Denken ohne Geländer – Philosophische Jugendbildung im

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Denken ohne Geländer – Philosophische
Jugendbildung im Anschluss an Hannah
Arendt
Melanie Findeisen
Einleitung
I. Philosophische Jugendbildung als Orientierungshilfe
Begriffliches: Von der philosophischen Jugendbildung und dem Philosophieren mit
Jugendlichen
Spricht man von Philosophischer Jugendbildung im außerschulischen Kontext, steht dem Gegenüber nur all zu oft Skepsis ins Gesicht geschrieben. Philosophie? Und das auch noch mit
Jugendlichen? Ist das nicht viel zu schwer und noch dazu recht nutzlos? Was sollen Jugendliche mit verstaubten Theorien aus antiken Zeiten – was soll das bringen? Sicherlich haben wir
es hier mit berechtigten Fragestellungen zu tun. Um diese Vorurteile auszuräumen, soll daher
zu Beginn geklärt werden, welches Verständnis von philosophischer Jugendbildung diesem
Artikel zu Grunde liegt.
Philosophie basierte schon immer auf einer Kultur des Fragens, des gemeinsamen
Denkens, des Staunens über die Welt und nicht ausschließlich auf einer Bildungs- und Wissenskultur.1 Und wer kann besser staunen über unsere Welt, wenn nicht Kinder und Jugendliche, die noch nicht gänzlich von den strukturellen Begebenheiten ihrer Umwelt vereinnahmt
sind?
Nicht also das Bestreben nach philosophischer Theorievermittlung, sondern die Tätigkeit des Philosophierens selbst soll diesem Artikel als Grundverständnis philosophischer
Jugendbildung dienen.
Diese Auffassung orientiert sich im Wesentlichen an einer Unterscheidung zwischen
natürlicher Philosophie und Philosophie als akademische Disziplin.2 Eine natürliche Philosophie hat nichts mit philosophischer Propädeutik gemein, sondern geht mit der Suche nach
Orientierung als existentielles Verlangen einher. Diese Art der Philosophie ist nicht abstrakt
oder lebensfern, da sie sich an lebensweltlichen Grundfragen orientiert und von diesem
Standpunkt aus philosophische Theorien zu Rate zieht. Es handelt sich dabei um eine Art
philosophische Praxis. Der Philosophierende wird durch die Tätigkeit des Philosophierens
denk- und urteilsfähig.
1
Vgl. Ebers, Thomas (u.a.): Praktisches Philosophieren mit Kindern. Konzepte – Methoden – Beispiele.
Berlin 2006, S.43..
2
Diese Unterscheidung dient keiner hierarchischen Bewertung. Beide Modelle stehen gleichberechtigt
nebeneinander. Sie dient lediglich dazu, zu verdeutlichen, dass das Philosophieren dem Menschen als
eine Art natürliche Grundbedingung gegeben ist, im Beobachten, im Fragen und Widersprechen. Eine
natürliche Philosophie kehrt zurück zu den Anfängen der sokratischen Orientierungspraxis. Vgl. hierzu
u.a.: Martens, Ekkehard: Orientierung durch den Philosophieunterricht – Philosophieren als elementare Kulturtechnik humaner Lebensgestaltung. In: Rolf, Bernd u.a. (Hg.): Orientierung durch Philosophieren. Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Fachverbandes Philosophie e.V. Berlin 2007.
Philosophische Jugendbildung oder, deutlicher, das Philosophieren mit Jugendlichen,
das sich an diesen Leitlinien orientiert, folgt dem aufklärerischen Ansatz nach Martens, auf
den später noch genauer eingegangen wird.3 Der außerschulische Rahmen ermöglicht es, die
Tätigkeit des Philosophierens frei von schulischen curicculae zu gestalten. Auf diese Weise
wird die Gefahr der Verzweckung eingeschränkt. Die Idee einer außerschulischen philosophischen Jugendbildung besteht darin, den Jugendlichen einen neutralen Ort zu stellen, an dem
sie miteinander in Dialog treten können, ohne einem notenbedingten Bewertungsdruck von
richtig und falsch zu unterliegen. Hannah Arendts Aussagen über das Denken ohne Geländer
stehen dieser Sichtweise erstaunlich nahe. Aus diesem Grund lohnt es sich, die philosophische Jugendbildung einmal aus dem Blickwinkel der Arendtschen Denkweise zu betrachten.
Doch bevor dies geschehen soll, bleibt die Frage bestehen: Weshalb nun eigentlich
philosophische Jugendbildung? Welche Rahmenbedingungen jugendlicher Lebenswelt machen es notwendig, nach einer Disziplin zu fragen, die ihrerseits so viele Fragen aufzuwerfen
scheint? Und was kann gerade das Fragen für Antworten bieten?
Jugend im Zeitalter von Pluralisierung und Individualisierung
In Zeiten von Globalisierung, Individualisierung und Beschleunigung sind Jugendliche heute
anderen Lebensumständen ausgesetzt, als es noch vor wenigen Jahren der Fall war. Die Pluralität an Perspektiven, Lebensentwürfen, Rollenbildern und kulturellen Zugängen bietet
Chancen, fordert jedoch auch einen gesteigerten Orientierungsbedarf.
Daraus ergeben sich neue Fragestellungen. Wie gehen Jugendliche mit der ihnen zugestandenen Selbstständigkeit um? Wie orientieren sie sich in einer Vielfalt an Freizeitangeboten, Deutungsmustern, gesellschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen?4
Kulturelle und individuelle Interessen, Prägungen und Erwartungen dienen uns als
selektive Hilfsmittel, um das für uns Relevante von dem Irrelevanten zu unterscheiden. Sie
kennzeichnen unseren Standpunkt, von dem aus wir unsere Umwelt beurteilen und begreifen.
Eine Pluralität an Perspektiven, wie sie Globalisierungs- und Individualisierungsprozesse mit sich bringen, bereichert unsere Wahrnehmung, erschwert aber auch die eigene
Standortbestimmung.5 Das Fehlen eines mentalen Ausgangspunktes, von dem her wir wahrnehmen und erkennen, uns abgrenzen und zueinander in Beziehung treten, kann zu Orientierungslosigkeit führen. Orientierungslosigkeit wiederum birgt die Gefahr der Abschottung gegenüber Fremdem und macht empfänglich für extremistische Ideologien und ihre Leitbilder.
3
Im Wesentlichen wird hinsichtlich der Möglichkeit des Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen
zwischen drei Modellen unterschieden, welche untereinander Schnittmengen aufweisen können. Neben Martens aufklärerisch – rationalistischem Ansatz gelangten der vermittlungstheoretische Ansatz
nach Lippman und der haltungstheoretische Ansatz nach Matthwes zu großer Bekanntheit. Vgl. hierzu
u.a.: Niewiem, Michael: Über die Möglichkeit des Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen. Auffassungen aus zweieinhalb Jahrtausenden. Münster 2001, S. 93-128. ; Ebers (2006), S. 48-101.
4
Vgl. Göppel, Rolf: Aufwachsen heute: Veränderungen der Kindheit – Probleme des Jugendalters.
Stuttgart: Kohlhammer 2007.
Zimmermann, Peter: Grundwissen Sozialisation. Einführung zur Sozialisation im Kinder- und
Jugendalter. Wiesbaden 2006, 3te erweiterte Auflage.
5
An dieser Stelle ist zu vermerken, dass der hier vorliegende Artikel Pluralität als Chance begreift und
nicht als Negativum. Lediglich aus dem Umgang mit Pluralität können Probleme entstehen, auf die es
hinzuweisen gilt.
Diese Rahmenbedingungen jugendlicher Lebenswelt fordern uns dazu auf, nach
Möglichkeiten zu fragen, wie Jugendliche bei ihrer Suche nach Identität und Orientierung
unterstützt werden können. Philosophische Jugendbildung im außerschulischen Bereich
kann hierzu einen immensen Beitrag leisten. Sie ermöglicht es, im gemeinsamen Fragen und
Denken die eigene Kultur zu begreifen und einen Standort in der Welt zu finden, von dem aus
der Jugendliche die sich ihm bietenden Perspektiven als Bereicherung ansehen kann. Auf diese Weise bleibt Fremdes nicht mehr fremd, sondern findet sich vielleicht bereits als Altbekanntes wieder, nur in anderer Form. Die Tätigkeit des Philosophierens mit Jugendlichen
ermöglicht es, ihre Ich-Perspektive, ihren Standort für Beurteilungen zu diagnostizieren und
weiter zu gehen. „Um (...) über die Beschränkte Ich-Perspektive hinauszuwachsen (...) und zu
umfassender Weltsicht zu gelangen, sind Perspektivwechsel nötig (...).“6
Ein Wechsel an Perspektiven fordert von Jugendlichen ein hohes Maß an Denk- und
Urteilsfähigkeit. Die Philosophie bietet Möglichkeiten, Jugendliche an diesen Prozess heran
zu führen und über das Denken und Urteilen Voraussetzungen für ein verantwortungsbewusstes Handeln zu schaffen.
Philosophische Jugendbildung als Orientierungshilfe
Martens beschreibt Philosophie als elementare Kulturtechnik des Menschseins. Jugendliche,
die mit dieser natürlichen Philosophie in Berührung kommen, sollen lernen, sich über das Denken zu orientieren und so zu theoretischer Klarheit und Ordnung ihres Urteilsvermögens zu
gelangen. Ihnen soll auf diese Weise eine Möglichkeit aufgezeigt werden, über das Philosophieren handlungs- und lebenspraktische Maßstäbe zu entwickeln.7
Philosophische Jugendbildung in diesem Sinne dient als Orientierungshilfe für Jugendliche.
Sie soll dazu befähigen, in einer Welt, in der es nicht mehr nur die eine, sondern eine Vielzahl
an Perspektiven und Moralvorstellungen gibt, selbstständig und verantwortungsbewusst
urteilen zu können und die Fähigkeit vermitteln, sich ein eigenes „Geländer des Denkens“ zu
bauen.
Für eine in diesem Sinn verstandene philosophische Jugendbildung lohnt es sich,
Hannah Arendts Schriften einmal genauer zu studieren.
Arendt lebte und dachte in einem zeitlichen Kontext, in dem traditionelle Denkmuster keinen Halt für ein gesichertes Urteil boten. Die Erfahrung von nationalsozialistischer
Machtergreifung und dem Scheitern traditioneller Urteilsmaßstäbe, insbesondere im politischen Kontext, ließ sie das menschliche Urteilsvermögen neu überdenken. Auch wenn sie
selbst nie über eine philosophische Jugendbildung schrieb, sondern ihre Überlegungen den
Sinn und Inhalt von Politik und politischen Machtverhältnissen widmete, lässt sich doch aus
ihren Ansichten viel für die philosophische Jugendbildung als Orientierungshilfe entnehmen.
6
Münnix, Gabriele: Multiperspektivität als Prinzip des praktischen Philosophierens – Beispiel Wirtschaftsethik. In: Rolf, Bernd u.a. (Hg.): Orientierung durch Philosophieren. Festschrift zum 50jährigen
Bestehen des Fachverbandes Philosophie e.V. Berlin 2007, S. 94..
7
Martens vertritt im Wesentlichen einen aufklärerischen Philosophieansatz. Vgl. u.a. Martens, Ekkehard: Orientierung durch den Philosophieunterricht – Philosophieren als elementare Kulturtechnik
humaner Lebensgestaltung. In: Rolf, Bernd u.a. (Hg.): Orientierung durch Philosophieren. Festschrift
zum 50jährigen Bestehen des Fachverbandes Philosophie e.V. Berlin 2007, S. 6-10.
Martens, E.: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Hannover 2009. 4te Auflage.
Arendt entwickelte eine Idee des „Denkens ohne Geländer“. Es bezeichnet ein Denken, das in einer unbekannten oder scheinbar unüberschaubaren Lage unter der Bedingung
der Maßstabslosigkeit oder im heutigen zeitlichen Kontext einer Pluralität an Maßstäben
gezwungen ist, sich ein Urteil ohne ein leitendes Geländer zu bilden. Dies geschieht, wenn
keine gesicherte Orientierung an Traditionen und Wertmaßstäben möglich ist.
Im Kontext von Individualisierung und Pluralität der Perspektiven kann die Fähigkeit
zum Denken ohne Geländer Orientierung geben.
Inwieweit eine philosophische Jugendbildung als Orientierungshilfe tatsächlich von
den Überlegungen Hannah Arendts profitieren kann soll im Weiteren genauer dargestellt
werden. Zuvor gilt es jedoch, die Eckpfeiler des Arendt’schen „Denkens ohne Geländer“
präziser zu untersuchen. Ihre Überlegungen sind sehr vielschichtig und stehen in einem
komplexen Bezugsgewebe, so dass sie an dieser Stelle unmöglich in aller Vollständigkeit
dargestellt werden können. Aus diesem Grund ist hier auf eine extreme Verkürzung ihrer
Theorie hinzuweisen.
II. Grundlagen des Arendtschen Denkens ohne Geländer
Pluralität und Natalität als ontologische Grunddaten des Arendtschen Denkens
Pluralität und Natalität bilden die ontologischen Grunddaten des Arendtschen Denkens.8
Hinsichtlich des Pluralitätsbegriffes unterscheidet sie zwischen der Pluralität im eigentlichen Sinn und der Vielheit der Menschen. Vielheit erklärt sich aus der Vervielfältigung
des Identischen oder des immer Gleichen. Vielheit beschreibt lediglich die Mehrzahl einer
Gattung, in welcher der Einzelne jederzeit austauschbar ist. Pluralität jedoch besteht aus
Differenz – ein Vieles von Verschiedenem.9 Sie bezeichnet einen Zustand, in dem „...zwar alle
dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art, dass keiner dem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.“10
Die Pluralität, von der Arendt hier spricht, muss nicht erst begründet werden. Sie ist
dem Menschen von Geburt an eigen.11 Und erst aus dieser Pluralität der Perspektiven erklärt
sich die Welt.12 „Worum es hier vielmehr geht, war die Erfahrung, dass niemand all das, was
objektiv ist, von sich her und ohne seinesgleichen adäquat in seiner vollen Wirklichkeit erfassen kann, weil es sich ihm immer nur in einer Perspektive zeigt und offenbart, die seinem
Standort in der Welt gemäß und inhärent ist. Will er die Welt, so wie sie wirklich ist, sehen
und erfahren, so kann er es nur, indem er sie als etwas versteht, was vielen gemeinsam ist,
zwischen ihnen liegt, sie trennt und verbindet, sich jedem anders zeigt und daher nur in dem
Maß verständlich wird, als Viele miteinander über sie reden und ihre Meinungen, ihre Perspektiven miteinander und gegeneinander austauschen.“13
Gleichheit und Verschiedenheit sind konstitutiv für die Pluralität nach Arendt. Das
heißt, ohne diese Merkmale käme Pluralität nicht aus. Ohne die Gleichheit der Menschen, begründet in ihrer Natalität, wäre keinerlei Verständigung und Austausch unter den Menschen
möglich. Dieser Austausch sei nach Arendt aber nötig, um die Welt überhaupt erst entstehen
8
Vgl. LG, S. 29., Zu den Abkürzungen der Buchtitel Hannah Arendt s. Anhang.
Vgl. VA, S. 9, 17, 271.
10
VA, S. 17.
11
Vgl. VA, S. 17; LG, S. 55.
12
Vgl. Barley (1990), S. 97; Seitz (2002), S. 47.
13
WP, S. 52.
9
zu lassen und verstehen zu können. Ohne die Verschiedenheit andererseits bedürfe es weder
der Sprache noch der Handlung zur Verständigung und zum Austausch, denn bei identischen
Individuen mit gleichen Gedanken würde sich ein Austausch selbst ad absurdum führen. So
verbindet sich für Arendt in der Pluralität eine gewisse Einheit der Gegensätze.14
Pluralität ihrerseits gründet sich in der bereits erwähnten Natalität. Sie ist dem Menschen mit der Geburt eigen. In der Natalität drückt sich die menschliche Fähigkeit aus, von
Geburt an einen neuen Anfang setzen zu können. Jeder Mensch für sich ist bereits ein neuer
Anfang. Mit dieser Natalität oder dem „Anfangen-können“ wird dem Menschen jedoch zeitgleich die Chance zur Differenzierung offenbart, seine eigene Handlungskette beginnen zu
können; im Bruch mit Traditionen einen neuen Impuls zu setzen.15
Philosophische Jugendbildung kann den Arendtschen Pluralitätsbegriff nutzen und
der Pluralität an Perspektiven im Jugendalter einen Raum zur Begegnung bieten, in dem
Menschen unterschiedlicher Herkunft und Meinungen eine Chance finden, ihre Standpunkte
zu erweitern und gemeinsam neue Sichtweisen zu erarbeiten. Philosophische Jugendbildung
unter dem Schirm der Pluralität kann beides bieten: Gemeinsamkeiten offen legen und Möglichkeiten zur Differenzierung schaffen. Pluralität bildet nach Hannah Arendt die wesentliche
Quelle der Urteilsbildung und die Grundstruktur des menschlichen Handelns.16
Vom Gemeinsinn, der Basis des Urteilsvermögens
,,Das Einzige, woran wir die Realität der Welt erkennen und messen können, ist, dass sie uns
allen gemeinsam ist, und der Gemeinsinn steht hoch an Rang und Ansehen in der Hierarchie
politischer Qualitäten, weil er derjenige Sinn ist, der unsere anderen fünf Sinne und die radikale Subjektivität des sinnlich Gegebenen in ein objektiv Gemeinsames und darum eben
Wirkliches fügt. Im Vermögen des Gemeinsinns, des sogenannten gesunden Menschenverstandes (...) entscheiden wir jeweils darüber, ob den sinnlichen Wahrnehmungen Realität zukommt oder nicht; und die Tatsache, dass Sinneswahrnehmungen Wirklichkeit überhaupt
vermitteln (...) ist ausschließlich ihm geschuldet."17
Dem Gemeinsinn kommt in Arendts Denken ein basaler Stellenwert zu. Sie hält ihn
nicht erst im moralischen Handeln für einen hohen Zweck, sondern viel fundamentaler bereits im Erkennen einer gemeinsamen Welt, einer „objektiven Realität“.18 Die Krise der Moderne besteht für Arendt im Schwinden eben dieses Gemeinsinns19, das auf eine gesteigerte
Weltentfremdung zurückzuführen ist. Dies manifestiert sich im Absterben des Erscheinungsraumes, der wiederum eine notwendige Bedingung für die Existenz des Gemeinsinns bildet.
Ein Erscheinungsraum etabliert sich dann, wenn Menschen miteinander sprechen und
handeln, quasi ausdrücklich voreinander in Erscheinung treten20. Dieses räumliche Dazwischen stellt zeitgleich auch immer ein Bezugsgewebe dar21.
14
Vgl. VA, S. 164f., 213.
Vgl. ebd., S. 213; Seitz (2002), S. 48ff, 76.
16
Vgl. u.a. VA, S. 16; Barley (1990), S. 130; Schönherr-Mann (2006), S. 124, 178.
17
VA, S. 265.
18
Vgl. Strube, Sonja (2005): Persönlichkeitsbildung im Geiste Hannah Arendts. Hannah Arendts Begriff
des Gemeinsinns und die politische Dimension persönlichkeitsorientierter Erwachsenenbildung. In: EB
51, Heft 3, S. 131. Objektive Realität meint hier nicht konsensuale Vereinheitlichung sondern ein Maß
an Wirklichkeit durch die Vielzahl an Blickwinkeln.
19
Vgl. Arendt, Hannah (1994): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken
I. Hg. von Ursula Ludz. München, S. 260.
20
Vgl. VA, S. 265.
21
Vgl. ebd., S. 250.
15
Die Unüberschaubarkeit globaler Strukturen birgt jedoch die Gefahr, dass sich der
einzelne Mensch zurückzieht in die Sphäre der Innerlichkeit, weil er glaubt, im öffentlichen
Raum keinen konstruktiven Beitrag leisten zu können. ,,Ein merkliches Abnehmen des gesunden Menschenverstandes (...) [deutet] darauf hin, dass die Gemeinsamkeit der Welt innerhalb
einer bestimmten Menschengruppe abbröckelt, dass der Wirklichkeitssinn gestört ist, mit
dem wir uns in der Welt orientieren, und daher die Menschen sich der Welt entfremden und
begonnen haben, sich auf ihre Subjektivität zurück zu ziehen.“22
Dieser Weg, die Tätigkeit des Sprechens und Handelns von Mensch zu Mensch, ist es,
der einen Erscheinungsraum etabliert, aus dem ein Gemeinsinn, ein gemeinsamer Sinn für
die Welt erwachsen kann. Er bildet Arendt zufolge selbst den politischen Sinn par excellence.23 Erst im Austausch entstehen die Spezifika des menschlichen Bezugsgewebes, wie
Moral oder Deutungsmuster der vermeintlichen Realität. Dort, wo der Gemeinsinn dem Austausch dient, nicht dem Zweck des Lebenserhaltes, da kann er zum Politikum werden.
„Gerade in seiner Unverzwecktheit schützt er die Pluralität und bewahrt vor der Anfälligkeit
für extremistische Ideologien."24 Er gewinnt in einer zunehmend durch Isolation, Resignation
und Vereinsamung gekennzeichneten Welt an immenser Bedeutung, indem er die Möglichkeit gibt, die Bürger wieder zurückzuführen zu einem gemeinsamen Verständnis, einer Verantwortung für die Welt und die Politik, die sich letztendlich nicht auf eine fremde Sphäre,
sondern auf ihre eigenen Bezugsgewebe beziehen sollte.25
Im gegenseitigen konstruktiven Austausch pluraler Meinungen wird die Urteilsfähigkeit des Einzelnen auf die Probe gestellt, erweitert und geschult. Der Gemeinsinn baut quasi
eine Brücke, zwischen Individuellem und Politischem. Denn Ausgangspunkt eines Gespräches
sind immer die eigenen Bezugsgewebe, die Bestimmung des eigenen Standortes, den es im
Austausch mit anderen zu überdenken und zu hinterfragen gilt.26
Ein Erarbeiten eines gemeinsamen Sinns für Politik und Weltbezug entsteht im Dazwischen und integriert einen Pluralismus von Deutungssystemen, der schließlich dazu führt,
zu einem erweiterten Urteilsvermögen zu gelangen, für das der Gemeinsinn eine zentrale
Bedeutung hat. Durch den kommunikativen Austausch der Denkungsarten vollzieht sich eine
Progression des eigenen Urteilsvermögens, da der Einzelne gezwungen ist, sein Urteil zu
überdenken, seine Vorgehensweisen zu reflektieren und in einen Konsens mit anderen zu
treten.
Philosophische Jugendbildung, die sich der Förderung eines solchen „Gemeinsinns“
widmet, befähigt dazu, Pluralität auf eine Weise zu nutzen, durch die aus Einfalt Vielfalt wird.
In der Ermöglichung zum positiven und konstruktiven Umgang mit einer Pluralität der Perspektiven wird Jugendlichen eine Methode aufgezeigt, Vielfalt als Chance zu begreifen, statt
der Orientierungslosigkeit und damit der Gefahr der Anziehungskraft von Uniformität, ideologischer Utopie und Radikalität ausgesetzt zu sein. Denken ohne ein festes Geländer ermöglicht es Jugendlichen, sich in einer Welt des steten Wandels mittels ihrer eigenen Urteilsfähigkeit, basierend auf dem „Gemeinsinn“, zurechtzufinden.
22
WP, S. 130.
Vgl. VA, S. 265
24
ZVZ, S. 121.
25
Vgl. Strube (2005), S. 131.
26
Vgl. Strube (2005), S. 132.
23
Vom Urteilsvermögen unter Einbeziehung der erweiterten Denkungsart
,,Im Kulturellen und im Politischen, im gesamten Bereich des öffentlichen Lebens, geht es
weder um Erkenntnis noch um Wahrheit, sondern um Urteilen und Entscheiden (...)."27
Arendts Interpretation der Urteilskraft steht in enger Verwandtschaft zu Kants „Kritik
der Urteilskraft“.28 So übernahm sie auch Kants Unterscheidung zwischen dem subsumierenden Urteil, also der bestimmenden Urteilskraft und dem reflektierenden Urteil.29 In der inhaltlichen Definition der Urteilskraft bezieht sich Hannah Arendt vornehmlich auf die ästhetische Urteilskraft nach Kant mit einem gekoppelten Bezug zum sensus communis30 und der
hieraus resultierenden erweiterten Denkungsart.31
Die authentische Beurteilung der Welt bedarf einer reflektierenden Urteilskraft, die sich kritisch mit den verschiedenen Perspektiven eines Phänomens auseinandersetzt. Das subsumierende Urteil ordnet, wie der Begriff bereits erahnen lässt, die Schlussfolgerungen des Einzelnen der Berücksichtigung des Universalen unter.32 Vom Allgemeinen auf das Einzelne schließend misst der Mensch den moralischen Wert einer bestimmten Handlung an den allgemeinen Maßstäben, die ihm die Umwelt als gegeben vorstellt. Das reflektierende Urteil hingegen, das den Arendtschen Urteilsbegriff beschreibt, ist als maßstabslos zu bezeichnen, artikuliert sich also zumeist dann, wenn der Mensch mit einer ihm unbekannten Lage oder Situation konfrontiert wird und er aufgrund des Fehlens von Maßstäben gezwungen ist, sich selbst
„ohne leitendes Geländer“ ein Urteil zu bilden.33 Von der unmittelbaren Einzigartigkeit der
Situation wird so auf ein Allgemeines, auf einen möglichen Maßstab geschlossen, an dem
sich das Individuum orientiert.
Diese Form der Urteilsbildung, nach Arendt das „Denken ohne Geländer“, gewinnt in
ihrer politischen Theorie insofern an immenser Bedeutung, als im Bruch mit der Geschichte
durch den Totalitarismus des Nationalsozialismus keine gesicherte Orientierung an Traditionen und Wertmaßstäben mehr möglich war. Die Vergangenheit hat gezeigt, wie notwendig
die Reflexion jedes einzelnen Bürgers ist, um einer Verblendung der gesamten Gesellschaft
vorzubeugen. Der Verlust der Maßstäbe ist ein Kennzeichen der modernen Welt, den es
durch ein reflexives Urteil auszugleichen gilt.34 Dieses reflexive Urteil ist weder parteiisch
noch subjektiv, sondern versucht unter Berücksichtigung möglichst vieler Perspektiven einen
27
Barley (1990), S. 159.
In einem Brief an Jaspers verwies sie auf ihre Lektüre der Kritik der Urteilskraft, in der sie die wahre
politische Philosophie Kants verborgen sah. (Vgl. Arendt, Hannah (1993 3): Briefwechsel Jaspers 19261969. Hg. von Lotte Köhler und Hans Saner. München. 1985, Nr. 209, S.355). Diese Arendtsche Kantinterpretation ist allerdings mit einem kritischen Hinweis zu versehen. Kant bezog sich in seiner Kritik
der reinen Urteilskraft nicht auf das politisch-moralische Urteil, auf das Arendt später seine Thesen
überträgt, sondern auf das ästhetische oder auch Geschmacksurteil. Zwischen beiden Urteilsarten
bestand nach Kant ein Unterschied und es bleibt zu bezweifeln, ob er Arendts Interpretation seiner
Ausführungen zur ästhetischen Urteilskraft geteilt hätte. Zudem ignorierte Arendt den zweiten Teil
seiner Kritik, die teleologische Urteilskraft gänzlich. (Vgl. Vollrath, Ernst (1993): Hannah Arendts Kritik
der politischen Urteilskraft. In: Kemper, Peter (Hg.): Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah
Arendt. Frankfurt a. M., S. 42.)
29
Vgl. DG, S. 55f.; WP, S. 19; Vollrath (1993), S. 43.
30
Gemeinsinn
31
Vgl. Vollrath (1993), S. 41.
Beide Begriffe, die des Gemeinsinns und der erweiterten Denkungsart, werden im Verlauf des Textes
noch ausführlicher dargestellt.
32
Vgl. ZVZ, S. 20.
33
Vgl. ebd., S. 21.
34
Vgl. ebd,, S. 21/22.
28
gesicherten Standpunkt zu beziehen.35 ,,lm so reflektierenden Urteil versetze ich mich nicht
einfach in die Meinung36 der anderen, sondern in den Standort, von dem her sie ihre Meinung
gebildet haben, und reflektiere von diesem anderen Standort über den Standort meiner Meinung.“37 Dies gilt für die Beurteilung der Geschichte ebenso wie für die Politik und lässt sich
auf alle grundsätzlichen Lebensfragen anwenden. Die Auskunft über Geschichte und über
vergangene politische Ereignisse folgt auf diese Weise keinem konstanten objektiven Charakter, sondern versucht unter Bezugnahme auf menschliche Subjektivität ein Urteil zu fällen, das jedoch letztendlich nie als endgültiges Urteil angesehen werden kann. Dieses Urteilsvermögen impliziert, sich mit der Geschichte zu versöhnen, nicht sie zu entschuldigen, sondern sie in ihrer Wirklichkeit zu begreifen.38 Auf diese Weise wird der Urteilende zum Zuschauer der Handelnden. Der Zuschauer ist es auch, der nach Arendt dem Sinn einer Handlung Dauer verleiht, deren Prinzipien darstellt und sie in die großen Taten der Geschichte
einreiht.39
Urteile ändern sich in ihrem historischen Bezug mit der Welt permanent, denn ein
Wandel der Umwelt bringt zumeist einen Wandel der Urteile mit sich. Wandelt sich allerdings
die gesellschaftliche Welt, jedoch nicht das Urteil, so wird aus dem ehemals gültigen Urteilsmaßstab ein Vorurteil.40 Die reflexive Urteilsfähigkeit macht sich zur Aufgabe, nicht nur die
individuelle bewusste Urteilsfähigkeit zu fördern, sondern auch Urteile von Vorurteilen zu
trennen und Vorurteile auf ihre Wurzeln zurückzuführen, um sie revidieren zu können.41 Es
geht in Arendts Kritik der Urteilsfähigkeit nicht um ein Ausmerzen von Vorurteilen, sondern
um die reflexive Fähigkeit, seine Urteilsfähigkeit zu hinterfragen und seinen Standpunkt mit
anderen zu überarbeiten. Diese Urteilsfähigkeit folgt keinem logischen Prinzip, sondern dem
ureigenen Menschenverstand, der sich auf seine Umwelt bezieht, insbesondere auf den Austausch von Mensch zu Mensch.42 An dieser Stelle schaltet sich wieder der Gemeinsinn ein,
denn der Einzelne urteilt immer als Mitglied einer Gemeinschaft.43 Der Menschenverstand ist
in gewissem Sinne jener Gemeinsinn, ,,(...) durch den wir in eine uns allen gemeinsame Welt
eingepasst sind und mit dessen Hilfe wir uns in ihr bewegen."44
Der gemeinsame Sinn für die Welt entfaltet sich in einem Wechselspiel von Dialog
und Denken. Das Denken bezieht sich hierbei auf eine erweiterte Denkungsart, innerhalb
derer sich das Individuum von einer interessengeleiteten Reflexion zurückzieht.45 Diese Art
35
Vgl. Vorwinckel (2006), S. 99.
Meinungen sind nicht gleichzusetzen mit Wahrheiten. Erst aus der Vielzahl von Meinungen, die immer wieder der Tatsachenwahrheiten bedürfen, um überhaupt eine gemeinsame Referenz zu haben,
ergeben sich wirkliche Urteile. Doch auch diese Urteile erheben weder einen absoluten Wahrheitsanspruch noch Allgemeingültigkeit nach Arendt. (Vgl. üWP, S. 16f., 29ff.; Schönherr-Mann, S. 175.)
37
Vollrath 1993, S. 48.
38
Vgl. Heuer, Wolfgang (1992): Citizen. Persönliche Integrität und politisches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus Hannah Arendts. Berlin, S. 184.
39
Vgl. DG, S. 50; LG, S. 29f.; Seitz (2002), 94ff.
40
Vgl. WP, S. 17ff.
41
Vgl. Heuer (1992), S. 297.
42
ZVZ, S. 121.
43
Vgl. Barley (1990), S. 161.
44
ZVZ, S. 260.
45
Diese Art des Denkens kann zwar keine allgemeingültigen Kriterien aufweisen, ist jedoch dazu angehalten, unparteiisch, intersubjektiv, umfassend und interessenlos zu sein. In diversen Bildungsdebatten
wird schon lange über die Möglichkeit einer neutralen Urteilskraft diskutiert. Es bleibt freilich zweifelhaft, ob und wie der Urteilende wirklich zu einem solchen „neutralen“, intersubjektiven Urteil gelangen
kann. (Siehe hierzu u.a.: Meilhammer, Elisabeth (2008): Neutralität als bildungspolitisches Problem.
Von der Meinungsabstinenz zur Meinungsgerechtigkeit. München u.a.)
36
des Denkens verlangt vom Individuum, an der Stelle jedes anderen zu denken. Hierzu hat er
sich aus der Welt zurückzuziehen.46 Die eigentliche Qualität des Urteilsvermögens richtet sich
nach dem Grad der erweiterten Denkungsart47: „Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine
bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die
Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so mit repräsentiere. Dieser Vergegenwärtigungsprozess akzeptiert nicht blind bestimmte, mir bekannte, von anderen vertretene Ansichten. Es handelt sich weder um Einfühlung, noch darum, mit Hilfe der Vorstellungskraft irgendeine Majorität zu ermitteln und sich ihr dann anzuschließen. Vielmehr gilt es
mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in
der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir nun von diesem Standort aus eine
eigene Meinung zu bilden. Je mehr solcher Standorte ich in meinen eigenen Überlegungen in
Rechnung stellen kann, und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht (...) und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein."48 Die Pluralität der Perspektive bildet bei dieser Art der Urteilsbildung immer die Quelle allen Urteilens. Ohne viele verschiedene Perspektiven wäre eine
erweiterte Denkungsart nutzlos und das reflektierende Urteil nicht repräsentativ.49
Der Eichmannprozess dient Hannah Arendt als Paradebeispiel für die fehlende Urteilsfähigkeit eines Menschen, der sein Handeln und Denken mit Hilfe der Befehle, die ihm
von außen erteilt wurden, legitimierte.50 ,,Erst wenn das ‚ich darf nicht‘ zu einem frei gewählten ‚ich kann nicht‘ wird, ist die Gedankenlosigkeit dem bewussten Urteilen gewichen.“51
Dieses bewusste Urteilen gilt als Voraussetzung des Verstehens. Und eben dieses Verstehen
ist es, das im Menschen auch ein Bewusstsein für Verantwortlichkeit gegenüber einer
gemeinsamen Welt erzeugt. Aber der bloße Prozess der Vermittlung von Fakten, Zahlen und
Wissen schafft im Menschen kein verinnerlichtes Verständnis, keinen direkten Drang zur
Eigeninitiative. Verstehen, als eine ,,(...) nicht endende Tätigkeit, durch die wir die Wirklichkeit begreifen und uns mit ihr versöhnen, das heißt durch die wir versuchen, in der Welt zu
Hause zu sein“52, ermöglicht einen Einblick in die Besonderheit einer durch Pluralität gekennzeichneten Welt, die nur durch den Austausch von Mensch zu Mensch im gegenseitigen
Interesse für eine gemeinsame Welt erhalten werden kann.
III. Denken ohne Geländer – Philosophische Jugendbildung im Anschluss an Hannah
Arendt
Ausgangspunkte für Arendts Forderung nach der Fähigkeit zu maßstabslosem Denken waren, erinnern wir uns, sowohl das Aufkommen moderner Philosophie, als auch die Übermacht
der modernen Wissenschaft und letztendlich die destruktive Gewalt des Totalitarismus, die
dazu führten, dass der Mensch kein sicheres Bezugsgewebe mehr vorfand, keine vertrauenswürdigen Maßstäbe mehr hatte, auf die er sich beziehen konnte.53
46
Vgl. U, S. 92.
Vgl. ZVZ, S. 342.
48
Arendt, Hannah/ Nanz Patrizia (2006): Über Wahrheit und Politik. Berlin, S. 28.
49
Vgl. WP 51ff.; üWP, S. 18; Barley (1990), S. 130.
50
Vgl. Arendt, Hannah (20105): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen.
München.
51
Heuer (1992), S. 351.
52
ZVZ, S. 114.
53
Vgl. Cendon, E. (2000): Denken ohne Geländer. Politische Bildung nach Hannah Arendt. In: Lenz,
Werner (Hg.): Brücken ins Morgen. Politische Bildung im Übergang. Innsbruck u.a., S. 19f.
47
Jugendliche der Gegenwart haben sich, wie bereits dargelegt wurde, noch weiteren
Herausforderungen zu stellen. Das Verschmelzen der Kulturen führt zum Verwischen einer
gemeinsamen Tradition, eines Orientierungsmaßstabes. Dies birgt neben der Möglichkeit der
Bereicherung die Gefahr radikaler Ablehnung des Fremden oder den Verlust eigenständiger
Identität in der Pluralität an Perspektiven. Arendts Denken ohne Geländer, als Grundlage
einer philosophischen Jugendbildung, die Orientierungshilfe leisten will, ermöglicht es, Jugendliche zu befähigen ein sicheres reflexives Urteil fällen zu können und ihnen so Maßstäbe
in Form von Methode an die Hand zu geben, die ihr Urteilen und Handeln schult und leitet.
Die erweiterte Denkungsart als Spezifikum des reflexiven Urteilens bietet die Grundlage, wieder einen gesicherten Standort in der Welt einzunehmen. Ausgangspunkt hierfür ist
das Weltinteresse, das gemeinsame Eigeninteressen-vergessende-Miteinander-in-Beziehungtreten aufgrund einer gemeinsamen Sorge um eine allen gemeinsame Welt. Weltinteresse
„[...]ist diese Gesinnung, die immer Partei ergreift im Interesse der Welt, ein jegliches von
seiner jeweiligen weltlichen Position her begreift und beurteilt und so niemals zu einer Weltanschauung werden kann, die von weiteren Erfahrungen der Welt unabhängig bleibt, weil sie
sich auf eine mögliche Perspektive festgelegt hat.“54 In der realen und der vorgestellten Präsenz anderer vollzieht sich das reflexive Urteilen unter Zuhilfenahme der erweiterten Denkungsart. Die Pluralität bildet hierfür eine entscheidende Voraussetzung, denn die eigene
Qualität der Meinung hängt ab vom Grad der erweiterten Denkungsart, der Menge an Perspektiven und der Unabhängigkeit von Eigeninteressen, also dem Grad des Weltinteresses.55
Eine erweiterte Denkungsart hohen Grades und ein ausgebildetes Weltinteresse bilden die
Grundlage des reflexiven Urteilens, und der Gemeinsinn die Grundlage für die erweiterte
Denkungsart und das Weltinteresse. Der Gemeinsinn entsteht im Austausch über die Sinneseindrücke der Welt, und philosophische Jugendbildung bietet die Basis für diesen Austausch
Diese Arendtsche Theorie des reflexiven Urteilens, übersetzt für die philosophische
Jugendbildung, hieße dann Folgendes. Ihr käme die Aufgabe zu, einen Ort des freien und öffentlichen Austausches zu stellen, an dem die Pluralität der Perspektiven zueinander finden
kann. Ein Ort also, in dem Gemeinsinn entstehen kann, der die Sprengkraft des freien Austausches in Gang setzt. Das zentrale Grundanliegen bestünde in der Förderung reflexiven
Urteilens und dessen Grundelementen: dem Gemeinsinn, dem Weltinteresse und der erweiterten Denkungsart. Das Philosophieren bietet hierfür die Methode. Der Pädagoge übernimmt in diesem Prozess nicht die Rolle eines Vermittlers, sondern seine Position verändert
sich vom Initiator des Miteinander-in-Beziehung-Tretens zum Moderator der Diskussion bis hin
zum Mediator scheinbar unvereinbarer Standpunkte. Ziel dieses Prozesses ist es nicht, dass
die Jugendlichen den Standpunkt ihres Gegenübers übernehmen, sondern dass sie üben, einander zu überzeugen und zu überreden, im Sinne des antiken Philosophierens. So lernen sie
die Standpunkte anderer nicht nur real, sondern auch imaginär mit einzubeziehen, Gemeinsinn und ein Weltinteresse zu entwickeln oder weiter auszubauen. Am Ende einer solchen
„Bildungsveranstaltung“ steht kein Resultat, kein mündiger Jugendlicher, wohl aber ein
produktiver Prozess, der in Gang gesetzt wurde und der Jugendlichen eine Möglichkeit der
Orientierung aufzeigt.
Aus dieser inhaltlichen Definition philosophischer Jugendbildung als Orientierungshilfe im Anschluss an das Arendtsche Denken ergibt sich jedoch auch ein Hinweis für den
philosophischen Gesprächsleiter, den es zu beachten gilt. Das Problem der Neutralität.
Neutralität meint hier nicht eine Neutralität in Form von Meinungsabstinenz. Neutralität
54
55
Arendt, H. (2001): Menschen in finsteren Zeiten. Hg. von Ursula Ludz. München, S. 22.
Vgl. Cendon (2000), S. 21-24.
bedeutet in diesem Rahmen, dass der philosophische Gesprächsleiter seine Position stets
einsichtig darstellt, um die Jugendlichen nicht zu beeinflussen. Das heißt nicht, dass sie oder
er keine weltanschauliche Gebundenheit in die Diskussion mit einbringen darf. Dies wäre in
einer Förderung der Urteilskraft nach Hannah Arendt sogar wünschenswert, um die Perspektive zu erweitern. Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass die Jugendlichen in Kenntnis gesetzt
werden, wann der Gesprächsleiter vom Initiator zum Moderator oder Mediator wechselt,
wann er den Jugendlichen sachliche Hintergründe für eine umfangreiche Diskussion vermittelt und wann er dazu übergeht, seinen Standpunkt in den Prozess der Urteilsbildung mit einfließen zu lassen.56 Dies ist kein Zuwiderhandeln gegen den Beutelsbacher Konsens, denn der
Lehrende versucht in diesem Sinne nicht zu beeinflussen, sondern den Urteilsprozess immer
wieder neu zu initiieren.57 Denn die Förderung der reflexiven Urteilsfähigkeit im Rahmen
philosophischer Jugendbildung heißt, fehlende Positionen zu imaginieren oder die Jugendlichen in ihrem Entwicklungsprozess der reflexiven Urteilskraft darin zu unterstützen, von der
unbedingten realen Präsenz verschiedener Standpunkte zu einer imaginierten Präsenz übergehen zu können.
Philosophische Jugendbildung als Orientierungshilfe, die sich selbst vom Denken
Hannah Arendts leiten lässt, bedient sich also der Pluralität an Perspektiven als Chance und
Ausgangspunkt, Jugendliche über das gemeinsame Philosophieren an eine reflexive Urteilskraft heranzuführen. Diese Art des reflexiven Urteilens ermöglicht es Jugendlichen, auch bei
fehlenden Maßstäben verschiedenste Positionen zu imaginieren, Vergangenes und Gegenwärtiges einzubeziehen und sich auf diese Weise orientieren zu können, auch wenn sich ihre
Umwelt im Wandel befindet. Diese Art der Philosophie folgt dabei keinem logischen Prinzip
sondern dem gegenseitigen systematischen Austausch. Verschiedenste Themen und historische Bezüge können hierfür als Ausgangspunkt dienen, um miteinander in einen philosophischen Dialog zu treten. Ziel ist es, die Leitlinien des eigenen wie auch des fremden Urteils mit
den Jugendlichen gemeinsam aufzudecken und sie über den unverzweckten Austausch zum
selbstständigen und kritischen Denken zu animieren. Dieses Denken ohne Geländer, wie
Hannah Arendt es ausdrückt, ermöglicht ihnen Orientierung in jedweder Situation und motiviert im besten Fall zu verantwortungsbewussten Handeln, nicht zuletzt durch die Tatsache
der Natalität und der damit verbundenen Chance zu immerwährendem Neubeginn.
Im Vergleich der Leitlinien außerschulischer philosophischer Jugendbildung mit den
Überlegungen Hannah Arendts über das menschliche Urteilsvermögen im Hinblick auf die
Situation Jugendlicher heute lässt sich also zeigen, dass das Arendtsche Denken dem
Philosophieren mit Jugendlichen wichtige Impulse zu geben vermag.
Die Autorin:
Melanie Findeisen
Studium der Erziehungswissenschaft (HF), Philosophie (NF) und Religionswissenschaft HF)auf
Magister, Abschluß 2012
Kontakt: www.denkwege-zu-luther.de/philosophieren/de/kontaktformular.asp
56
Vgl. Meilhammer (2008), S. 86f.
Zu den Inhalten des Beutelsbacher Konsens siehe: Kuhn, Hans-Werner/ Massing, Peter (Hg.) (1990):
Politische Bildung in Deutschland. Entwicklung – Stand – Perspektiven. Opladen, 302-303.
57
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Abkürzungen
AJB
DG
EJ
LG
MFZ
üWP
U
VA
WP
ZVZ
Arendt – Jaspers Briefwechsel
Denken ohne Geländer
Eichmann in Jerusalem
Vom Leben des Geistes
Menschen in Finsteren Zeiten
Über Wahrheit und Politik
Urteilen
Vita activa
Was ist Politik
Zwischen Vergangenheit und Zukunft
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