Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit im Streit I. Gibt es ein Recht auf Schutz vor der Verletzung religiöser Gefühle? Der internationale und kulturelle Kontext der Menschenrechte erscheint heute eher unübersichtlich und durch gegenläufige Tendenzen zerrissen. Religionsgemeinschaften fordern staatlichen Schutz für ihre religiösen Wahrheitsansprüche gegen Kritik, hingegen berufen kritische säkulare Geister bis hin zu Islamhassern sich auf die Kunst- und Meinungsfreiheit, wenn sie muslimische religiöse Symbole kritisieren oder gar verächtlich machen. Definieren die einen Mohammad-Karikaturen und Koranverbrennungen als todeswürdige Verbrechen, wollen die anderen den muslimischen Anderen vorführen, nehmen sie vorhersehbare Gewaltexzesse in der muslimischen Welt in Kauf vielleicht sogar in provokatorischer Absicht hervorrufen. Aber bereits Jahre vor diesem Streit um kulturelle Hegemonie haben die in der Organisation der Islamischen Kooperation (ICO) versammelten Staaten einen menschenrechtlichen Vorstoß zur Anerkennung eines Rechts auf Schutz religiöser Gefühle unternommen. Seit 1999 streben sie im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen unter dem Begriff „combating defamation of religions“ internationale Anerkennung für nationalen Blasphemienormen an und haben dadurch eine Spaltung zwischen islamischen und westlichen Staaten im Rat verursacht. Zuletzt forderte dieser auf Initiative Pakistans 2012 die Staaten mehrheitlich auf, in ihren Rechts- und Verfassungssystemen angemessenen Schutz gegen die „Beleidigung der Religion“ zu gewährleisten. Kritiker befürchten zu Recht, dass solcherart in menschenrechtlichen Strukturen der Vereinten Nationen verabschiedete Resolutionen nationale Anti-Blasphemie-Normen legitimieren sollen, mit denen Journalisten, Studenten und interne religiöse Gegner strafrechtlich verfolgt werden. Dass Pakistan in dieser Diskussion die Initiative und Führung übernommen hat, ist Bestätigung dieser Kritik, wurde doch dort 1974 der sunnitischen Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya der Status einer muslimischen Gemeinschaft kraft verfassungsrechtlicher Anordnung abgesprochen und gelten seitdem Strafnormen, welche die Verletzung „religiöser Gefühle“ der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung, die durch das öffentlich bekundete muslimische Glaubensbekenntnis durch Ahmadis als begründet angesehen werden, mit Freiheitsstrafen bis hin zur Todesstrafe sanktionieren.1 Diese staatliche Intervention in einem interreligiösen Konflikt zeigt, dass der durch unterschiedliche Interpretationen der Religionsfreiheit hervorgerrufene Streit nicht allein Konflikte mit der Meinungsfreiheit hervorruft, sondern auch die Religionsfreiheit selbst unter Druck setzt. Nicht zuletzt der 2003 ausgebrochene und zusehends schärfer werdende Konfessionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten verdeutlicht die politische Dimension des Streits um die Religionsfreiheit. Lediglich eine formal-juristische Bewertung der durch die Religionsfreiheit hervorgerufenen Konflikte wäre daher unzureichend. Vielmehr ist unmittelbar beim Recht auf Religionsfreiheit anzusetzen, deren Verortung im Kontext der Menschenrechte zu analysieren und sind von hier aus die einzelnen Konfliktfelder zu bearbeiten. Der Westen hat im Streit um die Religionsdiffamierung von Anfang an eindeutig Position für die Meinungsfreiheit bezogen. Doch wird seine Glaubwürdigkeit durch die europäische Rechtsprechung erschüttert. Zwar können nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Gläubige und ihre Gemeinschaften grundsätzlich nicht erwarten, von Kritik verschont zu bleiben. Vielmehr müssten sie die Verneinung ihres Glaubens sowie auch die Verkündigung anderer Glaubensinhalte tolerieren. Würden jedoch Symbole religiöser Ehrfurcht durch provokative Karikaturen angegriffen, dürften die Staaten 1 Bielefeldt, Streit um die Religionsfreiheit, in: Erlanger Universitätsreden Nr. 77/2012, 3. Folge, S. 18. 1 gegen diese „Herabwürdigung religiöser Lehren“ ihr Strafrecht einsetzen. Die Konvention müsse in ihrer Gesamtheit gesehen und folglich Art. 10 in Übereinstimmung mit Art. 9 EMRK ausgelegt werden.2 Es kann nicht erkannt werden, welche guten Gründen diese europäische Position für die Kritik gegen den menschenrechtlich geführten Angriff islamischer Staaten, aber auch autokratischer Herrscher wie Erdogan oder Putin auf die Meinungsfreiheit zulässt. Das Beispiel „Pussy Riots“ wie auch die türkische Strafgesetzgebung zeigen, dass Staaten und Religionsgemeinschaften nicht nur „religiöse Gefühle“ und Symbole, sondern auch den vermeintlichen Glanz des Herrschers gegen Kritik und Kunst abschirmen wollen. Gewinnen die islamischen Staaten ihre Kampagne, dürfte dies daher weit über die Interpretation der Religionsfreiheit hinausgehende Folgen für die Menschenrechte haben. Für die menschenrechtlich begründete Abwehr dieser Kampagne auf die Meinungsfreiheit ist der Gerichtshof nicht hilfreich. Er bleibt juristisch abstrakt, bestimmt die Grenzen der Meinungsfreiheit nach Art. 10 und bezieht sich dabei auf seine frühere Rechtsprechung zu den Grenzen der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK, bezeichnet jedoch keine inhaltlichen Gründe, warum der Schutz der Meinungsfreiheit die Einwirkung auf Gläubige mit „unangemessenen Mitteln“ nicht einschließt, „offensive Missionierung“ und „provokative Karikaturen“ damit strafrechtlich abgewehrt werden dürfen.3 Ist das Recht auf staatlichen Schutz vor der Verletzung „religiöser Gefühle“ also allgemein anerkannt? Muss es dann nicht auch ein Recht autokratischer Patriarchen, die die Aufklärung verschlafen haben, auf Schutz gegen Kritik geben? Gegen wen richtet sich dieses Recht? Nur gegen säkulare Kritiker oder auch gegen interne religiöse und politische Gegner? Genießen Religionsgemeinschaften im pluralistischen Kontext „Artenschutz“? Um diese für den interkulturellen Diskurs lebenswichtigen Fragen beantworten zu können, bedarf es eines Begriffs der Religionsfreiheit, der nicht nur für westliche Gesellschaften Geltung beanspruchen kann. Wie der Vorstoß der islamischen Staaten im Menschenrechtsrat vor Augen führt, muss die Verständigung auf diesen Begriff über kulturelle und religiöse Differenzen hinweg auf der Basis allgemein gültiger Kriterien gesucht werden. Dabei ist auch nach dem Standort der Religionsfreiheit im Kontext der Menschenrechte zu fragen. II. Der historische Kampf für Religionsfreiheit gegen Religionsgemeinschaften Die Suche nach einem allgemein anerkannten Begriff der Religionsfreiheit führt auf die historische Entwicklung der Religionsfreiheit und damit auf die europäische Geschichte. Denn in dieser wurde die heute allgemein anerkannte Religionsfreiheit wie auch das heute allgemein anerkannte Konzept der Menschenrechte hervorgebracht. Die europäisch geprägte Entwicklung der Religionsfreiheit verweist aber auch auf die Begriffe, die für die Entfaltung der Religionsfreiheit so wesentlich sind, auf den säkularen Staat und eine diesen tragende pluralistische demokratische Gesellschaft. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, wird doch damit für den interkulturellen Diskurs auf ein europäisches Modell zurück gegriffen. Der Rüge der eurozentrischen Blickverengung voran geht jedoch die Analyse der historischen Entwicklung der Religionsfreiheit. Diese zeigt auf, dass es beim Kampf um Religionsfreiheit gerade nicht um einen privilegierten Schutz für Glaubensgemeinschaften, sondern zuallererst um das subjektive Recht auf Religionsfreiheit ging. Die europäische Freiheitsgeschichte und mit ihr Religionsfreiheit nahm mit der Reformation, in Hegels pathetischen Worten der „alles verklärenden Sonne, die auf jene Morgenröte am EGMR, Series A no. 295 A Rdn. 47 f. – Otto-Preminger-Institut v. Austria (1994). EGMR, SeriesA no. 260-A Rdn. 49 – Kokkinakis (1993): Die griechische Regierung habe nicht dargelegt, „in what way the accused hat attempted to convince his neighbour by improper means.“ 2 3 2 Ende des Mittelalters folgte“,4 ihren Beginn. Die Reformation ging aus einer tiefreichenden Glaubwürdigkeitskrise des Papsttums hervor5 und bedeutet in der neuzeitlichen Entwicklung einen entscheidenden Schritt hin zu einer Verselbständigung religiöser Individualität gegenüber kirchlich-doktrinärer Autorität und zur Herausbildung einer säkularen Staatsauffassung, also der Entlassung des Staates aus kirchlicher Herrschaft6, der Trennung von weltlicher und religiöser Autorität. Die Einordnung des Menschen in religiös-kirchlich geprägte Denk- und Handlungsstrukturen wie die Unterordnung der weltlichen unter die geistliche Macht wurden in Frage gestellt. Die humanistische und die protestantische Tradition haben einen Individualisierungsschub im religiösen Kontext bewirkt, die humanistische durch ein neues Bewusstsein menschlicher Freiheit und Würde, die protestantische durch die Betonung religiöser Unmittelbarkeit und Innerlichkeit.7 Die Reformation hat also eine theologische Reflexion ausgelöst, die das religiöse Bewusstsein mit dem weltanschaulichen Pluralismus und den menschenrechtlichen Legitimationsgrundlagen des säkularen Staates ausgesöhnt hat.8 Damit wurden auch die Voraussetzungen für einen interkulturellen Diskurs geschaffen. Zunächst führten jedoch die christlichen Religionsgemeinschaften im 16. und 17. Jahrhundert einen langen Bürgerkrieg gegeneinander. In diesem Kampf von Reformation und Gegenreformation nahm das Recht auf Religionsfreiheit seinen Beginn. Im anschließenden Zeitalter der Aufklärung wurde es formuliert und in den revolutionären Umbrüchen des 18. Jahrhunderts politisch durchgesetzt. Im Beginn jedoch als Recht des Herrschers: Nach bewaffneten Konflikten im Reich erhielten die Landsherren im Augsburger Religionsfrieden (1555) die Freiheit gegenüber Papst und Kirche, ihre Religion zu wählen.9 Untertanen, die nicht die Religionszugehörigkeit ihres Landesherrn annehmen wollten, wurde das Recht eingeräumt, in ein Territorium ihres Glaubens auszuwandern („cuius regio, eius religio“). Bereits 1492 hatte sich dieses historische Muster in Spanien herausgebildet, als dort ein Edikt Juden vor die Wahl stellte, sich entweder taufen zu lassen oder auszuwandern.10 Historisch bildete sich die Religionsfreiheit also zunächst nicht als Recht des Bürgers gegen den Staat, sondern als Recht des Landesherrn gegen den Papst heraus. Das mit diesem Herrscherrecht verbundene Recht auf Auswanderung für Andersgläubige war jedoch ein Recht des Bürgers. Erstmals wurde den Menschen damit das Recht gewährt, eine andere Religion auszuüben als ihr Herrscher, freilich um den Preis des Verlustes der politischen Gemeinschaft. Diese Entwicklung ließ sich nicht mehr zurückdrehen. Nach der Konfessionsspaltung wuchs die Einsicht, dass religiöse Konflikte mit obrigkeitlichen Toleranzedikten wie dem cuius regio, eius religio nicht dauerhaft befriedet werden konnten, weil der Friedenskompromiss von beiden Seiten lediglich als geringeres Übel im Vergleich zum offenen Konflikt angesehen wurde und nur auf Zeit galt. Katholiken und Protestanten sahen sich jeweils weiterhin als die wahren Vertreter der Christenheit und waren weit davon entfernt, der anderen Konfession, geschweige denn weiteren anderen, wie etwa den Calvinisten, eine innere Berechtigung zuzusprechen. So erwies sich die Situation friedlicher Koexistenz und Toleranz in der Folgezeit als instabil. Die Protestanten griffen den weiterhin bestehenden „geistlichen Vorbehalt“ an, der das Überwechseln geistlicher Würdenträger zu anderen Konfession nur bei Verlust ihrer Ämter und Einkünfte zuließ und damit die Säkularisation geistlicher 4 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 1980, S. 491. Ausführlich hierzu von Friedeburg, Europa in der frühen Neuzeit, 2012, S. 63 ff., 256 ff., 346 ff. 6 Böckenförde, Staat,Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 43. 7 Zum Folgenden Forst, Toleranz und Konflikt, 2003, S. 128 ff., 153 f., 174 ff., 186 ff., 194 ff. 8 Habermas, Nachmethphysisches Denken II 300 9 Von Friedeburg, Europa in der frühen Neuzeit, 2012, S. 96 f., 214 ff.; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, S. 271. 10 Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 1995, S. 56. 5 3 Fürstentümer verhindern sollte. Die Katholiken versuchten im Zuge der Gegenreformation, den protestantischen Glauben zurückzudrängen. Die Konflikte eskalierten und mündeten schließlich in den Dreißigjährigen Krieg. Erst der Westfälische Friede 1648 brachte eine konfessionsrechtliche Regel, die zwar auf den Augsburger Friedenskompromiss aufbaute, dabei aber auch die Rechtsstellung geduldeter Andersgläubiger verbesserte. Hier schimmert bereits eine horizontal-intersubjektive Ebene durch, auf der sich die Menschen als Bürger und Gläubige begegnen und sich fragen müssen, auf welcher Basis sie mit denen, die einen anderen Glauben haben, zusammenleben wollen. Der Kampf um das Recht auf Religionsfreiheit musste jedoch zunächst gegen die Religionsgemeinschaften, insbesondere gegen den römischen Klerus geführt werden. In der historischen Perspektive ging dem die Durchsetzung allgemeiner Menschenrechte voran, und nahm dabei die Religionsfreiheit einen besonderen, bis heute nicht vollständig geklärten Entwicklungsverlauf. Im französischen Diskurs des späten 16. Jahrhunderts wurde die Differenz zwischen Bürgern in ihren Rechten (Rechtsperson) und Angehörigen ihrer Religionsgemeinschaft (ethisch-religiöse Subjektivität) thematisiert. Ein neuzeitliches Verständnis von Religions- und Staatsangelegenheiten und gemeinsamer Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen und damit eine neue Unabhängigkeit gegenüber konfessioneller Gemeinsamkeit, also gegenüber den Religionsgemeinschaften entwickelte sich. Nicht mehr wurde vorrangig danach gefragt, wie der souveräne Herrscher mit religiöser Differenz umgehen soll, sondern wie die Einzelnen, als religiös Denkende, auf die Pluralität von Religionen reagieren sollten. Dies brachte ein Verständnis von Religionsfreiheit hervor, dass sich von den Religionsgemeinschaften emanzipierte Die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen erlaubte es nicht mehr, den eigenen Glauben als überlegen herauszustellen. Die einzelnen Gläubigen waren zwar überzeugt, dass ihr partikularer Glaube der wahre war, mussten aber anerkennen, dass die Anderen ebenfalls nicht grob irrationale oder unmoralische Glaubensüberzeugungen hatten. Damit waren im religiösen Diskurs die Grenzen der Verständigung und des Überzeugenkönnens erreicht worden. Der wahre Grund für diesen intersubjektiven Konflikt lag im Wesen der Religion selbst, die sich weder auf eine bloße Meinung noch auf Wissen gründet, sondern sich einzig und allein einem Glauben verdankt, der nicht auf Beweisen und Argumenten gegründet werden kann. Bis zu der Einsicht, dass der Grund für diesen Konflikt im Wesen der Religion selbst liegt, es also in religiösen Streitfragen keinen neutralen Richter gibt, mussten jedoch lange blutige Kämpfe ausgetragen werden, und es bleibt nur zu hoffen, dass die praktische Vernunft den Akteuren des aktuellen innermuslimischen Konfessionskriegs einen anderen als den europäischen Leidensweg weist. III. Hervorbringung subjektiver Religionsfreiheit im Kampf um Bürgerrechte Im 16. Jahrhundert emanzipierte sich zwar der souveräne Staat von der Religion. Dies führte aber nicht zu einer vollständigen Säkularisation. Das 17. Jahrhundert wurde hingegen vom Diskurs der politischen und individuellen Souveränität geprägt, und brachte neue Formen gesellschaftlichen Lebens und politischer Organisation und damit eine säkulare Staatsauffassung hervor. Im englischen Liberalismus11 wurde vor dem Hintergrund der dortigen religiösen Konflikte ein individuelles Naturrecht auf Religionsfreiheit gefordert, das dem Staat vorangeht und als persönlichstes Eigentum (birthright) nicht veräußert werden kann. Mehr noch: es gehört zu den Rechten, zu deren Sicherung der Staat erst durch die Einzelnen eingerichtet wird. Die Menschen sind nicht mehr von Natur aus Teil einer sozialen 11 Zum Folgenden Forst, Toleranz und Konflikt, 2003, S. 223 ff., 352 ff., 372 ff., 395 ff., 423 ff., 442 ff. 4 Ordnung, sondern frei. Die Rechte der Individuen sind von Gott verliehen, natürlich und „heilig“. Hingegen ist die Herrschaft des Staates künstlich, gegründet auf einer Übereinkunft der Bürger miteinander. Der politische Souverän wurde also nicht länger als von Gott eingesetzt angesehen. Das Argument des birthright galt für politische und religiöse Freiheit gleichermaßen. Das Recht auf Religionsfreiheit ging also mit dem Recht auf demokratische Selbstbestimmung einher. Auch die Freiheit des Gewissens und des Kultes wurden als unveräußerlich und vorstaatlich begriffen. Eine staatsbürgerliche Öffentlichkeit wurde eingefordert, politisch wegen der Rechtfertigungsbedürftigkeit politischer Macht, religiös wegen der Notwendigkeit und Produktivität des öffentlichen Wahrheitsstreits. Was bereits in der niederländischen Revolution erkennbar wurde, wurde im englischen Liberalismus fortgesetzt. Dieser führte Legitimation des Staates auf einen Konsens der Bürger zurück, die bestimmte Freiheiten nicht an ihn abtraten, sondern ihn als Instrument der Wahrung dieser Freiheiten verstanden. Damit trat der staatstheoretische Diskurs in eine neue Phase ein, die in den Erklärungen individueller Recht in der Amerikanischen und Französischen Revolution gipfeln wird. Das war die eigentliche Bedeutung der Rede von dem birthright auf Freiheit. Dieses liberale Verständnis der Menschenrechte und das hiermit notwendig verbundene Projekt des säkularen Staats setzte sich aber allgemein erst nach der Aufklärung durch: Die Aufklärer richteten ihre Kritik gegen religiöse Intoleranz vorrangig gegen die mit sozialen Privilegien ausgestattete, als despotisch angesehene Kirche und auch gegen positiv verfasste Religionen selbst. Gegen Offenbarungsreligionen wurde die „natürliche Religion“, die „Vernunftreligion“, in Stellung gebracht. In erster Linie richtete sich die Kritik gegen die Institution der Kirche und deren Privilegien, erst in zweiter gegen die unzureichend legitimierte politische Macht. Den „aufgeklärten Absolutismus“, der Religionsfreiheit garantierte und die Zensur abschaffte, nahm die Aufklärung hin, und es sollte noch dauern, bis sich das Recht auf politische und nicht nur religiöse Selbstbestimmung politisch durchsetzte und den aufgeklärten Absolutismus ablöste. Die „Vernunftreligion“ hielt Toleranz zwischen den Religionen auf der Basis einer diskursiven Verständigung für möglich, lehnte deshalb „Glaubenszwang“ ab, sah aber nicht die Notwendigkeit des säkularen Staates. Vernunftreligion wurde als die einzige Religion, die sich vor sich selbst schützen kann, verstanden. Sie setzte eine universelle Moral und einen von umstrittenen Dogmen oder Offenbarungen gereinigten Gottesglauben voraus, der mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht kollidiert konnte. So gründete Rousseau den Gesellschaftsvertrag auf eine „sittliche Einheit der Bürger“ und forderte, die Trennung Luthers in zwei Reiche zurückzunehmen, weil nach seiner Auffassung ein grundlegender Konflikt zwischen Gott und Gesetz nicht auftreten kann.12 Für Rousseau und stärker noch für Voltaire war die wichtigste Aufgabe der Zeit der Kampf gegen religiösen Fanatismus und das diesem angemessene Mittel eine „undogmatische Religion“, die im Wesentlichen die moralischen Pflichten aller Menschen und Bürger enthält. Da die Intoleranz nach dem Verständnis der Aufklärer auf die Offenbarungsreligionen zurückging, führte die durch sich selbst aufgeklärte Vernunft keineswegs zur Abschaffung aller Religionen und zum Atheismus, vielmehr zur „reinen Religion“, die die „verunreinigten“ Offenbarungsreligionen ablöste. Bei Kant begründete die Religion nicht länger die Moral, sondern umgekehrt bringt das moralische Bewusstsein aus sich heraus eine „moralische Vernunftreligion“ hervor.13 Damit erwies Kant sich als Vollender der Aufklärung im doppelten Sinne. Einerseits verselbständigt sich die Moral gegenüber der Religion. Andererseits führt ihn gerade dieser Gedanke hin zu einer vernunftgeleiteten Versöhnung, ja, sogar zur Aufhebung religiöser Differenzen. Ihm wird jedoch vorgehalten, er ziehe in seinen Schriften die christliche gegenüber anderen, insbesondere der jüdischen Religion vor. Er habe 12 Forst, Toleranz und Konflikt, 2003, S. 373. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1981, S.676 ff.; kritisch hierzu Habermas, Nachmetaphysisches Denken II, 2012, S. 202 ff. 13 5 zunächst den Menschen als autonome moralische Person aus dem Horizont der religiösen Tradition herausgelöst, ihn dann aber wieder in einen rekonstruierten Horizont einer universalistischen Religion hineingestellt, die kritisch betrachtet weder universalistisch sei noch aus der Religion folge.14 Die Aufklärung lehnte Glaubenzwang zwar ab und beharrte auf einer strikten Trennung von Religion und (Zwangs-)Recht, verdammte aber den Atheismus. Damit war sie noch weit von einem modernen, universell geltenden Verständnis der Religionsfreiheit, das sich auch mit der Meinungsfreiheit aussöhnen will und kann, entfernt. Und es verwundert nicht dass gegen die Vernunftreligion die ein alle, auch Atheisten, umfassendes Toleranzverständnis ablehnt, eine radikale Gegenposition in Stellung gebracht wurde, die ihrerseits eine Versöhnung nicht zuließ: Die Materialisten lehnten alle Religionsauffassungen ab und waren überzeugt davon, dass es so lange zu keiner wahren Toleranz kommen kann, wie es überhaupt noch Religion gibt, sei sie traditionell positiv oder eine der „Vernunft“. Die Materialisten ziehen damit die radikale Konsequenz aus der Einsicht der Aufklärer, dass Religionen zur Intoleranz neigen und waren überzeugt, dass der Diskurs zwischen den Religionen angesichts der Begrenztheit der Vernunft zwischen den Religionen den auf religiösen Wahrheitsansprüchen gründenden Fanatismus nicht bekämpfen konnte. Allein der Atheismus konnte ihrer Ansicht nach die Prüfung der Vernunft bestehen. Es waren dann die amerikanischen Erklärungen und ihr folgend die französische Erklärung der Menschenrechte, die ja auch die Allgemeine Erklärung von 1948 beeinflussten, die bestimmte Rechte nicht länger als vom Herrscher zu gewährende einforderten. Vielmehr nahmen den Platz des Herrschers die souveränen Bürger ein, die es nunmehr selbst waren, die sich gegenseitig bestimmte Freiheiten zusicherten. Toleranz in Religionsfragen wurde nicht mehr vom Herrscher garantiert. Diese nach Kant „hochmütige“ Toleranz in Religionsfragen wurde abgelöst durch die Erklärung und Festschreibung der Menschen- und Bürgerrechte. Die Garantie der Religionsfreiheit gründete damit auf dem positiv festgeschriebenen gegenseitigen Respekt der Bürger mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen. Die Frage der Religionsfreiheit gewann in den revolutionären Umgestaltung des Politischen im 18. Jahrhundert eine nicht zu unterschätzende Rolle. Erstens hat der Gedanke der „natürlichen“ Freiheit religiöse Wurzeln, da für viele Naturrechtstheoretiker die Individuen für den Staat nicht disponibel sind, da Gottes Eigentum. Der Staat übertritt die von Gott gezogene Grenze, wenn er Individuen in Rechten antastet, die aus ihrer „gottgegebenen, natürlichen“ Freiheit folgen. Zweitens entspringt das Recht auf Religionsfreiheit dem Recht auf Gewissensfreiheit. Das Gewissen ist nach Luther aber an Gott gebunden und daher politisch unantastbar und kann an den Souverän, sei er König oder demokratisch legitimiert, nicht abgetreten werden. Die Religionsfreiheit nimmt daher in den Menschen- und Bürgerrechtserklärungen der revolutionären Umbrüche einen besonderen, in Frankreich freilich nicht unumstrittenen Platz ein. Auch wenn die religiöse Komponente für die Begründung der Menschenrechte unverkennbar ist, darf das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit jedoch nicht als eine Art „Urrecht“ und Modell für andere Rechte verstanden werden. Denn der religiösen Begründung der Menschenrechte und Menschenwürde immanent ist stets die Gefahr, dass sie an gewissen Grenzen, welche die religiöse Perspektive zieht, auf eine mit dem Sinn dieser Rechte nicht vereinbare Weise enden wird, insbesondere bei denen, die diese religiöse Sicht auf den Menschen nicht teilen. Es ist Kant, der die bereits vorher philosophisch begründete Trennung von Religion und Moral konsequent zu Ende denkt und die Würde des endlichen Vernunftwesens Mensch ohne weiteren Grund als Grundlage der unbedingten Pflicht 14 Forst, Toleranz und Konflikt, 2003, S. 423, 430. 6 wechselseitiger Achtung und für die Geltung wechselseitig begründeter und anerkannter Normen und Rechte ansieht. Dies ist nicht nur möglich, sondern auch notwendig, da die Frage nach einem weiteren Grund für die Würde des Menschen ebenso wie die Antwort, die auf seine Eigenschaft, Geschöpf Gottes zu sein, verweist, die Menschenwürde insofern relativiert, als das „Menschsein“ allein als unzureichender Achtungsgrund angesehen wird, als ob es der Ehrfurcht vor Gott bedürfe, um Menschen zu respektieren.15 Es war die französische Menschenrechtserklärung (1789), die dann auf die Person als Mensch und Bürger, auf „natürliche“ und „politische“ Rechte verweist und ein neues Verständnis des Politischen begründet. Sie enthält einen Kerngehalt individueller und nicht hintergehbarer Rechte, die aber auch rechtlich institutionalisiert und konkretisiert werden müssen, und zwar allein – gegründet auf den Rechtfertigungskriterien von Reziprozität und Allgemeinheit – auf dem Weg demokratischer Selbstbestimmung. Diese Verzahnung moralischer, rechtlicher und politischer Autonomie zeigt die Möglichkeit auf, individuelle Rechte und demokratische Souveränität „gleichursprünglich“ zu begründen. Diese macht es möglich, einerseits Menschenrechte und andererseits das Recht zu begründen, in politisch autonomer Weise legitimes Recht zu setzen und Rechte zu gewähren. Und es folgt hieraus eine säkulare Konzeption individueller Rechte, die als allen wechselseitig gerechtfertigte und gegenseitig gesicherte Rechte praktische Gestalt gewinnen.16 Dadurch wird es auch möglich Menschenrechte und politische Herrschaft über kulturelle und religiöse Differenzen hinweg sowohl im nationalen wie auch im universellen Kontext zu begründen. IV. Säkularer Staat und Religionsfreiheit Die Religionsfreiheit wurde in den revolutionären Kämpfen des 18. Jahrhunderts um die Bürgerrechte hervorgebracht. Konflikte – auch die aktuellen - müssen also im Gesamtkontext bürgerlicher Rechte konzeptionell angegangen und strategisch befriedet werden. Der historische Blick auf die Konfessionsspaltungen in Europa lehrt, dass vom Religionsstreit zerrissene Gesellschaften aus diesen Konflikten herauskommen, vorausgesetzt, die Beteiligten versichern sich eines neutralen Streitschlichters, der von allen anerkannt und dem auch die Kompetenz verliehen wird, nach von allen akzeptierten Regeln mit der erforderlichen Autorität zwar nicht den religiösen Streit, aber dessen gewaltsame Austragung einzudämmen. Diese Suche nach dem Schlichter im gewaltsam ausgetragenen religiösen Streit führt zum säkularen Staat. Die Frage stellt sich aber, ob angesichts gesellschaftlicher Widerstände in vielen Regionen der Welt, der scheinbar häufig kaum beherrschbaren, gleichsam eruptiv ausbrechenden religiösen Konflikte insbesondere in Südostasien und der Konfessionsspaltungen in der islamischen Welt ein ernsthafter Wille zur Suche besteht. Kann dieses Projekt in den betroffenen Gesellschaften überhaupt politisch durchgesetzt werden? Es erleichtert die Antwort nicht, dass von Interessen nationaler und internationaler Akteure bestimmte Strategien Eskalationen häufig erst hervorrufen oder jedenfalls befördern. Andererseits macht dies aber auch bewusst, dass es Akteure und keine Naturgewalten sind, die diese Konflikte beherrschen oder für ihre Interessen ausnutzen. Diese können aber in politische Handlungsstrategien einbezogen werden. Dieser rein strategisch pragmatische Ansatz beantwortet aber noch nicht die Frage, wie der friedensstiftende Staat, in dessen Rahmen die Konflikte zu befrieden sind, sich konzeptionell herausbildet. Am Ausgang steht das revolutionäre Verständnis der Bürgerrechte, wonach die Bürger selbst den Souverän verkörpern und damit selbst für den Frieden verantwortlich sind. Im Absolutismus stand der Staat als Herrschaftsorganisation gewissermaßen in sich selbst, soziologisch getragen von 15 16 Forst, Toleranz und Konflikt, 2003, 444. Forst, Toleranz und Konflikt, 2003, 451. 7 Königtum, Beamtentum, Herr und Adel, und war als solcher von der durch das Bürgertum getragenen Gesellschaft organisatorisch und institutionell getrennt.17 Bei Hegel ist der Staat zwar unbewegter Selbstzweck des objektiven Geistes.18 Seine Aussagen können aber auch so verstanden werden, dass für ihn die subjektive Basis des Staates die freiheitliche Gesinnung der Bürger ist.19 Hermann Heller schließlich war es, der den Staat als werdende Geschichte verstand und diesen Ansatz gegen die traditionelle Staatslehre, den Staat als starre Dingwelt zu konzipieren, die von der Gesellschaft getrennt ist, richtete. Trennte doch insbesondere die deutsche Verfassungslehre wie im Absolutismus scharf zwischen Staat und Gesellschaft, Politik (Staat) und dem Politischen (Gesellschaft).20 Mit einem derartigen Staat kann Demokratie keinen Staat machen. Dieser ist aber auch nicht fähig, den religiösen Streit anders als durch das Schwert zu schlichten, was ihn jedoch nicht befriedet. Nach Heller finden die Staatsbürger den Staat zwar schon als bereits bestehende objektive– wirkliche Gestaltung vor. Diese Wirklichkeit ist aber keine starre, von den Staatsbürgern abgelöste statische Überinstanz. Vielmehr ist er als Sozialgebilde geformtes Leben. Menschliche Willensakte allein sind es, die den staatlichen Gestaltzusammenhang immer von neuem aktualisieren.21 Die „Substanz“ dieses Staates ist ein „tägliches Plebiszit“.22 Die Beschreibung dieses Modells als Vertrag im Sinne der Übereinkunft zwischen freien Bürgern als „typisch westliches Ideal“,23 greift aber zu kurz und verschüttet die erforderlichen Ressourcen für den interkulturellen Diskurs. Für die Hervorbringung dieses Projekts müssen die Bürger sich nicht auf die philosophischen Grundlagen des Staates einigen. Es ist für die Aufgaben der Streitschlichtung und Förderung der Wohlfahrt der Bürger unerheblich, ob der Staat nun als Forderung aus den Vertragstheorien der Aufklärung24 oder aus anderen Quellen hergeleitet wird. Erforderlich ist vielmehr, dass die Bürger sich auf ein System einigen, das von allen anerkannt werden kann. Die Geschichte der Religionsfreiheit ist eine Erzählung über Menschen- und Bürgerrechte und damit eine über den säkularen Staat. In diesem wird die Gesellschaft als die im „Bindemittel des Rechts und streng beobachteter Gewohnheiten verkehrende Einheit von Bürgern“25 verstanden. Um den religiösen Streit zu schlichten, verstehen sich die Angehörigen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen, die in diesen ihr Eigenleben führen und ihre eigenen partikularen Wahrheiten pflegen und Interessen verfolgen, Bürger, die ihre interessengeleiteten Bindungen abstreifen und sich im gesellschaftlichen Prozess der Staatshervorbringung zu Subjekten wandeln, die sich mit anderen Subjekten darin identifizieren, dass sie sich gemeinsam rational auf den Staat beziehen. Dadurch wird der Bürger zum Staatsbürger. Jeder Bürger kann so an der demokratischen Selbstgesetzgebung mitwirken. Dadurch kann Gefahren bloß passiver Hinnahme von Regierungsbeschlüssen entgegen gewirkt werden.26 Ein derartiges Staatsverständnis prägt demokratische Verfassungsstaaten, wenn auch keiner von ihnen in Reinkultur nach diesen Regeln 17 Böckenförde, Staat,Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 43. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke 7, 1971, S. 399. 19 Franz Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, 1980, S. 182; zum Ganzen Marx, Eine menschenrechtliche Begründung des Asylrechts, 1984, S. 29 ff. 20 S. hierzu Marchart, Die politische Differenz, 2010. 21 Heller, Staatslehre, S. 49 ff., 60 ff.; s. hierzu Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band 1914 – 1945, 1999, S. 183 ff.; Böckenförde, Staat,Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 192. 22 Plessner, Die verspätete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, 1974, S. 63. 23 Plessner, Die verspätete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, 1974, S. 63. 24 Grundlegend zuletzt Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, 223 ff.; gegen diesen Kontraktualismus Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, 2010, S. 372 ff. 25 Plessner, Die verspätete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, 1974, S. 63. 26 Honneth, Das Recht der Freiheit, 2011, S. 590 f., mit Verweis auf Hans Kelsens Verfassungslehre. 18 8 funktioniert. Das demokratische Projekt ist ja auch kein Endzustand, sondern eine Aufgabe, die sich täglich neu stellt. Kann dieses Projekt aber gelingen, wenn sich Angehörige weltanschaulicher und religiöser Gruppierungen mit einem solcherart zurück genommenen Gesellschaftsmodell nicht zufrieden geben und mehr als lediglich über die Herstellung eines weltanschaulich neutralen Systems diskutieren wollen? Religiöse Bürger sind in ein Sinncodierungssystem eingebunden, das Grundbestandteil ihrer Kultur ist und sämtliche Sphären der individuellen und sozialen Lebenswelt thematisch umfasst und sinnstiftend durchdringt. Ergreift Religion aber alle Lebensbezüge religiöser Bürger und verbürgt sie damit die Einheit ihrer personalen Identität,27 stellt sich für das demokratische Projekt ein Dilemma: Einerseits dürfen im Prozess der Hervorbringung des Staates partikulare Gruppierungen nicht vom Diskurs ausgeschlossen werden, andererseits müssen sich die Bürger auf Regeln verständigen, die ihren gemeinsamer Staat befähigt, weltanschaulich neutral Konflikte zu befrieden. Der Laizismus zieht aus diesem Zielkonflikt der Bürger die Konsequenz, dass religiöse Gemeinschaften mit ihren ureigenen Anliegen nicht am Diskurs teilnehmen können, sondern nur, wenn sie sich zurücknehmen. Genau dies erscheint jedoch den Gläubigen unzumutbar. Der Laizimus kann also das zentrale Problem des demokratischen Projekts nicht lösen. Solange Religionsgemeinschaften in der politischen Öffentlichkeit eine vitale Rolle spielen, müssen sich alle Bürger darüber im Klaren sein, dass eine deliberative Politik ebenso sehr dem öffentlichen Vernunftgebrauch der religiösen wie dem der säkularen Bürger entspringt.28 Das kulturelle Potenzial religiöser Bürger darf der gesellschaftliche Diskurs nicht ohne Not ausschließen. Daher ist der gesellschaftliche Diskurs der Staatshervorbringung näher zu beleuchten: V. Hervorbringung des säkularen Staates im postsäkularen Diskurs Setzt das Gelingen des demokratischen Projekts die Zustimmung aller, auch religiöser Bürger voraus, sind keine guten Gründe dafür ersichtlich, aus dem Diskurs über die legitime Form des kulturell-pluralistischen Zusammenlebens und über die Regeln des gemeinsamen Zusammenlebens bestimmte Gruppen auszuschließen. Die Teilnahme aller, auch der religiösen Bürger an diesem Prozess ist daher unabdingbar.29 Letzteren muss daher die Zumutung erspart werden, ihre religiöse Überzeugung zu bremsen, wenn es hierfür keine guten Gründe gibt. Ein Ausweg könnte darin bestehen, zwischen dem Diskurs über den Staat und dem gesellschaftlichen Diskurs zu differenzieren. Die sich säkular verstehende pluralistische Gesellschaft folgt einer anderen Bewegungsdynamik als der säkulare Staat. Und doch wird dieser durch die säkulare Gesellschaft hervorgebracht. Gelingt es, eine Trennung zu vollziehen, zwischen der Verständigung der Bürger auf „ihren Staat“ einerseits und ihrem Streit über das richtige Leben andererseits, könnte das aufgezeigte Dilemma überwunden werden. Die erste Diskursebene erfordert die Verständigung auf von allen anerkannte und für alle als verbindlich geltende Regeln. Das ist das tägliche Plebiszit im säkularen Staat. Beim Streit über ihre heterogenen Weltanschauungen dürfen die Bürger hingegen nicht erwarten, dass ihre partikulare sich als allgemein verbindlich durchsetzen wird. In einem von Vernunft geprägten Diskurs wird es religiösen Bürgern einleuchten, dass ihre Offenbarungswahrheiten gegen rational begründete Revisionen nicht immun sind, sie also keine Theorien über die Welt darstellen, die als Gegenstand eines rationalen Verifikations- und Falsikationsprozesses – ähnlich dem über empirische Behauptungen oder gar wissenschaftliche Hypothesen – angesehen werden können. Um die der sich selbst gewissen Vernunft entsprechende 27 28 29 Barth, Religion in der Moderne, 2003, S. 25, 57, 148 f. Habermas, Nachmethaphysisches Denken II, 2012, S. 251. Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, S. 701. 9 Selbstrelativierung vorzunehmen, bedarf es keines Verzichts auf den Anspruch „absoluter“ ethischer Wahrheiten, sondern einer Einsicht in die Differenz verschiedener kultureller und religiöser Kontexte,30 ohne dass dies einen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust für die unterschiedlichen Kontexte zur Folge haben muss.31 Religiöse Bürger dürfen Respekt für ihre Interpretation der Welt erwarten und auch um Anerkennung für ihre Wahrheiten und Anschauungen werben. Eine solcherart dynamische Streitkultur bringt ja die Gesellschaft hervor. In ihr verwirklichen sich kulturelle und religiöse Gehalte und Potenzen über die Vorstellung vom richtigen Leben und – sofern diese Vorstellungen das Ganze im Auge haben – vielleicht gesellschaftliche Solidarität, die es heute in einer zunehmend den Gesetzen ökonomischer Zweckrationalität unterworfenen Welt mehr denn je braucht. Um die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erforderliche Solidarität herzustellen, darf keine gesellschaftliche Gruppe aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. Dieser Diskurs muss auch für religiöse Wahrheitsansprüche und andere partikulare Weltanschauungen offen bleiben. Sein Ziel ist die Hervorbringung gesellschaftlicher Solidarität. Soweit es hingegen um die gesellschaftliche Hervorbringung des Staates geht, müssen sich die Beteiligten auf Normen verständigen, die für alle Geltung haben. Die liberale Verfassung wird nicht metaphysisch, sondern weltanschaulich neutral begründet. Partikulare Weltanschauungen und religiöse Wahrheitsansprüche prägen die Gesellschaft mit, bringen aber nicht den säkularen Staat hervor. Säkularisierung des Staates bedeutet also nicht notwendig Säkularisierung der Gesellschaft. Das Projekt des säkularen Staates kann aber nur gelingen, wenn religiöse Bürger ím gesellschaftlichen Diskurs die Trennung zwischen den letzten Fragen nach dem Heil und der Erlösung einerseits und den vorletzten, auf die Organisierung der Gesellschaft und des Staates zielenden Fragen andererseits vollziehen können. Für den säkularen Bürger ist diese Differenzierung ohne Bedeutung. Nachmetaphysisches Denken ist nicht mehr dem Anspruch auf einen privilegierten Zugang zur Wahrheit verhaftet. Vielmehr entscheidet die Verfahrensrationalität, ob etwas überhaupt wahr oder falsch sein kann.32 Den säkularen wie den religiösen Bürger interessiert, wie nach praktischen Vernunftregeln eine Ordnung hergestellt, die von allen anerkannt werden kann. Allerdings muss der säkulare Bürger anerkennen, dass es in der Gesellschaft ein Bedürfnis für die Suche nach den letzten Fragen gibt. Die religiösen Bürger ihrerseits können im Interesse des inneren Friedens nicht erwarten, dass ihre Wahrheitsansprüche allgemein verbindlich werden können. Notwendig führt dies zur Trennung von Religion und Staat. Dadurch wird die Religion vor dem Staat, der Staat vor der Religion und die Bürger vor ihren Religionsgemeinschaften geschützt. Die Annahme, durch die Trennung von Religion und Staat werde in erster Linie die säkulare Kultur geschützt, ist damit unzutreffend.33 Die hier dargestellte Differenzierung im gesellschaftlichen Diskurs mag aus theoretischer Sicht das zentrale Problem des demokratischen Projekts lösen. Viele ziehen jedoch unter Hinweis auf die rational nur unzulänglich steuerbare gesellschaftliche Dynamik sein praktisches Gelingen in Zweifel. Die menschenrechtliche Suche, die auf eine optimale Teilnahme aller am friedlichen Diskurs einerseits sowie auf eine Befriedung religiöser, gewaltsam ausgetragener Konflikte andererseits gerichtet ist, zielt daher auf die Regeln, nach denen der säkulare Staat und sein Recht hervorgebracht wird. Kann es gelingen, den säkularen Staat als gesellschaftliches Projekt hervorzubringen und zugleich dem Anspruch der Bürger 30 31 32 33 Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, S. 644, 674. Bielefeld, Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 187. Habermas, Nachmethaphysisches Denken, 1988, S. 14. Rawls, Das Recht der Völker, 2002, S. 204. 10 auf Ausübung ihrer weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen Raum zu geben? Jürgen Habermas hat mit Bezug auf John Rawls überzeugend aufgezeigt, wie der gesellschaftliche Diskurs zur Hervorbringung des säkularen Staates unter Einbeziehung von Religionsgemeinschaften gelingen kann.34 Dafür verwendet er den Begriff des postsäkularen Zeitalters. Dieses werde nicht durch den Verzicht der Bürger auf ihre partikularen Überzeugungen und Übereinstimmungen geprägt, sondern durch Diskursregeln, die Glaubensgemeinschaften eine Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs eröffne, ohne ihnen nicht akzeptable Zumutungen aufzuerlegen. Das postsäkulare Zeitalter gehe dabei von einem tendenziellen Bewusstseinswandel in weitgehend säkularisierten oder „entkirchlichten“ Gesellschaften aus, die sich inzwischen auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften eingestellt hätten und mit dem Einfluss religiöser Stimmen sowohl in der nationalen Öffentlichkeit wie auf der internationalen Bühne rechneten. Damit verweist Habermas implizit auf Probleme westlicher Gesellschaften einerseits, deren säkulares Selbstverständnis durch muslimische Einwanderer herausgefordert wird, andererseits auf Herausforderungen, die im internationalen Diskurs durch religiös begründeten Terrorismus aufgeworfen werden. Nach Habermas setzt ein Gelingen des gesellschaftlichen Diskurses im säkularen Staat voraus, dass ein jeglicher theologischer Gehalt, wenn er in modernen Gesellschaften unbeschränkte Geltung gewinnen will, „ins Säkulare einwandern“ und deshalb die Grenze zwischen den Diskursen des Glaubens und des Wissens strikt einhalten muss. In hochindustrialisierten Gesellschaften, die bei ihren Leistungsträgern und Konsumenten insbesondere auf ökonomischen Erfolg, Machtopportunismus und Selbstverwirklichung setzten, also egozentrische Einstellungen prämierten, wachse inzwischen die Einsicht, dass ihnen ein Moment der Entsolidarisierung immanent sei. Unter dem Zwang ökonomischer Imperative, die tief in private Lebensbereiche eingedrungen seien, zögen sich die eingeschüchterten Individuen immer mehr in die Blase des rationalen Egoismus zurück und kapselten sich gegen ihre Umwelt ab. Gleichzeitig schwinde unter der Wucht systemischer Zwänge, die sich einer intentionalen Einflussnahme immer stärker zu entziehen schienen, die Bereitschaft zu kollektivem Handeln und das Bewusstsein, das die vereinigten Bürger durch solidarisches Handeln ihr gesellschaftliches Schicksal gestalten könnten. Der postsäkulare Diskurs soll also kulturelle Ressourcen für eine Solidarisierung freizusetzen, um den gesellschaftlichen Zusammenhang zu wahren. Hierzu können Religionsgemeinschaften einen wesentlichen Beitrag leisten. Diese Potenziale ohne Not aus dem säkularen Gesellschaftsprojekt auszuschließen, schwächte den Diskurs zur Herstellung von Solidarität. So gewinnt dieses solidarische Potenzial in westlichen Gesellschaften z.B. durch kirchlich gebundene Aktivisten und Gruppen praktische Gestalt, die sich für sozial Schwache und für Asylsuchende und Flüchtlinge einsetzen und maßgebend zivilgesellschaftliche Netzwerke zusammen mit nicht religiös motivierten Aktivisten tragen. Eine liberale Verfassung, die auch um der Gewährleistung religiöser Lebensformen willen existiert, muss nach Habermas also religiöse Bedürfnisse ernst nehmen, freilich unter einem „Übersetzungsvorbehalt“ stellen: Allen Bürgern stehe es in der politischen Öffentlichkeit frei, ob sie sich der religiösen Sprache bedienen wollten. Allerdings müssten sie in diesem Fall akzeptieren, dass der Gehalt ihrer religiösen Äußerungen in eine allgemein zugängliche Sprache „übersetzt“ werde, bevor er in Agenden und Verhandlungen staatlicher Entscheidungsgremien Eingang finden könne. So werde dem religiösen Bürger kein Verzicht auf Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs zugemutet, andererseits aber von ihm erwartet, dass er der Übersetzung seiner partikularen Überzeugungen in eine allgemein verbindliche Sprache zustimme. Dadurch könne das liberale Ziel erreicht werden, dass alle staatlich 34 Zum Folgenden Habermas, Nachmethaphysisches Denken II, 2012, S. 121 ff., 134 ff., 239 ff. S. 251 ff., 273 ff. 11 sanktionierten Entscheidungen in einer allgemein zugänglichen Sprache formuliert und gerechtfertigt werden könnten, ohne dafür die „Polyphonie der öffentlichen Stimmenvielfalt schon an der Wurzel einschränken zu müssen.“35 VI. Säkularer Schutzpatron der Religionsfreiheit Nachdem die historische Entwicklung der Religionsfreiheit nachgezeichnet wurde, kann diskutiert werden, wie die einzelnen durch diese hervorgerufenen Konfliktfelder geregelt werden können. Am Ausgang steht die durch Vernunft geleitete Einsicht, dass die Bürger sich im säkularen Staat auf Regeln verständigen, wie der von ihnen hervorgebrachte Staat ihre einzelnen Rechte schützen soll. Die Geschichte der modernen Verfassungsstaaten und des modernen Völkerrechts liefert für diesen Einigungsprozess, aus dem der säkulare Schutzpatron hervorgeht, reichhaltige Beispiele, die skeptische Zweifel zurückweisen. Freilich verläuft die Verständigung auf die Regeln, die auf den staatlichen Schutz bürgerlicher Rechte zielen, nicht ohne Spannungen und heftige soziale Konflikte. Das zeigt insbesondere das Beispiel der Religionsfreiheit. Zusätzlich wird bei diesem Freiheitsrecht die Einigung auf Regeln dadurch erschwert, dass einerseits der Schutz der Religionsfreiheit des Einzelnen zu regeln ist, andererseits Religionsgemeinschaften rechtlich in den säkularen Staat integriert werden müssen. Häufig fordern dabei gesellschaftlich bedeutsame Religionsgemeinschaften privilegierten Schutz durch den Staat, erkennen also den „Übersetzungsvorbehalt“ nicht an. Damit ist das weite Spannungsfeld aufgezeigt, das die Religionsfreiheit im gesellschaftlichen Raum erzeugt. Im Ausgangspunkt steht das subjektive religiöse Selbstverständnis, also das Recht, eine Religion oder Weltanschauung zu haben und sich nach außen zu ihr zu bekennen. Das Recht auf Religionsfreiheit schützt dabei zuallererst die „religiöse Identität“ des Einzelnen.36 Es kann nicht erkannt werden, dass sich die Bürger im Diskurs über ihren Staat über kulturelle und weltanschauliche Grenzen hinweg nicht auf Regeln zum Schutze dieses Raums der Unverfügbarkeit zugunsten jedes einzelnen Bürgers einigen und dabei sowohl Normen setzen können, die dem Staat das Eindringen in diesen Schutzraum untersagen, und solche, die den Staat verpflichten, die hierfür erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen. Denn dieses Regelwerk ist im Interesse aller. Dementsprechend schützen völkerrechtliche Abkommen die Religion und die Weltanschauung, also auch nichtreligiöse Überzeugungen. Dabei untersagt die passive Religions- und Weltanschauungsfreiheit dem Staat insbesondere, das Bekenntnis oder die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Weltanschauung vorzuschreiben oder zu untersagen.37 Der Staat darf also weder mittelbar noch unmittelbar Zwang ausüben, einer bestimmten Glaubensgemeinschaft anzugehören oder nicht. Indirekte Zwangsmittel sind z.B. die Gewährleistung von Vorrechten etwa im Steuerrecht oder beim Zugang zu öffentlichen Ämtern allein aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft. Die Kindstaufe wird daher als problematisch bewertet und allenfalls nur noch dann als gerade noch zulässig angesehen, wenn der Betroffene nach Erreichung der Religionsmündigkeit seine Religion autonom bestimmen kann und seine eigene Entscheidung rückwirkend gilt. 35 Habermas, Nachmethaphysisches Denken II, 2012, S. 239 ff. S. 251 ff., 3011, 308, 317. EuGH, NVwZ InfAuslR 2012, 1612 = InfAuslR 2012, 444 Rdn. 70 - Y. und Z., mit Anmerkung Marx, NVwZ 2012, 1615. 37 Der Schutz der Religionsfreiheit im Völkerrecht wird im folgenden dargestellt nach Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativprotokolle. CCPR-Kommentar, 1989, Erläuterungen zu Art. 18; Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention. EMRK-Kommentar, 2. Aufl., 1996, Erläuterungen zu Art. 9. 36 12 Weder der Staat noch die Glaubensgemeinschaft darf dem Einzelnen vorschreiben, was und wie er zu glauben oder nicht zu glauben hat. Die Betonung der Freiheit wie auch der Wahlmöglichkeit weist nicht nur auf das Recht hin, zwischen bestehenden Religionen oder Weltanschauungen auszuwählen, sondern umfasst auch die negative Freiheit, keiner Glaubensgemeinschaft angehören oder ohne religiöses Bekenntnis leben zu wollen. Beleg für die allgemeine Anerkennung der Konversion stellt insbesondere die Entstehungsgeschichte des 1973 in Kraft getretenen Bürgerrechtspaktes von 1966 dar. Saudi-Arabien hatte zunächst den Schutz des Religionswechsels abgelehnt. Schließlich wurde ohne Gegenstimme ein Text beschlossen, der das Recht einschließt, die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft aufzugeben und einer anderen beizutreten. Darüber hinaus ist der säkulare Schutzpatron verpflichtet, die für den Wechsel einer Religionsgemeinschaft erforderlichen gesetzlichen Bestimmungen zu schaffen. Wo eine Religionsgemeinschaft oder Kirche einen Austritt nicht kennt, muss er die Möglichkeit hierfür gesetzlich vorsehen. So wurde z.B. das schwedische Recht, das bis 1951 diese Möglichkeit nicht vorsah, von den Konventionsorganen für konventionswidrig angesehen. Bereits die subjektive Bekenntnisfreiheit des Einzelnen wird daher nicht nur als bloßes Abwehrrecht, sondern auch als staatliche Gewährleistungspflicht verstanden. Ferner umfasst der Schutz der Religionsfreiheit auch die Ausübungsfreiheit. Diese unterliegt der freien Entscheidung des Einzelnen und schließt namentlich Gottesdienst, religiöse Bräuche, Praxis und Unterricht ein. Geschützt ist auch die Unterrichtung oder Lehre in den religiösen Überlieferungen und damit auch der Versuch der Überzeugung des anderen, also der Missionierung. Es wäre jedoch zu kurz gesprungen, würde das Recht auf Religionsfreiheit nur das Recht, einen Glauben zu haben oder nicht zu haben (Bekenntnisfreiheit), schützen. Es sind keine guten Gründe ersichtlich, dass sich die Bürger nicht auf Regeln verständigen könnten, welche die Ausübungsfreiheit einschließlich der Glaubenspraxis und des Rechts, auf andere einwirken zu können, schützen. Die geschichtlich erkämpfte Unverfügbarkeit der religiösen Identität war von Beginn an nicht lediglich auf eine private Sphäre begrenzt. Vielmehr bedeutete Religionsfreiheit seit dem 17. Jahrhundert auch das Recht auf eine Pluralität religiöser Überzeugungen innerhalb desselben Staatswesens. Sie hatte deshalb auch eine politische Komponente.38 Dementsprechend haben sich die Staaten auf Normen verständigt, welche die religiöse Ausübungsfreiheit in diesem Sinne schützen.39 Die Konventionsorgane haben sogar pazifistische Gesinnungen dem Schutz der Religionsfreiheit unterstellt, weil sie Pazifismus als Überzeugung ansehen. Auch der pazifistische Aktivist, der Flugblätter verteilt, die Ausdruck pazifistischer Gesinnungen sind, genießt daher den Schutz von Art. 9 EMRK. VII. Schutzpatron auf Abwegen Da der postsäkulare Diskurs auch Glaubensgemeinschaften als solche einbezieht, eröffnet er diesen damit beträchtliche diskursive Machtperspektiven und entsteht dadurch die Gefahr, dass Kirchen und Glaubensgemeinschaften gegenüber anderen weniger stark gesellschaftlich verankerten religiösen und weltanschaulichen Bürgern im Diskurs Überlegenheit gewinnen. Besteht keine widerständige säkular geprägte Zivilgesellschaft, kann aus einem derartigen Diskurs Recht hervorgehen, das Religionsgemeinschaften privilegierte Schutzräume zu Lasten anderer verschafft. Auch in einer pluralistischen Gesellschaft ist der weltanschaulich neutrale Staat nicht immun gegen gesellschaftliche Beeinflussungen. Erlässt er Gesetze zum 38 Huber/Tödt, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, 1977, S. 164; Neumann, Das Grundrecht der Glaubens- und Religionsfreiheit, in: Schwartländer, Menschenrechte. Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung, 1978, S. 121 (130).. 39 Art. 18 Bürgerrechtspakt, Art. 9 EMRK. 13 Schutze religiöser Gemeinschaften, darf er die für das demokratische Projekt erforderliche Balance nicht verfehlen. Viele der bereits beschriebenen religiösen Konflikte haben ihren Grund im Verfehlen dieser Balance, sei es, dass staatliches Recht gesellschaftlich bedeutenden Glaubensgemeinschaften besondere Vorrechte in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, wie etwa in der Bundesrepublik gewährt, sei es, dass er diesen Gemeinschaften einen besonderen Ehrenschutz gegen Kritik bietet, wie es seit 1999 von der Organisation der Islamischen Kooperation gefordert wird, sei es, dass der Schutzpatron als Religionsstaat auftritt und das scharfe Schwert des Strafrechts gegen Kritik Einzelner oder gegen die Glaubenspraxis religiöser Minderheiten in Anwendung bringt. Von Interesse ist deshalb insbesondere, wie gewährleistet werden kann, dass bei der für erforderlich erachteten Einbindung von Glaubensgemeinschaften in den gesellschaftlichen Diskurs die für eine säkulare Gesellschaft überlebensnotwendige innere Machtbalance aufrechterhalten bleibt. Die Bürger müssen sich auf statusrechtliche Regeln für die Glaubens- und weltanschaulichen Gemeinschaften im Staat verständigen. So schützt z.B. die Europäische Menschenrechtskonvention Kirchen und Glaubensgemeinschaften und erstrecken die Konventionsorgane folglich den Schutz der Religionsfreiheit auch auf den Zusammenschluss zu einer Kirche und Glaubensgemeinschaft. Staatliches Recht hat deren Existenz auch unabhängig von ihrer Rolle als Vertreter ihrer Mitglieder zu schützen. Dabei wird für diese auch ein Freiraum vorgehalten, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln.40 Auch Art. 18 des Bürgerrechtspaktes hebt den kollektiven Charakter der Religionsfreiheit durch die Worte „allein oder in Gemeinschaft mit anderen“ hervor und gewährleistet damit Glaubensgemeinschaften als juristischen Personen die Religionsfreiheit und eine Beschwerderecht nach dem Fakultativprotokoll.41 Andererseits birgt die staatliche Gewährung von Immunität für Glaubensgemeinschaften für Andersgläubige und säkulare Bürger erhebliche diskriminierende Potenziale, die das säkulare Gesamtgefüge stören und zur Unterdrückung Andersgläubiger oder weltanschaulich neutraler Bürger führen können. Diskriminierende Potenziale lässt auch das westliche Staatsmodell frei, wenn Kirchen und kirchliche Wohlfahrtsträger wie z.B. in Deutschland gegenüber gewerkschaftlicher Organisationsfreiheit rechtlich immunisiert werden. Dadurch wird die gesellschaftliche Balance zwischen dem kollektiven bürgerlichen Recht auf Religionsfreiheit einerseits und dem kollektiven sozialen Recht auf Zusammenschluss der Arbeitnehmer andererseits verfehlt. Darüber hinaus kann z.B. das in Deutschland vorherrschende Subsidiaritätsprinzip zu zahlreichen Diskriminierungen in Einzelfällen führen. Dieses setzte zunächst staatliche Fürsorge wegen des vorherrschenden Vorrangs kirchlicher Wohlfahrtsverbände durch eine Funktionssperre schachmatt42 und wird heute diffus im Sinne eines gleichberechtigten Korporatismus bei der Erfüllung wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben gehandhabt.43 Dabei ist aber nicht sichergestellt, dass säkulare Bürger, die als Pflegepersonal Zugang zum Arbeitsmarkt suchen, von kirchlichen Einrichtungen nach den für alle geltenden Regeln behandelt werden. Hier führt das Beharren der Glaubensgemeinschaften auf ihre innere Organisationsfreiheit und Bevorzugung ihrer Glaubensangehörigen zu religiösen Diskriminierungen. Dem Funktionsprinzip des säkularen Staates läuft es zuwider, die Delegation ihm obliegender Fürsorgeaufgaben an partikulare Gruppierungen zuzulassen, ohne zu gewährleisten, dass auch der berufliche Zugang zur freien Wohlfahrtspflege allen Bürger unabhängig von ihrer Weltanschauung offen gehalten wird. 40 41 42 43 Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., 1996, Art. 9 Rdn. 9 ff. Nowak, CCPR-Kommentar, 1989, Art. 18 Rdn. 7. BVerfGE 22, 180 (200 ff.). Herzog, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Art. 20 VIII Rdn. 63. 14 Wandelt der Schutzpatron bereits hier auf Abwegen, streift er schließlich sein neutrales Gewand völlig ab, wenn er bedeutenden Glaubensgemeinschaften strafrechtlichen Schutz gewährt, um ihnen gesellschaftliche Zumutungen zu ersparen. Aktuell rücken hier islamische Staaten ins Blickfeld. Doch auch im Westen ist solcherart staatliche Parteinahme nicht unüblich. 1957 hielt das Bundesverfassungsgericht die strafrechtliche Verfolgung privat ausgeübten gleichgeschlechtlichen Verkehrs zwischen erwachsenen Männern für verfassungsrechtlich unbedenklich, weil „die beiden großen christlichen Konfessionen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen.“44 Die sittlichen Anschauungen partikularer Gruppierungen dürfen im säkularen Staat nicht zum Maßstab für die allgemeine Anerkennung fordernden Grenzen des Schutzbereichs subjektiver Rechte gemacht werden. Die Grenze der Meinungsfreiheit ist die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung sowie die Rechte und der Ruf anderer (Art. 19 Abs. 3 Bürgerrechtspakt). Hasspredigten z.B. gefährden nicht ohne Weiteres den öffentlichen Frieden, allenfalls in extremen Fällen. Dem Staat obliegt hierfür jedoch eine komplexe Argumentationslast: Er muss Gründe und Belege für die Legitimität, Erforderlichkeit und Angemessenheit seiner Schutzmaßnahmen vorbringen.45 Freiheitsstrafen verhüllen nur schlecht, dass er in Wahrheit Partei für die Mehrheitsreligion ergreift. Der Allgemeine Kommentar Nr. 34 (2011) zur Meinungsfreiheit (Art. 19 Bürgerrechtspakt) des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen lehnt zwar nicht generell Gesetze, welche die Beleidigung der Religion bestrafen, ab. Er fordert jedoch einen behutsamen Umgang mit diesen, damit nicht die Meinungsfreiheit erstickt wird. Freiheitsstrafen dürfen unter keinen Umständen verhängt werden.46 Auch die frühere Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Asma Jahangir, hat darauf hingewiesen, dass in vielen Staaten mit unterschiedlichem religiösem Kontext strafrechtliche Normen gegen die Beleidigung der Religion schützen. Der rigorose Schutz der Religion könne jedoch ein Klima der Intoleranz hervorbringen und Gegenbewegungen auslösen. Es gebe zahllose Beispiele der Verfolgung religiöser Minderheiten als Ergebnis exzessiver Strafgesetzgebung.47 Dieser Malus haftet auch dem strafrechtlich sanktionierten Burkaverbot in Frankreich und Belgien an. Demgegenüber mag es im Widerstreit der miteinander kollidierenden Rechte und Interessen plausible Gründe geben, als Konsequenz aus dem Neutralitätsgebot das Tragen des Kopftuches, selbst wenn es individueller Ausdruck religiöser Überzeugung ist, im Bereich staatlicher Aufgabenerfüllung einzuschränken.48 Im Fortschreiten des postsäkularen Diskurses werden derartige Interessenund Wertekollisionen in Zukunft vielleicht entspannter gelöst, ohne Diskriminierung aus religiösen Gründen und unverhältnismäßige Einschränkungen des Berufsausübungsrecht. VIII. Ist das säkulare Projekt eurozentrisch ? (Schlussbetrachtungen) Den Bürgern im 21. Jahrhundert fehlt die Gewissheit früherer Generationen. Das gilt in Besonderheit für die Bürger der westlichen Welt. Nach dem Verlust des Glaubens an die 44 BVerfGE 6, 389 (434 f.). Bielefeldt, Streit um die Religionsfreiheit, in: Erlanger Universitätsreden Nr. 77/2012, 3. Folge, S. 18. 46 Human Rights Committes, General Comment No. 34 on Article 19: Freedom of opinion and expression, Nr. 47, CCPR/C/GC/34, 12 September 2011 47 Asma Jahangir/Doudou Diéne, Report of the Special Rapporteur on freedom of religion or belief and of the Special Rapporteur on contemporary forms of rascism, racial discrmination, xenophobia and related intolerance onincitement to racist and religious hatred and the promotion of tolerance, A/HCR/2/3, 20 September 2006, Rdn. 40 ff. 48 BVerfGE 108 282 (297 ff.); EGMR, Urteil vom 29. Juni 2004 – Nr. 44774/98 Rdn. 103 ff. – Leyla Sahin, bestätigt durch Urteil der Großen Kammer vom 10. November 2005; s. hierzu aber Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, S. 720 ff. 45 15 großen Versprechungen der Moderne, greifen Entsolidarisierung und damit einhergehend fehlender Gemeinschaftssinn um sich. Die Religion hat für Gemeinschaften wie für Einzelne schon immer eine sinnstiftende Funktion erfüllt. Dies anzuerkennen, ist eine grundlegende Voraussetzung, um über kulturelle, religiöse und politische Differenzen hinweg eine friedliche und gerechte Ordnung herzustellen und zu bewahren. Ist die säkulare aber eine historisch singuläre, auf Europa begrenzte Perspektive, wie derzeit in den Sozialwissenschaften behauptet wird? Haben Kulturpessimisten Recht, wenn sie behaupten, der Islam erkenne keine subjektiven Rechte an und dies damit begründen, dass die islamische Rechtsreligion die Lebensbereiche der Individuen umfassend regle und ihnen eine eigene Entscheidungsfreiheit abspreche.49 Danach fehlt dem säkularen Projekt im islamischen Rechtssystem der kulturelle Nährboden. Ist der „Kampf der Kulturen“50 tatsächlich unabwendbar? Gegen solcherart deterministische Interventionen wird eingewandt, es habe in der islamischen Kultur von jeher religionsfreie Zonen gegeben. Die Behauptung, im Islam gebe es keine Trennung zwischen religiöser und säkularer Sphäre, habe wie kein anderes Vorurteil über den Islam eine verheerende Wirkung gehabt. Die Dichotomie religiös-säkular habe aber im Nahen Osten eine geringere Rolle gespielt als in Europa, und zwar nicht, weil die Religion dort so omnipräsent wäre, sondern Religion nicht von einer kirchlichen Hierarchie verwaltet und definiert werde. Zwar kenne die islamische Welt von jeher die Differenz zwischen din („Religion“) und dunya („Welt“). Anders als in Europa, wo Recht und Politik erst aus der Vorherrschaft der Kirchen hätten befreit müssen, habe es mangels kirchlicher Hierarchien im islamischen Kulturkreis eine derartige Vorherrschaft aber nie gegeben. Stets seien verschiedene Diskurse über Politik, Staat und Herrschaft geführt worden, und stets solche, die stärker religiös, und solche, die stärker säkular geprägt seien.51 Daher kann nicht erkannt werden, warum sich das säkulare Projekt nicht auch in islamischen Ländern durchsetzen könnte. Eine Reihe von ihnen hat ja auch bereits mit der Ratifizierung der Bürgerrechtspakts subjektive Rechte als Voraussetzung für die Hervorbringung des säkularen Staates anerkannt.52 Das im Westen entwickelte System der Rechte verkörpert dieselbe normative Substanz, die inzwischen auch von allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen anerkannt worden ist.53 Damit kann auch der durch islamische Staaten aufgeworfene Streit um einen besonderen Ehrenschutz der Religion im System der Rechte ausgetragen werden. Denn mit ihrer Kampagne erkennen sie unvermeidbar subjektive Rechte der Sache nach an, streiten allerdings für ihre Interpretation. Diesen Streit kann der Westen mit dem Verweis auf das durch das System der Rechte geforderte säkulare Projekt aufnehmen. Der säkulare Staat ist ein universelles, kein eurozentrisches Projekt. Weil im positivrechtlichen System der universell anerkannten Menschenrechte der postsäkulare Diskurs bereits eingelassen ist, kann er auch geführt werden und einen Weg zu Befriedung der Welt weisen. Es können keine vernünftigen Gründe erkannt werden, die dagegen sprechen, dass ein so definierter postsäkularen Diskurs nicht sollte gelingen können. Reinhard Marx, 10. Juni 2013 49 Thieé, Muslimisches Recht-Zwischen liberaler Reform und reaktionärem Fundamentalismus, in: KJ 2005, 187 (201). 50 Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 1996. 51 Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam, 2011, 193 ff., 317 f. 52 Zu den 167 Ratifikationsstaaten dies Pakts (Stand 6. April 2013) gehören auch islamische Staaten, etwa Afghanistan (Ratifikation 1983), Ägypten (1982), Algerien (1989), Bangladesh (1973), Bahrain (2006), Djibouti (2002), Iran (1975), Irak (1971), Kuweit (1996), Libanon (1972), Libyen (2004), Mali (1974), Marokko (1979), Pakistan (2010), Somalia (1990), Syrien (1969), Tunesien (1969), Türkei (2003) und Yemen (1987). 53 Habermas, Nachmethaphysisches Denken II, 2012, S. 304. 16 17