junge Siedler und Religiöse zusammengetrommelt, und die 300 Soldaten, die für
die Räumung und den Abriss eines Zeltes abkommandiert werden, sehen sich mit einer Meute
gewaltbereiter Siedler konfrontiert. Nachdem sie mit Farbe, Steinen, Öl und anderem beworfen wurden,
tragen sie die Siedler weg, reißen das Zelt ab und gehen. Am nächsten Morgen steht es wieder da. – Die
IDF (und Israel) hat ein hartes Los mit den Siedlern.
Man sollte jedoch nicht meinen, dass an der Besatzung nur die religiösen Fanatiker schuld sind. Die
israelische Gesellschaft unterstützt sie, indem sie nicht dagegen vorgeht. Wer untätig zusieht ist mit
schuld.
7. Juli 2006
Gestern fuhr ich mit Esther und Stefan, einem ihrer Bekannten, der in Jerusalem Behinderte betreut,
nach Nablus. Wir kennen dort drei Palis, die oft in Bethlehem zu Besuch sind, Abed, Ala’ und Samia.
Wir fahren vormittags in Bethlehem los, nach Jerusalem, nehmen von dort aus einen arabischen Bus
nach Ramallah und fahren von dort aus mit einem Sammeltaxi zum Checkpoint von Nablus weiter. Wir
fahren durch besetztes Land – ab und an Soldaten, Humvees, Armeejeeps, Gewehre,
Kleinstcheckpoints, Dörfer, Siedlungen, Autos mit Siedlerfamilien hinter Autos mit palästinensischen
Familien. Das Straßenbild, an das man sich schon gewöhnt hat.
Wir kommen am Huwara-Checkpoint an, der im freien Feld vor Nablus steht. Wir steigen aus dem
Taxi aus, schlängeln uns durch das Meer an Taxis und gehen durch den Checkpoint, wobei man auf
dem Weg hinein nicht überprüft wird. Es ist wie am alten Qalandia-Checkpoint bei Ram Allah, bevor
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das Terminal gebaut wurde, ein „Hasenkäfig“, ein langer Gang, von beiden Seiten von Gittern begrenzt,
der am Checkpoint vorbei führt. Man kommt zu einer einzigen engen Drehtür, und schon man ist drin.
Auf der anderen Seite wieder massenhaft Taxis, die die Leute in die Stadt bringen. Abed und Ala’
holen uns ab zusammen mit einem weiteren Freund, Shadi, und wir quetschen uns in ein winziges
Auto, recht neu, stahlblau und etwas seltsam irgendwie für Palästina. Esther fragt, woher das Auto ist,
die Antwort ist: „Israel“ – geklaut. Es scheint recht selten zu sein, in Nablus ein Auto zu finden das
keine irgendwie kriminelle Vergangenheit hat. A’di, normal...
Ich habe von der Entführung des deutschen Volontärs in Nablus während der Cartoon-Zeit erzählt.
Wie sich rausstellt, waren es ausgerechnet Abed und Ala’, die bei ihm waren, als die Jungs von AlAqsa oder nochwas kamen. Sie hängen wohl immer mit allen Internationals rum, und so auch, als sie in
einem Hotel saßen und Argileh rauchten, und der Volontär mitgenommen wurde.
Anscheinend waren die Entführer absolute Stümper, sie haben nach endlosen Diskussionen („Wenn
ihr ihn mitnehmt, müsst ihr uns auch mitnehmen“) alle ins Auto eingeladen, nachdem sie Abed und
Ala’ mit der Waffe an der Stirn nicht zum Gehen bewegen konnten, und sind dann ziellos in der Stadt
rumgefahren, hatten keinen Platz, wohin sie gehen könnten. Irgendwann sind sie dann zu dem
Menschen, der sich das Ganze ausgedacht hatte, nach Hause. Dort gab es dann erstmal Tee, und der
Chef sah den Pass, deutsch, nicht französisch oder dänisch, hat seine Jungs angeschrieen, sie hätten
den falschen.
Schlussendlich sind alle heil rausgekommen, und seither können Abed und Ala’ nicht mehr ins
Ballata-Flüchtlingslager, ohne Ärger befürchten zu müssen.
Wir fahren in die Altstadt, parken, und schauen uns erstmal das Hammam an, das alte Bad. Es wurde
vor etwa 2000 Jahren gebaut und ist im letzten Jahrhundert zerfallen. 2000 wurde es wieder aufgebaut.
Ich trete ein, und fühle mich mit meiner brennenden Zigarette etwas seltsam, ist schließlich ein Bad.
Aber drinnen schmauchen Argilehs, die Wasserpfeifen, die Männer liegen oder sitzen auf gepolsterten
Mauernischen. Es ist ein quadratischer Raum, der von einer hohen Kuppel überdacht ist, die in der
Spitze ein Lichtloch hat. Sie ist in schrillen Neonfarben, gelb und grün und rot, ausgemalt,
Landschaftsbilder, Altstadtszenen, arabische Schriftbänder. Die Schränke sind von Hand bemalt, der
Brunnen in der Mitte plätschert.
Wir werden kurz durch die Baderäume geführt, wirklich eins zu nehmen haben wir keine Zeit.
Im Umkleideraum ist es schon dämpfig warm. Die Kuppel hat viele Lichtlöcher, man kann sehen, dass
es Blechbüchsen sind, um die herum der Beton gegossen wurde – fast das ganze Dach war eingestürzt.
Der nächste Raum ist richtig warm. In kleinen Nebenzimmern, mit Vorhängen abgetrennt, stehen alte
Steinbecken, Kalt- und Warmwasserhähne, der Bode geheizt, man legt sich darauf und kann sich auch
waschen. In der Mitte des Raumes ist eine großer Steintisch, aus schwarzem und weißem alten Marmor.
Eine kleine Tür führt in einen winzigen Raum, in dem man sich massieren lassen kann – die Massage
dauert wohl nur drei Minuten, treibt einem aber wohl auf recht schmerzhafte Weise Schmerz und
Verspannungen aus dem Körper.
Wie man sich vorstellen kann ist das Bad männerdominiert, man sieht außer Esther keine Frau. Wenn
allerdings gerade kein Mann drin ist und eine Frau ein Bad nehmen will, wird für sie das Bad
geschlossen und gewartet, bis sie wieder draußen ist.
Wir schwatzen ein bisschen über dem Tee, den wir natürlich serviert bekommen, und müssen schon
wieder gehen, wir wollen uns noch ein paar Sachen anschauen. Ein richtiges Bad dann nächste Woche,
Esthers Bruder kommt und wir machen zu dritt nochmal eine kleine Palästina-Tour.
Wir laufen durch die Altstadt, durch verwinkelte, überbaute Gassen, manchmal menschenleer, an
anderen Stellen voll.
In einem der Gänge hängen Fahnen des Jihad Islami. Hier sind jede Nacht Kämpfe, jede. Gegen
Abend gehen die Kämpfer in Position, und die Armee rückt mit ein paar Jeeps ein und kämpft gegen
sie. Ala’, der zwischen zwei Flüchtlingslagern wohnt, meint, er könne nicht schlafen, wenn er keine
Schüsse hört... – denn jede Nacht werden dort Leute verhaftet.
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Man kann sehen, dass Nablus viel ärmer ist als Bethlehem oder Ram Allah – ist ja auch seit 2001
völlig abgeschnitten. Ein alter Mann versucht, mir für einen Schekel Kaugummis zu verkaufen, ein
winziger Laden verkauft Gasflaschen, mehr als 15 Flaschen hat er sicher nicht gelagert. Wenige Waren
liegen aus.
Dann kommen wir in einen belebteren Teil, das Zentrum des Markts, wo es ein besseres Angebot
gibt.
An einer Straßenecke steht ein Mann mit einem Sturmgewehr. Er trägt keine Uniform und ich frage
lieber nochmal nach, aber meine Vermutung wird bestätigt – es ist ein Kämpfer. Ich schaue ihn nicht zu
lange an und gehe mit gesenktem Blick an ihm vorbei. Man muss nicht irgendwelche Guerillas
angemacht haben.
Als ich eine Strasse weiter ein Foto mache, kriege ich den Hinweis, dass ich meine Begleiter doch
bitte fragen soll, bevor ich ein Foto mache – und zwar, weil es schon öfters israelische Soldaten gab,
die in Zivil nach Nablus kamen und auskundschafteten.
Wir gehen Knafe essen, eine Süßigkeit, die aus Nablus kommt (angeblich – Lokalpatriotismus,
Vorsicht!). Es ist eine Süßigkeit mit Käse unten und Gries obendrauf, mit Zuckersirup getränkt, warm
gegessen. Wunderbar...
Als wir den Knafeladen verlassen, spricht mich ein älterer Mann an, woher ich denn komme. Ich
antworte, dass ich Deutscher bin und sein Gesicht leuchtet auf. Wir schütteln uns die Hände, und
plötzlich küsst er mir die Hand – ich erschrecke, denn das ist eine große Respektsbezeugung, die nicht
so häufig ist. Und nie von einem Älteren zu einem Jüngerem. Was er wohl an Deutschland so mochte?
(Ich hoffe es war nicht Hitler...).
Im Shop nebenan können wir endlich mal sehen, wie Knafe überhaupt gemacht wird.
Auf ein eineinhalb Meter durchmessenden runden Blech wird irgendeine rötliche Flüssigkeit verteilt,
Gewürze. Es wird erwärmt, und vorgekochter Gries kommt darüber, gelb vom ganzen Maisöl.
Auf einem anderen Blech wird währenddessen der Käse erwärmt. Wenn er geschmolzen ist, wird das
Gries-Blech auf den Käse gestürzt, und das Knafe wird noch warm verkauft.
Die jahrhundertealte Seifensiederei ist leider gerade geschlossen als wir vorbeikommen, und so
beschließen wir, einen Blick über Nablus zu riskieren. Wir fahren einen der Berge hoch, zwischen denen
Nablus wie in einer Rinne liegt Sie sind sehr steil, fast im 45°-Winkel. Die Hänge sind felsig und vor
allem kahl, ein paar Pinien stehen verstreut. Auf den Hügelkuppen jeweils israelische
Beobachtungsposten.
Nablus ist groß, eine der größten palästinensischen Städte, 500.000 Einwohner, die Hälfte davon in
Flüchtlingslagern. Die Stadt zieht sich die Hangseiten hinauf, von oben kann man die Camps
ausmachen, die Häuser dicht und chaotisch aneinandergebaut, betongrau, nicht sandbraun wie der
Rest der Stadt. Auf der anderen Hangseite steht eine Replik eines Renaissance-Palastes in Norditalien,
der die vier griechischen Portale um einen runden Saal in der Mitte hat. Ein äußerst reicher Mann aus
Nablus hat ihn sich dorthin bauen lassen und dafür wohl alles Geld der Familie zusammengekratzt.
Wieder unten angekommen, schauen wir uns den Jakobsbrunnen an, eine griechisch-orthodoxe
Kirche über dem Brunnen, den Jakob, der Enkel (?) von Abraham angeblich gebuddelt und damit viel
Frieden in den Streit um Wasser gebracht hat. Wir können leider kein Wasser aus dem 40 Meter tiefen
Brunnen hochziehen, weil das Seil gerissen ist. Esther sagt, es sei wunderbar und frisch, aber weil die
Kirche gerade renoviert wird und keinen Fußboden besitzt, nur Schotter, ist das Wasser im Eimer schon
ziemlich verstaubt. Wegen der Wassersymbolik komme ich nicht umhin, ein Kerze anzuzünden für den
Frieden um diese Lebensader.
Gegenüber der Kirche ist das Ballata Camp, das größte Flüchtlingslager der Westbank. Wegen der
Entführungsgeschichte können wir nicht rein, und wir schauen uns nur die lange Betonmauer an, die
ein Grundstück umgrenzt. Sie ist wunderschön bemalt, Graffiti, die hier auch mal künstlerisch richtig
gelungen sind.
Wahrzeichen verschiedener palästinensischer Städte sind an einen Fluss gemalt, der sich in einem
Wirbel von Licht in Jerusalem ergießt, mit dem Felsendom im Zentrum des Lichtes.
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Die Flüchtlinge sind dargestellt – UN-Zelte, mit den Nummern der vielen sie betreffenden
Resolutionen darauf, die nur selten eingehalten wurden. Die Flüchtlinge, wie sie aus ihren Häusern
ausziehen, als zerlumpter, habloser Zug von Menschen, schlaff und kraftlos. Der Himmel ist schwarzrot gefärbt von Feuer und Krieg.
Ein kubistisches Bild, eine Art palästinensische Guernica. Das Muster des Palästinensertuchs ist zu
erkennen, Gewehrmündungen, Chaos.
Ala’ war ein Jahr lang im Gefängnis, mitten im Studium von Business Administration. Nachts kamen
die Soldaten, klopften an seine Tür und nahmen ihn mit. Ohne Grund oder Prozess saß er ein Jahr. Er
meint, wenn man will ist das Gefängnis wie eine Uni – drei Ärzte, zwei Ingenieure, mehrere Lehrer
saßen mit ihm in der Negev-Wüste im Süden Israels. Er hat dort ein wenig Hebräisch gelernt, kann
lesen und schreiben, und hat sehr gut Englisch gelernt – in einem Jahr grundloser Haft.
13. Juli 2006
Yad VaShem
Esther, ihr Bruder und ich gehen nach Yad VaShem, die zentrale Holocaust-Gedenkstätte. Ich hatte
mich lange dagegen gesträubt, denn ich weiß schon genug über den Holocaust und habe mir oft genug
einen Tag damit versaut. Aber irgendwie kommt man doch nicht drumherum, und so sind wir gestern
aufgebrochen.
Wir nehmen die arabischen Busse am Checkpoint, überqueren zwischen Bethlehem und Jerusalem die
vielen unsichtbaren Grenzen, wechseln in einen israelischen Bus (die arabischen Linien fahren nur in
die Umgebung der Altstadt, nicht in die neue, israelische Weststadt) und sind Yad VaShem.
Alle Gebäude sind sehr modern, Glas, Beton, teilweise streng rechtwinklig, teilweise schief und
scheps; teilweise sehr offen, Wände und Dach aus Beton, Luft und Licht – teilweise enge,
abgeschlossene Gebäude.
Das Herzstück ist ein langer Gang, dessen Wände nach innen geneigt sind und sich oben fast treffen,
nur ein schmaler Spalt bleibt offen, der Tageslicht hereinlässt. Zu den Enden hin verbreitert er sich ein
bisschen und verengt sich in der Mitte. Die Mitte ist auch der tiefste Punkt, fast unmerklich fällt der
Boden zunächst ab und steigt dann wieder an.
Der Weg, der den Besuchern vorgezeichnet ist, verläuft jedoch nicht geradeaus den Gang entlang,
sondern auf einem Schlängelkurs immer wieder durch immer neue Nebenzimmer, in denen sich die
Ausstellungen zu verschiedenen Thematiken zum Holocaust befinden.
Die zwei Dreiecke, die den Gang nach beiden Seiten abschließen, sind unterschiedlich. Das beim
Eingang ist mit einer Betonmauer verschlossen, auf die Filmausschnitte projiziert werden aus der Zeit
vor dem Holocaust. Es ist sozusagen die Perspektive in die Vergangenheit vor dem Holocaust.
Das andere Dreieck weist in die Zukunft, die beiden Betonwände sind nach außen gebogen und
eröffnen einen weiten Ausblick auf Hügel, Wälder, Dörfer. (Interessant, dass Vergangenheit und
Zukunft jeweils durch ein Dreieck symbolisiert werden – der Davidstern ist ja auch zwei Dreiecke
zusammengesetzt. Das Leiden trägt er zwischen den beiden, sozusagen...).
Das Gebäude ist so gebaut, dass es den Besucher unbewusst verunsichert. Der Boden ist an beiden
Enden abschüssig, in der Mitte ist er am tiefsten. Das merkt man kaum, nur unbewusst.
Die Wände sind schräg, Türöffnungen unregelmäßig und schief, die Wege schlängeln sich, man sieht
nicht den Weg von Anfang bis Ende. Man muss sich zwischen den Exponaten schlängeln. Bevor man
zum Ziel kommt, dem lichten Dreieck, muss man viele Male abbiegen, man muss sich mit der
grausamen Geschichte beschäftigen, bevor man wieder entlassen wird.
Und so stehe ich nun da. Es sind recht viele Menschen hier, das Museum ist gut besucht. Eigentlich
habe ich überhaupt keine Lust, mir die Dokumente anzuschauen, die bei halbverbrannten jüdischen
Leichen gefunden wurden, oder Bilder von Stromzäunen, oder Modelle von den Krematorien in
Auschwitz-Birkenau. Das ist mir alles zu schwer für den Moment. Natürlich schaue ich, komme ein
bisschen „rein“ und werde sehr traurig. Doch ich kann es nicht aushalten. Die Besucher sind das
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Schlimmste. Sehr viele weinen, große Betroffenheit. Ein vielleicht dreißigjähriger Mann wird von seiner
Frau nach draußen geführt, ans gläserne Ende des Ganges; er kann nicht mehr und bleibt lange an der
Brüstung stehen, beruhigt sich mit dem wunderschönen Ausblick und an dem warmen, angenehmen
Wind, der alles umweht.
Viele Soldaten sind hier, ich muss innerlich schmerzhaft lachen. Immer wieder frage ich mich, was
haben wir gelernt, was haben wir gelernt? Wie kann dieses Volk es ertragen, plötzlich ein Unterdrücker
zu sein? Wie können sie es ertragen, sich selbst zu belügen und zu versuchen, durch Unwissenheit ihre
Unschuld zu bewahren und ihren Seelenfrieden? Ich muss an das folgende Gedicht denken:
Eure Toten
(Die Palästinenser an die Zionisten)
Eure Toten
eure toten Eltern und Großeltern
eure toten Brüder und Schwestern
auf die ihr euch immer beruft
eure Toten die euer Trumpf sind
eure Toten für die ihr euch Geld bezahlen lasst
als Wiedergutmachung
sie sind nicht mehr eure Toten
Ihr habt eure Toten verloren
denn eure Toten
das waren die Opfer der Mörder
die Gerechten die Unterdrückten:
Die Machtlosen die Verfolgten
die ermordeten Widerstandskämpfer
und ihre Kinder
das waren eure Toten
Jetzt aber seid ihr Machtanbeter und Mörder geworden
und werft Bomben auf eure Opfer wenn sie sich wehren
Ihr vertreibt die Machtlosen aus ihren niederen Hütten
Ihr kommt rasselnd in rasenden Panzern
Ihr lasst das Sprühgift
aus euren Flugzeugen regnen
nieder auf unsere Felder
und euer Napalm auf unsere Frauen und Kinder
Glaubt ihr denn eure Toten würden euch wiedererkennen
versteckt in eure Panzer und Kampfflugzeuge?
Eure Toten sind übergegangen zu uns
Opfer zu Opfern
Verfolgte zu Verfolgten
denn die Ermordeten sind der Ermordeten Brüder und Schwestern
und nicht die der Mörder
Eure Toten wollen euch nicht mehr kennen
Darum beruft euch lieber nicht mehr auf eure Toten
um die Welt schweigen zu machen jedes mal wenn ihr tötet
Darum tut lieber nicht mehr
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als wären sie das gewesen was ihr seid
als wäret ihr wirklich noch ihre echten Kinder und Enkel
denn ihr habt Verrat begangen an ihrem Leben und Sterben
als ihr eingetreten seid in die Dienste derselben Ordnung
die eure Toten gequält und getötet hat
Eure Toten sind nun zu Gast bei unseren Toten
die versuchen sie zu beruhigen dass ihr vielleicht nur
aus Unwissenheit und aus Dummheit tut was ihr tut
Doch eure Toten sagen ihr seid immer so klug gewesen
die klügsten Kinder der Welt
und sie können euch nicht mehr verstehen
Und unsere Tote wollen sie trösten und sagen
dass nur die Macht der Mächtigen euch so verlockt und verwirrt hat
und dass ihr vielleicht es noch sehen und doch noch umkehren werdet
statt so zu sterben dass eure Toten euch nicht mehr kennen
Erich Fried (jüdischer Dichter, gestorben 1988 in London)
Ich halte es drinnen nicht mehr aus und schlängele mich ohne Blicke zur Seit an der zweiten Hälfte
der Ausstellung vorbei. Auch ich stelle mich an die Brüstung in den Wind...
Esther und ihr Bruder Marius brauchen sehr lange und ich gehe wieder hinein um nach ihnen zu
schauen. Nachdem ich sie gefunden habe, schaue ich mir noch ein paar Dinge an. Ich bin jetzt ruhiger
und kann das alles besser ertragen.
Wir sind alle ein bisschen gereizt, und fahren nach Hause.
13. Juli 2006
Fallschirmspringen
Bei einem israelischen Freund von Esther, Dan, sehen wir uns einige Skydiving-Videos an. Alle sind
ziemlich beeindruckt - die eine Hälfte begeistert, die andere ablehnend. In der Begeisterten-Fraktion
keimt ein naheliegender Gedanke: Ich auch!
Esther und ich beschließen, es zu wagen, und finden noch eine Mitstreiterin, Mi Suk
Mi Suk ist Deutsche mit koreanischen Eltern und hat wie wir ein Jahr lang FSJ gemacht – sie hat in
einem israelischen Dorf nördlich der Westbank volontiert.
Und so finden wir uns eines Tages an einem Strand südlich von Haifa wieder, in Dans „Dropping
Zone“.
Weil das Ganze 180 €, 990 Shekel, kostet, müssen wir eine Weile lang verschiedene Kreditkarten
malträtieren, bis wir genug Geld für jeden zusammenkratzen können.
Wir werden im Tandem springen, das heißt mit einem Instructor auf dem Rücken, der alles für uns
macht – alleine darf man ohne Schein nicht springen. Wir bekommen nur einen Gurt angeschnallt, den
Fallschirm hat der Instructor auf dem Rücken.
Unten machen wir noch ein paar Trockenübungen, 10 Minuten - dann steigen wir in ein kleines 10Mann-Flugzeug, das eine große Luke an der Seite hat, durch die wir später springen werden.
Los geht’s. Das Flugzeug hebt ab, und ich habe eigentlich keine so große Angst. Ich hatte mir bisher
nicht so ganz klar gemacht, was genau ich denn da vorhabe. Ich bin noch ruhig, aber es ist ein
bisschen komisch, beim Start zu wissen, dass man mit diesem Flugzeug nicht mehr landen wird...
Die Nadel des Höhenmessers kriecht von der Null den elftausend Fuß entgegen, das sind 4000
Meter.
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Die Dropping Zone liegt direkt am Strand, und so steigen wir auf mit einem prächtigen Blick über das
Mittelmehr auf der einen und dem Carmel-„Gebirge“ auf der anderen Seite (recht hohe Hügel, über die
sich die letzten Ausläufer Haifas erstrecken).
Weit oben über den Wolken sind dann die elftausend Fuß erreicht, ich werde am Instructor mit vier
Karabinern festgemacht, setze den Stoffhelm und die Brille auf – und die Luke geht auf. Einer nach dem
anderen springt, wir sind die letzten, was mich etwas nervös macht, langsam geht einem das schon an
die Nieren.
Ich hänge völlig festgezurrt auf dem Schoß des Instructors, der Krabbelt zur Luke, wir setzen uns an
den Rand, meine Beine baumeln draußen, ich lege sie außen an die Bordwand an, meinen Kopf lege ich
auf die Schulter meines Begleiters – und er SPRINGT!!!
Mein Magen fällt in ungeahnte Tiefen, eine nie gekannte Krise versetzt mein Hirn in Panik –
VIERTAUSEND METER DÜNNE LUFT UNTER MEINEM BAUCHNABEL! Nur Leere, und tausende Meter um
mich herum nichts, an dem ich mich festhalten könnte. Ich hänge in der Luft, rase aber gleichzeitig mit
250 km/h der Erde entgegen, Schäfchenwolken unter mir. Ich brülle wie am Spieß und habe
wahrscheinlich den Weltrekord für den höchsten Adrenalinstand der Geschichte gebrochen.
Das Gefühl im Magen, ins Nichts zu fallen, vergeht nach ein paar Sekunden – doch die sind lang!
Ich beginne, das ganze zu genießen, schaue mich um – aha, mein Begleiter ist immer noch dabei –
mein Mund trocknet aus, weil so viel Luft durchgepeitscht wird – ich kann die anderen nirgends
entdecken, die Fallschirme sind noch nicht offen – die Erde scheint gar nicht näher zu kommen - ...
Irgendwann (nach 50 Sekunden) tut es über mir einen Ruck und ich werde wie verrückt in meine
Gurte gepresst, die Schwerkraft ist riesig – der Fallschirm ist offen.
Mein Instructor meint, er würde es mir etwas angenehmer machen und fuhrwerkt irgendetwas rum.
Es tut einen kleinen Ruck, ich sacke drei Zentimeter ab (mein Herz auch).
Wir steuern durch eine Wolke, kurz ist nur fasriger Nebel um uns herum, aus einigen Löchern lugt die
Welt hervor, und schon sind wir unten durchgefallen.
Einige Kunststücke machen wir noch, machen eine ganz enge Kurve, die uns wieder im 45°-Winkel
zur Erde stehen lässt.
Unten ist auch schon das Flugfeld zu sehen und ein paar Ameisen.
Wir steuern den Landeplatz an, die Erde kommt langsam näher und wir landen sanft auf dem Rasen –
sicher wieder auf Erden, begeistert, lachend und adrenalinüberschüttet.
Wie in jedem Land (außer den USA vielleicht, die auf Fußball ja nichts geben) hat die
Fußballweltmeisterschaft natürlich jedes Land schwer aus dem normalen Alltag geworfen. Das machte
sich schon an den langsam, aber sicher überall auftauchenden Fahnen und Farbkombinationen
bemerkbar, natürlich viele brasilianische, aber auch viele deutsche Fahnen. Ich höre hier immer vom
Ausnahmezustand in Deutschland, aber so schlimm (will sagen: stark) war es weder in Bethlehem noch
in Jerusalem.
Ich als fußballbegeisterter Veteran habe ganze drei Spiele gesehen, irgendwie konnte ich mich zum
Rest nicht aufraffen.
Das Eröffnungsspiel sah ich in einer deutschen Schule in Jerusalem zusammen mit Esther und ein
paar hundert anderen, v.a. Deutsche. Wir haben uns wunderbar über die kollektiv entstandenen
Emotionen amüsiert – stocksteife Beamte grölend mit allen anderen aufspringen zu sehen hat was.
Gegrölt hat dann auch ein junger Deutscher, dem die Stimmung irgendwie zu lahm war. Er hat ein
paar interessante halbbesoffene Bemerkungen gemacht, die mich froh gemacht haben, dass ich nicht
in Deutschland war zu dieser Zeit.
Das Abschlussspiel habe ich in Beit Jala gesehen, im Arab Orthodox Club. Große Leinwand, ein
rappelvoller Innenhof, 50 Meter Luftlinie zurückzulegen war mit 10minütigem Schlangengang
verbunden. Wir deutschen Freiwilligen waren allesamt für Frankreich, die ganzen Palästinenser für
Italien. Es ging nämlich das Gerücht, dass die Italiener den Pokal den Palästinensern übergeben wollen,
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wenn sie gewinnen werden. Bisher hat sich da ja nicht so viel getan – aber wenigstens wurde das
Wunschteam der Palästinenser Weltmeister.
16. Juli 2006
Rachels Tomb Checkpoint, 5 Uhr morgens.
Ich hatte mich mit einigen Aktivisten vom EAPPI angefreundet, dem „Ecumenical Accompaniment
Programme in Palestine and Israel“, das ist ein Programm des World Council of Churches. Die
Aktivisten, die jeweils nur drei Monate im Land sind, versuchen einige der Menschenrechtsverletzungen
(durch israelisches Militär oder Siedler) wenigstens teilweise zu verhindern.
An einem Sonntagmorgen um viertel vor 5 habe ich mich mit Madeleine aus Schweden und Jean aus
den USA am Checkpoint 300 am Rachels Tomb getroffen.
Wir laufen eine Straße hinab, die noch ein paar hundert Meter von der Mauer und dem Tor entfernt
ist. Unten an der Ecke, um die wir biegen müssen, sehe ich das Ende einer Schlange – und denke nur,
na, wo stellen die sich denn an? Dass das die Schlange für den Checkpoint ist, schließe ich kategorisch
aus – ich hätte mir nie vorstellen können, dass sie so lang ist.
Wir biegen um die Ecke, und mich rührt der Donner – in einer Reihe stehen ca. 1500 Männer, die
meisten zwischen 20 und 40, einige jünger, einige älter, dazu vielleicht fünfzehn Frauen, die an der
Schlange vorbeigehen und sich ganz vorne hinstellen – es gehört sich nicht, so lange mit all den
fremden Männern zu warten. Für Palästinenser ist es seltsam, in der Reihe zustehen, hier stellt sich
eigentlich niemand an, es herrscht sonst immer ein überschaubares Chaos. Offensichtlich ist es aber
ein so empfindlicher Punkt, wer zuerst war, dass die Ordnung ganz von selbst entsteht.
In der langsam weichenden Dunkelheit trinken sie einen Kaffee oder frühstücken einen Falafel von
fliegenden Händlern. Die Stimmung ist angespannt, denn niemand weiß, wann die Israelis die
Drehtüren aufmachen und das Warten ein Ende hat.
Wir drei laufen an der ganzen Schlange entlang, mehrere hundert Meter. Die beiden EAPPIs sind mit
ihren Westen erkenntlich und werden immer wieder von den Wartenden gegrüßt, teilweise kennt man
sich schon vom Sehen.
Wir kommen an der Mauer an. Der Fußgängerübergang ist eine kleine Tür in der 9 Meter hohen
Betonmauern, dahinter eine Drehtür. Sie ist noch geschlossen, ebenso wie das große Tor für die Autos
30 Meter weiter die Mauer entlang. Es ist ein großes Stahltor, das seitlich weggeschoben wird, wenn
jemand durchfahren will - und darf. Solange die Sonne hinter dem Horizont verschwunden bleibt, ist es
immer zu. Aus dem Wachturm neben dem Tor sehen die Soldaten, wenn jemand durchwill. Dann gleitet
das Tor langsam und wie federleicht zur Seite und schließt sich genauso langsam und lautlos wieder.
Wenige Minuten nach fünf Uhr erlischt die rote Lampe über der Drehtür am Fußgängerübergang, die
grüne leuchtet auf - die Soldaten haben aufgemacht. Die ersten Männer gehen durch, zur ersten
Kontrolle, es wird kontrolliert ob man seine ID dabei hat. Wenn alles stimmt, drückt der Soldat in
seinem Panzerglashäuschen auf einen Knopf, die Türe hinter dem Metalldetektor summt, die ersten
Arbeiter stoßen sie auf und gehen zur Halle, wo sie genau durchgecheckt werden.
Nach drei, vier, fünf Männern springt die Lampe über der Tür immer wieder auf rot und der sechste
findet die Drehtür versperrt. Wenn die ersten fünf durch die zweite Tür gegangen sind, wechselt wieder
die Farbe des magischen Lämpchens, es geht weiter, langsam.
Jean vom EAPPI geht mit den Männern durch und schaut drinnen, dass alles mit „rechten Dingen“
zugeht in diesem illegalen Checkpoint (er steht nämlich kilometerweit innerhalb palästinensischen
Territoriums).
Madeleine erklärt mir ein bisschen über die ganze Situation.
Eigentlich sollte dieser Checkpoint 24 Stunden am Tag geöffnet sein. Das ist er auch – für Menschen
erster Klasse - für alle, die keine Palästinenser sind.
Palästinenser dürfen Bethlehem bzw. ihre Stadt oder ihr Dorf nur verlassen, wenn sie eine Erlaubnis
haben, ausgestellt von einer Armeedienststelle in Gush Etzion, einer israelischen Siedlung in der
Westbank im Süden Bethlehems.
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Diese Permits sind im Allgemeinen von fünf Uhr früh bis abends um sieben gültig. Kein Palästinenser
ist außerhalb seiner Arbeitszeiten in Israel erlaubt. Da Leute, die längerfristig ein Permit haben, eine
Magnetkarte bekommen, läuft viel vom Permitcheck elektronisch ab. Der Soldat zieht sie durch einen
Kreditkartenleser, sieht kurz auf den Bildschirm, reicht sie an der anderen Seite wieder hinaus. Geht
schneller, das ist ja nur positiv – - und die Bewegungen der Arbeiter können sekundengenau und ohne
Arbeitsaufwand aufgezeichnet werden. Wenn jemand über Nacht fortbleibt und abends am nächsten
Tag wieder nach Bethlehem kommt, fällt das im Gegenzug zu den Papierpermits sofort auf. Noch
einfacher wird sichtbar, wann, wo und mit welcher Regelmäßigkeit sich die Palästinenser bewegen. Der
gläserne Araber...
Um fünf Uhr früh müssten also eigentlich die Pforten des Checkpoints aufgehen, aber das geschieht
in der Regel nicht. Die Drehtüren werden oft verspätet entriegelt, oder nach hundert Menschen wird
eine halbstündige, unerklärte Pause eingelegt. Wenn es an einer Maschine technische Probleme gibt,
müssen die Arbeiter so lange warten bis sie wieder funktioniert; die zweite Durchsuchungsstrecke im
Checkpoint wird nicht geöffnet.
Wie um dem Voyeurismus gegenzusteuern, der ja bei jedem irgendwie mit dazugehört, wenn man
andere Menschen leiden sieht, haben die Israelis heute jedes Stückchen ihrer olivgrünen Uniformen im
Schafspelz versteckt. Das Lichterspiel am Tor an der Mauer geht zwar in einer entnervenden Art weiter,
doch drinnen sind immer Palästinenser, die überprüft werden; keine spontanen Zigarettenpausen.
Wieder draußen, es ist inzwischen sechs Uhr, laufe ich nochmal die Schlange ab, um zu sehen wie
viele Leute noch warten. Die, die am Ende der Schlange standen als wir kamen sind schon durch, sie ist
jedoch noch fast genauso lang.
Die Arbeiter sind froh gestimmt, denn alles läuft so gut an diesem Morgen. Sie stehen ein, zwei
Stunden an, und schon sind sie durch! Keine Schikanen, keine unerklärten Pausen, keine Probleme. Es
ist schlimm, ihre Freude zu teilen. NUR ein, zwei Stunden... Woran sich diese Menschen gewöhnt
haben. Was sie alles aushalten und erdulden, mit welch milden Reaktionen im Vergleich zu unserer,
wären wir verweichlichten Europäer und Westler an ihrer Stelle. Allein die Vorstellung, Schwäbisch
Gmünd seit 10 Jahren nicht verlassen zu haben, würden wir nicht aushalten; tägliche Unsicherheit und
stundenlanges Warten am Checkpoint würde uns aggressiv machen. Wir sind über 10 % Arbeitslosigkeit
besorgt. In Bethlehem beträgt sie über 50 %.
Um sieben Uhr ist die Schlange fast verschwunden und wir sind überflüssig. Wir brechen auf zur
Wohnung der EAs, wir alle legen uns nochmal ein, zwei Stunden hin und brunchen dann gemütlich in
den Sonntagvormittag hinein.
Während die Männer, die wir durch den Checkpoint geleitet haben, irgendwo auf einer Baustelle in
Israel arbeiten.
Am folgenden Morgen um 3.30 fahre ich mit den drei EAs ans Tote Meer, um Massada im
Morgengrauen zu sehen. Ein kleines Touriunternehmen fährt uns im Kleinbus (für viel zu viel Geld, wie
sich naher herausstellt...).
Wir kommen an, als der Himmel sich gerade in ein großes Farbenspiel verwandelt. Wir wandern los,
denn um diese Tageszeit (halb sechs) hat die Seilbahn noch nicht offen. Denn Massada ist ein
Felsplateau mit ringsherum schroff abfallenden Felswänden. Schon immer ist der einzige Zugang der
„Schlangenpfad“, der genau so aussieht: Lang, schmal, und gewunden. Und es geht sehr steil hoch...
Ich gehe nicht ganz hoch, ich war schon mal oben und habe keine große Lust auf die Anstrengung.
Also setze ich mich nach einer Weile an den Wegrand und genieße den Ausblick.
Das Tote Meer liegt in einer tiefen Senke (ist ja auch der tiefste Punkt der Erde), die umgebenden
Berge sind steil und schroff aufragend. Der Stein ist hellbraunes Sediment. Es ist sehr trocken, keine
Pflanzen durchbrechen die braune Farbpalette. Unten das Tote Meer, blau, kleine Wellen.
Der Himmel ist zwischen schwarzblau, gelb und rot alles, was man sich vorstellen kann; es wird
immer heller, die Farben verändern sich beständig. Die Sonne bricht hervor, hellorange, später
gleißend hell.
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Schnell wird es heiß, wir steigen wieder ab und fahren zum Toten Meer, baden etwas. Ich bin etwa
zum 100. Mal dort, doch es ist das erste Mal, dass es Wellen gibt, bisher war das vom Salz etwas
dickflüssige Wasser immer glatt gewesen.
Trotzdem wird es dort immer schnell langweilig (man kann ja nicht durchs Wasser toben) und wir
brechen wieder auf.
Die mit Abstand beste Etappe kommt jetzt, der Ein Gedi National Park. Er begrenzt sich auf zwei
schmale Täler, die zum Toten Meer hin sehr steil abfallen. Kleine Bäche stürzen die vier, fünf
Wasserfälle hinunter, darunter haben sie sich jeweils kleine Becken herausgewaschen.
In den unteren drei Becken, die man sehr einfach erreichen kann, tummeln sich mit uns massenhaft
andere Touris, aber zu dritt gehen wir den recht weiten und steilen Weg zum obersten Becken oberhalb
des großen Wasserfalls. Dort soll es am schönsten sein.
Ich fluche ein bisschen, weil ich ja nicht sehr fit bin wegen meiner Darmgeschichten, will aber sehr
gerne da hoch – und schaffe es! Zuerst sind wir oben etwas enttäuscht, wir sehen nur kleine veralgte
Becken. Aber schließlich finden wir doch den richtigen Pool, und der ist traumhaft. An in den Fels
gehauenen Metallstufen klettert man die letzten drei Meter hinunter, dann steht man an einem völlig
klaren, flachen Becken. An der einen Seite kommt das Wasser hereingeschossen (Rückenmassage),
links davon wölbt sich der Fels über das Becken, die Innenseite ist von ein paar Stalaktiten und viel
Moos bedeckt. Am Rand reichen die Wurzeln der oberhalb wachsenden Pflanzen und Bäume hinab,
Wasser tropft. Wir bleiben und paddeln ewig, wir sind allein... Herrlich.
Viel zu spät steigen wir wieder ab und fahren zurück nach Jerusalem.
Esther, einige Freunde und ich verabschieden einen deutschen Freund, der nach einem Jahr wieder
nach Hause fliegt. Wir verbringen seine letzte Nacht am Strand von Tel Aviv.
Am nächsten Morgen fahre ich allein zurück, die anderen haben den Montag frei, ich muss aber am
Sonntag schon zurück.
Ich kenne mich in Tel Aviv nicht so gut aus und frage einen Busfahrer nach dem Weg. Er hat gerade
Pause und fährt mich kurz die drei Ecken bis zum Bahnhof.
Es stellt sich heraus, dass er ein Araber ist, der Hitler mag und Juden hasst. Ich führe eine dieser
blöden, fruchtlosen Diskussionen, ich kann mir als Deutscher seinen Antisemitismus ja nicht anhören
ohne etwas zu sagen.
Ich danke freundlich, wiederhole, dass Hitler zum Kotzen sei, und steige aus. Ich steige in den
Linienbus ein, und frage wieder den Busfahrer, ob er mir bei meiner Haltestelle bescheid sagen kann.
Er ist ein äthiopischer Jude, eine der untersten sozialen Schichten Israels. Ich unterhalte mich mit ihm,
bringe jedoch nicht heraus, dass ich in Bethlehem arbeite, so schäme ich mich für den anderen, der mir
den Weg gezeigt hatte. Ich erzähle, ich wäre Tourist...
19. Juli 2006
Esther und ich machen eine Abschiedsparty. Sie wird am 20. morgens um sechs fliegen, ich drei Tage
später. Wir hatten viele gemeinsame Freunde, also feiern wir zusammen.
Walid, der Chef des Gästehauses in Talitha, besorgt uns Fleisch und grillt mit uns, jeder bringt etwas
mit. Vielleicht 20 Freunde kommen, Palästinenser, Internationale, auch drei israelische Freunde von
mir.
Es ist schön, wenn auch traurig.
Ein letztes Mal gehe ich noch auf das Kirchendach Talithas, von dem man einen so schönen, weiten
Blick hat, ich kann mich kaum lösen.
Esther spielt Feuerpois, Lampenölgetränkten Stoffrollen, die am Ende von zwei Ketten hängen. Sie
wirbelt sie in der Luft herum, die Feuerkreise sind bei Nacht wunderschön.
Um drei Uhr morgens fährt sie mit dem Taxi nach Tel Aviv, und weg ist meine beste Freundin für ein
Jahr.
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Im AEI gibt es für Valerie und mich ebenfalls noch ein Abschiedsgrillen, viele Mitglieder der Gruppen
kommen, alle Angestellten des AEI. Eine rührselige Rede von Fuad, dem Direktor; Beteuerungen, was
wir für das Institut doch alles geleistet hätten.
Wir sagen auch was, wie wir es genossen haben, mit den Menschen zusammen zu sein, wie wichtig
es für uns war.
Verabschiedung, es tut mir sehr leid, einige der Leute nicht mehr zu sehen, z.B. Anton, der Assistent
des Direktors, den ich schon sehr mochte.
Im SOS bin ich nochmal einen Nachmittag lang, Abschied von den Kindern, den Müttern und
Sozialarbeitern, Abu Tamer, dem Direktor. Traurig... Viele Kinder verstehen nicht so ganz, dass ich
nicht wiederkommen; was nicht an der Sprachbarriere liegt.
22. Juli 2006
Der letzte Tag dann ist vollgepackt. Ich gehe noch in die Stadt, einige letzte Besorgungen, dann nach
Hause, packen. Ich mache mir etwas Sorgen, weil ich weiß, dass ich Übergepäck haben werde. Bekannte
hatten einen Transportdeal, wo sie zu günstigen Konditionen viele Kilos verschicken können, doch sie
sagen, sie hätten keinen Platz mehr, und alleine lohnt sich das nicht – ich muss das Risiko eingehen,
am Flughafen Übergepäck zahlen zu müssen.
Zu meinem Erstaunen passen die Sachen wenigstens in meine Tasche und den Rucksack.
Ich putze das Haus nochmal durch (in unserer Junggesellen-WG passiert das nicht so oft so
gründlich), und muss auch schon los.
Inzwischen ist es 10 Uhr abends. Ich schaue noch bei den EAs vorbei, wie wir das abgemacht hatten,
verabschieden mich von ihnen, und fahre dann zur letzten Etappe, dem Cosmos, der Disco in Beit Jala.
Amber, eine junge christlich erweckte Frau aus L.A., fliegt morgens um acht, ich zwei Stunden vorher,
also wollen wir uns ein Taxi teilen, vorher aber nochmal arabisch tanzen gehen.
Nach zwei Stunden in der Disco kommt dann unser Taxi. Wir verabschieden uns von den letzten
Freunden, auch von den Talitha-Freiwilligen, die zufällig noch kamen. Und los.
Im Taxi, von zwei bis um drei, unterhalten wir uns über ihre religiösen Überzeugungen, die wirklich
ziemlich beeindruckend sind.
Wir hatten uns im, nein, auf dem Weg zum AIC (Alternative Information Center) kennen gelernt. Ich
lief die Straße nach Beit Sahour hinunter, und aus einer Seitenstraße kam eine fremde, westliche junge
Frau. Sie sah mich erwartungsvoll an, als ich auf sie zukam, und fragte mich, wohin ich wollte. Sie war
völlig begeistert, dass ich wie sie ins AIC wollte.
Ich hätte mir das mit Zufall erklärt, doch sie ist der festen Überzeugung, dass Gott mich geschickt
hat. Sie habe ihn um einen Fingerzeig gebeten, wo das AIC ist, denn sie hatte keine Ahnung, war in
großem „Gottvertrauen“ losgelaufen. Ein paar Sekunden später haben wir uns getroffen...
Sie schleppt ständig eine große Bibel mit sich herum und spricht auch viel über Religion, missioniert
aber nicht, weshalb man es ziemlich gut mit ihr aushalten kann. Außerdem ist sie der einzige Mensch
den ich kenne, der regelmäßig mit Gott spricht. Ich verstehe zwar immer noch nicht ganz genau, wie
das abläuft, aber sie fühlt sich in ihrem Leben von Gott geleitet. Man könnte fast neidisch auf sie sein,
denn das verleiht ihr eine schlafwandlerische Sicherheit. Sie war für zwei Monate als Freiwillige nach
Bethlehem gekommen, weil, ja richtig, Gott ihr das gesagt hat...
Abflug
Mit affenschwerer Tasche und einem großem und einem kleinem Rucksack stehe ich dann morgens
um drei am Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv. Es herrscht ziemlicher Betrieb, lange Schlangen an den
Schaltern.
Ich verabschiede mich von Amber und stelle mich an. Eine junge Frau, wer weiß von welchem Dienst
(Armee? Polizei? Security?) stellt ein paar wenige Fragen; was ich ein Jahr lang in Israel gemacht habe –
„Ich war Freiwilliger in der Erlöserkirche in Jerusalem“ (dort hatte ich mein Visum beantragt, also sage
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ich den Leuten, die diese Info sicherlich haben, lieber nicht die Wahrheit über Bethlehem). Was in
diesen Pappröhren sei – „Äähh, da sind Plakate drin“. Was ist drauf? – „Äähhhhm, da steht ‚Visit
Palestine’ drauf“. Haben Sie Palästina schon mal besucht? – „Na ja, Bethlehem halt und Ramallah“.
Eigentlich hätte sie längst sehr misstrauisch aussehen müssen, aber vielleicht hat sie keine so große
Lust. Also lässt sie von mir ab und fasst den nächsten ins Auge.
Das Gepäck wird überprüft. Es wird durch große Durchleuchtungsgeräte geschickt, auf der anderen
Seite kommt ein Aufkleber mit Strichcode an jedes Gepäckstück. Mit einem Lesegerät wie an der
Supermarktkasse wird an einem Kontrolltisch weiter hinten dieser Code gelesen, auf dem Bildschirm
erscheint ein hoch auflösendes Röntgenbild meines Gepäcks.
Über alles wird zusätzlich mit kleinen Stoffkissen gestrichen, die dann zur Analyse in eine Maschine
gesteckt werden – Untersuchung auf verdächtige Substanzen, Sprengstoff.
Nach einigem Hin und Her darf ich weiter zum Einchecken. Die Frau hinter dem Schalter ist sehr nett,
lässt mich aber leider für meine 15-20 kg Übergewicht (das meines Gepäcks...) eine 10-kg-Extension
kaufen, die mich 197 Dollar kostet. Ich liebe Kreditkarten... Ich fluche, bin aber ziemlich chancenlos,
daran was zu ändern.
Ich bleche und darf weiter. In der Duty-free-Halle vor dem letzten Sicherheitscheck warte ich eine
halbe Stunde, weil ich einer potenziellen Befragung vorbeugen will. 40 Minuten vor Abflug gehe ich
dann durch, und werde erst mal von oben bis unten ausführlich und ausdauernd durchsucht.
Metalldetektor piepst, Schuhe aus, Rucksack durchleuchtet, Sprengstoffuntersuchung. Ich kann weiter,
es folgt die Passkontrolle. Eine übellaunig aussehende Grenzerin knallt mir ohne Fragen einen
Ausreisestempel in den Pass. Weiter. Wann kommt wohl die Befragung?
Ich gehe einen langen Gang entlang, der in einen Verteiler zu den Terminals mündet. Dort erwartet
mich auch schon die Frau vom Gepäckschalter, „Where have you been? Sie sind der letzte Passagier!”;
ich setze mich ohne rechte Antwort mit auf das Golfautochen und wir zischen los. Ich komme am Gate
an, mein Bordschein, die letzte Tür geht auf, ich gehe die Gangway hinab, ins Flugzeug. Alle Plätze
sind schon belegt, meiner ist als einziger noch leer – ich war wirklich der letzte.
Auf den Platz, ausatmen, stumm jubeln. Ich bin durch! Ich bin ohne richtige Befragung durch die
ganze Geheimdienstmaschine, von der man so viel gehört hat. Stundenlange Befragungen, darauf hatte
ich mich eingestellt. Nicht, dass ich völlig unbeschadet, unbefragt durchkomme, ohne dass ‚sie’
versuchen, meine Akte auszuschmücken.
Ich sitze im Flugzeug. Es fährt zur Runway, beschleunigt, hebt ab. Ich sehe die letzten Krümel
nahöstlicher Erde im ersten Sonnenlicht unter mir wegfallen, bin in der Luft, bin weg.
Bis jetzt hatte ich mich nicht damit beschäftigen können, dass ich jetzt dieses eine, nun vergangene
Jahr wieder verlasse, dass ich nach Hause fliege. Zu viel war zu beobachten, zu viele Geschichten
musste ich mir zurechtlegen. Jetzt versuche ich zu verstehen, dass ich wieder weg bin. Ich blicke es
nicht.
In Prag habe ich sieben Stunden Aufenthalt. Ich sitze in einem Cafe, trinke überteuertes Wasser,
schreibe Tagebuch, unterhalte mich mit einem Tschechen über den Nahen Osten. Später schlafe ich
etwas, mein Gepäck sorgsam so geschichtet, dass es mir niemand im Schlaf wegnehmen kann, Arme
und Beine durch Rucksackschlaufen.
Es geht weiter nach Stuttgart. Ich schaue durchs Fenster, frage mich, ob diese Landschaft aus
tausend Feldern und Wäldern noch Tschechien oder schon Deutschland ist, versuche, Schwäbisch
Gmünd zu sehen, doch wir fliegen nicht darüber.
Ich werde dem Schwäbischen schon während des Flugs Prag-Stuttgart überdrüssig. Ich freue mich
zuerst darüber, aber irgendwie ist es dann sehr unexotisch und ziemlich dörflich... Aber es ist zu
Hause, oder?
Ich gehe durch die magische Tür, auf der anderen Seite sehe ich gleich eine PACE-Flagge durch die
Gegend hüpfen, und es kann nur meine Familie sein. Großes Umarmen. Es ist schön, alle
wiederzuhaben!
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Verena und ihre Schwester Anne sind auch gekommen, ich sehe sie erst auf den zweiten Blick, freue
mich aber riesig.
Die Rückfahrt ist toll. Wir fahren durch die wahnsinnig grüne schwäbische Landschaft, mit den vielen
Hügeln und Bergen, dem Wald, den Wiesen. Die Sonne scheint schräg und golden.
So, und hiermit erkläre ich diesen Bericht für fertiggestellt, komme was wolle!
Danke fürs Lesen, und Tschüss,
Vinzenz
Vinzenz Hokema
D-Schwäbisch Gmünd
[email protected]
Spenden an:
WISE e.V.
Odenwaldschule Ober Hambach
64646 Heppenheim
Deutschland
WISE e.V.
Bank für Sozialwirtschaft
Konto: 861 1300
BLZ: 550 20 500
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