Universität Leipzig, Institut für Germanistik Sommersemester 2008 Seminar: Sprache und Lebensalter (A4) Dozent: Prof. Dr. B. Siebenhaar Referenten: Sebastian Berthold, Kathleen Danke, Alexandra Engler, Lysann Jurich, Tanja Kewitsch, Elodie Ripoll, Antje Strehle, Jennifer Voigt Jugendliche und ‘ihre’ Sprache. Ein Projekt von Schülern und Studierenden aus Osnabrück. Einleitung Die Hauptziele des Forschungsprojekts sind: 1) die Beleuchtung des Phänomens „Jugendsprache“ aus der Binnenperspektive der jugendlichen Experten 2) der Versuch, Schule und Universität wechselseitig aufeinander zu beziehen 3) die Erprobung, inwieweit Schüler in erste Formen des wissenschaftlichen Arbeitens integriert werden können Beginn des Projekts: Sommer 1996 ( über einen Zeitraum von zwei Jahren angelegt) Das Projekt erweckte ein hohes Maß an Interesse bei den Schülern und Studierenden. → Gründe: - die Zusammenarbeit mit den Studenten der Universität - der Reiz des Themas; Nähe zur eigenen Lebenswelt - der Projektcharakter - mögliche Publikationen der Arbeiten in Buchform Untersuchungsgegenstände: Die Untersuchungsgegenstände sollten im Projektkurs durch die beteiligten Schüler festgelegt werden. Die Fragestellungen sollten von den Schülern und ihren Interessen her entwickelt werden Graffiti im und aus dem Umfeld des Ratsgymnasiums als Ausdruck jugendlicher Lebenswelt Grundlage der Untersuchung: Fotos von Häuserfassaden und Toiletteninschriften des Ratsgymnasiums Osnabrück, sogenannte Blackbooks (Skizzenbücher) sowie sechs Interviews mit verschiedenen Graffiti‐Künstlern Sprache: - Frage nach der Existenz einer Sprayer‐Sprache in den Interviews bejaht - Sprachgebrauch innerhalb der Szene dennoch unterschiedlich: Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und Abgrenzung zu anderen Gruppen durch interne Sprachcodes - Anglizismen dominieren Sprachgebrauch (z. B. Writer, Crew, Style) - Sprachspiele (z. B. die Zahlen 2 und 4 gelesen als “to“ und “for“) Gestaltete Sprache in der Musik – Musikgruppen aus dem Umfeld des Ratsgymnasiums Untersuchungsgegenstand und –methoden: - Untersuchungsgegenstand sind Musikgruppen am Ratsgymnasium Osnabrück: - HipHop‐Projekte Takasha und Midnite Sonz - Hardrock‐Bands Nekros und Lithium - Untersuchungsmethoden: Liedtextanalyse und Interview Ergebnisse - Bands orientieren sich musikalisch und inhaltlich an anglophonen Vorbildern - Texte zeigen keine Merkmale einer Spezifik, wie in Fachliteratur, Medien und Öffentlichkeit für „die“ Jugendsprache angenommen Sprache von Jugendlichen in selbst gestalteten Radiosendungen unter dem Gesichtspunkt von Ironie und Sprachspiel ausführliche Erläuterung von: - Bricolage/ Stilbastelei - Ironie - Parodie/ Satire „Wir sind immer für euch da‐ euer Radio sfk!“ Untersuchung von 4 Radioparodien, welchen 2 Schülern des Ratsgymnasiums im Rahmen eines fiktiven Radiosenders sfk produziert wurden Ironisation & Parodie von Radiosendungen sowie Themen und Personen aus Fernsehsendungen und Printmedien Sexualität, Naivität und Animalität als zentrale Themen; dabei aber Verzicht auf „Fäkalsprache“, das Brechen gesellschaftlicher Tabus erfolgt subtil über die ironische Gestaltung unmoralischer Szenarien neben der nach außen gerichteten Ironie & Parodie der Produzenten auch Selbstironie, Darstellung der eigenen Kreativität und Selbstinszenierung Befragung von 76 Schülern des Gymnasiums zu verschiedenen Aspekten der Produktionen Ergebnisse: → Radioparodien geben eindeutig Lebensgefühl und Einstellung eines Großteils der Befragten wieder → Aufnahmen sind typisch jugendlich, vor allem wegen der Themen ( 58%) → Rezipienten erkennen sehr eindeutig, welches Thema/ Medium in den Sketchen parodiert werden soll Jugendliche als Zielgruppe der politischen und kommerziellen Werbung „Keine Macht dem Drögen!“ ‚Jugendlichkeit‘ wird von der Werbung für kommerzielle Interessen funktionalisiert Werbung arbeitet mit Grundreizen (Wünsche, Hoffnungen, Ängste) grundsätzliche Stilmittel: 1) Modewörter/jugendliche Wendungen/Jargonismen („Always sind klasse.“) 2) Verkürzte Sprache („Hör‘n und seh’n“, „Ruf an 0180/55500 viel Fun.“) 3) Anglizismen („Rapper“, „Couchpotatoe“) 4) Neubildung („Nie mehr Kassablanca.“, „Leebesnacht“) 5) Superkonkretisierung 6) Hyperbolisierung („die in den grünen Himmel wachsen“) 7) Wortverstärkung („Echt abgefahr’n!“) 8) Anspielung 9) Antithese („in/out“, „Ich bin zu jung für alte Möbel.“) 10) Rhetorische Frage („Rate mal, von wem Deine Freundin nachts träumt.“) 11) Befehl („Den musst du haben!“) 12) Personifizierung 13) Reim („Gewinn dich hin!“) inhaltliche Mittel: 1) Identifikation mit dem Zielpublikum (meist durch Identifikationsfigur) 2) Einschmeichelung 3) „Sorgen‐Onkel‐Funktion“ (Freund und Protegé des Umworbenen) Ergebnisse der Umfragen bei den Schülern: Werbung für Jugendliche wirke oft zu übertrieben und nerve, wirke lächerlich typische Jugendwerbungs‐Sünde: Nutzen von jugendlichen Jargonismen ohne Sinn und Verstand Werbeagenturen setzen sich intensiv mit dem jugendlichen Zielpublikum auseinander –durch aktiven Dialog und das Einsetzen von Trendscouts Die Integration jugendlicher Sprach‐ und Ausdrucksformen in das Leben der Kirche in diesem Abschnitt wird untersucht, wie die Distanz zwischen Kirche und Jugend überwunden werden kann Kirche versucht mit verschiedenen Projekten Jugendliche für sich zu gewinnen Gottesdienste werden modernisiert: - neben der Orgel, werden die Jugendgottesdienste auch mit Schlagzeug, E‐Gitarre und Keyboard begleitet - Gottesdienst wird mit Techno‐Kultur verknüpft - Mitarbeit der Jugendlichen bei der Gestaltung eines Gottesdienste - Vereinfachung der Sprache, es soll eine nachvollziehbare, leicht verständliche - Sprache gesprochen werden Fazit: - der Kirche gelingt es kurzzeitig, Jugendliche für „sich“ zu gewinnen, jedoch hält die Euphorie nicht lang an - Kirche ist immer noch zu autoritär, Jugendliche werden noch zu wenig ernst genommen - Kirche muss noch mehr die Interessen der Jugendlichen integrieren - Jugendliche müssen bei der Gestaltung eines Gottesdienst gleichberechtigte Partner sein um ein lang anhaltendes Interesse zu wecken Spracheinstellungen von Jugendlichen gegenüber ihrer Sprache Spracheinstellung: - individuelles Bewertungsmuster - verknüpft mit Normvorstellungen eines Menschen - bewertet die Sprache sowie den Sprecher und dessen - kulturelle Werte, d.h. Sprecher wird aufgrund seiner - Sprache in ein soziales Gefüge eingeordnet Spracheinstellungsbefragung: quantitative Studie, die von Studenten anhand von Fragebögen am Osnabrücker Ratsgymnasium durchgeführt wurde → u. A. Fragen zu Gebrauch, Merkmalen, Gefallen und Anwendungsbereichen der eigenen Sprache Auswertung der Studie: - positive & selbstbewusste Einstellung der Jugendlichen zu ihrer Sprache - Jugendliche wollen sich bewusst sprachlich abgrenzen → Erwachsenensprache erscheint als umständlich und unflexibel - Jugendsprache wird als lässiger, einfacher und ausdrucksstärker empfunden → Sprachwitz, Direktheit, Spontanität, Kreativität, Freiheit, Ungezwungenheit - situationsgerechte Anpassung der Sprache z.B. in der Schule/ zu Hause → Jugendliche wissen, dass unpassende Ausdrucksweisen sanktioniert werden können - Unterschiede im jugendlichen Sprachgebrauch → sowohl geschlechtsspezifisch als auch gruppenspezifisch - Bedeutung des Sozialen Umfeldes → enge Beziehung zwischen der sozialen Stellung einer Person u. deren Sprache - Abgrenzung zur Erwachsenenwelt → es wird nicht gewünscht, dass Eltern/ Lehrer die Sprache der Jugendlichen sprechen Thesen & Diskussion 1) Ein Forschungsprojekt, welches primär von Schülern und Studenten umgesetzt wird, ist wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen. 2) Jugendliche benutzen bewusst eine andere Sprache, um sich von anderen Gruppen (ältere, andere Jugendgruppen etc.) abzugrenzen. 3) Alle Jugendlichen verwenden dieselbe Jugendsprache. 4) Jugendsprache ist minderwertig im Vergleich zur Erwachsenensprache. 5) Jugendsprache gibt es nicht‐ sie ist eine Erfindung der jeweils älteren Generation bzw. der Linguisten.