Matthias R - Facoltà di Musicologia

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Matthias R. Entreß:
"Neue Musik schreiben im Geiste alter Hochkulturen
- die stilistische Freiheit des Komponisten Giulio Castagnoli"
MUSIK aus Fioreture, etwas laufenlassen, dann unterlegen
AUTOR: Fioriture Due (zu Deutsch etwa Blumenstück Zwei) für Bratsche und
Ensemble wurde im Jahr 1997 geschrieben. In der ursprünglichen Version aus
dem Jahr zuvor war das Soloinstrument ein guqin, eine altchinesische 7-saitige
Zither. Doch der chinesische Tonfall ist, unverkennbar und prägnant, auf die
Bratschenversion übergegangen.
Der diese Musik schreibt, ist kein Chinese. Kein Asiat, der verzweifelt einen Weg
sucht, die uralte vernachlässigte Musiktradition seiner Heimat in die westliche
symphonische Weltsprache einzubinden.
"Fioriture" stammt von Giulio Castagnoli. Geboren 1958 in Rom. Aufgewachsen
in Turin, ausgebildet dort und in Freiburg bei Brian Ferneyhough und Klaus Huber,
weist bei ihm wenig auf eine kulturelle Bindung mit der chinesischen Tradition hin.
Die klangliche Spannweite aber, die Castagnolis Musik in den letzten Jahren
entfaltete, hat eine skeptische Kritik und ein relativ breites Publikum mehr erstaunt
als den Komponisten selber und wirklich erscheint die Entwicklung dahin bei
näherer Bekanntschaft mit Castagnoli als logisch und von natürlicher Konsequenz.
(1.19)
MUSIK wieder hochfahren, Stück zuendelaufen lassen
AUTOR: Mit den Kategorien einer hermetischen, von Traditionen und
Weltkulturen abgegrenzten mitteleuropäischen oder besser deutschen Neuen
Musik kommt man diesem Phänomen einer Fern-Naturalisierung ebensowenig
näher, als wenn man das Muster einer alles nivellierenden, alles vereinnahmenden
Weltmusik zugrundelegt.
CASTAGNOLI: (10, 0:00) "Das kommt wahrscheinlich von Scelsi. Und auch
durch mein Leben, denn ich war immer, seit ich 19, 20 war, fasziniert von
japanischer Literatur und Kunst und der Küche, aber nicht von allen Aspekten des
Lebens. Ich glaube, ich bin zu japanischer Musik durch die Literatur gekommen,
die Dichter, und dann, nach der japanischen, fing ich an, mich für die chinesische
Dichtkunst zu interessieren. Und wie Sie wissen, muß jeder chinesische Dichter
zugleich auch Maler und Musiker sein, deshalb, durch die Dichtkunst, begann ich,
die alte chinesische Musik anzuhören und ein Instrument zu lernen, naja, das ist
ein bißchen viel gesagt, aber ich besitze drei dieser chinesischen Instrumente, ein
Erhu, eine p'i-p'a und ein guqin, ich berühre sie gerne, aber ich spiele sie nicht.
(1:04)
AUTOR: Erstaunlich bleibt Castagnolis Griff in die asiatische Klangwelt, die in
zahlreichen Werken so sehr im Vordergrund steht und immer in der Gefahr ist, als
nostalgisch oder "zu schön" mißverstanden zu werden.
Castagnoli: (12 0.00-0.34) Das ist wahr! Aber die Bedeutung von all dem liegt
gar nicht im Klang, sondern im Geist! - Ich glaube nicht, daß ich diese Art Musik
imitiere. Was ich versuche zu machen, ist eine Übersetzung dieses Geistes, also
es ist mein Ziel, eine Übersetzung zu schaffen. Was ist Übersetzung in der Musik?
Translare im Lateinischen heißt, eine Sache von einem Raum in einen anderen
Raum zu bringen. (34")
AUTOR: Auch "Tre Poesie T'ang" ("Drei T'ang-Gedichte") für Klavier und
Kammerensemble könnte als die Komposition eines heutigen traditionsbewußten
chinesischen Musikers durchgehen. Daß dieses Stück jedenfalls nicht Nachfahre
einer Ravelschen Chinoiserie ist, erkennt man sogleich an der Behandlung des
Klaviers, dessen Chromatik in der pentatonischen und melismatischen Klangwelt
der Musik Castagnolis vom Ensemblepart erfolgreich umgedeutet wird. Den
einzelnen Sätzen ist in der Partitur jeweils ein Gedicht der T'ang-Zeit vorangestellt,
das aber in der Aufführung nicht gesprochen wird. Das dritte Stück, Sereno - klar,
heiter - überschrieben, bezieht sich auf einen Text von Ang Wei:
ZITAT: "Ich bin allein, versteckt im Bambus
Spiele Zither und singe vor mich hin
Die Tiefe des Waldes, wo niemand von mir weiß
Beginnt im hellen Licht des Mondes aufzuklaren"
Musik: Ein Stück aus "Tre Poesie T'ang": Nr.3 Sereno (4.37)
AUTOR: Castagnoli entstammt einer Familie von Physikern. Seine Eltern, Carlo
Castagnoli und Giuliana Cini, lernten sich bei einer Sommerakademie von Enrico
Fermi kennen; der Vater machte seit den Fünfzigern bedeutende Experimente mit
Neutrino-Detektoren, beschäftigte sich mit Plasma-Physik und untersuchte
hochenergetische kosmische Strahlung in einem Labor unter dem Mont Blanc;
seine Mutter ist Astrophysikerin - weit über Grenzen hinweg zu denken dürfte zu
Giulios ersten geistigen Übungen gezählt haben. Und nicht ohne Stolz weist
Castagnoli auf die historische Verbindung von Musik und Physik hin; man denke
nur an Vincenzo Galilei und seinen Sohn Galileo.
Aber auch die Musik liegt der Familie in den Genen: Castagnolis Urgroßvater
der mütterlichen Linie, Edgardo del Valle de Paz, war Komponist und als Professor
u.a. Lehrer von Mario Castelnuovo-Tedesco.
Die Großmutter war es, die bemerkte, daß der kleine Giulio wie sie selbst das
absolute Gehör besaß. (1.02)
CASTAGNOLI: (02, 0.08-0.36) Ich hatte diese Fähigkeit, aber ich wußte das gar
nicht. Ich dachte, jeder hört so wie ich. Das war wirklich seltsam. Irgendwann
merkte ich, daß meine Schwester anders hörte und ich sagte ihr, merkst du nicht,
wie das klingt? Wie dumm du bist! Es war meine Großmutter, die begriffen hat, daß
ich für Musik gemacht bin. (0.28)
AUTOR: Mit vier erhielt er Klavierunterricht bei der letzten Schülerin seines
Urgroßvaters, später lernte er Saxophon. Mit zehn war er bereits ein guter
Saxophonist, der jüngste auf der Musikschule. Aber sein Hauptinstrument als
Musiker ist das Klavier, er hat allerdings auch ein paar Jahre, mit 18, 20, Cello
studiert, das er zwar nicht sehr gut spielt, aber dem er in weitaus mehr
Kompositionen als dem Klavier eine Hauptrolle gegeben hat. Und er begann sehr
früh zu komponieren: (0.30)
CASTAGNOLI: (4, 0.03-0.30) "Ich erinnere mich, daß mein Vater die Titel der
Stücke, die ich komponiert hatte, schreiben mußte, weil ich selber noch nicht Worte
schreiben konnte. Als ich sehr jung war, konnte ich nur Noten schreiben! Ich kann
mich an keine Zeit erinnern, wo ich keine Noten schreiben konnte. Unglaublich,
aber wahr. Ich erinnere mich aber daran, keine Buchstaben schreiben zu können!"
(27")
AUTOR: Bei Castagnoli liegt der in der Neuen Musik seltsam anmutende und
Skepsis hervorrufende Fall vor, daß er in die Musik so gut wie hineingeboren
wurde. Und straflos darf wohl auch konstatiert werden, daß Generationenkonflikte
kein wichtiger Bestandteil seiner Entwicklung waren. Während z.B. in der
deutschen und englischen Musik, auch in der italienischen, solche Feststellungen
auf ein strikt rückwärts gewandtes Komponieren schließen lassen, das sich seine
Vorbilder aus der Spätromantik holt, führt für Castagnoli die Tradition direkt in die
Gegenwart. Das Konzept der Schulen als personifizierte Stränge kontinuierlichen
Fortschritts gilt, so hat er es in seiner Karriere erfahren, noch heute. (0.44)
CASTAGNOLI: (7, 0.00-1.10) Ich glaube sehr stark an die Tradition. Ich habe
-2-
mich gefragt, warum die Musik, über die wir sprechen, Berio, Nono, auch
Castiglioni, ein großartiger Komponist, eine so enge Verwandtschaft zu alter
italienischer Tradition aufweist, zum Beispiel mit Madrigalen, also Monteverdi und
jener Epoche. In der ganzen Art und Weise, wie Musik in Italien gelehrt wird,
können wir verstehen, warum das so ist. Denn wir studieren wirklich viel
Kontrapunkt, das heißt, wir studieren den klassischen Kontrapunkt, den vokalen
Kontrapunkt, nicht nur instrumental, wir studieren Monteverdi und Palestrina. Und
die Väter unserer Schule, Ghedini, Malipiero, Dallapiccola, alle diese Komponisten
haben sich viel mit der klassischen Polyphonie beschäftigt. (1.10)
(neu ansetzen)
CASTAGNOLI: (8, 0.00-0.39) Ich habe die Zwölftonmusik von einem
Komponisten gelernt, der die gleichen Wurzeln im Schreiben von Musik wie ich
hat; Dallapiccolas Wurzeln sind nicht die gleichen wie Weberns. Weil er,
Dallapiccola, seine Musik von der klassischen Polyphonie Palestrinas her
entwickelt hat, Webern aber hat den flämischen Kontrapunkt studiert, das ist ein
bedeutender Unterschied und der Grund dafür, warum man italienische
zeitgenössische Musik sofort als italienisch erkennen kann. (0.39)
AUTOR: Castagnoli ist als Komponist in das Ende einer glorreichen Ära
italienischer Musik hineingewachsen. Nono und Scelsi, deren Spätwerke, bzw. in
Scelsis Fall späte Wirkung den Inbegriff italienischer Neuer Musik darstellten,
starben und die jüngere Generation verzweigte sich zwischen neoromantischer
Reaktion, die die Heroen der Neuen Musik links liegen ließ und sich eher Fellinis
Filmkomponisten Nino Rota als Ahnherr wählte, wozu Castagnoli trocken bemerkt,
die müßten noch mehr studieren, und einer radikalisierten Post-Avantgarde, die
sich aber im Klangfeld Scelsis zu drehen scheint. Originale wie Salvatore Sciarrino
sind seltener denn je.
Castagnoli nun schien bis Ende der achtziger Jahre bequem in die Post-ScelsiSchublade zu passen. (0.50)
MUSIK: "KLANG", NACH 15 SEC UNTERLEGEN
AUTOR: "Klang" für 13 Streicher von 1986 belegt dies. Der deutsche Titel
bezeichnet im metaphysischen Sinn das Rohmaterial als Magma, als komplexe
Einheit vor der Form. Hier findet sich noch nichts von den freudig ans helle Licht
der Sonne hochspritzenden Erregungen der späteren Werke, alles bleibt abstrakt
und gewissermaßen unter der Erde.
MUSIK ETWAS LAUFENLASSEN, DANN AUSBLENDEN
AUTOR: Begriffe wie "Tradition" oder "Avantgarde" sind hohl und ersticken jede
Diskussion mit einem vermeintlich unverrückbaren Argument, dem man nur
zustimmen kann oder das man bekämpfen muß. Wenn Castagnoli von Tradition
spricht, tut er das im Bewußtsein einer seit "Klang" (1986) gewachsenen Freiheit,
in der, bildlich gesprochen, jede Bewegung eine Entdeckung ist, die Befreundung
mit anderen Möglichkeiten. Eine besondere produktive Freundschaft verband ihn
mit Luciano Berio, der Ende Mai 2003 verstarb, genau an dem Tag, wie sich später
herausstellte, wo das Interview für diese Porträtsendung geführt wurde. Zusammen
mit Berio, den Castagnoli als seinen Mentor ehrt, hat er die nachgelassene Oper
eines gemeinsamen Freundes komplettiert, was für den damals noch jungen
Komponisten weitaus mehr wertvolle Erfahrungen brachte als zum Beispiel die
Kurse bei John Cage. Während eine stilistische Verwandtschaft zu Berios Werk
sich eher marginal in Castagnolis Musik konstruieren ließe, dürfte Berios Vorbild
besonders Castagnolis substantielle stilistische Freiheit ermutigt haben, ist doch
Berio für seine "Folksongs" und Mozart/Schubert-Paraphrasen ebenso bekannt wie
für seine jazzig-avantgardistische "Sinfonia" und der wunderbaren Serie der SoloSequenzas.
-3-
Aber mit Berio ist er sich auch der Verantwortung bewußt, die Edgard Varese in
diesem Aphorismus anmahnt: "Der musikalische Horizont scheint sich unendlich
auszudehnen. Trotzdem muß der Komponist achthaben: Freiheit bedeutet nicht
Erlaubnis." Für Castagnoli dürfte es daher heißen: Freiheit bedeutet Entdeckung.
(1.40)
CASTAGNOLI: (20, 0.33-1.01) Mit jedem Stück komme ich mir selber einen
Schritt näher, entdecke ich mich ein wenig mehr. Und das war das Schönste, was
Franco Donatoni mir gesagt hat, die Musik sei das Gesicht des Menschen, weil sie
etwas wirklich tief im Innern liegendes sei. (28") (STREICHEN?)
CASTAGNOLI: (it 21) Meine Vorstellung wird immer von irgendetwas berührt.
Ich lese oder ich sehe etwas; Dichtung und Malerei sind beide sehr wichtig für
mich. Hinter einem Bild stehen die Augen des Malers, und hinter den Zeilen eines
Gedichts steht der Mann, der sie geschrieben hat. (...25, 1:57) Maler und Dichter
geben mir so viele Klang-Vorstellungen! Wenn ich eine Zeile eines Gedichts lese,
eines Gedichts, das mir etwas sagt, dann fühle ich darin einen Klang. Deswegen
schreibe ich bei einzelnen Stücken manchmal einen Epigraph dazu, um Leuten,
die meine Musik hören, zu zeigen, was ich dabei fühle, wenn ich das Gedicht lese
oder das Bild anschaue. Das ist das Ziel, in Klang die Vorstellung zu übertragen,
die ich von Dichtung und Bildern erhalte.
AUTOR: Auch die Sei Haiku (Sechs Haikus) gruppieren sich - ausschweifender,
als die Kürze dieser japanischen Gedichtform vermuten läßt, um Texte. Auf ein
intensiv die Klangzustände der Flöte auslotendes Solostück folgt der Satz
"Profondo" - tiefgründig, das aus extrem reduziertem Tonmaterial das Maximum an
Klangfarbe und instrumentaler Individualität erzeugt, aus einem Wort eine ganze
Welt entfaltet. Castagnoli schreibt dazu:
ZITAT: Das geschieht oft in der Musik: Ein einzelner Klang (die Glocken in
Puccinis Tosca, die Mandoline in der Serenade aus Mozarts Don Giovanni, der
Maschinenlärm in Varèses Deserts) rufen andere Dinge in uns hervor. Ich habe
versucht, so mit einfachen musikalischen Elementen zu arbeiten, um die
Vorstellungskraft des Zuhörers wach zu halten und eine neue Atmosphäre zu
erzeugen, wie es ja auch das Ziel der alten japanischen Dichter war.
AUTOR: Die Partitur wird eingeleitet von einem Haiku des japanischen Dichters
Sogi:
ZITAT: Hier ein wenig Wasser
dort, unter den Bäumen
das Meer.
MUSIK: Aus "Sei Haikus"; das Elision Ensemble unter Sandro Gorli (6.49)
CASTAGNOLI: (it.14) Musik kombiniert Geist und Materie. Geist ist männlich,
Materie, von Mutter, weiblich; man findet das in China als Yin und Yang. Musik
muß immer diese beiden Aspekte verbinden, mehr oder weniger... Ich versuche in
meiner Musik, den Geist, d.h. die Struktur, die Algorithmen mit dem Klang, der
Materie gleichwertig zu behandeln. Ich beginne stets mit dem Klang, aber ich
arbeite lange an den Proportionen. Das ist eben Kunst. Kunst muß natürlich
erscheinen, aber sie wird gemacht. (46")
MUSIK: unterlegen: "Chet", Teil des 1.Abschnitts und Teil des dritten Abschnitts
AUTOR: Castagnolis Musik wirkt leicht, improvisatorisch, sie klingt oft nach einer
ruhigen Erforschung des Klangs und der formalen Möglichkeiten, die sich oftmals
über längere Zeiträume ausdehnen. Man denkt da vielleicht an Morton Feldman
oder eben auch an außereuropäische Musiken, bei denen Improvisation ein
-4-
wichtiges Element ist oder an Jazz. Aber auch das trifft auf Castagnoli nicht zu. Er
schreibt Musik. Und dies nicht einmal sehr schnell; immerhin aber kommen jährlich
zwei oder drei Werke aus seinem mit freiem Blick über Turin liegenden Studio, das
ist dann doch viel, wenn man an seine erhebliche Arbeitsbelastung als
Kompositionsprofessor am Turiner Konservatorium "Giuseppe Verdi" denkt, mit
weitaus schlechterem Gehalt übrigens als in Deutschland zu erwarten wäre.
Der Hörer aber nimmt viele seiner Werke als Echtzeitmusik wahr - im
Hintergrund läuft "Chet" für Trompete, Vibraphon und Baß, das der Jazzkenner
Castagnoli im Gedenken an den 1988 verstorbenen Jazztrompeter Chet Baker eben: schrieb und klassische Musiker allein durch Noten dazu brachte, ein
Jazzfeeling zu erzeugen. Gleichzeitig ist es eine frühe heimliche Hommage an
Luciano Berio, aus dessen "Laborintus II" er einige Takte einfügte - o dolcissima
morte (o süßester Tod) - was das Maß verfeinerter Schreibkunst kennzeichnet.
MUSIK hochfahren, dann wieder unterlegen.
CASTAGNOLI: (it.16 0.01-) Ich schreibe gerne. Ich meine, das ist unsere
Tradition, Musik zu schreiben. Andere Traditionen haben beides, Schreiben und
Spielen, auch unsere Tradition ist Schreiben und Spielen, aber für uns ist die
wichtigste Frage, wie man Musik schreibt, und was geschrieben werden muß. Und
ich stimme mit dieser Art von Tradition überein, und deswegen bin ich besonders
Ferneyhough sehr dankbar, weil er ein Künstler des Musik-Schreibens ist. Gerade
bei ihm diese Kunst des Musikschreibens zu studieren, war für mich
außerordentlich wichtig. (0.55)
MUSIK unterlegen: "Cloches en noir et blanc" - Glocken in Schwarz und Weiß
von 1991 - das zweite Stück: Glocken am Mittag
AUTOR: Die überschäumende Klanglust macht es manchmal schwer, zwischen
den Zitaten chinesischer - oder indischer oder arabischer Musik und der typischen
Instrumentalverwendung unterscheiden, zumal die Verwendung anderer
Tonsysteme,
mikrotonaler
und
multiphonischer
Effekte
bei
den
Holzblasinstrumenten mit fremden Kulturen ebensoviel wie mit Castagnolis
intensivem Interesse für die Natur der Instrumente zu tun hat, und hier schlägt
auch ein wenig der Physiker durch, der er, nach dem Wunsch seiner Eltern auch
hätte werden können...
"Cloches en noir et blanc" - Glocken in schwarz und weiß von 1991 darf gewiß
als ein impressionistisches Stück verstanden werden. Doch wird der Eindruck von
durch Glockenläuten hervorgerufenen Stimmungen nicht als nachahmende
Orchestermalerei umgesetzt, sondern durch Energie-Umwandlungen der
Instrumentalklänge.
CASTAGNOLI: (it.18 0.00-0.35) Die Luftsäule ist die Materie für mich,
gleichzeitig ist es eine Klarinette oder eine Baßklarinette, die ich sehr liebe, oder
ein Fagott. Die Luftsäule ist eine physikalische, natürliche Sache, aber ebenso eine
kulturelle, weil zum Beispiel ein Fagott diese Form hat und oben auf der
Schallöffnung ist ein Rand aus Elfenbein. Es ist etwas darin enthalten, das nicht
nur Physik ist, sondern kulturbedingt.
(19 0.10-) Ich begreife ein Instrument sowohl als ein physikalisches Hilfsmittel
als auch als eine Form, die mehr als ein normales physikalisches Objekt ist. Die
multiphonischen und mikrotonalen Effekte z.B. einer Baßklarinette sind einerseits
eine physikalische Erscheinung, andererseits aber ein Ausdruck ihrer Form, die
das Vermächtnis einer alten Tradition ist.
AUTOR: Multiphonische Klänge, die den Holzblasinstrumenten zueigen sind,
können auf verschiedene Art entstehen: Einerseits indem die Luftsäule durch nicht
vollständig geschlossene Grifflöcher oder Klappen irritiert wird und sie zwischen
verschiedenen Energiezuständen, das heißt Tönen, schwankt, andererseits durch
eine Verstärkung des Luftstroms; dies sind natürliche Multiphonics. Auf jeden Fall
-5-
aber handelt es sich um Veränderungen der Gewichtung in der Obertonreihe des
eigentlichen
Tons.
Auf
Streichinstrumenten
können
es
stattdessen
Flageolettglissandi oder starker Bogendruck sein, mit denen in den Klang des Tons
eingegriffen wird. Nicht jedoch verändert er den Ton im Sinne einer Ver- oder
Befremdung, wie es z.B. in mancher Musik von Helmut Lachenmann geschieht, die
ja eine Kritik an dem übergroßen Maß von Tradition impliziert. Castagnoli forscht
über den Rand einer bewußtlosen, geschichtlich verarmten Tradition hinaus.
Gleichzeitig verlangt er von den Musikern eine Konzentration, eine Hinwendung
auf das Inwändige ihrer Instrumente und verzichtet auf melodische Beweglichkeit
und virtuosen Glanz.
CASTAGNOLI: (it.22) Die Instrumente sind lebendige Dinge, und vielleicht das
letzte Totem, das wir in unserer Kultur haben. Wenn man sich vorstellt, was in
einem Instrument enthalten ist, es gibt da Materialien aus der Tierwelt, der Welt der
Pflanzen und der mineralischen Welt, alles zusammengemischt. Es gibt da das
Haar eines Pferdes, den Darm einer Katze, aber auch die Farbe, mit der das Holz
lackiert ist, stammt von Mineralien... Musikinstrumente sind viel mehr, als man
gemeinhin denkt, nicht nur Klangmaschinen, sondern viel mehr. Warum hat das
Fagott an der Schallöffnung einen Ring aus Elfenbein? Es ist überhaupt nicht
wichtig für die physikalischen Eigenschaften des Instruments. Warum sind die
Tasten eines Saxophons mit Perlmutt belegt? Es ist das gleiche Material, aus dem
die Muscheln sind, die in Polynesien zum Musikmachen benutzt werden. Darüber
muß man nachdenken, und dann bekommt man ein anderes Gefühl dafür.
MUSIK hochfahren und zuendelaufen lassen
AUTOR: Zwei reife, frei sich aussingende Werke, in denen sich alle erwähnten
Traditionslinien treffen, und die ein Höchstmaß an Vorstellungskraft bezüglich
Wirkung und Ausführung zeigen, wurden im Jahr 2002 uraufgeführt: die
"Madrigale guerriero e amoroso" (Kriegerische und Liebreizende Madrigale) und
ein Konzert für Cello und Doppel-Orchester.
MUSIK unterlegen: Cellokonzert, 3. Satz adagio molto e mesto
AUTOR: Gerade die jüngere musikalische Tradition ist im Cellokonzert, einer in
bei Haydn und in der Romantik bei Schumann und Dvorak wurzelnden Form,
ausgespart. Hätte Rostropowitsch es bestellt, er hätte es vermutlich
zurückgewiesen. Ein Cellovirtuose möchte der Star des Abends sein und das ist
bei diesem Stück nicht möglich. Gleichwohl ist das Cello für Castagnoli von
größter, geradezu mythischer Bedeutung. Es sei, sagt er, der Archetyp des
Zentaurs, ein Zwitterwesen aus Mensch und Pferd von unvergleichlicher Energie.
Selbst den Bogen, der sowohl als Jagd- und Kriegswerkzeug als auch in der
bogenförmigen Lyra Hoheitszeichen Apolls sind, belegt Castagnoli mit mythischer
Bedeutung. Und einen Bogen beschreibt die Sonne auf ihrer Bahn über den Tag...
Mehrere Werke für Cello und Elektronik hatte er bereits geschrieben und
diesmal die Rolle des elektronischen Spiegels auf das Orchester übertragen, ein
Spiegel freilich mit starkem Eigenleben.
In einem Cellokonzert ist das Problem, die richtige Balance zu finden und so für
das Cello zu schreiben, daß es über dem Orchester liegt. Das Cello ist im
Orchester die Basis, aber nicht das Instrument, dem man als erstem die
Aufmerksamkeit schenkt. Deswegen entschloß Castagnoli sich dazu, das
Orchester im Raum in zwei Teilen sowie einer sehr entfernten Gruppe zu plazieren
und das Cello einzeln zu setzen. Die Radio-Aufnahme der Uraufführung rückt den
Solisten leider zu stark in den Vordergrund, im Konzertsaal selber aber war die
Balance dem Komponisten zufolge perfekt. Während Castagnoli sich in den
anderen Sätzen wiederum Ausflüge in den fernen Osten und auch,
überraschenderweise, nach Respighis Rom gestattet, ist der dritte Satz, molto
adagio e mesto eine zarte Harmonie-Erkundung zwischen dem Cello, das am
Schluß in die arabische Tonalität einmündet und dem nurmehr nachhallenden
-6-
Orchester.
Enrico Dindo, Cello, mit dem Orchester der Accademia di Santa Cecilia Rom
unter Stefan Anton Reck.
MUSIK: hochfahren
AUTOR: Immer wieder ist in dieser Sendung von Einflüssen und Traditionen die
Rede gewesen und nie hat der Komponist auf eine Methode hingewiesen, die er
erfunden habe und wenigstens für sich in Anspruch nähme. Und tatsächlich zeigt
er diesbezüglich keinerlei Ehrgeiz.
CASTAGNOLI: (24, 1.53) Ich möchte darauf mit einem Hinweis auf Scelsi
antworten. Scelsi hat nicht behauptet, ein Komponist zu sein. Er sagte das in
einem spirituellen und mystischen Sinn, dem ich für mich nicht zustimmen kann,
aber er sagte, ein Komponist müsse wie eine Radio-Sendeanlage sein, nichts
weiter. Ich glaube das auch, nicht in diesem religiösen Sinne, aber er meinte, ein
Komponist müsse sehr bescheiden sein. Und das ist grundsätzlich die richtige
Richtung.
AUTOR: Für das Melbourne-Festival, das im Jahr 2002 unter dem Titel "Die 6
Eremiten" stand, was sich auf 6 legendäre chinesische Dichter bezieht, sollte
Castagnoli
in
zwei
Sprachen
gleichzeitig
senden.
Neben
sechs
chinesischstämmigen Komponisten und Komponistinnen wie Hing-yan Chan oder
Liza Lim schrieb er als einziger Europäer ein Werk für die australische Song
Company und die Chinese Music Virtuosi: Die "Madrigale guerriero e amoroso" zu deutsch etwa Die kriegerischen und liebreizenden Madrigale. Hier konvergieren
die beiden alten Traditionen, auf die Castagnoli sich am stärksten bezieht, die
italienische und die chinesische, zwanglos zu der fröhlichen Utopie eines
produktiven Chaos der Kulturen.
CASTAGNOLI: (23, 0.24) Für mich war es sehr sehr wichtig, dieses Stück zu
schreiben. Es war eine Auftragsarbeit für dieses Projekt in Australien. Es sollte
meine Ansicht über chinesische Neue und traditionelle Musik darstellen. So, wie
ich es sehe. Es ist wohl auch ein australisches Stück. Australien ist ein seltsamer
Ort. Es hat sich in den letzten 10 Jahren ungeheuer gewandelt. Es ist jetzt viel
mediterraner und gleichzeitig viel asiatischer geworden, weniger englisch. Auch
was das Essen angeht! Man bekommt jetzt gutes Essen dort! Vor 10 Jahren war
es wie in England! Man konnte nichts essen! Das Leben dort hat einen
mediterranen Stil angenommen, schön, und es gibt viele chinesische Einflüsse. Es
gibt dort viele Hunderttausend Chinesen, die Kantonesisch sprechen, die südlichen
Dialekte. (1.30) Dieses Stück, die Madrigale, zeigt, wie man Neue Musik aus der
Perspektive der Tradition des Madrigals betrachten kann. Es enthält ein Zitat von
Monteverdi aus "Vago, vago, augelleto", aus dem 8.Madrigalbuch, nicht nur den
Text von Petrarca, sondern auch ein paar Takte Musik. Es ist eins der ersten
monodischen Madrigale Monteverdis, sein Neuer Stil, nur die Linie und der Baß.
Aber es werden dort ebenso die erstaunlichen traditionellen chinesischen
Musikinstrumente benutzt. Sechs Instrumente, und die sechs Stimmen des
Madrigalensembles. Die Technik der Flöte dixi und der Mundorgel Sheng mußte
ich erst kennenlernen. Ich benutzte ein ganz traditionelles Sheng, ein sehr
schwieriges Instrument, besonders, wenn man die ursprüngliche Form wählt, die
nicht chromatisch gestimmt ist, um die besonderen Klangeigenschaften zu nutzen.
AUTOR (oder in die Absage): Giulio Castagnoli: "Madrigale guerriero e
amoroso" mit der Song Company aus Sydney und den Chinese Virtuosi, Leitung
Roland Peelman.
MUSIK: "Madrigale guerriero e amoroso" möglichst komplett
ENDE
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