Essay-Wyss

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Der mystische Abgrund
Beat Wyss
Das Theater als Tribunal
„Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt dort an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt“,
bemerkt Friedrich Schiller in seinem Aufsatz über „Die Schaubühne, als eine moralische Anstalt
betrachtet“, und weiter: „Wenn die Gerechtigkeit für Gold erblindet und im Solde der Laster
schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschenfurcht den Arm
der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage und reißt die Laster vor
einen schrecklichen Richtstuhl.“1 Im selben Jahr 1784, als Schiller diese Sätze der Kurpfälzisch
Deutschen Gesellschaft in Mannheim vorträgt, vollendet der Architekt Nicolas Ledoux das
Theater von Besançon, für dessen Reliefschmuck über dem Eingang er das berühmte Auge
entwarf (Abb. 1). In der Pupille spiegelt sich ein Zuschauerraum: Das Auge reflektiert den Raum
der Sehenden. Zu sehen ist im Auge ein Rangtheater; an der Kolonnadenreihe über den
Rängen erkennen wir das Vorbild: Palladios Teatro Olimpico in Vicenza, das seinerseits die
antike Tradition der Rangtribünen in Theater und Zirkus aufnimmt.2
In der Epoche der Französischen Revolution wird die Tribüne zum architektonischen Zeichen für
Öffentlichkeit, seine Herkunft lässt den griechischen Polisgedanken, die römische Republik
anklingen. In Ledoux' Auge sieht sich das Publikum, wie es sich seiner Sache (res) annimmt und
sich dadurch politisiert. Im Theater erfährt sich das Volk selbst als öffentliche Angelegenheit, als
res publica. 1795–1797 errichtete Jacques-Pierre Gisors in Paris den Versammlungsraum der
Volksabgeordneten. Die Kolonnade der Rückwand zitiert das Kolosseum, die kassettierte
Halbkuppel mit dem oculus erinnert an das Pantheon in Rom: Versammlungsstätte des Volks
und Heiligtum sind in diesem Innenraum verschränkt.3 Von Aufklärung bis Vormärz gilt das
Theater als Tribunal, die Bühne als „Kanzel der Revolution“4. Nichts anderes hat Schiller im
Auge, wenn er die moralische Anstalt der Bühne als einen „schrecklichen Richtstuhl“ für das
Unrecht bezeichnet.
Im Theater waltet das Auge der Gerechtigkeit. Doch wessen Auge ist es, das Ledoux hier
veranschaulicht hat? Ist es das Auge des Publikums? Das gerechte Halbrund der Tribüne, das
1
Schillers sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Dritter Theil. Stuttgart 1867 ff., S. 514.
Siehe dazu Andreas Beyer: Teatro olimpico. Triumpharchitektur für eine humanistische Gesellschaft.
Frankfurt a. M. 1987.
3 Siehe dazu Werner Szambien: Les projets de l'an II, concours d'architecture de la periode revolutionnaire. Paris 1986.
4 Hans Lange: Vom Tribunal zum Tempel. Zur Architektur und Geschichte deutscher Hoftheater zwischen
Vormärz und Restauration. Marburg 1985.
2
2
Rangtheater, gewähre allen Besuchern den einen, optimalen Blick auf das Bühnengeschehen:
Diese, für seine Baukunst werbende Versicherung mag Ledoux den eintretenden Besuchern
des Theaters von Besançon geben wollen. In diesem Sinne bedeutet das Auge den gerecht
verteilten Gesamtblick für alle Zuschauer. Dem widerspricht andererseits die Blickrichtung: Sie
weist nicht auf die Bühne, sondern von ihr weg; es könnte auch das Auge des Akteurs sein, an
der Bühnenrampe, der hinausblickt in den Zuschauerraum, auf die Gefolgschaft. So scheint im
Auge von Ledoux ein Doppelsinn zu herrschen, in dem der Blick des Akteurs mit dem Publikum
verschmilzt. Das Auge ist Subjekt-Objekt der Gerechtigkeit, die auf dem Richtstuhl der Bühne
gesprochen wird.
Noch eine Merkwürdigkeit: Von woher kommt und wohin zündet der Lichtstrahl, der über den
Augapfel herab schießt? Er scheint vom Innern des Kopfs, vom Hirn zu kommen und zugleich
vom oculus des gespiegelten Tribünenraums, jenem Auge des Pantheon über dem Auge. Das
Leuchtvermögen scheint – um den berühmten Satz von Immanuel Kant zu paraphrasieren – von
der Vernunft in ihm und vom Himmelslicht des Estre Suprème über ihm zu stammen.5 Der
Lichtkegel streift über die leeren Zuschauerränge auf die Bühne, wo Ledoux' Auge uns, die
Betrachter, hinstellt. Will der Lichtstrahl uns erleuchten, will er uns anzünden als Handelnde;
oder hat er uns entdeckt als Angeklagte? Ledoux' Auge des Theaters von Besançon kann als
ein Rebus für Aufklärung und Revolution gelesen werden, der in seiner verrätselten Dichte
unerschöpflich zu widersprechenden Deutungen anstiftet. Ich habe die Darstellung zum Einstieg
gewählt, weil das Wort ‚Theater’ von , von ‚Schauen’, kommt. Zwischen Französischer
Revolution und deutschem Vormärz gewinnt dieses Schauen eine urteilende und richtende
Schärfe. Wie sich dieser Blick allmählich wieder mildert, wie sich das Auge wieder
zurückentwickelt von einem moralischen zu einem rein optischen Organ, davon möchte ich
handeln.
Die Geschichte des Theaterbaus im 19. Jahrhundert beschreibt den Weg von der gleichen Sicht
für alle zur gleich guten Sicht für alle, von der Rechtsgleichheit zur Illusionsgleichheit des
Sehens. Die Nahtstelle am Übergang von der öffentlichen Moral zur öffentlichen Illusion kann
man am Auge von Ledoux topologisch fixieren. Sie befindet sich an einer Stelle, die der
aufklärende Lichtkegel verwischen zu wollen scheint: am unteren Augenlid, das zusammen mit
dem gespiegelten Orchestergraben in der Pupille die Grenze von Außenwelt und Imagination
markiert. Von hier abwärts, im Tränensack des öffentlichen Auges, öffnet sich das, was Richard
Wagner den „mystischen Abgrund“ zu nennen pflegte. Damit sind wir beim Stichwort und beim
Thema.
5
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Ehrfurcht und Bewunderung, je öfter
und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das
moralische Gesetz in mir. In: Kritik der praktischen Vernunft. Kants gesammelte Schriften, hg. v. d.
Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910 ff., Bd. 5, S. 161.
3
Wagners Festspiel für München
Im Mai 1849 beteiligt sich Kapellmeister Richard Wagner an den Barrikadenkämpfen in
Dresden; im gleichen Jahr schreibt er sein Manifest „Das Kunstwerk der Zukunft“: Es sollte als
„Gesamtkunstwerk“ von Musik, Tanz, Dichtung, Schauspiel und bildender Kunst unter dem Dach
der Architektur die attische Tragödie wieder beleben. 1862 erscheint „Der Ring des Nibelungen“
im Druck. Zwei Jahre später kommt Ludwig II. von Bayern auf den Thron. Der 19-jährige König
hat Wagners Schriften gelesen und will sie sogleich in die Tat umsetzen. Nach einer Audienz
vom 7. Oktober 1864 steht sein Wille fest: München soll ein monumentales Theater zum
Denkmal der Deutschen Nation erhalten. Nach Wagners Vorschlag wird Gottfried Semper mit
dem Entwurf der Bauten betraut.6 Ein merkwürdiges Gespann hat sich hier zusammengetan:
Zwei Künstler, die auf der gleichen Seite der Dresdner Barrikaden gekämpft haben, und ein
König, dessen ganzes Trachten darauf abzielte, sich sein Volk durch arrogant-verträumte
Selbstinszenierung vom Leib zu halten. Den gemeinsamen Nenner bildet Wagners Begriff der
Revolution als einer Radikalisierung der Kunst gegen die Alltagspraxis: Der Gedanke muss es
dem lebensfernen Monarchen besonders angetan haben. Ein erstes Provisorium für die
Nibelungen-Festspielstätte plant Semper 1865 im Münchner Kristallpalast. Die monumentale
Eisen-Glas-Konstruktion in der unmittelbaren Nachfolge des Londoner Cristal Palace (1851) ist
für die bayerische Industrie- und Gewerbeausstellung von 1854 errichtet worden (Abb. 2). Das
Theater wäre in der Ausstellungshalle zu stehen gekommen: eine Rekonstruktion des Odeion
von Pompeij (Abb. 3). Bedeutsam sind die Abänderungen vom antiken Theaterbautyp: Statt der
flachen Orchestra, der Plattform für den Chor in der griechischen Tragödie, tut sich ein tiefer
Orchestergraben auf – das, was Wagner später den „mystischen Abgrund“ nennen wird. Die
antike Scenae frons wird zur Guckkastenbühne aufgesprengt im Sinne einer illusionistischen
Verschmelzung von Raum und Bühnengeschehen, die das antike Theater nicht angestrebt hat.
Die Verwirklichung des Festspielprovisoriums scheitert am Widerstand der Münchner
Bevölkerung, welche die beliebte Mehrzweckhalle nicht hergeben wollte. Bier, nicht „Rheingold“,
sollte hier in Strömen fließen bis zum Brand des Kristallpalastes von 1931. Neben dem Plan
zum Provisorium entwirft Semper zwischen 1865 und 1868 einen monumentalen Festspielbau
(Abb. 4). Er wäre an der Isarterrasse gebaut worden, in der Nähe des von Bürklein 1874
errichteten Maximilianeums. Nicht zufällig sind städtebauliche Assoziationen, die den
zylindrischen Mittelbau, die Brücke, den Fluss mit der Engelsbrücke und der Engelsburg am
Tiber in Rom verknüpfen. Wie das ehemalige Hadriansmausoleum sollte auch der Münchner
Festspielbau zugleich ein imperiales Denkmal darstellen.
6
Heinrich Habel: Festspielhaus und Wahnfried. Geplante und ausgeführte Bauten Richard Wagners.
München 1985.
4
Die ersten halbzylindrisch vorkragenden Zuschauersäle aus den 1830er Jahren entstehen im
Zeitgeist eines vormärzlichen Bürgerbewusstseins. Frühestes Beispiel ist das 1829–1833
gebaute Mainzer Schauspielhaus von Georg Moller, das nicht vom Hof, sondern von der
Stadtgemeinde in Auftrag gegeben wird. Gottfried Semper nimmt das Motiv des Halbzylinders
für das Dresdner Hoftheater auf, das 1838–1841 entsteht (Abb. 5). Wie ein Zirkuszelt wirkt sein
Dach. Gewiss sollte Bausemantik geistesgeschichtlich nicht überlastet werden; doch es ist
schon auffallend, dass die „egalitäre“ Zirkusform des Theaters das Scheitern der bürgerlichen
Revolution in Deutschland nicht überlebt. In der zweiten Jahrhunderthälfte verschwindet die
schlichte Form des Halbzylinders, oder sie wird zurückgenommen, abgedämpft hinter immer
üppiger werdenden Vorbauten. Nach dem Theaterbrand in Dresden von 1869 erhält der Neubau
eine Form, die sich besser den zeremoniösen Bedürfnissen der Gründerzeit einfügt (Abb. 6).
Manfred Semper führt die Pläne seines verstorbenen Vaters aus, wenn er das Zuschauerhaus
nur noch im flachen Stichbogen vorbauchen lässt; dominanter als der Amphitheater-Effekt ist
der Portikus, der den seichten Zylinder spaltet – in Form eines kolossalen Tors zwischen
Triumphbogen und Benediktionsloggia. Das zweite Dresdner Hoftheater wird zur „Oper“
umgetauft: eine sprachliche Neuregelung, die sich parallel zur bausemantischen stellen kann;
das vormärzliche Bürgertum hat sich gescheut, die Theater nach dem alten Standesvergnügen
der Höfe zu benennen. In der „Semper-Oper“ wird Wagners Münchner Architekturtraum
Wirklichkeit, Sempers Entwurf für die Isarterrasse wird auf dem Dresdner Schlossplatz
verwirklicht.
Die Tribüne ist der Kern des bürgerlichen Theaters: Ausdruck einer Öffentlichkeit, die sich im
Kreise versammelt, um sich auf das Bühnengeschehen, die „Moral der Geschichte“, zu
konzentrieren. In der zweiten Jahrhunderthälfte wird der Zuschauerraum zunehmend verdeckt
durch Vorbauten, wo das Theater vor und zwischen den Pausen stattfindet: die Inszenierung
des Publikums als eines, das Kultur genießt, in Foyers und Wandelgängen. Die prunkvollste
Publikumsbühne entsteht in Paris: Das Treppenhaus der Pariser Oper von Charles Garnier
erreicht die doppelte Länge des Zuschauerraums, was Viollet-le-Duc, den Altmeister einer
rationalistischen Architektur, zur Bemerkung veranlasst, hier sei ein Theater für eine Treppe
erbaut worden.
„Warum Provinz?“ Bayreuth
An dieser Stelle ist der deutsche Sonderfall zu betonen: Frankreich kennt nicht das vielfältige
Leben der Hoftheater; der Betrieb konzentriert sich auf die Hauptstadt Paris. Die deutsche
Vielstaatlichkeit hingegen hat ein reiches Theaterleben hervorgebracht. In all den großen und
kleinen Hoftheatern des mittleren 19. Jahrhunderts spielt sich ab, was an verfasstem Recht
zwischen dem Hof und den Bürgern fehlt; auf der Bühne ist es zumindest als „ästhetischer
5
Zustand“7 erreicht. Das Theater bildet das sensible Parkett kulturellen Ausgleichs; es darf nicht
leichtfertig dem freien Markt preisgegeben werden, wie das in Frankreich, Italien, England seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts geschieht. Während in London selbst der König nur ein Mieter
seiner Loge ist, treten die deutschen Landesväter in ihren Häusern als Gönner bürgerlicher
Bildung auf. Daher rührt die deutsche Tradition der Repertoire-Bühne, die, von
Marktüberlegungen wenig angefochten, die Schätze bildungsbürgerlicher Identität hütet,
während in den Privattheatern von London, Mailand, Paris sich ensuite-Spielpläne im modischlaunischen Karussell der Publikumsgunst drehen.
Vor diesem Hintergrund ist das Phänomen eines Festspielbaus in Bayreuth zu verstehen. Die
Pläne für München sind nicht zustande gekommen. Das größte Nachsehen hat dabei der
Architekt Semper, der, in Zürich an den Entwürfen arbeitend, nichts von den Intrigen erfährt, die
sich zwischen dem König und Richard Wagner entspinnen. Bei Hof und der Bevölkerung ist das
Festspielprojekt unbeliebt; Wagner wird als Parasit gesehen, der in der Gunst eines weltfremden
Königs die Staatskasse plündert. Man nennt ihn „Lolus“, in Anspielung an die Mätresse Lola
Montez, die König Ludwig I. das Amt gekostet hat. Ludwig II. muss seinen Komponisten mit
einer Abfindung in die Wüste schicken, nach Luzern. Hier reift der Gedanke einer Spielstätte in
Bayreuth: weit abgelegen von missgünstigem Volk, von spottlustigen Großstädtern, aber auch
von den Launen des Gönners. Angebote aus Berlin und selbst aus Chicago lehnt Wagner ab.
Bayreuth liege in der geometrischen Mitte des zu schaffenden Deutschen Reichs, begründet er
den Standort. „Warum Provinz?“ Heideggers berühmte Frage8 beantwortet sich auch für Wagner
selbstredend. Der Spielort für die Nibelungen sollte nicht lärmender Rummelplatz, sondern
heilige Wallfahrts- und Weihestätte werden – daher dieser Bauplatz nationaler Sammlung mitten
im Gras.
Das Festspielhaus von Bayreuth bildet den Extremfall der deutschen Repertoire-Bühne: Ein
Haus, in dem ein Theaterfürst ausschließlich einen Autor und ein Stück spielt. Wagners
Festspielidee kämpft gegen die Geldherrschaft des marktorientierten Theaters. Im „Kunstwerk
der Zukunft“ stellt er die Spiele als Gratisaufführungen in Aussicht. Der „Ring des Nibelungen“
sollte nur dreimal aufgeführt werden; hinterher sei das Theater samt Ausstattung und Libretto im
Feuer zu vernichten. Der Vermarktbarkeit seines Werks gedachte der Meister eine Rạgnarök9
„Der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur; er entledigt sich dieser
Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen.“ Friedrich Schiller: Über
die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, vierundzwanzigster Brief. In: Ders.
Theoretische Schriften, Dritter Teil. dtv-Gesamtausgabe, Bd. 19. München 1966, S. 74. Zur Definition des
„ästhetischen Zustandes“ siehe zwanzigster und einundzwanzigster Brief, ebd., S. 61ff.
8 Martin Heidegger: Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz? In: Der Alemanne.
Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens, 67a, 7. März 1934. Nachgedruckt in Guido
Schneeberger: Nachlese zu Heidegger. Dokumente zu seinem Leben und Denken. Bern 1962, S. 216–
218.
9 Vernichtung der Erde und Untergang der Götter nach einer letzten Schlacht. Das Wort stammt aus dem
Sagenkreis der Edda, aus dem Wagner seinen Nibelungen-Stoff schöpfte.
7
6
zu bereiten. Damit aber hätte er, vielleicht mit Ausnahme Ludwigs II., alle Mäzene seines
Vorhabens verscheucht. Ein finanzielles Fiasko ist die Uraufführung des Rings im August 1876
auch so; der Festspielbau von Bayreuth bleibt als Investitionsruine über Jahre hinweg
ungenutzt. Wagner hat nur noch eine Aufführung erlebt: im Sommer 1882, ein halbes Jahr vor
seinem Tod, gelangt der „Parsifal“ in Bayreuth zur Uraufführung.
Auffällig am Bayreuther Bau muss den Zeitgenossen das turmartig erhöhte Bühnenhaus
erschienen sein (Abb. 7). Es setzt sich spät durch; ästhetische Bedenken werden dagegen
vorgebracht. Die Illusionsmaschinerie sei möglichst unter dem einen Dach des „Musentempels“
zu verbergen. Nun ist es gerade das Bedürfnis nach Illusion, das auf seiner Rückseite, hinter
und über den Kulissen, seinen weithin sichtbaren Preis abverlangt. Am Längsschnitt der Pariser
Opéra lässt sich dies deutlich ablesen: Da ist das Bühnenhaus, eine gewaltige
Augentäuschungsmaschine bergend, mit Schnürböden und mechanischen Vorrichtungen zum
Heben und Senken der Kulissen; viel kleiner folgt die Rotunde des Zuschauerraums: die
Dunkelkammer der Illusion, die das Publikum betritt, wenn es das Treppenlabyrinth
durchrauscht hat und sein Bedürfnis nach dem eigenen Auftritt verebbt ist. In Deutschland erregt
das stark überhöhte Bühnenhaus des 1868 vollendeten Neuen Theaters von Leipzig Kritik. Der
Bayreuther Festspielbau, ein Jahr zuvor eröffnet, gehört zu den frühen deutschen
Theaterbauten, die das Maschinenmäßige zur Schau stellen. Das Bühnenhaus wird von einem
Thermenfenster beleuchtet, wie dies damals auch bei Fabrikhallen und Bahnhöfen üblich ist. Die
Freistellung hat nicht nur bühnentechnische, sondern auch feuerpolizeiliche Gründe: Die
Isolierung der Bauteile erleichtert die Eindämmung von Feuersbrünsten durch die Einrichtung
des Eisernen Vorhangs, der bei Brandausbruch zwischen Bühne und Zuschauerraum
niedergeht. Nach den verheerenden Theaterbränden in Nizza und Wien im Jahr 1881 wird das
isolierbare Bühnenhaus allgemein zur Vorschrift. Das Bühnenhaus von Bayreuth ist flankiert von
vier schmalen Treppentürmen, die Wassertanks für die Sprinkleranlage enthalten. Der
Brandschutz für den Festspielbau erweist sich umso dringlicher, als es sich beim Bau um eine
billige Fachwerkkonstruktion handelt.
Nachdem es zwischen Semper und Wagner beim Scheitern des Münchner Projekts zu einer
nachhaltigen Verstimmung gekommen ist, betraut Wagner die Architekten Neumann und
Brückwald mit der Ausführung der Bayreuther Anlage. Unübersehbar scheint das Sempersche
Konzept durch. Ein großer Umriss, doch eine sehr schlichte Durchführung! Die fehlende Kunst
am Bau ersetzen bei der Eröffnungsfeier ein paar schüttere Girlanden. Der Festspielbau ist
Provisorium. Die Tribüne umschließt eine unverkleidete Fachwerkwand, darunter steht die
Eingangslaube aus Holzpfosten. Seitentrakte und Bühnenhaus sind aus Backstein. Die
Königsloge wird 1881 angefügt, damit Ludwig II. darin der Uraufführung des „Parsifal“
beiwohnen könnte; der König ist nicht gekommen.
7
Aufenthaltsräume für das Publikum sind keine da, als „Der Ring des Nibelungen“ im August 1876
eröffnet wird. Es ist heiß – „wie bei Waterloo und Sedan!“ stöhnt ein Gast. Während die Walküren
in endlosen Klangwellen über die Bühne reiten, beträgt die Temperatur im Zuschauerraum 37,5
Grad Celsius. Ein Korrespondent der „Gartenlaube“ spricht von einem „artistischen
Kalvarienberg“10, von einer „Wohnungs- und Hungersnot im Nibelungennest“ berichtet Eduard
Hanslick.11 Die Versorgung der 1345 Gäste im kleinen Bayreuth ist zusammengebrochen. Der Berg
sollte zum Propheten kommen, doch die Weihestätte verfügt nicht über eine einzige Toilette.
Unbarmherzig gegen die bedürftige Leiblichkeit des Publikums entrollt sich während vier Tagen
jeweils von vier Uhr nachmittags bis abends um zehn „Der Ring des Nibelungen“, „Das Rheingold“,
„Die Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“. Im Publikum wächst Unmut gegen die Diktatur
der Kunst über das Leben, die sich gerade in diesem weit abgelegenen Bayreuth unausweichlich
entfalten kann. Ein Kritiker sieht sich der Oper physisch ausgeliefert; bei den Münchner
Aufführungen hätte man noch das Stadtleben zur Deckung gehabt: „Hier konnte man sich während
unerträglicher Längen der Darstellung wenigstens mit seiner Umgebung, mit seinen
Leidensgenossen beschäftigen, in Bayreuth aber war jede Hilfe abgeschnitten. Wem in Bayreuth
nicht der Schlaf ein milder Tröster wurde, der konnte nur noch verzweifelnd die Glatzen zählen, die
aus der tiefen Dämmerung des Zuschauerraums matt aufleuchteten.“12
Wagners Kunstdiktatur streicht das Publikum als leibliche Tatsache durch. Im Gegensatz etwa
zu den Möglichkeiten der Pariser Opéra bestehen in Bayreuth keinerlei architektonische Stützen
für das Bedürfnis der Besucher, sich selber in Szene zu setzen. Das Publikum ist für das Werk
da, und im Zuschauerraum wird es buchstäblich ausgelöscht. Es ist hier stockfinster, damit das
Licht der Bühne umso eindringlicher scheint. Was schon an Sempers geplantem Provisorium im
Münchner Glaspalast festzustellen war, bestätigt sich in Bayreuth. Die Wagnerbühne entspricht
einem bildungsbürgerlichen Konzept des Historismus, demzufolge sich der Kulturanspruch ganz
auf ein Inneres zurückzieht, während die äußeren Umstände als geistlose Sachzwänge
hingenommen werden. Es geht um das „Eigentliche“13, für eitlen Schnickschnack ist kein Platz.
Restaurierungen der 1960er und 1970er Jahre haben das hölzerne Fachwerk in armiertem
Beton nachgeahmt und damit versteinert. Der Festspielbau signalisiert nach Außen funktionelle
Nüchternheit, während sein Inneres eine Stätte für germanische Götter und Helden birgt. Die
Spannung eignet einem Charakterbild, das Oswald Spengler im „Untergang des Abendlandes“
als „faustisch“ nobilitieren wird.
10
W. Marr in: Die Gartenlaube 1867, S. 570. Zur zeitgenössischen Wagner-Rezeption siehe Martin Vogel:
Nietzsche und Wagner. Ein deutsches Lesebuch. Bonn 1984.
11 Eduard Hanslick: Aus meinem Leben. 4. Ausg., Berlin 1911, Bd. II, S. 181.
12 Hans Michael Schletterer: Richard Wagners Bühnenfestspiel. Nördlingen 1877, S. 130.
13 Zur Kritik dieses Begriffs siehe Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie.
Frankfurt a. M. 1964.
8
Von der Guckkastenbühne zur Kinoleinwand
Das Herzstück der Anlage ist der Zuschauerraum: eine Rangtribüne, wie sie sich sonst im
Theaterbau des 19. Jahrhunderts kaum durchsetzen kann. Wagner, der ehemalige
Revolutionär, gewährt hier der ästhetischen Demokratie eine Tribüne zur Versammlung der
Gleichen im Geiste. Geradezu naturalistisch macht sich die Zirkusrhetorik vernehmbar mit der
Decke in Form eines velum, eines Zelts, mit dem die Römer die offenen Amphitheater zu
decken pflegten. Die hervorragende Akustik des Raums ist darauf zurückzuführen, dass er in
Holz ausgekleidet ist. Ursprünglich hat Wagner das Markgräfliche Theater von Bayreuth als
Aufführungsstätte ausersehen, eines der seltenen, noch erhaltenen Logentheater, 1745–1748
erbaut von Giuseppe Galli Bibiena. Doch der Innenraum erweist sich als zu eng. Um dem genius
loci eine Reverenz zu erweisen, zitieren die Architekten die seitlich einwärts gestaffelten Säulen
des markgräflichen Proszeniums und vervielfältigen das Motiv in den Zuschauerraum hinein in
Gestalt der Säulenreihen vor den Scherwänden. Das sitzende Publikum als Ganzes ist in den
perspektivischen Sog der Bühnenillusion einbezogen.
Der Zuschauerraum als Illusionierungstrichter leitet die Ohren und Augen aller Anwesenden auf
das Operngeschehen. Die Unausweichlichkeit der Zentralperspektive für alle steht gegen ein
Logentheater, das die Unterschiede betont; damit findet im barocken Zuschauerraum mit seiner
architektonisch ausgedrückten Hierarchie ein kleines Welttheater statt, parallel zur Bühne.
Schon aus beleuchtungstechnischen Gründen konnte der Zuschauerraum nicht abgedunkelt
werden, weil die Leuchtkraft von Kerzen und allenfalls ein paar Reverbièren14 das
Bühnengeschehen nicht genügend erhellt hätten. Und es war auch nicht angestrebt, denn die
Theaterbesucherinnen und Theaterbesucher nahmen sich auch während der Aufführung
mindestens so wichtig wie das Stück, das gegeben wurde. Noch gab es keine Entmischung der
Funktionen zwischen der Selbstdarstellung des Publikums und dem Kunstereignis. Was die
Pariser Opéra ins Treppenhaus ausgelagert hat, findet im Barocktheater während der Oper statt:
ein galantes Sehen und Gesehenwerden. Der Theatersaal war ein Saal des Festes; im
Münchner Residenztheater von François Cuvilliés kann die Abschrägung des Zuschauerraums
durch eine mechanische Vorrichtung in die Waagrechte gehoben werden, und das Theater
verwandelt sich in einen Redoutensaal. Nach der Vorführung schließt sich der Orchestergraben,
Essen wird aufgefahren, man tanzt. Der Zuschauer ergreift den Raum, den er auf Zeit dem
Schauspiel überlassen hat.
Mit der Möglichkeit zur Aufhebung des Orchestergrabens opfert Wagner die Möglichkeit einer
Durchdringung von Leben und Spiel. Er vertieft sogar die Grenze, indem er den
Orchestergraben – nach Wagners eigener Wortschöpfung – zum „mystischen Abgrund“
aufklaffen lässt. Sichtblenden verhindern das Eindringen von Licht in den vollständig dunklen
14
Reflektierende Öllampen am Bühnenrand.
9
Zuschauerraum. Möglich wird diese klare Trennung von Kunstlicht und Finsternis dank der
Gasbeleuchtung und, wenig später, der Elektrizität. Die perfekte Versetzung zurück in die Zeit
der Nibelungen verdankt sich dem Gasometer und dem Dynamo. Die technisch herstellbare,
vollständige Dunkelheit für die Zuschauer, ihre gleichmäßig gute Sicht auf die strahlende Bühne
verstärkt zwar die illusionistische Raumwirkung. Doch der Preis einer optimalen Illusion für alle
ist die verschärfte Trennung von Sein und Schein.
Die Guckkastenbühne wird im 19. Jahrhundert perfektioniert mit Wagners Illusionsraum, der in
den Dioramen und Panoramen seine populären zeitgenössischen Ableger hat. Die Entwicklung
führt zum Lichtspieltheater des 20. Jahrhunderts. Die Wagnerbühne hat weniger zum aktuellen
Theater beigetragen; vielmehr ist in ihr die übernächste Stufe der Illusion vorausgesehnt.
Wagners perfekte Guckkastenbühne ist Vorläuferin der Kinoleinwand. So hat sich auch,
konsequenter als im Theater, im Kino die Rangtribüne durchgesetzt. Damit der Schein der
Filmprojektion herrschen kann, muss das Sein der Zuschauer gelöscht werden; darin gleicht die
Kinovorführung Wagners Wille, die Publikumsrealität zu Gunsten eines totalen Bühnenerlebens
zu tilgen. Es bleibt die Idee des Tribunals als architektonischer Rhetorik, ein Tribunal, das sich
jedoch bei Beginn der Vorführung zum schwarzen Mutterschoß verwandelt, da die Illusionierung
nicht zulässt, dass während ihrer Wirksamkeit das Publikum sich seiner Rolle bewusst sei.
Die Tribünenräume der großen Lichtspielhäuser der 1920er und 1930er Jahre sind häufig von
Stimmungskulissen umgeben. Sie zersetzen das Bewusstsein des Publikums als einer
Gemeinschaft, die über dargebotene Täuschungen urteilen soll. Die Scheinarchitektur der
Kinosäle drängt sich, auf angestammtem Platz überflüssig geworden, in den Zuschauerraum,
um die Sphäre des Scheins sogar noch auf die Tribüne selbst zu tragen, das Tribunal
gewissermaßen bestechend mit dem Vorgeschmack dessen, was auf der Leinwand zu erwarten
sein wird. Der Orchestergraben wird zwar in den frühen Lichtspielhäusern noch gebaut für das
Filmorchester; der Tonfilm jedoch wird ihn überflüssig machen.
Der mystische Abgrund zieht sich in die Augenlider des Filmbetrachters zurück. Es ist, als hätte
Ledoux in seinem Auge über dem Theater von Besançon das Erlebnis der subjektiven Kamera
voraus empfunden: ein Publikum, das sich als Gesamtzuschauer mit den Augen des Helden
erlebt. Hergestellt wird dieses Wunder durch das Licht aus Ledoux' Auge, das, anachronistisch
gelesen, sich als Strahl eines Kinoprojektors entziffert.
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