Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? Seminar: Erziehung, Autorität, Antipädagogik – Wie notwendig ist Erziehung und wie lässt sie sich legitimieren? Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? Referenten: Andrea Ezel Anne Knoop Professor Dr. phil. Walter Mattl -1- Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? Themenübersicht: 1) Pyramidenmodell Aristoteles (Pflanze, Tier, Mensch) ....................... 3 2) Die Stufenlehre Max Schelers ............................................................. 4 3) Arnold Gehlen: Das kompensationstheoretische Modell .................... 5 4) Adolf Portmann: .................................................................................. 6 Die physiologische Frühgeburt des Menschen ..................................... 6 5) Eugen Fink – Was ist der Mensch? ................................................... 10 6) Bruno Hamann: Wesentliche Aussagen über den Menschen........... 11 1. Der Mensch als Ichhaftes und reflektierendes Wesen .................. 11 2. Der Mensch als sinnverwiesenes Wesen ..................................... 12 3. Der Mensch als Wesen der Freiheit ............................................. 12 4. Der Mensch als Wesen des Mitseins - Interpersonalität ............... 13 5. Der Mensch als Leib .................................................................... 13 6. Der Mensch als transzendierendes Wesen .................................. 14 7. Der Mensch als erziehungsbedürftiges Wesen ............................ 14 Pädagogische Konsequenzen............................................................ 15 7) Erziehungsbedürftigkeit..................................................................... 18 Heinrich Roth: .................................................................................... 18 Eugen Fink: ........................................................................................ 20 Literaturverzeichnis: .............................................................................. 22 -2- Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? 1) Pyramidenmodell Aristoteles (Pflanze, Tier, Mensch) Aristoteles (384 –322 v.Chr.) sah den Menschen als eine Mischung aus Gott und dem Tier. Er dachte sich dieses Pyramidenstufenmodell aus, um ihn besser in die Welt einordnen zu können. Die höheren Stufen setzten hierbei die niederen voraus. Während die Pflanzenwelt zwar die Enge der Erde, in der sie verwurzelt ist, wahrnimmt, kann sich ein Tier bei einer Veränderung an diese Sinnesempfindung (aisthesis) erinnern. Es spürt nicht nur, dass es eng ist, sondern weiß auch, dass es sich in dieser Enge nicht gut anfühlt. Entkommt das Tier dieser Enge, so kann es sich immer noch an dieses Gefühl erinnern. Der Mensch der sowohl dieses Wesen besitzt, hat noch weitere Attribute, wie die Erfahrung (empeiria). Er kann aus der Erinnerung lernen, bzw. sie als Erfahrung weitergeben. Um sich Gott zu nähern, muss er die Stufen der Kunstfertigkeit (techne) und des Wissens (episteme) überwinden. Diese lernt er im Laufe seines Lebens zu überwinden. Als Kind lernt er feinmotorische Fähigkeiten seiner Finger und seines Körpers kennen. Er hat die Möglichkeit mit seinem Körper andere zu imitieren oder gar Tiere nach zumachen. Des weiteren lernt der Mensch das Wissen anderer zu übernehmen. Er bringt es in Zusammenhang und versucht sich damit Dinge der Welt zu erklären. Allerdings kann er nur bis zur Stufe der Philosophie (gr. Liebe zur Weisheit) gelangen, bei der er sich versucht der Weisheit zu nähern. Die Weisheit an sich kann allerdings nur Gott besitzen. Somit kommt der Mensch irgendwann an einen Punkt, bei dem er sich versucht Gott zu nähern, kann ihn aber nie erreichen. -3- Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? 2) Die Stufenlehre Max Schelers Max Scheler, (Philosoph und Soziologe 1874 - 1928) galt als der Begründer der modernen philosophischen Anthropologie. Er untersuchte das Verhältnis von Vitallebendigem, dem Drang zu leben und dem Geistigen im Menschen. „Scheler sieht den Menschen sozusagen auf der Stufenleiter des Lebendigen. Auf der untersten Stufe dieser Leiter steht der Gefühlsdrang, der alles Lebendige durchpulst: Pflanze, Tier und Mensch. Aber in jedem dieser drei Individuen nimmt er verschiedene Grade der Innerlichkeit an: in der Pflanze ist er noch ganz bewußtlos, empfindungslos und vorstellungslos. Einen höheren Grad von Innerlichkeit und Ausdrucksfähigkeit erreicht er auf der zweiten Lebensstufe: beim Tier. Hier zeigt er sich in einem Verhaltensvermögen, das sich mit den Begriffen Instinkt, assoziatives Gedächtnis und praktische Intelligenz umschreiben läßt. Die darin sich kundtuenden Leistungen sind nicht mehr nur aufgrund organischen Seins möglich - wie beim pflanzlichen Sein - sondern Psychisches eignet ihnen. Wiewohl die mit psychischem Sein vorhandenen Leistungen beim Menschen höher und spezifizierter sind, sind sie (...) bei Tier und Mensch jedoch nicht grundsätzlich verschieden. D.h. Mensch und Tier sind auf der zweiten Stufe des Lebens nur graduell unterschieden. Oder anders ausgedrückt: aufgrund seines Organismus und psychischen Vermögens erschient der Mensch dem Tier wesensmäßig nicht überlegen.“1 Was aber den Menschen vom Tier unterscheidet, ist der Geist. Durch seinen Geist steht der auf der Stufe der Mensch dritten Lebensleiter. Der Geist ermöglicht dem Menschen - im Gegensatz zum Tier Abstand 1 Vgl. Hamann, Bruno: Pädagogische Anthropologie. Bad Heilbrunn/Obb 1998³, S.56 -4- und Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? Objektivität von sich und der Welt. Er ist nicht festgelegt auf Organisch-Triebhaftes, er strebt nach Erkenntnissen von Werten und er besitzt ein Welt- und Sachverständnis. Jedoch braucht der Geist den Antrieb des oben genannten Dranges, d.h. er hat keine eigene Energie. Er ist abhängig vom Organisch-Triebhaften und OrganischSeelischen, was bedeutet, dass diese Gegebenheiten Antrieb und Grundlage für das Bestehen des Geistes sind. Anders ausgedrückt: der Geist kann nur existieren auf der Grundlage von körperlichem Sein und dem Vorhandensein des Psychischen, der Seele. Umgekehrt besteht dieses Abhängigkeitsverhältnis nicht; bei der Pflanze besteht dieses „körperliche“ Sein, doch fehlen Seele und Geist. Dies kann verglichen werden mit einem mehrstöckigen Haus. Das Fundament ist der Körper, die unteren Etagen sind die seelischen Fähigkeiten und das Dachgeschoss also der Geist sitzt zuoberst auf dem gesamten Gebäude. Doch besitzt der Geist die Möglichkeit, den Trieb zu regulieren und zu lenken, also Einfluss zu nehmen. Dies nennt Scheler Sublimierung (Erhabenheit), d.h. der Geist kann seinen Willen erheben und durchsetzen und erhebt somit den Menschen über das Tier. 3) Arnold Gehlen: Das kompensationstheoretische Modell Gehlen sieht den Menschen als Gesamtentwurf, d.h. er betrachtet den Menschen nicht nur aufgrund seines Geistes als etwas Besonderes, sondern er berücksichtigt auch die biologischen Gegebenheiten des Menschen. Untersucht wird bei Gehlen die Beziehung zwischen organischem Gefüge und den kulturell geistigen Fähigkeiten des Menschen. Er kommt zu dem Schluss, dass der Mensch aus biologischer Sicht ein Mängelwesen, also hilflos ist. Gehlen stützt seine These auf folgende Fakten: 1. Die Organe des Menschen sind seiner Umwelt nicht angepasst, d.h. er besitzt keine Angriffs-, Flucht- und Schutzorgane wie z.B. das Stinktier, welches sich mit einem übelriechenden Geruch verteidigt oder der Tintenfisch, der eine dunkle Flüssigkeit ausstößt und die Verwirrung des Angreifers nutzt, um zu fliehen. 2. Der Mensch ist arm an Instinkten. Während Tiere über ein situationsgemäßes Schutzverhalten verfügen (s. Tintenfisch oder Stinktier), sind beim Menschen nur noch vereinzelt Instinkte übrig. -5- Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? 3. Im Gegensatz zu den Tieren benötigt der menschliche Embryo verhältnismäßig viel Zeit, um auf die Welt zu kommen. Auch die schon geborenen Kinder sind lange zeit schutz- und hilfsbedürftig, nämlich mehrere Jahre. Daraus folgert Gehlen, dass sich der Mensch - wegen seiner Unangepasstheit an die Umwelt - auf diese einwirkt, um seine biologischen Mängel zu kompensieren. Der Mensch schafft sich eine zweite Umwelt, nämlich die Kultur. Der Mensch ist also ein Kulturwesen. Gehlen betrachtet den Menschen als „Sonderentwurf der Natur“2 Anders als Max Scheler ist Gehlen der Meinung, dass zwischen dem OrganischTriebhaften, dem Organisch-Seelischen und Geist eine gegenseitige Abhängigkeit (Interdependenz) besteht. „Seelisch-geistiges Leben ist nur möglich auf der Grundlage des stofflich leiblichen, umgekehrt kann der Mensch als Mensch nur existieren aufgrund des Geistes.“3 4) Adolf Portmann: Die physiologische Frühgeburt des Menschen Portmann untersucht die Gegebenheiten des menschlichen Lebens im pränatalen Zustand, bei der Geburt und im frühkindlichen Stadium, also im Säuglingsalter und vergleicht diese mit denen der Tiere und den erwachsenen Menschen. Er kommt zu folgenden Ergebnissen: biologisch gesehen ist der Mensch ein Zwischending Nesthockern, z.B. Känguru, und Nestflüchtern (Pferd). „Im embryonalen Zustand bildet sich der Mensch aus in Richtung Nestflüchter, aber diese Entwicklung wird im Mutterleib nicht soweit fortgeführt, wie bei höheren nestflüchtenden Säugern, sondern es folgt im Vergleich zu diesen eine verfrühte Geburt“4, die physiologische Frühgeburt. Portmann nennt den menschlichen Zustand bei der Geburt „sekundärer Nesthocker und hilfloser Nestflüchter“5 Daraus folgert er, dass der Mensch im Gegensatz zu den höheren nestflüchtenden Säugetieren 12 Monate zu früh geboren wird, der er außerhalb des Uterus verbringen muss. Portmann nennt diese Zeit „extra-uterines Frühjahr“6 2 Vgl. ebd. S. 62 Vgl. ebd. S. 62f 4 Vgl. ebd. S. 64 5 Vgl. ebd. S. 64 6 Vgl. ebd. S. 64 3 -6- Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? Dies ist jedoch nötig, weil beim Menschen biologisches und kulturelles Sein miteinander verflochten sind. Menschliches Leben ist also nur möglich, wenn beide wesentlichen Eigenarten des Menschen vorhanden sind. So ist diese physiologische Frühgeburt unabdingbar, weil eben die bestehende Hilflosigkeit für das Lernen und der geistige Austausch im Sozialkontakt wichtige Grundlage ist. Geistige Entfaltung findet nur statt, wenn der Mensch auf das Lernen angewiesen ist und „in der sozialen Gruppe durch Unterstützung und entwicklungsfördernde Beziehungen [z.B. Mutter-Kind-Beziehung oder Sprache] sich entfalten kann.“7 Würde der Mensch jene 12 Monate, welche er außerhalb des Uterus verbringt, im Mutterleib bleiben, wäre er bei seiner Geburt schon so festgelegt in seiner körperlichen Entwicklung und seinem Wesen, dass er nicht mehr in der Lage wäre, das Lernen und den Sozialkontakt so intensiv zu erleben. Für Portmann wäre der Mensch dann nicht mehr in der Lage zu einem kulturell-geistigen Leben zu finden. Schlussfolgernd lässt sich also sagen, dass die physiologische Frühgeburt des Menschen Voraussetzung ist, für ein kulturelles und damit geistiges Leben. Unterschied Tier und Mensch Um den Unterschied zwischen dem Tier und Mensch herauszufinden, bediente sich Portmann einiger Studien. Unter anderem beobachtete eine Familie Kelloggs ein Affenbaby, das neben ihrem eigenen Kind aufwuchs und schlossen dabei auf eigene Unterschiede. Unter anderem brachte die Familie dem Affen 20 Wörter bei, die er verstand, allerdings konnte der Affe keine eigenen Sätze bilden. Er hatte die Symbolfunktion der Sprache demnach nicht verstanden, sondern erkannte sie eher als Kommandosignale an. Der Affe versuchte auch dem Menschen sich zu nähern, indem er versuchte aufrecht zu gehen; anatomisch ist der Körper der Affen nicht für das Aufrechtgehen gemacht und so kann er diese Lebensform nicht übernehmen. Auch beobachteten sie, dass die Affen nur kurze Zeit Interesse an Spielhandlungen und Sekundärbedürfnissen zeigen, können somit keine Kulturwelt aufbauen. Dagegen hat der Mensch seine eigene Sachwelt, in dieser lernt er affektfrei zu handeln. Der Affe ist auch nicht fähig über seine Vergangenheit zu reden und sie somit anderen weiterzugeben. Dagegen hat das Menschenkind die Möglichkeit sich in dieser Hinsicht zu verständigen. 7 Vgl. ebd. S. 65 -7- Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? Der Affe hat auch gelernt mit Automatenmünzen umzugehen, dass sie ihm etwas zu essen geben und dass er, wenn er bestimmte Aufgaben erfüllt mehr bekommt. ER beginnt sogar diese Münzen zu sammeln und vom Ersparten zu leben. Er lernt Bananenmünzen gegen Traubenmünzen zu tauschen, aber er interessiert sich nie für die Arbeit an sich oder für die Münze, sondern nur den Zweck, den sie erfüllen. (Arbeit = Münze = Essen) Tier Mensch - umwelteingepasst - weltoffen - kurze Entwicklungs- / Lernzeit - lange Entwicklungs-/ Lernzeit - viele Verhaltens- und Leistungsformen angeboren - alle Verhaltens- und Leistungsformen müssen erworben werden - ohne Pubertätswachstumsschub - mit Pubertätswachstumsschub (Gestaltwandel) - frühe Geschlechtsreife - späte Geschlechtsreife - ohne Darstellungsfunktion der Sprache - Sprache - gleichförmig bis starres Sozialleben - dauernder Sozialwandel - trieb und instinktsicher - trieb- und instinktunsicher - erlebnisbewusst - ich- und selbstbewusst - getriebenes Wesen - wollendes, planendes, sich entscheidendes Wesen - seelisches Wesen - geistiges Wesen zur Tabelle: Portmann beschreibt den Menschen als denkendes Wesen. Im Gegensatz zum Tier kommt er zu früh auf die Welt. Er kann sich nicht selbst versorgen und ist auf Pflege und Betreuung angewiesen. In der Entwicklung unterscheidet er sich ebenso vom Tier. Er verliert mit der Zeit seine ureigenen Reflexe, beginnt mit ca. 10 Jahren über die Welt nachzudenken. Im Gegensatz zum Tier versucht er die einzelnen Ereignisse zu verstehen. Er sammelt Erfahrungen oder bekommt sie von anderen mit. -8- Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? Portmann stellt dar, dass der Mensch von Anfang an „Mensch ist“, weil er von Anfang an für ein menschliches Dasein bestimmt ist. Er bezeichnet den Menschen als weltoffenes Wesen. Er meint damit, dass der Mensch sich im Gegensatz zum Tier verändern kann, während das Tier seine Aufgabe von Geburt an hat und nicht aus eigenem Antrieb nach Veränderung sucht, der Mensch dagegen sich nach seinen Begabungen für einen Beruf entscheidet, in eine andere Gegend auswandern kann, usw.. Das Tier hat schnell den Kenntnisstand der Ausgewachsenen erreicht. Es muss nicht speziell zum Überleben dazu lernen. Es ist in seinem Instinkt verankert. Der Mensch dagegen lernt von seiner Geburt an Verhaltenformen kennen. Sei es mit Messer und Gabel zu essen oder wie er auf einen höher- rangigen Menschen reagieren sollte. Dem Tier sind viele Verhaltensweisen angeboren, denen er folge leistet. Während der Mensch ab dem 11. Lebensjahr noch einmal einen starken Entwicklungsschub macht, entwickelt sich das Tier stetig zu seinem Erwachsenenstadium hin. Demnach sind die Tiere auch sehr früh geschlechtsreif. Einem Affen kann man die Wörter beibringen, jedoch ist dieses Tier niemals fähig, das Wort in einem anderen Zusammenhang zu verwenden. Ist das Tier mit der Geburt in einem Rudel, einer Herde, also einem festen Sozialleben integriert, wechselt dieses ständig beim Menschen. Von der Schule nach Hause zur Familie und später einmal der Beruf. Da ein Tier seinen Trieben folgen darf und seinen Instinkten lebensnotwendig folgt, ist es in dieser Hinsicht sicher. Der Mensch dagegen ist unsicher. Er darf nicht einfach seinen Trieben folgen, selbst, wenn es ihn dazu gelüstet. Würde der Mensch diesen trotzdem folgen, hätte er mit Strafen zu rechnen. Im Gegensatz dazu ist er sich über sich selbst bewusst. Er weiß, wer er ist, dass er ist. Das animalische Wesen ist dagegen sich nur dem bewusst, was es erlebt. Dieses Wesen wird auch von seinen Instinkten geleitet. Dagegen der Gebildete plant, will und entscheidet bewusst. Letztendlich kann man sagen, dass der Mensch das geistige Wesen ist (denkt und sucht nach Gründen) und das Tier ein seelisches Wesen. -9- Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? 5) Eugen Fink – Was ist der Mensch? Schon Kant warf diese Frage auf. Eugen Fink greift den Menschen als Rätsel auf. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen versucht sich der Mensch immer wieder nach seiner Existenz zu vergewissern. So viele Wissenschaften es auch gibt, sie lösen das Rätsel nicht und so ist auch das Erziehungsproblem von diesem Problem durchtränkt. Im Gegensatz zum Tier kann der Mensch nicht einfach vor sich hinvegetieren, sondern er versucht seine Welt einzurichten. Ihm ist bewusst, dass er Imperfekt ist und strebt dadurch nach Vollendung. Für Fink steht der Mensch wie bei Aristoteles zwischen Tier und Gott und da diese Wesen perfekt sind, kann es der Mensch nicht sein. Bei ihm ist der Mensch allerdings mehr. Er ist ein Zwitterwesen, das sowohl die animalische als auch die göttliche Seite in sich hat. Die animalische Seite verkörpert die Mutter, die das Kind ernährt, aufzieht und umsorgt. Die göttliche Seite geht vom Vater aus, der das Kind in die Selbstständigkeit führt. Das soll allerdings auch heißen, dass der Vater sich um seinen Sprössling bemüht, ihn wie Gott uns Menschen liebt. Dieses Zwitterwesen bezeichnet Fink auch als „animal rationale“, als vernünftiges Tier. Für den Menschen ist die Selbstgestaltung des Lebens wichtig. Er trifft bewusst Entscheidungen, ob er etwas tun oder lassen will. Dabei ist ein Zwiespalt möglich, den er nur durch Erfahrung lösen kann. Diese Erfahrung bekommt er von anderen, oder lernt sie durch eigene Erfahrung, die ihm gegeben wird. Soweit der Mensch auch als Individuum denkt, so stark lebt er doch primär im Volk. Ohne diese soziale Gruppe wäre er verloren. Dieses wirkt auf die menschliche Selbstverhaltung ein. Die Erziehung des Einzelnen richtet sich nach dem Ideal des Volkes und wird dabei von ethischer Grundlage begleitet. Dem Lebenden ist bewusst durch Geburt und Tod, dass er nicht ewig existieren kann. Er selbst wird die ganze Zeit mit diesen Ereignissen vertraut gemacht. Dadurch erkennt er sein Leben als eine Aufgabe an. Sein Streben zielt auf die eudaimonia - 10 - Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? (Glückseligkeit). Er ist frei zu entscheiden, was er mit diesem Leben anfängt. Er versucht somit das Ideal aus seinem Leben zu machen und seine Aufgabe, das Leben selbst, so gut wie möglich zu meistern. „Doch ein Kind kann nicht selber bestimmen, da es nie Einflusslos ist.“ Im Kind selber steckt eine große Ratlosigkeit und Schutzsuche. Es scheint verloren und braucht Orientierung um diese Orientierung zu finden braucht das Kind eine Hilfe, eine Richtung und diese findet es in der Erziehung. 6) Bruno Hamann: Wesentliche Aussagen über den Menschen 1. Der Mensch als Ichhaftes und reflektierendes Wesen Im Gegensatz zum Tier, welches zwar über eine Psyche verfügt, besitzt der Mensch Geist. Der Geist ermöglicht es dem Menschen, anders als dem als dem Tier Sprache zu benutzen. Damit sind Worte gemeint, welche sich zu Sätzen zusammenfügen und nicht Körpersprache oder Laute zur gegenseitigen Verständigung. Gedanken werden vermittelt, Gespräche geführt, usw. Des weiteren ist der Mensch in der Lage sich seiner selbst bewusst zu sein (Selbstbewusstsein), zu sich selbst zu stehen (Selbstbejahung) und sich von der Außenwelt in sein Inneres zu distanzieren, d.h. eine Erfahrung, welche in der Welt gemacht wurde wird zu innerem Erleben und Verarbeitung. Der Mensch braucht den Bezug zu anderen Menschen und Gegenständen, damit er in der Lage ist sich selbst zu verwirklichen denn die Selbstverwirklichung des Menschen ist das höchste Ziel der Anthropologie. Der Mensch kann erfassend denken und die Wirklichkeit in verschiedenen Zeiten, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewältigen. Damit sind Vorgänge gemeint wie z.B. planen, fragen, zweifeln, diskutieren... Dazu gehört u.a. auch das „normative Bewusstsein“8, welches zu sozialem Verhalten bestimmt und befähigt. Mit normativem Bewusstsein ist gemeint, dass der Mensch in der Lage ist, bestimmte Werte, Regeln und Verhaltensweisen, welche von einer Gesellschaft aufgestellt wurden einzuhalten, bzw. sich konform zu verhalten. Voraussetzung für dieses Bewusstsein ist das Bewusstsein einer Norm. Das Einhalten von Normen wird Moral genannt. ( Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, s.u.) 8 Vgl. ebd. S.104 - 11 - Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? 2. Der Mensch als sinnverwiesenes Wesen Jeder Mensch möchte sinnvoll leben, nicht nur auf sich bezogen. Dies ist Sinnverwiesenheit oder anders ausgedrückt: jeder Mensch stellt sich in seinem Leben die Frage nach dem Sinn des Lebens. Warum lebe ich? Was soll aus mir werden? Warum beschäftige ich mich mit einer bestimmten Sache? Wieso tue ich das? Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist immer und überall gegenwärtig. Doch ist die Verwiesenheit des Menschen nach einem Sinn seines Schaffens auch der Antrieb, die Kraft, welche ihn dazu bringt sein Leben zu gestalten und sich zu bilden. Z. B. Ein Schüler möchte ein gutes Abitur machen. Warum? Was ist der Sinn dieser Sache? Damit er danach studieren kann. Warum? Weil er einen bestimmten Berufswunsch hat (z.B. Lehrer). Warum hat er diesen Berufswunsch? Weil er weiß, dass ihm dieser Beruf am meisten gefällt und er sich so selbstverwirklichen kann. So ist die Sinnverwiesenheit nicht nur Antrieb des Menschen, sondern auch ein Weg zum Ziel, nämlich der Selbstverwirklichung. ( Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, s.u.) 3. Der Mensch als Wesen der Freiheit Mit Freiheit ist hier nicht gemeint, dass der Mensch absolut frei ist. Der Mensch ist in gewisser Weise wohl frei durch seine Unabhängigkeit, aber auch unfrei durch seine Natur und die Gesellschaft, in welcher er lebt. Die Natur bestimmt den Menschen insofern, als er ein biologisches Wesen ist, das an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist. Der Mensch benötigt Sauerstoff zum Atmen, bestimmte Klimagegebenheiten zum Überleben, er muss Nahrung und Flüssigkeit zu sich nehmen und regelmäßig schlafen. Gebunden ist er auch an die Gesellschaft, deren Teil er ist. Da jede Gesellschaft und ist sie noch so klein, allgemeingültige Werte, Regeln und Gesetze aufstellt, muss sie der Einzelne einhalten, möchte er weiterhin Teil dieser Gesellschaft bleiben. Verhält er sich nicht regelkonform, wird er ausgeschlossen. So ist der Mensch erst einmal nicht frei, nicht von sich aus, sondern er wird erst durch Selbstbestimmung und Selbstgestaltung seines Lebens innerhalb der o. g. Gegebenheiten frei. Doch um sich und sein Leben selber bestimmen zu können muss der Mensch zuerst das Bewusstsein dafür erlangen, auch dafür welches das Richtige Verhalten ist. ( Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, s.u.) - 12 - Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? „Menschliche Freiheit besteht also darin, dass sich der Mensch zu allem Vorgegebenen [biologisch, gesellschaftlich] verhalten kann.“9 Freiheit bedeutet, Entscheidungen zu fällen. D.h. wenn ein Mensch sich für etwas entschieden hat, dann setzt er sich dafür ein mit dem Ziel kreativ zu sein und sich letztendlich selbst zu verwirklichen. Der Antrieb dafür wiederum kommt von den Bedürfnissen des Menschen, welche befriedigt werden wollen und müssen. 4. Der Mensch als Wesen des Mitseins - Interpersonalität „Interpersonalität meint das Aufeinander-bezogen-sein von Personen, wobei für diesen Bezug entscheidend ist, daß Menschen mit je eigener Individualität (einmalige unverwechselbare Iche) einander gegenüberstehen.“10 Dies bedeutet, dass der Mensch - um sich letztendlich selbstverwirklichen zu können - den Kontakt zu anderen Individuen benötigt. Der Einzelne erfährt sich als ein bestimmtes Individuum und hat das Verlangen nach Selbstverwirklichung. Um seine eigene Individualität zu entdecken und erfahren, muss er anderen Individuen gegenüberstehen, um Unterschiede zu erkennen und sich von anderen Menschen abgrenzen. Nur so erfährt der einzelne Mensch, wer er wirklich ist und hat die Möglichkeit sich selbst zu verwirklichen. Damit dies geschieht, müssen sich die Menschen gegenseitig helfen, (Kooperation), was geben und nehmen bedeutet. ( Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, s.u.) 5. Der Mensch als Leib Darunter wird nicht nur der menschliche Körper verstanden, sondern, dass sich der Leib aus Materie und Geist zusammensetzt. Mit Materie ist folgendes gemeint: Zellen, Organe, Reizempfindlichkeit, sinnliche Wahrnehmung, Instinktreste... . So sind Geist und Materie zwei Komponenten der Leiblichkeit, welche miteinander verschränkt sind und menschliches Leben existiert aufgrund des Zusammenwirkens von Materie und Geist. Z. B. Sprache, Kultur, Arbeit, Spiel... . Um sprechen zu können benötigt der Mensch einerseits Materie, also intakte Sprechwerkzeuge und andererseits den Geist, also Gedanken, um können. ( Erziehungsbedürftigkeit, s.u.) 9 Vgl. ebd. S.110 Vgl. ebd. S.113 10 - 13 - sich mit Worten verständigen zu Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? 6. Der Mensch als transzendierendes Wesen Trotz seiner Freiheit erfährt sich der Mensch als begrenzt, bedingt und abhängig, z.B. wenn er dem Tod in irgendeiner Form begegnet. Deshalb greift er nach dem Absoluten, nach dem Letztgültigen, das über die Welt hinausragt. Der Mensch sucht seine letzte Identität, den absoluten Sinn und Geist, denn er sucht - wie als sinnverwiesenes Wesen (s.o.) - eine Erklärung für seine Existenz auf dieser Erde. Etwas, das Leben und Tod erklärt, das alles umfasst und ordnet, z.B. Gott. Doch was verbindet Sinn und Geist? Sinn erhält ein Ereignis, eine Tat... nur, wenn es als sinnvoll betrachtet wird. Und ohne Geist kann der Sinn nicht gedacht und erkannt werden. ( Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, s.u.) 7. Der Mensch als erziehungsbedürftiges Wesen Auch die Erziehungsbedürftigkeit ist ein Wesensmerkmal des Menschen. Die biologischen Gegebenheiten des Menschen ergeben sich aus gemachten MenschTier-Versuchen, welche den Menschen als unfertig, unspezialisiert, instinktarm bezeichnen, der eine lange und langsame Entwicklungszeit und Lernbedürftigkeit als Wesensmerkmal hat. (Arnold Gehlen, Adolf Portmann) Sozio-kulturell gesehen muss der Mensch erzogen werden, da er in eine schon bestehende natürliche, kulturelle, gesellschaftliche Umwelt hinein geboren wird. Er ist nicht in der Lage, alles was er benötigt, um in dieser Umwelt zu bestehen allein zu entdecken. Deshalb benötigt er die Hilfe anderer Menschen. „ Der Mensch ist zu geistiger Lebensführung bestimmt. Um dieser Bestimmung gerecht zu werden und bewußte, sinnorientierte, freie und verantwortungsvolle Akte setzen zu können, ist er auf reiche Erfahrungen - auch auf solche anderer - angewiesen. Er kommt, um seine Lebenssituation produktiv schaffend bewältigen zu können, ohne das erlernen seiner Verhaltens- und Leistungsformen nicht aus. Hierzu (...) bedarf er der stützenden Hilfe anderer.“11 Anders ausgedrückt wird der Mensch geprägt von sozialen und kulturellen Faktoren in seinen Erlebnissen, Werthaltungen, Wissenserwerbsformen. Erfahrungen können jedoch sowohl positiv als auch negativ sein. Die Korrektur oder Gegenwirkung von negativen Werthaltungen, Wissenserwerbsformen ist Aufgabe der Erziehung. 11 Vgl. ebd. S. 125 - 14 - Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? Pädagogische Konsequenzen Die o. g. Wesensmerkmale des Menschen (Ichhaftigkeit, Sinnverwiesenheit, Freiheit, Interpersonalität, Leiblichkeit, Sinnsuche (Mensch als transzendierendes Wesen) und Erziehungsbedürftigkeit), sind also jene Eigenschaften, die den Menschen als solchen beschreiben und ihn damit vom Tier unterscheiden. Doch, wie schon erwähnt, ist der Mensch nicht in der Lage, sich diese Merkmale allein ohne Hilfe anzueignen; er benötigt die Erfahrungen anderer Menschen, welche ihn anleiten, sich diese prägnanten Merkmale anzueignen. So sind die Wesensmerkmale einerseits Erziehungsziele, denn sie zu erlangen macht den Menschen zum Menschen und andererseits zeigen sie Erziehungsmöglichkeiten, aber auch Erziehungsgrenzen auf. 1. Ichhaftigkeit: „Der Ichhaftigkeit entspricht eine Haltung, die das Leben bejaht, es als Aufgabe begreift (...) unter aktivem Einsatz des Selbst zu Verwirklichung verhilft.12 Dies bedeutet, dass der Mensch dazu erzogen werden muss, sein Leben letztendlich selbst in die Hand zu nehmen, um sich selbst verwirklichen zu können. Erziehung zu Selbstbewusstsein, Selbständigkeit... sind also Voraussetzung. Des weiteren muss er sich den herrschenden Werten und Normen bewusst werden, welche in der Gesellschaft gelten, um sich innerhalb dieser Gesellschaft entfalten zu können. So muss er das Bewusstsein zu sittlichem und moralischem Handeln erlangen. 2. Sinnverwiesenheit: „Die Sinnverwiesenheit des Menschen fordert (...) sich in seinem Tun und Lassen nicht einfach treiben zu lassen, sondern an gültigen Maßstäben auszurichten. Ihn zur Suche nach solchen motivieren, ihn zum Wägen und Abwägen anzuleiten, ihm Raum zu geben und Hilfestellung zu bieten, daß er sich einen Welthorizont begründet, sozusagen als Basis für das allseitige Ausgreifen in die Welt und als Orientierungsrahmen (...) des in der Lebenswirklichkeit begegnenden...“13 D.h. der Mensch muss den Sinn von Gutem und Wahrem erkennen, motiviert sein, gültige Maßstäbe zu finden, welche ihm Orientierung sind, für sein Leben. 12 13 Vgl. ebd. S. 134 Vgl. ebd. S. 134 - 15 - Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? 3. Freiheit: „Erziehung zum rechten Gebrauch von Freiheit (...) erstrebt, der einzelne möge sein Denken und Handeln ethisch legitimierbaren Normen unterstellen; (...) er sollte sich in dem, was er tut und läßt, selbst verantwortlich fühlen.“14 Der Mensch muss also, um Freiheit zu erlangen, nicht nur selbständig Entscheidungen fällen können, sondern auch in der Lage sein, verantwortungsvoll denken und handeln zu können, wobei hier auch die Bildung von Gewissen eine große Rolle spielt, genauso wie die Willensbildung des Menschen. 4. Interpersonalität: Da der Mensch ein Wesen des Mitseins ist, der darauf angewiesen ist, Kontakt zu anderen Menschen zu haben, um sich selbst zu erkennen und zu verwirklichen, muss er sich der Gesellschaft, in der er lebt, anpassen können, bzw. deren bestehende Werte, Normen und Regeln befolgen. Hier ist die Aufgabe der Erziehung, dem Menschen soziale Kompetenz zu vermitteln. 5. Leiblichkeit: Der Aspekt der Leiblichkeit des Menschen, also der Ganzheitlichkeit, verweist die Erziehung darauf, dass der Mensch als leibliches Wesen nicht aufgeteilt werden kann in Körper und Geist. Folglich dürfen körperliche, emotionale und kognitive Erziehung nicht getrennt werden, sondern müssen immer zusammen vermittelt werden, ebenso wie die Bevorzugung oder Zurückstellung eines dieser Aspekte. 6. Sinnsuche (Mensch als transzendierendes Wesen): Um den Menschen, der immer nach dem Letzten, Absoluten sucht, zu unterstützen, ist Vermittlung von Werten unablässig, wie auch die religiöse Erziehung. So wird dem Menschen, egal, ob er sich später als Erwachsener von dem Glauben abwendet, den er vermittelt bekommen hat, so ist er doch in der Lage, für sich einen Sinn zu finden, der alles Sein einordnet, an dem er sich orientieren kann. Das Grundvertrauen in die Sinnhaftigkeit des eigenen Seins muss vermittelt werden, gerade in einer Zeit in der so viel Schlechtes passiert, wie z.B. Krieg, Tod, Schmerz... . Erziehung sollte die Existenzerfahrungen der Jugendlichen aufgreifen, Jugendliche fähig machen sie zu interpretieren und in ihr Leben einzuordnen, damit sie letztendlich für sich ihren Sinn finden können. 7. Erziehungsbedürftigkeit: „Die spezifische Organstruktur des Menschen - mag man sie wie Arnold Gehlen als Mangel ansehen (...) - legt die Ausbildung der Fähigkeit zum Gebrauch der Organe nahe. Dafür sind Pflege, körperliche Erziehung und Denkerziehung wichtig. (...) Im einzelnen kommt es besonders auf dieses an: das 14 Vgl. ebd. S. 134 - 16 - Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? Kind muß zu vielen Lernakten gegenüber seiner Mit- und Sachwelt motiviert werden; es müssen ihm viele Lernangebote gemacht, erlebnisreiche Situationen geboten werden; durch Alltagswelt, Kultur- und Zivilisationswelt. Form und Inhalte seines Lernens sollen sich sowohl auf Wissen und Können als auch auf Gesinnung und Verhalten beziehen. Unter Berücksichtigung ganzheitlicher Strukturiertheit ist vielfältigen Bedürfnissen und einer ganzheitlichen „Behandlungsweise“ Rechnung zu tragen. Körperliche, seelische und geistige Funktionen müssen gezielt anvisiert werden.(...) Lernhilfen beziehen sich auf den Gebrauch der Körperkräfte, die Betätigung und Schärfung der Sinnesorgane, die Weckung des Erlebnis-, Erkenntnis- und Ausdrucksvermögen, den Erwerb der Sprachfähigkeit, den verständigen und sachgerechten Umgang mit der Gegenstandswelt, die Befähigung zu produktiver Tätigkeit und verantwortlichem Handeln in der Kultur- und Menschenwelt. “15 Den bekannten Spruch, welchen die Nachkriegsgeneration oft zu hören bekam, lautet: Du sollst es einmal besser haben als wir. In diesem Spruch steckt die ganze Erziehungsbedürftigkeit des Menschen. Denn die Menschheit versucht, sich immer weiter zu entwickeln und den Status, den sie einmal erreicht hat, immer zu verbessern, also die Lebensqualität zu verbessern. Ziel der Menschen ist die Aufrechterhaltung und Verbesserung ihrer Kultur. Um dieses Ziel zu erreichen, muss jeder einzelne Mensch in der Lage sein, mit all seiner Kraft und seinem ganzen Willen dazu beitragen. Dies kann er allerdings nur, wenn er im Sinne seines Wesens erzogen wurde und zu all den Dingen fähig ist, die den Menschen als solchen auszeichnen. 15 Vgl. ebd. S.136f - 17 - Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? 7) Erziehungsbedürftigkeit Heinrich Roth: Heinrich Roth sieht im Kind ein Wesen, dass nach Liebe und Geborgenheit sucht. Ohne Hilfe nach der Geburt kann es nicht überleben. Dazu müsste es die Sprache und das Laufen beherrschen. Sein körperlicher Bau unterscheidet sich wesentlich von dem des Erwachsenen. Es hat im Verhältnis zum restlichen Körper einen riesigen Kopf, große Augen. Die Augen haben noch den Effekt, dass es auf den Erwachsenen hilflos wirkt. Ein Kind wird von unglaublicher Neugierde und Wissensdrang beherrscht. Um sich mitteilen zu können, lernt es die Sprache. Die Sprache besitzt nicht nur Symbolfunktion, sie vermittelt auch Werte und dient somit zur Erfassung der reellen Situation. Über die Sprache bekommt das Kind Werte mit. Allein schon ein Adjektiv vor einem Substantiv bewertet den Gegenstand oder das Ereignis. „Schau Dir mal die schöne Vase an“ oder „Das war eine lustige Situation.“ Löst im Kind eine Bewertung aus. „Dass der Mensch ein Wesen ist, das erzieht, erzogen wird und auch auf Erziehung angewiesen ist, ist selbst eines der fundamentalsten Kennzeichen des Menschenbildes.“16 1) Der Mensch besitzt von Anfang an seine menschliche Endbestimmung. Seine höchste Bestimmtheit besteht in der Sprache und Kultur, Denken, Gewissen, Freiheit und Entscheidung. 2) Seine lange Entwicklungszeit dient ihm seine Person im Kontakt mit den Umwelteinflüssen der Welt zu vollziehen. Erst durch Kontakt mit Umwelt entwickelt sich unser Verhalten für jeden einzelnen zur charakteristischen und zeitbedingten Form 3) Von Natur aus ist der Mensch ein lernbegieriges und lernfähiges Wesen. Damit wird nicht nur das Wissen und Können gemeint, sondern auch die Gesinnung und das Verhalten. Dieses führt zur Weltoffenheit und Entscheidungsfreiheit. Um dieses zu erlernen, wird der Mensch zugleich das 16 Roth, Heinrich. (1971). Pädagogische Anthropologie. Band1, Bildsamkeit und Bestimmung. Hermann Schroedel Verlag KG. Hannover. Seite 149 - 18 - Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? erziehungsbedürftigste und erziehungsfähigste Wesen. Er lernt dabei nicht nur Verhaltens- und Leistungsformen, sondern benötigt auch die entsprechenden Normen. 4) In der langen Schutz- und Pflegezeit ist der Mensch von Anfang an als intelligentes und geistiges Wesen anzuerkennen. Sein Verhalten entwickelt sich aus den Erfahrungen und der Verarbeitung dieser Erfahrungen. Um diese Erfahrungen zu bekommen, muss er gelenkte, ausgewählte, seiner geistigen Bestimmung entsprechende Erfahrungen machen. Diese gewonnenen Erfahrungen führen in die geistige Freiheit und Mündigkeit des Einzelnen und der Gruppe. 5) Zur Erfüllung gesellschaftlicher und sozialer Aufgaben ist der Mensch auf Erfahrung angewiesen. Ohne das Lehren und Lernen kann er nicht zum Teil einer Kulturgesellschaft werden und ohne seine Mitmenschen kann er nicht im geistigen Sinne Mensch werden. 6) Die fremden Erfahrungen allein kann der Mensch nicht annehmen. Er braucht das produktive Schaffen, um mit seiner jeweils unterschiedlichen Individuallage fertig zu werden. Das Entzünden des personalen Geistes, die kulturschaffenden und -empfänglichen Kräfte, soll in ihm geweckt werden. 7) Um die Hilflosigkeit gegenüber den „Ohnmachtbereichen“ des Lebens (Tod, Schuld, Versagen) überwinden zu können, haben sich die Einsichten der Menschen seit Jahrtausenden in der Religion und Philosophie verdichtet. „...was seine Mängel ausmacht, ist gleichzeitig sein Reichtum: die Kehrseite seiner Lern- und Erziehungsbedürftigkeit ist seine unendliche Lern- und Erziehungs- fähigkeit.“17 Nach Roth ist der Mensch also erziehungsbedürftig, um in seiner Umgebung Freiheit zu erlangen. Dazu dient ihm die Sprache und die Kultur. 17 Roth, Heinrich. (1971). Pädagogische Anthropologie. Band1, Bildsamkeit und Bestimmung. Hermann Schroedel Verlag KG. Hannover. Seite 149 - 19 - Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? Heinrich Roth Eugen Fink 1) Freiheit durch Sprache, Kultur, Denken, - Freiheit von Anfang an Wissen - Erziehung als Grundstruktur 2) Verhalten durch Umgang mit anderen 3) Weltoffenheit und Entscheidungs- menschlichen Daseins - Selbstständigkeit freiheit - Formsuche des Menschen 4) Erfahrungen 5) Mensch werden 6) Individuallage 7) Ohnmachtbereiche Erziehung für die Menschwerdung Der Mensch allein erzieht. des Menschen Eugen Fink: Der Mensch allein erzieht. Das Tier kann nicht erziehen und Gott braucht nicht erziehen. Mit diesem Grunddenken steigt Fink in das gedankliche Modell der Erziehungsbedürftigkeit ein. Da der Mensch als Zwitterwesen seine Welt einrichten muss, wehrt er sich gegen die niederziehenden Kräfte, die ihn zu einem Tier machen würden und versucht sich den erhebenden Ziehkräften zu widmen. Sein Ziel ist Weisheit, Wissen und Gott. Um das Geistige, das zunächst in ihm schlummert, zu wecken, muss er „erziehen“, bzw. erzogen werden. Erziehung ist also eine Grundstruktur menschlichen Daseins. Der Mensch weiß von seiner Imperfektheit und versucht nach „Vollendung“ zu streben. Er ist sich über seine Existenz bewusst und sucht nach Antworten und stellt fragen. Erziehung gilt als Selbstformung des Menschen. Dabei wird die Selbstbezüglichkeit des Menschenwesens überhaupt im Geschehen der Erziehung gemeint, d.h. Erziehung findet nicht statt, wenn der Erzieher sich aus dem Einfluss entzieht. Er ist immer am Geschehen beteiligt und verändert sich dabei selbst. Meistens geschieht Erziehung unbewusst. Allein schon, wenn die Mutter dem Kind erklärt, das etwas - 20 - Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? schrecklich aussieht oder an eine graue Maus erinnere, bekommt das Kind eine Erziehung, eine Richtung vorgegeben. Denn dem Kind ist bewusst, schrecklich und graue Maus sind negative Bezeichnungen. Auch als Erwachsener hat man keine Möglichkeit sich der Erziehung zu entziehen. Allein schon ein Referat zu schreiben weist den Menschen in eine Richtung. Der Professor stellt Erwartungen, denen sich der Student zu unterziehen hat. Auch der Professor wird dabei erzogen, denn erfüllt der Referent die Aufgabe nicht zur Befriedigung, lernt dieser, beim nächsten Mal muss ich härter durchgreifen oder ich ändere die Bedingungen. Aber dies ist hat auch das positive, dass man auf diese Weise immer neu lernt, Erfahrungen sammelt und sich seinem Ideal annähern kann. Die animalische Verwandtschaft sorgt dafür, dass die „mütterliche“ Seite den Zögling behüte, nähre und berge, ihm Liebe und „Nestwärme gebe, während die göttliche Seite, das väterliche Element, das Kind zur Selbstständigkeit leite, zur Mündigkeit. Dabei kann ein Erzieher, ohne es zu bemerken, den Zögling nur erziehen, wenn er selbst dabei miterzogen wird, so ist Erziehung ein Miteinander und nie ein einseitiges Verhältnis. Die Freiheit ist allerdings der Unterschied, der uns vom Tier trennt. Sie ist zugleich auch der Grund der Erziehung. Da der Mensch sich nicht ins Dasein rufen kann, muss er schon sein. Er findet sich als unbestimmtes Wesen vor, dass sich selbst erst noch zu bestimmen hat. Allerdings kann diese Unentschiedenheit erst beseitigt werden, wenn sich Bildung ereignet und diese kann nur entstehen, wenn ein Volk ein kraftvolles Selbstverhältnis besitzt. Der Mensch wächst von Anfang an in einer menschlichen Umgebung auf. Er lernt von ihnen, um bei ihnen überleben zu können. Während er bei den Leuten aufwächst, übernimmt er ihre Sitten und die Art, die Zielrichtung des Volkes. Um sich entscheiden zu können, was für ihn richtig und falsch ist, muss er allerdings erzogen werden. Dieses Selbstverhältnis ist meist ein Ideal und so beginnt der Mensch nach seinem Ideal zu streben. Des weiteren fordert der Mensch nach einer Form. Er möchte sich selbst eine Form geben, er sucht nach seinem Wesen so lange er lebt. Der Mensch kann sich in seiner sozialen Struktur der Erziehung nicht entziehen, denn sobald ein höherer von einem niederen eine Aufgabe zur Erfüllung stellt erzieht dieser jenen schon. Nach Fink ist der Mensch also erziehungsbedürftig, damit er seine Freiheit, die er von Geburt an besitzt nutzen kann. - 21 - Erziehungsbedürftigkeit – zentrale anthropologische Kategorie oder Alibi der Pädagogen? Literaturverzeichnis: Fink, Eugen: Grundfragen der systematischen Pädagogik. Freiburg 1978 Hamann, Bruno: Pädagogische Anthropologie. Bad Heilbrunn 1998³ Roth, Heinrich: Pädagogische Anthropologie, Bd1. Bühl-Baden 1971³ - 22 -