Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Institut für Romanistik Sommersemester 2013 Basisseminar: ,,Französische Jugendsprache'' Seminarleitung: Nora Wirtz Referentinnen: Laura Wellschmiedt und Maria Erlemann 07.07.2013 Jugendsprache und Film Einleitung in das Thema Wenige Studien zu französischen Jugendfilmen, da Transkription der Dialoge sehr aufwendig, Untersuchung anhand „fingierter“ Sprache Sprache im Film erst etwa ab Mitte der 70er Jahre annähernd authentisch -> erschwert diachrone Untersuchungen Filmdialoge als Korpusmaterial –> niemals wirklich authentisch, da konzipierte, vom Drehbuchautoren geplante Sprache Spielraum durch Improvisation der Schauspieler -> Annährung an natürliche Gesprächssituation Kann aber nie frei von Artifizialität sein, da Stilisierung von Realität Beobachtereffekt: Anspruch, Sprache von unbeobachteten Menschen zu beobachten (Paradoxon) -> führt zu verändertem Sprachverhalten -> gerade im Bereich der Jugendsprache problematisch (Stigmatisierung, Stereotypisierung) selten gesellschaftliche Randgruppen Ab 80er Jahren große Unterschiede zwischen Sprache von bürgerlichen Jugendlichen (français familier und einige lexikalische Besonderheiten) und Jugendlichen aus sozial schwächeren Umfeld (wesentlich mehr substandardsprachliche und nonstandardsprachliche lexikalische Elemente) Zur Untersuchung muss Filmoriginalsprache Französisch sein -> kultureller, sozialer, historischer Kontext soll nicht verloren gehen Funktionen von Sprache im Film Sprache dient immer auch als Karikatur, unterstreicht Charakteristika der jeweiligen Person Glaubwürdigkeit der Filmhandlung abhängig von realistischer Sprachäußerung (ebenso wichtig wie Kostüme, Gestik etc.) Unterhaltung + je nach Genre Informations-, Meinungsbildungs-, Identitätsbildungsfunktion Funktion der Gesamthandlung bestimmt also auch Varietät/Register der Filmfiguren 3 zentrale Funktionen von Sprache im Film: Realismus, Humor, Sozialkritik (nach Bleichenbacher) Daran angelehnt auf jugendliche Filmfiguren übertragen: 1. Figur soll authentisch wirken Identifikation der Jugendlichen; Akzeptanz und Empathie bei Erwachsenen hervorrufen Dialoge müssen so nah wie möglich an der realen Alltagssprache formuliert werden 2. Figur soll satirisch wirken Übertreibung der natürlichen Sprache, Häufung an „In-Wörtern“ und morphosyntaktischen Phänomenen, die als jugendtypisch erkannt werden Besonders jugenduntypische Sprache 3. Figur soll stellvertretend für bestimmtes soziales Milieu stehen Ruft Empathie, Sympathie oder Antipathie hervor Diskrepanz zwischen Film und Realität wie bei Punkt 2, hier jedoch das Problem, das dies nicht unbedingt erkannt wird Wechselwirkung Film-Realität Realität beeinflusst die Dialogformulierung, Bild der Jugend in den Medien Filme erreichen Kultstatus -> Zitate werden in Sprachgebrauch übernommen Beobachtungen bei Filmanalysen Geographische Faktoren haben kaum Einfluss auf Jugendsprache banlieue-Film Sprache häufig stereotypisiert Jugendliche aus sozial schwachen Milieus -> Versuch durch gehobenen Sprachgebrauch akzeptiert zu werden Außenseiterfilmfigur aus schwachen Milieu oft durch niedriges Register charakterisiert extra rauer Umgangston, um auf Herkunft hinzuweisen, oder um sich im Alltag zu beweisen Jugendliche aus privilegierten Familien -> „Rebellion“ durch niedrigen Sprachgebrauch allgemein: Jugendliche untereinander, unabhängig vom Milieu, Sprache ähnlich jugendsprachlich markiert wenn Jugendliche keinen Unterschied zw. In- und Out-Group machen -> rebellischer Aspekt wenn über Sprache geredet wird: Information (Erklärung für Zuschauer) Richtigstellung (best. Wörter bedeuten nicht (mehr), was gemeinhin von Außenstehenden angenommen wird) Abgrenzung (Jugendliche erklären, das best. Wörter nicht mehr benutzt werden bzw. von Erwachsenen nicht benutzt werden sollten) Stigmatisierung (unpassende Ausdrucksweise, Unterdrückung jugendlicher Sprechfreiheiten) Probleme der Translation Kenntnis von Ausgangs- als auch Zielkultur muss vorhanden sein Übersetzung im traditionellen Sinne nicht möglich Translat muss „kommunikatives Handlungselement in Situation“ sein (Vermeer, 1990) Synchronisation: Verlust an Authentizität, Schauspieler verlieren Teil ihrer Identität (Stimmlage, Intonation, Lautstärke etc.), Glaubwürdigkeitsproblem; allerdings wird man nicht durch Untertitel abgelenkt, kann also ausblenden, dass es sich um synchronisierte Fassung handelt Untertitel: Gesamtwerk Film bleibt in seiner Form erhalten, jedoch Ablenkung vom Bild verändert die Wirkung, Kürzung des Originaltextes Die Entwicklung der Jugend in Frankreich seit 1882 allgemeine Schulpflicht -> späterer Einstieg ins Berufsleben Nachkriegszeit -> wirtschaftliche und soziale Veränderungen -> Verlängerung Schulzeit, wachsender Wohlstand -> Freizeit- und Konsumverhalten der Jugendlichen erschafft eigenen Markt Moderner Jugendbegriff: o Periode, in der man Zeit hat, sein Leben zu genießen; Übergangszeitraum vom Kind zum Erwachsenen, erweiterte Rechte und Pflichten, aber noch nicht vollständige Verantwortung für sich selbst und andere o „phase clé de l’existence de chaqu’un“ o Phase der Unsicherheit, Vergleich mit anderen Jugendlichen, biologische Veränderungen, Überwindung des Kind-Sein, Verhaltensvorschriften der Eltern radikal verwerfen Alterseingrenzung schwierig aber ca. von 12 (Wechsel aufs Collège) bis 25 (Ende des Studiums) Die Entwicklung des französischen Kinos ,,Cinéma de la Qualité'' Zensurmaßnahmen und Selbstzensur der Filmschaffenden aus wirtschaftlichen Zwängen führen zu wenig experimentierfreudigem Kino in der Nachkriegszeit ,,Nouvelle Vague'' als Gegenbewegung in den 50er- Jahren; Authentizität und inhaltliche Freiheit ,,cinéma vérité'' ab 1965 auch politische Themen Protestbewegung von 1968 führt nach und nach zum Verschwinden der staatlichen Filmzensur 1974/75: Welle pornographischer Filme Verbreitung des Fernsehens und Hollywoodfilme sind große Konkurrenz für frz. Kino 90er-Jahre: o Aufbau großer frz. Filmfirmen und Multiplex- Kinos o viele Filmdebüts junger Regisseure o gesellschaftskritische films banlieue 2000er-Jahre: Erfolge von Remakes Die Entwicklung der Jugendsprache im Film Liebe und Sexualität o o o o 60er Jahre viele Verben baiser – ‚vögeln‘ embeler, enlever – ‚abschleppen‘ zizi, louloutes -> aus Kindersprache (Reduplikation) 70er Jahre Öffnung gegenüber dem Tabuthema -> variantenreichere Sprache morue – ‚eigentlich Kabeljau‘ -> ‚Prostituierte‘ merlan - eigentlich ‚Fisch‘, dann ‚Friseur‘ -> ‚Zuhälter‘ bonne poire – ‘gute Birne’ -> ‘naives Mädchen’ boudin – ‚Blutwurst‘ -> ‚unattraktives Mädchen‘ Sex wird nicht mehr als Liebesakt, sondern häufig als sportliche Aktivität bezeichnet passer dessus – ‚über jmd. Drüberrutschen‘ sauter qqn – ‚jmd. Bespringen‘ 80er Jahre erstmals wir Homosexualität Thema pédéraste -> pédé -> pède (Apokopen) 90er Jahre sexuelle Handlungen treten in den Vordergrund man kann erkennen, dass bis heute nicht wirklich offen über Sexualität gesprochen wird Suche nach Ersatzbezeichnungen (meist Umschreibungen) -> Abnutzung -> Tendenz zu obszöneren aber auch kreativeren Begriffen auffällig: nicht wirklich eine Steigerung des sexuellen Sprachgebrauchs seit den 50er Jahren Gewalt und Drogen immer Referenzbereich in unterschiedlicher Ausprägung 50er-Jahre: durch Ellipsen und semantische Verschiebungen, Äußerungen über Gewalt oft nur im Kontext verständlich (coucher qqn - ,jdn. umlegen‘) 60er-Jahre: Gewaltäußerungen ohne Umschweife (bastonner - ,verprügeln‘) 70er-Jahre: semantische Verschleierungsstrategien (emprunter - ,stehlen‘, nicht ,ausleihen‘) 80er-Jahre: Drogen kommen als Referenzbereich hinzu, oft mit bildhaften Codes (se parfumer ,Haschisch rauchen‘) ; direkte Benennungen für Gewalt (casser la gueule a qqn. - ,jdm. Die Fresse einschlagen‘) 90er-Jahre: Fortführung der Drastik (se manger des gros chtares – fette Schläge abkriegen‘) und Verschleierung (oinj < joint) ; hinzu kommt Involvierung der Familienehre (mon grand frère va te niquer ta race - ,mein großer Bruder wird deine Familie kaputtmachen‘) Vulgarismen allgemeine Annahme, Jugendsprache wird immer vulgärer bestätigt sich nicht lediglich Veränderung der Referenzbereiche – Ziel: möglichst starkes Tabu brechen 50er-/60er-Jahre: sexuelle Konnotationen (salope, poule) Körperlichkeit und Schmutz (sale fripouille, couille molle) Religiös motiviert (nom de Dieu) 70er-Jahre: Unterstellungen zu sexueller Leichtlebigkeit der Frauen (petite salope), Homosexualität der Männer (pédé) 80er-Jahre: weniger Sexualität, dafür Hässlichkeit (moche), Behinderungen (mongole) 90er-Jahre: mehr sexuelle Beleidigungen; neu hinzu kommen Beleidigungen des Wertesystems arabischstämmiger Jugendlicher (fils de pute; nique ta mère) 2000er-Jahre: Fortführung: Unterstellungen der Homosexualität (espece de pédé); Entlehnungen aus dem Arabischen (attai) Neologismen Besonders Apokope beliebt (> Sprachökonomie) Manchmal in Verbindung mit Ersatzsuffigierung - o/-os -Endungen sehr beliebt Verlan in 80er/90er-Jahren sehr beliebt, dann bereits Rückgang bis auf ,etablierte‘ Wörter (meuf) Steigende Beliebtheit der Resemantisierung – besonders kreativ; bestehendes lexik. Material wird in neue Kontexte eingebunden Begrüßungen Identifikatorische Rolle in Peer Groups 50er-Jahre: noch häufig salut und bonjour; danach Rückgang, erst in 90er-Jahren wieder recht häufig salut ciao gerne verwendet oft Poss.Pron.+Bezeichnung (mon coco; mon vieux; ma petite Mado) oder Def.Art.+Gruppe (les gars; les filles; la miss) Spitznamen ebenfalls identifikatorische Rolle Kürzung+Reduplikation: Bernard > Nanard Kürzung: Jean-Michel> Jean-Mi ; Vincent > Vinz Kürzung+Suffigierung: Jaqueline > Jaquotte Übertragungen: Astérix; Lucky Luke… Sonstiges beliebt: Ironie, Wortspiele, Hyperbolik stetige Zunahme an Schwurformeln (je te jure) entgegen der allg. Annahme kann erhöhte Sprechgeschwindigkeit nicht festgestellt weden Anteil der Entlehnungen entgegen der Wahrnehmung sehr gering; ab 2000er-Jahren rückt multikult. Aspekt ins Blickfeld klare Richtung bezüglich der Negation: bereits ab 60er-Jahren wird ne fast gar nicht mehr realisiert Bibliographie Bedijs, Kristina. 2012. Die inszenierte Jugendsprache. Von ,, Ciao, amigo!'' bis ,,Wesh, tranquille!": Entwicklungen der französischen Jugendsprache in Spielfilmen (1958 - 2005), München: Martin Meidenbauer Vertragsbuchhandlung. Döring, Sigrun. 2006. Kulturspezifika im Film. Probleme ihrer Translation. Berlin: Frank & Timme. Platz-Schliebs, Anja/ Schmitz,Katrin/Müller, Natascha/Merino Claros, Emilia. 2012. Einführung in die Romanische Sprachwissenschaft. Französisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co.KG. Strand. 2009.” Etre et parler: Being and Speaking French in Abdellatif Kechiche’s L’Esquive (2004) and Laurent Cantet‘s Entre les murs (2008)”, in: Studies in French Cinema (StFCi), 9(3).259-272.