Discussion:

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Kampf der Kulturen?
Eine empirische und evolutionäre Kritik der Huntington-These.
Gerhard Schurz, Universität Düsseldorf
1. Phänomenologische Analyse des Konfliktes zwischen Weltkulturen
1.1 Huntingtons Thesen und ihre Aktualität
Mit seinem Aufsatz "The Clash of Civilizations" in Foreign Affairs von 1993 und
mit seinem gleichnamigen Buch von 1996 hat der Harvarder Politikwissenschaftler
Samuel P. Huntington breites Aufsehen erregt. Im Deutschen wurde das Buch etwas
sinnentfremdend als "Kampf der Kulturen" übersetzt  Huntington hätte "Civilization" lieber mit "Zivilisation" übersetzt (Huntington 1996, 14); und "Clash" meint
mehr "Kollision" als "gewollter Kampf". Huntingtons zentrale These besagt, dass die
Weltpolitik der Gegenwart und Zukunft durch die Koexistenz und den Konflikt
zwischen einigen wenigen Weltkulturen bestimmt wird. Huntingtons Thesen haben
durch die islamistischen Terroranschläge vom 11. September und ihre weltweiten
Folgen eine bedrückende Aktualität erfahren. Aber treffen seine Thesen wirklich zu?
Diese
Frage
wollen
wir
in
dieser
Beitrag
mithilfe
empirischer
und
evolutionstheoretischer Methoden zu beantworten versuchen. Huntingtons Thesen
lassen sich wie folgt zusammenfassen:
These 1: Nach dem ersten Weltkrieg trat die Welt aus der Ära der Kolonialzeit in die
Ära des kalten Krieges. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks,
also seit 1990, tritt die Welt nun in eine neue Ära: die Ära der Auseinandersetzungen
zwischen Großkulturen. Die politische Aufteilung der Welt in Großkulturen ist
Huntington zufolge auch die natürliche, denn die Kulturzugehörigkeit ist Huntington
zufolge die entscheidende Basisvariable der Menschen. Die kulturelle Weltaufteilung
wurde in Kolonialzeit lediglich unterdrückt und begann heimlich schon während des
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kalten Krieges zu wirken.
These 2: Huntington (1996, 20, 26, 30) unterteilt die gegenwärtige Welt in
mindestens vier und maximal acht Kulturkreise, welche er vorwiegend nach ihrer
Religion unterscheidet:
1) die sinische bzw. chinesische Kultur, beginnend ca. 1500 v.C., die weitgehend
konfuzianisch ist;
2) die hinduistische Kultur, beginnend ca. 1500 v. C. auf dem indischem
Subkontinent;
3) die islamische Kultur, die im 7. Jh. beginnt, sich von der arabischen Halbinsel
ausgehend über Nordafrika, Zentralasien und Teile des den indisch Subkontinents bis
nach Indonesien verbreitet hat; sowie
4) der westliche Kulturkreis, den Huntington ebenfalls erst 700-800 n.C. beginnen
läßt, der sich von Westeuropa ausgehend nach Nordamerika und auch nach
Lateinamerika verbreitet hat und durch seine christliche Religion bestimmt ist.
Es fällt auf, dass sich Huntington in dieser Aufzählung an den vier Weltreligionen
orientiert; die fünfte Weltreligion, der Buddhismus, sei dagegen schon früh in Indien
ausgerottet worden und hätte daher keinen eigenen Kulturkreis gebildet (Huntington
1996, 61). Weniger sicher ist sich Huntington hinsichtlich der Eigenständigkeit der
folgenden weiteren vier Kulturkreise:
5) die japanische Kultur, die sich 100-400 n.C. aus der chinesischen heraus
entwickelt hat;
6)
der orthodox-christlich Kulturkreis in den ex-kommunistischen Ländern
Osteuropas und Nordasiens;
7) der lateinamerikanische Kulturkreis, der eng dem westlichen verbunden ist, sowie
8) der afrikanische Kulturkreis, bei dem anhand seiner Diversität von
Stammesidentitäten und -religionen fraglich ist, ob hier von einer Kultur gesprochen
werden kann.
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These 3: Die provozierendste These Huntingtons besagt, dass der Universalitätsgedanke der westlichen Moderne ausgespielt hat und sich besser zurückziehen sollte.
Nach dem Ende des kalten Krieges haben zahlreiche westliche Intellektuelle
geglaubt, dass die westlich-demokratische Gesellschaftsordnung im Verein mit dem
freien Wirtschaftssystem sich nun zu einer globalen Weltkultur entwickeln würde.
Führende amerikanische Politiker und Wirtschaftsführer erhofften sich sozusagen,
dass der Marshall-Plan nun für die ganze nichtwestliche Welt funktionieren würde:
läßt man den nicht-westlichen Ländern die politische Unabhängigkeit und importiert
westliche Wirtschaft, so würden sie sich von selbst zu einem Modell westlicher
Demokratie entwickeln. Fukuyama (1992) bezeichnete diese erhoffte Entwicklung
als "Das Ende der Geschichte". Doch derzeit scheint das genaue Gegenteil
einzutreten: in den nichtwestlichen Kulturkreisen sind massive kulturelle Restaurierungsbewegungen im Gange, die sich auf die junge Generation dieser Ländern
stützen und mit einem erstarktem antiwestlichem Selbstbewusstsein einhergehen.
Huntington wurde von vielen Kultur- und Geisteswissenschaftlern in einer mir
übertrieben und unfair erscheinenden Weise kritisiert; daher beginne ich mit einer
Bemerkung als wissenschaftstheoretischer Sicht. Huntington ist kein Theoretiker: er
führt eine enorme Fülle an Fakten an, aber etliche seiner Begriffe erscheinen zu
undifferenziert. Doch seine Thesen sind sicherlich gehaltvoll und belegt genug, um es
zu verdienen, ernsthaft diskutiert zu werden. Beispielsweise ist die Kritik berechtigt,
dass der "christlich-orthodoxe" Bereich von Huntington als eigener Kulturkreis
bezeichnet wird  was diese Länder stattdessen gemeinsam haben, ist die 'jüngste' exkommunistische Vergangenheit. Doch auch wenn diese und andere Kritiken
zutreffen, so ändert dies doch nichts daran, dass die fundamentale These Huntingtons,
dass sich nämlich die Weltgroßkulturen nicht im Sinne der Modernisierungsthese
aufeinander zu bewegen, sondern trotz technisch-industrieller Globalisierung
nachhaltig divergent bleiben, einer gewissenhaften empirischen Analyse bedarf.
Zahlreiche
Kulturwissenschaftler
bezeichnen
Huntington
herablassend
als
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4
4
"unwissenschaftlich"  Riesebrodt (2000, 15f.) etwa präsentiert Huntington als den
"Karl May der Politik" und bezeichnet seine kulturellen Weltkarten als ein
"Disneyland der Zivilisationen". Aber häufig besteht die vorgebrachte HuntingtonKritik, statt aus empirischen Widerlegungsversuchen, lediglich aus abweichenden
Werturteilen, welche im quasi-wissenschaftlichen Gewande daherkommen  und dies
ist vielleicht noch unwissenschaftlicher als Huntingtons theoretische 'Schlampigkeit'
(vgl. Schurz 2006, Kap. 2.5). Ob Huntingtons Hauptthese stimmt oder nicht, ist in
erster
Linie eine empirische und keine moralische Frage  und jenen, die
Huntingtons Diagnose als "politisch gefährlich" ablehnen, möchte ich entgegenhalten, dass es wohl politisch noch gefährlicher ist, den moralisierenden Blick vor
den Fakten zu verschließen.
Als Belege für seine Thesen führt Huntington an, dass zahlreiche nichtwestliche
Länder zwar mit mehr oder minder großem Erfolg westliche Naturwissenschaft,
Technik und Industrie übernommen haben, ohne aber westliche Demokratie und
Werte
mit
zu
übernehmen.
Ein
erstes
Beispiel
ist
der
ostasiatische
Wirtschaftsaufschwung: die vier Tigerstaaten Hongkong, Taiwan, Südkorea, Singapur, sowie China, Malaysia, Thailand und das
islamisch dominierte Indonesien
erlebten ein anhaltendes Wirtschaftswunder, sie hatten zwischen 1970 und 1996
durchschnittliche Wachstumsraten von ca. 8%; aber je stärker diese Länder
wirtschaftlich wurden, desto mehr haben sie ihre Stärke auf das Festhalten an den
traditionalen Werten ihrer Kultur wie patriarchalischer Familienzusammenhalt,
Ordnung und Arbeitsdisziplin zurückgeführt, und westlicher Werte zurückgewiesen
(s. Huntington 1996, 156-9). Auch im Islam setzt man entschieden auf den
Wirtschaftsaufschwung durch Import westlicher Technologie und beharrt noch
massiver auf traditionalen Werten. Zwischen 1950 und 1992 stieg der Anteil der
islamischen Länder am Weltbruttosozialprodukt von 2,9% auf 11%, der Anteil des
sinischen Kulturkreises von 3,3% auf 10%, während der Anteil des westlichen
Kulturkreises von 64,1% auf 48,9% sank (ebd. 129). Dasselbe Rückbesinnungsphänomen auf die eigenen Werte läßt sich für den indisch-hinduistischen
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Kulturkreis feststellen, wobei hier der Wirtschaftsaufschwung nur wenig vorankommt; so bezeichnete der indische Ministerpräsident Mahatir "asiatische Werte als
universale Werte; europäische Werte als europäisch" (ebd. 167).
Die Rückbewegung zu den traditionalen Werten wird vor allem von der jungen
Generation getragen, welche in islamischen Ländern einen enorm hohen
Bevölkerungsanteil besitzt. Man spricht von einem Indigenisierungsphänomen der
zweiten Generation. Gleichzeitig gibt es seit den 1980er Jahren ein weltweites
Erstarken von Religionen und von fundamentalistischer Tendenzen in den
Religionen. Zuvorderst im Islam, aber auch in anderen Religionen (Huntington 1996,
144), wie z.B. in Indien, wo 1991 die radikale Hindu-Partei BIP zur zweitstärksten
Partei Indiens gewählt wurde (Kienzler 1996, 11). In den ex-kommunistischen
Ländern findet eine Renaissance des Christentums statt (Huntington 1996, 135); und
obwohl das Christentum in Europa an Boden verloren hatte, konnte es in
Lateinamerika oder Südkorea gute Zuwächse verzeichnen (ebd. 149). Selbst in den
USA
und
abgeschwächt
sogar
katholisch-christlichen
Bereich
haben
fundamentalistisch orientierte religiöse Gruppierungen stark zugenommen (vgl.
Kienzler 1996, 28ff; Riesebrodt 2000, 122). Umgekehrt konvertiert in Deutschland
eine steigende Zahl werteverunsicherter Deutscher zum Islam (Filter 2002, 77f). Der
generelle Grund für das Wiedererstarken der Religion ist Huntington zufolge
dasjenige, was die Religion gemäß landläufigen Thesen eigentlich hätte eliminieren
sollen  nämlich die Modernisierung (Huntington 1996, 146). Zu viele
Identitätssysteme sind in der Moderne geborsten; und als Reaktion auf den
moralischen Relativismus der Moderne wenden sich Menschen wieder verstärkt
religionsgestützten Autoritäten zu.
Der Universalisierungsgedanke der westlichen Demokratie und freien Wirtschaft
ist Huntington zufolge pure westliche Überheblichkeit, ein Erbstück der
kolonialistisch-imperialistischen Tradition. Huntington kommt in diesem Zusammenhang auf die weitgehend gescheiterten Integrationsbemühungen westlich-europäischer Länder gegenüber den Immigrationsströmen zu sprechen, die sich in unseren
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Tagen am deutlichsten in Frankreich und Deutschland bemerkbar gemacht haben,
und die vergleichbar sind zu den Schwierigkeiten der USA gegenüber mexikanischen
Einwanderungsströmen hatte. Huntington (1996, 524) gibt die Empfehlung ab, der
Westen solle seine außenpolitischen Versuche, die Demokratie weltweit zu
installieren, weitgehend reduzieren, und statt dessen dem nicht-westlichen Bevölkerungsanteil in den eigenen Ländern engere Grenzen ziehen als bisher, um einen
Zerfall der Gesellschaft zu vermeiden.
Für einen Anhänger der Aufklärungsrationalität ist Huntingtons Kritik der Universalität von Demokratie und Menschenrechten freilich höchst irreführend. Schließlich
ist, nach Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen autoritären und
nationalistischen
Regimes,
das
moderne
demokratische
Gesellschaftssystem
verbunden mit der Doktrin grundlegender Menschenrechten genau der Versuch, eine
universale Grundlage für das friedliche Zusammenleben von Menschen aller
Wertorientierungen zu entwickeln  nichtwestliche Kulturen sind in diesem Modell
virtuell schon inbegriffen. Ich komme auf das damit verbundene Pluralismusparadox
in §1.4 zurück. Zuvor seien zwei Konfliktpunkte näher beleuchtet; erstens der blutige
'Islamismus-kontra-Westen'-Konflikt
(§1.2),
und
zweitens,
teilweise
als
intellektueller Reflex davon, der gottseidank unblutige Universalismus-versuskultureller-Relativismus-Konflikt (§1.3).
1.2. Islamismus versus westlichen Werte
Am beängstigenden sind die islamistischen Bewegungen, die Gottesstaat
verwirklichen
wollen,
ein
auf
religiös-fundamentalistischen
Gesetzen,
der
sogenannten Scharia, aufgebautes autoritäres Staatsgebäude. Sowohl das Ziel des
Gottesstaates als auch der Dschihad oder Heilige Krieg gegen die Ungläubigen
können sich auf Grundlagen im Koran berufen (vgl. Sure 5 vs. Sure 9; in Schwarzer
Hg. 2002, 124; sowie Kippenberg/Seidenstricker, Hg., 17ff.), auch wenn in der
Vergangenheit des Islam ein beschränkt tolerantes Glaubenskonzept praktiziert
7
wurde und der rigide Fundamentalismus erst gegenwärtig dominant wird (Tibi 2002a,
114). Mittlerweile kontrolliert der Islamismus eine beträchtliche Anzahl von
Ländern, und es vergeht keine Woche, in der nicht ein islamistisches
Selbstmordattentat oder ein Terroranschlag gemeldet wird. Wie der liberale
muslimische Intellektuelle Tibi feststellt, wenden sich wie im Zuge der reaktionären
islamistischen Bewegung auch zahlreiche ehedem liberal eingestellte muslimische
Intellektuelle dem Fundamentalismus zu (Tibi 2002b, 52ff), und er betont zugleich,
dass es sich bei den islamistischen Revolutionsführern in Hinblick auf Technik,
Wissenschaft
und
ultratraditionalen
Industrie
um
Modernisten
Werteinstellungen.
Spätestens
handelt,
aber
seitdem
gepaart
der
mit
iranische
Regierungschef öffentlich zur Vernichtung Israels aufgerufen hat, ist auch den
hartgesottensten Kulturpluralisten die Parallele zum Faschismus der deutschen
Nationalsozialisten aufgefallen.
Während die USA den Islamismus durch äußere Angriffe spüren bekommen,
bekommt ihn der europäische Westen von innen zu spüren, in Form von
kontinuierlichen Immigrationsbewegungen, die sich immer schwerer integrieren
lassen, denn der gegenwärtige Islamismus fordert die Einwanderer dazu auf, sich
gegen die Integration sperren (Tibi 2002a, 112), was mittlerweile auch die Lehrer in
deutschen Schulen in Form von mangelnder deutscher Sprachfähigkeit und
zunehmender Gewaltbereitschaft unter türkischen Jugendlichen massiv zu spüren
bekommen (s. Spiegel-Artikel Nr. 14, 3.4.2006, vgl. Heitmeyer et al. 1997).
Das hervorstechendste Kennzeichen der islamistischen Werteordnung ist
patriarchalische Familien- und Geschlechterordnung und die repressive Kontrolle
weiblicher Sexualität. So tat man nach der iranischen Revolution von 1979 wenig,
um das Los der Bauern zu verbessern, aber man wandte sich umgehend der Regelung
der Sexualmoral zu (Riesebrodt 2000, 121). Aus männlich-islamistischer Sicht ist die
weibliche Sexualität eine Quelle der Verführung zum Bösen; sie entfesselt die
männliche Leidenschaft und raubt dem Mann Verstand und Würde. Daher muss die
weibliche Sexualität, um Arbeit und Sozialleben nicht ständig durcheinander zu
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bringen, rigide kontrolliert und aus der Öffentlichkeit verbannt werden (ebd. 120-5).
Für den Islam gleicht die sexy gekleidete Frau des Westens einer Prostituierten oder
Nackten (ebd. 123). Ist man als Mann einen solchen visuellen Entzug weiblicher
Sexualität erst einmal gewöhnt, so muss die permanente Zurschaustellung
halbnackter Frauenkörper in der westlichen Kultur zum Zwecke der Werbung und
Einschaltquotenerhöhung, die schon für viele westliche Bürger schwer auszuhalten
ist, für den Islamisten wie eine völlige Entgleisung, eine mentale Verrücktheit
erscheinen  und ähnliches gilt für große Teile des sinnenberauschenden Freizeitund Unterhaltungsangebots der westlichen Konsumgesellschaft. Ganz abgesehen von
der Homosexualität, die für Islamisten noch schlimmer ist als Prostitution und unter
dem Strafverdikt der Steinigung steht (Tibi 2002a, 106), wogegen sich im Westen
Homosexuelle mittlerweile vor dem Altar trauen dürfen. Ein brutale Kollision von
inkompatiblen Werten ist die unausweichliche Folge  der Huntingtonsche Begriff
des "Clash" hat hier seine Berechtigung.
Die Unterdrückung der weiblichen Sexualität im Islam paart sich mit der
islamistischen Unterdrückung der Frau insgesamt. Dabei ist das, was nach den
Frauen nach der Konterrevolution der Ayatollahs im Iran passierte, noch harmlos
gegen den Steinzeitislamismus in Algerien oder dem der Taliban in Afghanistan:
während
die
vergleichsweise
fortschrittlichen
Schiiten
im
Iran
den
Verschleierungszwang durch den liberaleren Kopftuchzwang ersetzten und Frauen
lediglich aus höheren Ämtern wie z.B. Richterberufen vertrieben, verbieten die
Steinzeitislamisten den Frauen im Regelfall den Schulbesuch sowie das Verlassen
des Hauses ohne männliche Begleitung (vgl. (Halm 2000, 83; Flitner 2002, 152;
Crossette 2004, 281f.). Einige Feministinnen, an vorderster Front Alice Schwarzer
und die Zeitschrift Emma, haben sich den Kampf gegen den Islamismus zum Ziel
gesetzt. Sie werden jedoch von einer anderen Gruppierung intellektuellen Frauenbeweglerinnen bekämpft, die sich dem kulturrelativistischen Standpunkt verschrieben
haben und in der islamistischen Frauenbewegung ein Zeichen von Freiheit und
Autonomie der Frau sehen. Schwarzer und ihre Genossinnen verstehen die Welt nicht
9
mehr, wenn heute junge Iranerinnen in Deutschland für das Kopftuchtragen in der
Schule kämpfen und deutsche Lehrer diszipliniert werden, weil sie Schülern das
Kopftuch verbieten wollen, während noch vor kurzer Zeit islamischen Frauen
unterstützt von der gesamten westlichen Öffentlichkeit gegen das Kopftuch auf die
Strasse gingen (vgl. Schwarzer Hg., 2002, 11f., 129ff.). Ähnlich kritisiert Tibi
(2002a) die gegenwärtigen deutschen Intellektuellen als "Gutmenschen", die sich das
politische Tabus vorgeschrieben haben, keine Ausländer oder Kulturen zu kritisieren,
und angesichts der islamistischen Terroranschläge voralledem um das "Feindbild
Islam" besorgt sind (ebd. 111).
1.3. Humanistischer Universalismus versus kultureller Pluralismus/Relativismus
Wie die Ausführungen des letzten Absatzes andeuten, schlägt die westlichislamistische Kollision von Werten unter westlichen Intellektuellen um in einen Konflikt zwischen zwei politischen Grundorientierungen, der sich unabhängig vom
Links-Rechts-Spektrum auftut: nämlich (moderner) humanistischem Universalismus
versus (postmoderner) kulturellem Pluralismus bzw. Relativismus. Die moderne
Standardposition des aufgeklärten Westens ist der Universalismus von Demokratie
und Menschenrechten. Diese Position wurde in einer mühsamen Entwicklungen mit
vielen Rückschlägen errungen, als eine maximal tolerante und gewaltvermeidende
ethische Minimalposition, welche alle autoritär begründeten Wertmaßstäbe ablehnt
und sich zu einem durchgängigen Wertepluralismus bekennt, in dem als einzig
universal verbindliche Werte die Wahrung der Menschenrechte und demokratischen
Prozeduren übrig bleiben. Zu bekämpfen sind lediglich Standpunkte oder Regimes,
welche Intoleranz predigen und Menschenrechte verletzen. Schon vor Huntington
haben jedoch verschiedene Gruppen, anthropologische Kulturrelativisten oder
postmoderne Differentialisten, den entgegengesetzten Standpunkt vertreten, es gäbe
überhaupt keine objektiven ethischen oder epistemischen Maßstäbe, und alle
Kulturen, demokratische wie autoritäre, seien gleichberechtigt. Beide Gruppierungen
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berufen sich also auf das Prinzip des Pluralismus, kommen aber zu entgegengesetzten
Konklusionen.
So
sehen
universalistische
Feministinnen
in
den
Frauen-
rechtsverletzungen islamistischer Länder einen Grund für die UNO, in diese Länder
einzumarschieren (Messaoudi 2002), wogegen kulturpluralistische Feministinnen in
islamistischen Bekleidungsvorschriften oder Rollentrennungen eine kulturell andere,
aber ebenso legitime Art weiblichen Selbstverwirklichung erblicken (Schwarzer Hg.,
2002, 15f., 144-6; Filter 2002, 100-102; Crossette 2004, 280-282).
Die UNO-Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist das Fortschrittlichste, was
die Menschheit bisher im universalistischen Sinn zustande gebracht hat. Für die
American Anthropological Association ist diese UN-Menschenerklärung dagegen ein
westlich-ethnozentrisches Dokument, das damals nur aufgrund der Dominanz des
Westens zustande kam (Huntington/Harrison Hg, 2004, 29). Viele nichtwestliche
Länder halten sich de fakto nicht an die UNO-Erklärung und begründen dies mit
ähnlichen
Argumenten
wie westliche Kulturrelativisten.
Vor der zweiten
Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien 1993 versammelten sich die asiatischen
Länder in Bangkok und erklärten, dass Menschenrechte in kulturellem Kontext zu
sehen sind, dass die Überwachung von Menschenrechten die staatliche Souveränität
verletze, und eine an Menschenrechte geknüpfte Wirtschaftshilfe dem Recht auf
Entwicklung widerspräche (Huntington 1996, 313). Die gemeinsame Erklärung dieser Menschenrechtskonferenz, die dann in Wien erarbeitet wurde, entspricht dem tatsächlichen internationalen Konsens und ist gegenüber der UNO-Erklärung von 1948
ein Rückschritt, denn Rede-, Versammlungs-, Presse- oder Religionsfreiheit kommen darin nicht vor (ebd. 313). Die UNO-Erklärung der universalen Menschenrechte
steht im übrigen auch in Konflikt mit der rechtlichen Hauptgrundlage der UNO, dem
historisch älteren Völkerrecht, welches die Souveränität des Staates betont, und
militärische Aktionen der UNO gegen einen Staat nur für den Fall erlaubt, dass dieser
den Weltfrieden bedroht, nicht aber schon dann, wenn ein Staat die eigene
Bevölkerung grausam unterdrückt (vgl. Art. 2, Ziffer 7 der UN-Charta, s.
http://www.un.org/aboutun/charter).
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Wollte die UNO die globale Einhaltung dieser Menschenrechte wirklich in die Tat
umsetzen, so müsste im Auftrag der UNO in den meisten islamischen Ländern, in
China und anderswo einmarschiert werden (so wie dies einige Feministinnen
tatsächlich fordern; s. Messaoudi 2002). Damit sind wir beim entscheidenden
pragmatischen Argument für den Kulturpluralismus: die Folge einer solchen
militärischen Eingriffspolitik wäre nämlich ein dritter und vermutlich ins Atomare
eskalierender Weltkrieg, dessen Schaden jeden möglicherweise erzielten Nutzen bei
weitem überbieten würde. Gegenwärtig sind die Risiken einer kriegerischen
Eskalation noch größer geworden, da einige islamisch regierte Länder bereits
Atomwaffen besitzen und andere Anstalten machen, diese zu erwerben (Venzky2002,
40; Huntington 1996, 298-305). Somit hat der radikale kulturelle Pluralismus viele
pragmatische Argumente für sich. Andererseits ist gerade auch diese gefährliche
Entwicklung ein Argument für den Universalismus in Form von internationaler
Rüstungskontrolle. Schon jetzt erpressen islamistische Terroristen mit Anschlägen
und Geiselnahmen ganze Staaten. Sollen wir uns auf einen 'Pluralismus der Kulturen'
hinbewegen, in dem zehn bis zwanzig mit ABC-Waffen hochgerüstete Diktaturen die
gesamte restliche Welt erpressen? Die gegenwärtige weltpolitische Situation ist in der
Tat äußerst verfahren: weder militärische Intervention noch kompletter militärischer
Rückzug von USA und UNO sind lösungstauglich, und der erforderliche Balanceakt
in der Mitte dürfte höchst schwierig sein.
1.4. Die innere Inkohärenz des kulturellen Pluralismus
Obwohl der radikale kulturelle Pluralismus kurzfristig pragmatische Argumente für
sich hat, so sei doch klargestellt, dass diese politische Einstellung sowohl praktisch
wie theoretisch inkohärent ist, und daher langfristig nicht zu weltpolitischer
Stabilität, sondern zu anhaltenden Konflikten führen muss. Man betrachte als
Beispiel den Kulturpluralismus des Anthropologen Shweder (2004, 256): in der
pluralistischen Weltordnung, die ihm vorschwebt, sollte es möglich sein, zwischen
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demokratischen und autoritären Kulturen und Staaten nach freien Stücken hin- und
herzuwechseln. Die Naivität dieses Standpunktes erkennt man am sogenannten
Eintrittsparadox des Islam: es ist jedermann jederzeit freigestellt, dem Islam
beizutreten, aber daraus wieder auszutreten ist unter strenge Strafe gestellt (Halm
2000, 61). Ähnlich dürfte es dem postmodernen Kulturpluralisten in islamistischen
Staaten gehen, denn man wird ihn, bevor man ihn aufgrund seiner abweichenden
Lebensvorstellung einsperrt oder steinigt, wohl nicht fragen, ob er vorher wieder
ausreisen will. Darüber hinaus muss der Kulturpluralismus auch im Inland zu
politischer Inkohärenz führen: angenommen ein Staat wie Deutschland toleriert
offiziell die islamistische Kulturvorstellung im eigenen Lande als gleichberechtigt;
müsste er dann nicht auch islamistische Praktiken wie die Zwangsverheiratung von
Mädchen bei Moslems (nicht aber bei Christen oder Nichtkonfessionelle) für legal
erklären (s. dazu Kelek 2005, und sogar islamistische Parteien, welche die Abschaffung der Demokratie zum Ziel haben, im eigenen Land tolerieren?
Der Kulturpluralismus ist nicht nur praktisch undurchführbar, sondern auch
theoretisch inkohärent, denn er läuft darauf hinaus, Kulturen zu tolerieren, die selbst
Intoleranz gegenüber Kulturen lehren. Man kann leicht die logische Inkonsistenz
dieser Einstellung nachweisen. Das radikale kulturelle Toleranzprinzip besagt (1):
Für alle kulturellen Praktiken X gilt: die Ausübung von X ist erlaubt. Aus begrifflichanalytischen Gründen kann (2): die Behauptung "die Ausübung von P ist erlaubt"
dann und nur dann gelten, wenn es (jedermann) verboten ist, die Ausübung von P zu
behindern. Nun besitzt aber eine intolerante Kultur gewisse Intoleranz-Praktiken PI,
die darin bestehen, andere kulturelle Praktiken P* abweichender Kulturen zu
behindern, d.h. es gilt (3): die Ausübung von PI ist notwendigerweise äquivalent mit
der Behinderung von P*. Würde das radikale kulturelle Toleranzprinzip (1) nun auch
auf die Intoleranzpraktiken PI angewandt werden, so ergäbe sich aus (1) (durch
Einsetzung von PI für X) die Konklusion (4): "die Ausübung von PI ist erlaubt",
somit mithilfe von (2) die Konklusion (5:) "die Behinderung der Ausübung von P* ist
erlaubt"; anderseits folgt durch Einsetzung von P* für X in (1) natürlich auch die
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Konklusion (6): "die Behinderung von P* ist verboten", und (6) steht im
Widerspruch zu (4). Kurz gesagt, um kohärent zu sein, kann das kulturelle Toleranzprinzip nur für jede kulturellen Praktiken gelten, welche ihrerseits nicht intolerant
sind  und eben diese Einsicht bildet die Grundlage der westlich-universalistischen
Gesellschafts- und Werteordnung.
2. Empirische Analyse der Weltkulturen
Ein Hauptübel der Diskussion um Huntingtons Thesen besteht in der scheinbaren
Beliebigkeit von Behauptungen, denn man spricht über etwas empirisch scheinbar
schwer Greifbares, nämlich kulturelle Werte. Prototypisch wird diese Problematik in
der Dissertation von Uwe Metzinger (2000) exemplifiziert, der auf engem Raum
wohl um die hundert verschiedene Positionen darstellt, ohne dass daraus irgendwie
erkenntlich wird, welche Position nun durch die Fakten besser und welche schlechter
gestützt wird. Auch die Vielfalt von Fakten, die Huntington anführt, ist empirisch
unbefriedigend, denn sie besteht aus viele zusammengetragenen politische
Geschehnisberichten, zusammen mit einigen demographischen und wirtschaftlich
Eckdaten, aber Huntington erhebt nirgends die kulturellen Werteinstellungen auf
empirische Weise, ja er erklärt nicht einmal, was er unter der "westlichen",
"islamischen" oder "sinischen" Kulturvorstellung (etc.) genau versteht (s. Riesebrodt
2000, 19).
Umso wichtiger scheinen mir die empirisch-sozialwisenschaftlichen Forschungen
des World Value Survey (WVS) Projektes zu ein, welche mit großem Aufwand die
weltweite Entwicklung von kulturellen Werten und Einstellungen empirisch zu
erfassen trachten. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von
Sozialwissenschaftlern in mehr als 65 Ländern. Es werden detaillierte Fragebögen
entwickelt, die Sozialwissenschaftler in allen diesen Ländern zur Erhebung bringen;
riesige Datenmengen werden elektronisch erfasst und statistisch ausgewertet (auf die
Internetadresse http://wvs.isr.umich.edu/index.html sind viele der Daten und
13
14
14
Auswertungen zugänglich). Führend in dieser Gruppe ist der Sozialwissenschaftler
Ronald Inglehart von der University of Michigan in Ann Arbor, und es sollen in
diesem Kapitel einige seiner Untersuchungsergebnisse diskutiert werden.
In den Fragebögen des WVS wird z.B. gefragt, ob die Menschen insgesamt mit
ihrem Leben zufrieden sind, ob sie ihre Zeit mehr mit Arbeit, Familie, Freunden oder
Vereinen verbringen, welche Religion sie haben und wie gläubig sie sind, wie sie
sich die ideale Mann-Frau-Beziehung und Familie vorstellen, welche Dinge sie
moralisch schlecht empfinden, usw. Um eine bessere Vorstellung zu gewinnen, seien
zunächst einige typische Fragen aus dem 1999-2000 WVS Fragebogen aufgelistet (s.
http://wvs.isr.umich.edu/index.html; "Var." steht abkürzend für Variable):
Var.(iable) 11: Taking all things together, would you say you are:
1 Very happy  2 Quite happy  3 Not very happy  4 Not at all happy (9 Don't know)
I’m going to ask how of often you do various things. For each activity, would you say you do them every week or
nearly every week; once or twice a month; only a few times a year; or not at all?
Var.
Weekly/
Once or Only a Not at (Don't
nearly every twice
a few
all
know)
week
month
times a
year
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Spend time with parents or other relatives
1
2
3
4
28
Spend time with friends
1
2
3
4
29
Spend time socially with colleagues from 1
2
3
4
work or your profession
30
Spend time with people at your church, 1
2
3
4
mosque or synagogue
31
Spend time socially with people at sports 1
2
3
4
clubs or voluntary or service organization
Do you agree or disagree with the following statements?
Var.
78
When jobs are scarce, men should have more
right to a job than women
79
When jobs are scarce, employers should give
priority to [home] people over immigrants
Agree
1
Neither
2
Disagree
3
1
2
3
(Din't know)
Var. 80: How satisfied are you with the financial situation of your household?
1 = Completely Dissatisfied
10 = Completely Satisfied
1 2
3
4
5
6
7
8
9
10
Var. 83: Which point on this scale most clearly describes how much weight you place on work (including housework
and schoolwork), as compared with leisure or recreation?
1 = It's leisure that makes
life worth living, not work
2
3
4
5 = Work is what makes life worth
living, not leisure
Var. 109: If someone says a child needs a home with both a father and a mother to grow up happily, would you tend to
agree or disagree?
15
1 Tend to agree
Var.
164
165
166
167
2 Tend to disagree
(Don't know)
I'm going to describe various types of political systems and ask what you think about each as a way of
governing this country. For each one, would you say it is a very good, fairly good, fairly bad or very bad way
of governing this country?
VERY
FAIRLY
VERY
Don't
GOOD
GOOD
BAD
BAD
know
Having a strong leader who does not have
1
2
3
4
to bother with parliament and elections
Having experts, not government, make
1
2
3
4
decisions according to what they think is
best for the country
Having the army rule
1
2
3
4
Having a democratic political system
1
2
3
4
Var. 186: Independently of whether you go to church or not, would you say you are...
1 A religious person
3 A convinced atheist
2 Not a religious person
(Don't know)
Please tell me for each of the following statements whether you think it can always be justified, never be justified, or
something in between, using this card.
Var.:
204
Claiming government benefits to which you are not entitled
205
Avoiding a fare on public transport
206
Cheating on taxes if you have a chance
207
Someone accepting a bribe in the course of their duties
208
Homosexuality
209
Prostitution
210
Abortion
211
Divorce
212
Euthanasia-- ending the life of the incurably sick
213
Suicide
For each Variable:
1 = Never Justifiable
10 = Always Justifiable
1 2 3
4
5
6
7
8
9
10
Jede Antwort entspricht einer Variable, gemessen auf einer Intervallskala. z.B. 1 =
sehr glücklich, 2, 3, 4 = sehr unglücklich. Die Lage des Nullpunkts und die Einheit ist
dabei willkürlich und renormierbar; die endgültige Skala wird im Regelfall ztransformiert; d.h. der Mittelwert wird mit Null identifiziert, und die Einheitsdifferenz mit der Streuung (Schurz 2006, Kap. 4.5.1). Voraussetzung für die Messung ist
voralledem, dass die Voraussetzung einer Ordinalskala vorliegt, also dass Zahlenzunahme einer stetigen Zunahme der jeweiligen Einstellungstendenz spricht. Bei einer
Intervallskala wird zusätzlich angenommen, dass die Skalendifferenzen (zwischen
Einstellung 1 und 2, Einstellung 2 und 3, usw.) ungefähr 'gleich stark' ausgeprägt sind
 letztere Annahme ist zwar eine Idealisierung, die aber im Regelfall harmlos ist
(Schurz 2006, Kap. 3.1.4). Zur Messung von inneren Befindlichkeiten wie der
15
16
16
Glückszustand einer Person durch verbale Selbstbeurteilung ist allerdings anzumerken, dass die Selbstbeurteilung bekanntermaßen nur ein mehr-oder-weniger verzerrtes Bild der tatsächlichen Befindlichkeit abgibt (ebd., Kap. 5.1); wir werden auf
die Problematik unten näher eingehen und hier davon ausgehen, dass trotz diese
Verzerrung die Selbstbeurteilung einen wertvollen empirischen Aufschluss gibt.
Davon abgesehen habe ich eine Reihe von Geistes- und Kulturwissenschaftlern
diffuse grundsätzliche Bedenken gegen diese Art der 'Vermessung' kultureller Einstellungen äußern gehört; doch trotz aller gebotenen methodologischen Vorsicht sehe
ich darin einen bedeutenden Fortschritt gegenüber einer primär spekulativen oder
empirisch unsystematischen Analyse, und ich meine, Kulturwissenschaftler sollten
diese vielversprechende Richtung sozialwissenschaftlicher Forschung keinesfalls
ignorieren, sondern deren Resultate in ihre eigenen Arbeiten integrieren.
Um die verwirrende Vielzahl von ca. 250 Antwortvariablen zu interpretieren, hat
Inglehart eine Faktorenanalyse durchgeführt, gemäß dem Standardverfahren der
Hauptkomponentenanalyse plus anschließender Varimax-Rotation (Inglehart 2000,
24, "Note"). Dabei kristallisieren sich zwei Faktoren bzw. theoretische Variablen
heraus, welche über 50% der Gesamtvarianz der ca. 250 empirischen Variablen
erklären. Sie werden auf einer z-normierten Intervallskala wiedergegeben und von
Inglehart so interpretiert (s. auch Inglehart 2000, 23f.; 2004, 144-8):
Faktor 1: traditional-religiöse versus säkular-rationale Orientierung (traditional
vs. secular-rational) sowie
Faktor 2: Überlebenswerte vs. Selbstartikulationswerte (survival vs. selfexpression).
Bevor diese beiden Faktoren inhaltlich erläutert werden, sei in der gebotenen
Kürze erklärt, was in einer Faktorenanalyse vor sich geht (vgl. Bortz 1985, Kap. 15).
Gegeben ist eine Menge von empirisch erhobenen intervallskalierten Variablen
X1,,Xn, die für verschiedene Versuchseinheiten verschiedene Werte annehmen. In
Ingleharts Analysen werden als Versuchseinheiten nicht die Versuchspersonen (in
den verschiedenen Ländern) herangezogen, sondern die Länder selbst, deren Werte
17
durch Mittelung über die in ihnen interviewten Versuchspersonen gewonnen werden
(s. Inglehart 1998, 121f.; 2000, 24f.). In dem mathematischen Verfahren der sogenannten Hauptkomponentenanalyse werden nun die Variablen X1,,Xn durch eine
Linearkombination von einer wesentlich geringeren Anzahl m <<n von theoretisch
konstruierten statistisch unabhängigen Variablen, sogenannten Faktoren F1,,Fm
dargestellt; also Vi =ai1F1 +  + aimFm + Ri (für 1in). Die Ladung(skoeffizient)en
aij werden so optimiert, dass die m Faktoren einen möglichst hohen %-Anteil der
Gesamtvarianz der empirischen Variablen erklären; d.h., die Summe der verbleibenden unerklärten Restvarianzen Ri wird minimiert. Wie die Variablen Xi nehmen
auch die Faktoren Fj für verschiedene Versuchseinheiten verschiedene Werte an; die
Ladungen aij sind dagegen für alle Versuchseinheiten dieselben und entsprechen den
(z-normierten) Kovarianzen zwischen der Variable Xi und dem Faktor Fj.
Anschließend werden die so gewonnenen Faktoren ebenfalls z-normiert und dann
einer Varimax-Rotation unterzogen, welche bewirkt, dass bei gleichbleibendem
erklärten Varianzanteil die Faktoren im m-dimensionalen Faktoren-Koordinatensystem so gedreht werden, dass sie zwischen den empirischen Variablen möglichst
scharf diskriminieren; d.h., die Ladungen sollen entweder möglichst hohe (positive
oder negative) Werte einnehmen, oder möglichst nahe bei Null liegen. Auf diese
Weise lassen sich, ohne Änderung des erklärten Varianzanteils, die Faktoren gut gewissen Gruppen von hoch interkorrelierenden empirischen Variablen zuordnen, und
damit einfach empirisch interpretieren. Man addiert nach und nach neue Faktoren und
bricht das Verfahren ab, wenn die Hinzufügung weiterer Faktoren keine starke
Erhöhung des erklärten Varianzanteil mehr bewirkt. Inglehart hat in mehreren
voneinander teilweise unabhängigen Studien immer wieder die beiden genannten
Faktoren erhalten, die über 50% der Gesamtvarianz erklären, was dafür spricht, dass
es sich hierbei um ein robustes Resultat handelt (s. 1998, 135; 2000, 28, Fn 5). Die so
gewonnenen Faktoren stellen, wissenschaftstheoretisch gesehen, hypothetische gemeinsame Ursachen der empirischen Variablen dar, welche diese partiell empirisch
erklären. Dass Inglehart das Verfahren bereits nach zwei Faktoren abbricht, läßt
17
18
18
darauf schließen, dass die weiteren knapp 50% Varianzanteile keine einfache kausale
Interpretation mehr zuließen. Die Interpretation der beiden von Inglehart gefundenen
Faktoren orientiert sich daran, mit welchen Gruppen von empirischen Variablen die
Faktoren besonders hoch korrelieren (s. 2000, 24; 26f., 33f; 2004, 144-8):
1) Traditional-religiöse versus säkular-rationale Orientierung (z-standardisierte
Intervallskala, negative bzw. positive Werte entsprechen Stärke der traditionalreligiösen vs. weltlich-säkularen Orientierung) korreliert mit: religiös-absolute vs.
aufgeklärt-säkularisierte Wertmaßstäben (Säkularisierung bedeutet die Trennung von
staatlicher Legitimität und religiösen Wertmaßstäben); Bedeutung von Familienbande vs. Betonung der Individualität; Nationalstolz hoch vs. niedrig; Respekt vs.
Nichtrespekt vor staatlicher Autorität inkl. Militärherrschaft; hohe vs. niedrige
Fruchtbarkeitsrate; Arbeitsethik hoch vs. niedrig. Der Übergang von traditionalreligiösen zu weltlich-säkularer Orientierung korreliert insbesondere (länderbezogen)
mit dem Übergang von vorwiegend agrarischen zu vorwiegend industriellen
Zivilisationen (s. 2000, 31).
2) Überlebenswerte vs.
Selbstverwirklichungswerte (Skalierung wie oben)
korreliert mit: niedrigen vs. hohen ökonomischen Standards; Betonung von
Existenzsicherung vs. Spaß und Lebensqualität; geringes vs. hohes Interesse an
Geschlechtergleichstellung; Ablehnung vs. Akzeptanz von Homosexualität; Intoleranz vs. Toleranz gegenüber Fremden; geringes vs. hohes zwischenmenschliches
Vertrauen; Akzeptanz vs. Nichtakzeptanz autoritärer Regierungen; Nichtschätzung
vs. Hochschätzung von Demokratie. Der Übergang von Überlebenswerten zu
Selbstartikulationswerten korreliert insbesondere mit dem 'postindustriellem'
Übergang zu Wohlstandsgesellschaften, welche sich ein hohes Maß an Infrastruktur
für sozialen Service und Unterhaltung leisten. Im Rahmen von Ingleharts
Modernisierungstheorie stellt der Übergang zu säkular-rationalen Werten einen
Übergang der Modernisierung, der Übergang von Überlebens- zu Selbstverwirklichungswerten dagegen einen Übergang der Postmodernisierung dar (s.
1998, Kap. 1). Aus wissenschaftstheoretischer Sicht ist jedoch zu betonen, dass die
19
Interpretation der beiden Faktoren theoretischer Natur ist und einen beträchtlichen
Unsicherheitsspielraum besitzt. Beispiele hierfür werden später noch angeführt. Auffallend ist ferner, dass man prima facie die beiden Inglehartschen Faktordimensionen
als historisch voneinander abhängig ansehen würde, d.h. den Übergang zu postmaterialen Werten als ein vom Modernisierungsgrad abhängiges Phänomen ansehen
würde, während die beiden Faktoren in Ingleharts Nationenanalyse als statistisch
voneinander unabhängig herauskommen. Dies hat damit zu tun, dass sich Ingleharts
Analyse auf einen synchronen Zeitquerschnitt von Nationen bezieht, die sich in
unterschiedlichen historischen Entwicklungsstadien befinden (s. dazu auch Kap. 3):
gewisse Länder, insbesondere die ex-kommunistischen, befinden sich in einem
Stadium, in dem Säkularisierung und Industrialisierung stark vorangeschritten sind,
aber das die Postmodernisierung vorantreibende Wohlstandsniveau noch nicht
erreicht ist. Darüber hinaus ist zu betonen, dass genauere Analysen der
umfangreichen WVS-Daten, welche durch die beiden Inglehart-Faktoren nur sehr
grob ausgewertet werden, vermutlich wesentliche differenzierte Zusammenhänge
erkennen lassen würden  dies wird durch einige noch anzuführende jüngere
Auswertungen der WSV-Daten belegt, welche sich auf ausgesuchte Variablengruppen konzentrieren (vgl. Inglehart 2003; Inglehart Hg. 2003; Inglehart/Norris 2003a,
2003b; Norris/Inglehart 2004). Dennoch gibt die Inglehartsche Grobauswertung ein
Maß an empirischer Information, das verglichen zum bisherigen Stand einen
enormen Fortschritt darstellt. Diesem wenden wir uns nun zu.
Abb. 1 gibt die Weltkarte der kulturellen Werte wieder (Inglehart 2003, 101; vgl.
auch http://wvs.isr.umich.edu/index.html; Inglehart 2000, 29; 2004, 149). Einige typische Einstellungen, welchen unterschiedlichen Positionen auf Abb. 1 entsprechen,
sind in Abb. 2 wiedergegeben. Von den islamischen Ländern wurden aus organisatorisch-technischen Gründen bislang nur wenige untersucht; es ist aber zu erwarten,
dass sie sich  wie die schon erhobenen und teilweise noch stärker  in der linken
unteren Ecke konzentrieren (Inglehart 2004, 148), also im prämodernen Stadium bei
hohen traditional-religiösen und Überlebenswerten. Noch stärker traditional-religiös
19
20
20
bzw. autoritär sind nur noch die erhobenen afrikanischen Länder. Die exkommunistischen Länder, zu denen tendenziell auch die christlich-orthodoxen
zählen, befinden sich links oben, d.h. bei hochgradig säkular-rationalen Werten, als
Einfluss
der
kommunistischen
Modernisierung,
verbunden
mit
hohen
Überlebenswerten. Ähnliches gilt für den konfuzianischen bzw. chinesischen
Kulturkreis. Interessant ist die hohe Divergenz des von Huntington als 'westlich'
bezeichneten Kulturkreises. Protestantisches, katholisches Europa und die englischsprachigen Länder liegen in deutlich verschiedenen kulturellen Regionen. Das
katholische Europa in der Mitte bis leicht rechts-oben (leichte Tendenz zu rational-
Abb. 1: Die Landkarte kultureller Einstellungen. Quelle: Inglehart 2003, 101. (Die Ergebnisse
beruhen primär auf der 1995-98 WVS-Untersuchung; einige Länder wurden durch die Europäische
Studie von 1990; andere neueren Pilotstudien entnommen).
21
-säkular und Selbstartikulation); das protestantische Europa am extremsten links
oben;
während
die
englischsprachigen
Länder
hohe
postmoderne
bzw.
Selbstartikulationswerte mit vergleichbar hoher Religiosität verbinden. Pointe am
Rande: Österreich ist kulturell von Westdeutschland etwa gleich weit entfernt wie
von Indien. Die lateinamerikanischen Ländern befinden sich schließlich auf der
Modernisierungsachse auf der Höhe der islamischen Länder; sind in der
Postmodernisierung weiter fortgeschritten.
Wie Ingleharts Befunde zeigen, gibt es gegenwärtig ganz offensichtlich sehr un-
Abb. 2: Typische Einstellungen auf der Landkarte kultureller Einstellungen. Quelle:
http://wvs.isr.umich.edu/index.html.
terschiedliche Kulturkreise, die sich in gewisse Ländergruppen zusammenfassen
lassen. Einige davon entsprechen Huntingtons Kulturen, aber überwiegend erweist
sich Huntingtons kulturelle Klassifizierung als inadäquat. Huntingtons westlicher
Kulturkreis ist keine Einheit, sondern zerfällt in drei Gruppen, die ebenso
21
22
22
unterschiedlich sind wie die Unterschiede zum ex-kommunistischen, indischen oder
chinesischen Kulturkreis. Huntingtons "christlich-orthodoxer" Kulturkreis wird sich
als voralledem durch die gemeinsame ex-kommunistische Vergangenheit geprägt
erweisen. Die Diagonale der kulturellen Landkarte entspricht genau jener
Entwicklungsrichtung, welche die die traditionelle Modernisierungstheorie lehrte (s.
Inglehart 1998, Kap. 1), während Abweichungen von dieser Diagonale kulturelle
Eigentümlichkeiten darstellen. Gemäß den Ergebnissen von Abb. 1 sind jedoch,
entgegen Huntington, die USA einerseits, und die spiegelbildlich-entgegengesetzt
lokalisierten ex-kommunistischen Länder andererseits noch 'eigentümlicher' lokalisiert als die chinesischen oder südostasiatischen Kulturen.
Abb. 3 zeigt die Abhängigkeit der Entwicklung in beiden Dimensionen vom
Wirtschaftsstand einer Nation, gemessen mithilfe des Bruttonationalprodukts (GNP).
Abb. 3: Abhängigkeit der kulturellen Einstellungen vom Bruttonationalprodukt (BNP-Schätzungen
von 1995; WVS-Bericht 1997) Quelle: http://wvs.isr.umich.edu/index.html.
23
Einige typische Länder sind angeführt; alle Länder von Abb. 1 (mit Ausnahme der
Dominikanischen Republik) passen in die eingezeichneten Zonen. Offenbar nehmen
mit höherem ökonomischen Wohlstand sowohl rational-säkulare Orientierung wie
Selbstverwirklichungswerte zu. Die Korrelation ist allerdings nicht sonderlich hoch,
und neben dem Haupttrend gibt es eine Reihe kultureller Besonderheiten.
Inglehart selbst ist Modernisierungstheoretiker, er glaubt an einen kontinuierlichen
Trend der Entwicklung zur Modernisierung, entlang der Diagonalen von Abb. 1 in
Richtung rechts oben, ein Trend, der mit Erhöhung von wirtschaftlichem Wohlstand
einhergeht, der die Menschen freier und demokratischer macht, und der zugleich die
traditionellen Werte aushöhlt (Inglehart 1998, Kap. 1; 2004, 143). Dabei können
Kulturen verschiedene historische Pfade durchschreiten, und die zeitliche
Momentanaufnahme einer Kultur spiegelt das historische Erbe einer Kultur auf ihrem
Weg zur Modernisierung wieder (Inglehart 2004, 141). Ingleharts Modernisierungsthesen werden jedoch von seinen eigenen Daten in nur geringem Ausmaß gestützt.
Wie divers die kulturellen Pfade sein können, zeigt Abb. 4, in der die kulturelle
Dynamik, also die Veränderung der kulturellen Position der Länder in den letzten
Jahren eingezeichnet ist (die angeführten Zeitspannen sind unterschiedlich, da die
ersten WVS-Studien nur vergleichsweise weniger Länder umfassten; s. Inglehart
2000, 40). Sowohl die Änderungsrichtungen (Pfeilrichtungen) wie die Änderungsraten (Pfeil längen geteilt durch Anzahl vergangener Jahre) sind divers. Von den 39
Ländern folgen nur 13 dem Modernisierungstrend; die restlichen 25 weichen davon
ab. 6 Länder (Russland, Belarus, Großbrittanien, Estland, Südafrika, Nigeria) haben
sich entlang beider Achsen 'rückwärts' entwickelt; 12 Länder haben sich auf der
Achse auf traditional vs. rational 'rückwärts' entwickelt und nur auf der Achse
Überleben vs. Selbstartikulation 'vorwärts' entwickelt (Südafrika, Brasilien,
Argentinien, Türkei, Indien, Republik Irland und Nordirland, in geringem Ausmaß
Spanien, Italien, Frankreich, U.S.A., Südkorea); und 7 Ländern, die meisten davon
ex-kommunistisch, haben sich umgekehrt auf der Achse traditional vs. säkular
23
24
24
'vorwärts' und auf der Achse Überlebens vs. Selbstartikulation 'rückwärts' entwickelt
(Lettland, Litauen, China, Ost-Deutschland, Polen, Ungarn Island). Es ist
anzunehmen, dass viele islamische Länder, die in Abb. 4 nicht aufscheinen, demselben 'rückwärts' gewandten Trend entsprechen. Die rapideste kulturelle Veränderung haben Polen, Ost-Deutschland und andere ex-kommunistische Länder
durchgemacht; aber auch die kulturelle Entwicklung in West-Deutschland, Niederlande oder Schweden ist beträchtlich. Ich habe die Begriffe 'vorwärts' und 'rückwärts'
aus zwei Gründen in Anführungszeichen gesetzt: erstens, um Wertungen
auszuklammern, und zweitens, weil die Ergebnisse zeigen,
25
Abb. 4: Kulturelle Entwicklungspfade während der letzten zwei Jahrzehnte. Quelle: Inglehart (2000,
40).
dass
von
einem generellen
(Post-)Modernisierungstrend
gegenwärtig
nicht
gesprochen werden kann, sondern sich die 'vorwärts' und 'rückwärts' gerichteten
Kräfte sich gegenseitig zu balancieren scheinen. Dies wiederum scheint eine zentrale
These Huntingtons zu bestätigen.
Abb. 5 zeigt den Zusammenhang des Trends zu Selbstartikulationswerten mit dem
Trend zu Menschenrechten und Demokratie. Zur Messung der letzteren benutzt
25
26
26
Überleben contra Selbstartikulation
Abb. 5: Korrelation zwischen Selbstartikulationswerten (WVS-Umfragen 1990-1995) und
Verwirklichung von Menschenrechten & Demokratie gemäß Freedom-House-Rating (Durchschnitt
1981-1998). Quelle: Inglehart 2004, 161.
Inglehart die Einschätzung des Verwirklichungsindexes von politischen Rechten und
staatsbürgerlichen Freiheiten in Ländern, die jährlich durch das Freedom House
vorgenommen
wird,
eine
in
den
USA
gegründete
Organisation
(s.
http://www.freedomhouse.org/publications/Freedom in the World). Dieser Index
wird aufgrund von Checklisten zu politischen und zivilen Rechten vorgenommen,
wie z.B. ob es in einem Land freie und faire Wahlen gibt, ob es Meinungs-, Presse-,
und Versammlungsfreiheit gibt; ob Universitäten und Religionswahl frei sind; ob
27
Recht auf Privatbesitz, geschützte Privatsphäre, und freies Unternehmertum gibt; ob
es Gleichberechtigung der Geschlechter gibt, usw. Die ex-kommunistischen Länder
in Abb. 5 verfälschen das Bild, da die Freedom-House-Bewertungen über die Periode
vor und nach dem Mauerfall mitteln (die Überleben-Selbstartikulations-Achse basiert
dagegen auf den Umfragen von 1990 und 1995). Da wie aus Abb. 4 hervorgeht, diese
Länder seit dem Mauerfall durchschnittlich nur geringe Verschiebungen in Richtung
Selbstartikulationswerte durchmachten, müssten sie heute um etwa die Hälfte der
Abbildung nach oben verschoben gedacht werden, etwa in der Höhe des damaligen
Abb. 6: Der Übergang zu dominant postmaterialistischer Einstellung (Differenz in % Vpn) in den
letzten Jahrzehnten. Quelle: http://wvs.isr.umich.edu/index.html.
Ungarns. Vergleicht man etwa die auf einem vertikalen Band liegenden Länder
Ghana, Türkei, Chile, Mexiko, Peru, Philippinen, Brasilien, Venezuela, Argentinien,
Portugal, Frankreich, Spanien, Italien, Japan und Österreich, so erkennt man, dass bei
einer ähnlichen Positionierung in Hinblick auf die Achse Überleben vs.
Selbstartikulation einige Länder in vordemokratischen Zuständen verharren, während
sich andere hoch in Demokratisierung und Egalisierung sich hineinbewegt haben.
Abb. 6
zeigt schließlich, dass
der Übergang
von materialistischen' zu
27
28
28
'postmaterialistischen' Werten in den westlichen Ländern historisch äußerst jungen
Datums ist, nämlich im wesentlichen erst in der Generation aber den 1970er Jahren
erfolgte.
Abb. 7: Zusammenhang von Selbstzufriedenheit (WVS-Umfragen 1990 und 1990) und Bruttonationalprodukt (Schätzung 1995). Quelle: http://wvs.isr.umich.edu/index.html.
Eine Hauptthese der Modernisierungstheorie besagt, dass mit zunehmender (Post-)
Modernisierung die Menschen zunehmend glücklicher und zufriedener werden. Der
wirtschaftliche Wohlstand eines Landes ist die mit der Modernisierung am stärksten
korrelierende Variable (vgl. Inglehart 2000, 33). Abb. 7 zeigt den Zusammenhang
zwischen der allgemeinen subjektiven Zufriedenheit der Menschen in verschiedenen
Ländern mit dem Bruttonationalprodukt (GNP) dieser Länder, bezogen auf das Jahr
1995. Wieder verfälschen die ex-kommunistischen Länder das Bild, in welchen sich
29
die Menschen nach dem Mauerfall auffallend unzufrieden fühlen, obwohl sie in
ihrem wirtschaftlichen Wohlstand gleichauf sind mit China oder den lateinamerika-
Abb. 8: Fortsetzung von Abb. 7  die Besonderheit ex-kommunistischer Länder (Russland 1981 aus
früheren Einzelstudien geschätzt). Quelle: http://wvs.isr.umich.edu/index.html.
nischen Ländern. Abb. 8 zeigt die dramatische Entwicklung der ex-kommunistischen
Länder anhand Russland auf: dort ist der Prozentsatz der zufriedenen Menschen von
durchschnittlich 70% im Jahr 1081 auf durchschnittlich 48% im Jahr 1990 und
durchschnittlich 38% im Jahr 1996 gesunken (die anderen ex-kommunistischen
Länder sind weggelassen). Die Tatsache, dass die Menschen in ex-kommunistischen
Ländern sich von der Befreiung vom Kommunismus hohe (speziell wirtschaftliche)
Versprechungen machten, erklärt diese Besonderheit der ex-kommunistischen
29
30
30
Länder, die eine ähnliche Entwicklung durchmachten wie Russland. Lässt man diese
historisch vergleichsweise kurzfristige Besonderheit der ex-kommunistischen Länder
außer Betracht, so ist die Korrelation zwischen Selbstzufriedenheit
und
wirtschaftlichem Wohlstand nur mehr gering. Beispielsweise fühlen sich Menschen
in Ghana, China, Brasilien oder Mexiko etwa gleich zufrieden wie Menschen in
Spanien, Österreich, Japan, Frankreich und West-Deutschland, obwohl das
wirtschaftliche Niveau völlig unterschiedlich ist. Überdies muss man bei dieser
Abbildung das oben angesprochene Faktum bedenken, dass die Selbsteinschätzung
von Menschen üblicherweise von ihrer de-fakto Befindlichkeit abweicht, und dass
diese Verzerrung ebenfalls von der jeweiligen Kultur abhängt. Beispielsweise wird in
Kalifornien die Aussage, man fühle sich selbst nicht wirklich zufrieden, häufig als
Eingeständnis des Selbstversagens angenommen, während dieselbe Aussage in
Österreich eher als Ausdruck von 'melancholischer Tiefe' gedeutet wird (Eigenerfahrung). Daher wird eine solche Aussage in Österreich leichter geäußert werden
als in den USA, obwohl es gut möglich ist, dass Österreicher durchschnittlich
glücklicher sind als USA-Bürger. Wenn man diese kulturabhängige Verzerrung
zwischen verbaler Selbstbeurteilung und wahrer Befindlichkeit mit in Betracht zieht,
so ist die geringfügige Korrelation von Abb. 8 wohl als unschlüssig zu betrachten.
Insgesamt bestätigen die Inglehartschen Resultate eine deutliche Gruppierung der
Länder in teils sehr unterschiedliche kulturelle Denk- und Verhaltensmuster,
wenngleich diese Gruppierung den Huntingtonschen Kulturkreisen nicht gut
entspricht. Die These der globalen Modernisierung und Postmodernisierung wird
durch Ingleharts Resultat jedoch nur geringfügig gestützt; insbesondere Abb. 4 zeigte
zahlreiche abweichende Entwicklungstrends und sprach damit eher für die zentrale
These Huntingtons, und Abb. 8 zeigte keinen signifikanten Zusammenhang von
subjektiver Zufriedenheit und Modernisierung. Eine weitere Differenzierung in
Punkte Modernisierung ergibt sich aus jüngeren Auswertungen der WVS-Daten, die
von Inglehart und Norris durchgeführt wurde (Inglehart/Norris 2003a,b). Dort zeigte
sich nämlich, dass der stärkste kulturelle Unterschied zwischen westlichen und
31
islamischen Nationen nicht im Wunsch nach demokratischer Gesellschaftsordnung,
schon mehr in der Befürwortung von Religiosität, aber voralledem in den
befürworteten Familien- und Geschlechterbeziehungen liegt. Anhand einer
Untersuchung von 11 islamischen Ländern, nämlich Albanien, Algerien, Azerbaijan,
Bangladesh, Ägypten, Indonesien, Iran, Jordanien, Marokko, Pakistan, Türkei, im
Vergleich zu 22 westlichen Ländern, darunter 9 westeuropäische Länder, USA,
Australien, Neuseeland, und 10 ex-kommunistischen Länder, wurden die folgenden
Daten erhoben, die in Abb. 9 zusammengestellt sind (Inglehart/Norris 2003a, 69f.):
(%-Zustimmung) Westliche Länder Islamische Länder
Demokratie funktioniert gut
68%
68%
Demokratie wird befürwortet
86%
87%
Ablehnung autoritärer politischer Führer
61%
61%
Ablehnung religiöser politischer Führer
62%
39%
Befürwortung der Geschlechtergleichheit
82%
55%
Scheidung ist zulässig
60%
35%
Abtreibung ist zulässig
48%
25%
Homosexualität ist zulässig
53%
12%
Abb. 9: Einstellungsunterschiede zwischen westlichen und islamischen Ländern (WVS-Umfragen
1995-6 und 2002-2). Quelle: Inglehart/Norris (2003a, 69f).
Obwohl in den untersuchten Ländern de fakto keine Demokratie installiert ist, oder
nur in geringem Maße, scheint der Wunsch nach Demokratisierung dort ein
beträchtliches politisches Potential darzustellen, auch wenn Religiosität oder insbesondere die befürworteten Familien- und Geschlechterbeziehungen auf traditionalem
Niveau verharren. Freilich bedeutet dies auch einen gewissen Konflikt innerhalb
dieser Gesellschaften selbst, da eine Demokratisierung notwendigerweise eine Säkularisierung, also eine Befreiung politisch-demokratischer Mehrheitsbeschlüsse von
religiösen Vorschriften nach sich zieht. Dass zwischen Grad der Religiosität von
31
32
32
Menschen und dem Grad ihrer Zustimmung zu demokratischen Idealen bzw.
Ablehnung von starken Führern keine signifikante Korrelation besteht, zeigen
schließlich auch die Untersuchung von al-Braizat (2003, 59-64) anhand einer
Analyse der WVS-Daten von 2000-2. Diese Befunde stimmen mit der in Kap. 1
diagnostizierten Zunahme von Religiosität inmitten einer sich technisch-industriell
modernisierenden Welt überein.
3. Evolutionäre Analyse der Weltkulturen
Die empirische Analyse der Weltkulturen hat einige der Huntingtonschen Thesen
bestätigt: es gibt gegenwärtige kulturell sehr divergierende Länderbereiche, die allerdings eine anderen Gruppierung folgen als der Huntingtonschen, und die sich mehr
an typischen Weltauffassungen und Lebensstilen als an spezifischen Religionen
festmachen lassen. Während auf der Oberfläche einiges für Huntington spricht,
möchte ich in diesem letzten Abschnitt argumentieren, dass Huntingtons Tiefenanalyse der globalen kulturellen Konflikte gänzlich inadäquat ist. Huntington fasst
Kulturen ja als historisch langfristige Zivilisationsgleichgewichte auf, mit gewissen
sich historisch sich durchhaltenden intrinsischen Merkmalen, deren Unterschiede für
die gegenwärtigen globalen Kulturkonflikte verantwortlich sein sollen. Ich möchte
stattdessen zeigen, dass Huntingtons Kulturen, qua historische Entitäten, alles andere
als homogene Größen sind, sondern dass dahinter lediglich gewisse Entwicklungsstadien von generellen Entwicklungstrends der Menschheit stehen. Den Angelpunkt
zur Aushebung des Huntingtonschen Kulturparadigmas liefert mir folgende einfache
Feststellung:
Antithese zu Huntington: die westlich-christliche Kultur Europas in der vordemokratischen Zeit, also von 800-1900, steht den modernen nichtwestlichen Kulturen viel
näher als der modernen westlichen Kultur.
33
Wenn das stimmt, dann bricht das Huntingtonsche Kulturparadigma in sich zusammen. Ich möchte für meine These einige Belege anführen. Schon Müller (1998, 135)
führte gegen Huntington hauptsächlich ins Feld, dass die gegenwärtigen konfuzianischen Werte sehr gut mit den Werten des europäischen Bürgertums im Europa
des 19. Jahrhunderts zusammenstimmen  wie Gottesfurcht und Respekt vor
Autorität, hoher Wert der Familie, traditionale Rollentrennung von Mann und Frau,
Sparsamkeit,
Lernbereitschaft,
Fleiß,
usw.
Diese
konservative
Werteliste
repräsentiert auch heute noch gut das konservative Lager Europas oder das
republikanische Lager der USA. Die mehrheitliche Unterhöhlung dieser traditionalen
Wertestrukturen begann im Westen erst mit der Etablierung von egalitären
Demokratien seit 100 oder maximal 200 Jahren, und die beschleunigte Entwicklung
in Richtung postmoderner Selbstverwirklichungswerte trat überhaupt erst ab den
1960iger Jahren ein (s. Abb. 6), und wurde durch ein Ansteigen des
Wohlstandsniveaus ermöglicht, welches bezogen auf die ökologische Zukunft
unseres Planeten langfristige wohl kaum zu halten ist. Dabei ist augenfällig, das sich
in England und den USA, in denen sich der Demokratisierungsprozess wesentlich
früher und weniger 'radikalrevolutionär' als in Kontinentaleuropa abspielte, ein
deutlich höheres Maß an säkularisierter Religiosität erhalten konnte als etwa in
Frankreich, Deutschland oder den skandinavischen Ländern (vgl. auch Mayr 1982,
371ff).
Ebenso finden wie große Parallelitäten der vergangenen westlichen Kultur mit der
islamischen Kultur, wobei wir hier noch weiter in die Geschichte des westlichen
Christentums zurückgehen müssen. Nicht nur im Islam, sondern auch im
katholischen Christentum steht die unverhüllte Frau symbolisch für die Verführung
zum Bösen, während sie nur als Mutter und Hausfrau gottgewollt ist; auch die
christliche Kultur ordnet die Frau dem Manne unter; auch in dieser Kultur war es bis
vor kurzem selbstverständlich, dass Frauen sich keusch und verdeckt bekleiden
müssen (Crossette 2004, 277), und die sexuell aufreizenden Moden des heutigen
33
34
34
Westens entsetzen nicht nur Khomeini oder Bin Laden, sie hätten auch meine
Großmutter entsetzt. Insgesamt besitzen jüdische, christliche und islamische Religion
große Ähnlichkeiten: sie haben sich alle als monotheistische Religionen gegenüber
einem vorherrschen Polytheismus etabliert; Teile des Alten Testaments sind für alle
drei Religionen maßgeblich; in allen drei Religionen wird der eine Gott von
Propheten verkündet wird, usw. (s. dazu den Spiegel-Artikel, Nr. 16., 15.04.2006, S.
152ff.) Insbesondere waren alle drei Religionen in höchstem Maße kriegerischexpansiv, wenngleich sich dies auf historisch unterschiedliche Weise entwickelt hat.
Mohammed war politischer Staatsgründer (Halm 2000, 9). Christus lehrte zwar, sein
Reich sei nicht von dieser Welt, aber was sich daraus entwickelte, war die
Zweigewaltenlehre, in der sich politische und kirchliche Führer die Macht aufteilten.
Selbstverständlich war die katholische Kirche militarisiert; zur Ottonenzeit war ihr
Kampfpotential manchmal größer als das der weltlichen Macht; und noch 1933 gab
es eine vatikanische Munitionsfabrik (vgl. Deschner 1996, Bd. 1, 20ff.). Die Vertreter
des katholische Christentums führten fortgesetzte religiöser Eroberungskriege; und
auch die Idee des Dschihad mit der Versprechung an den Gotteskrieger, nach seinem
Tod auf dem Schlachtfeld direkt ins Paradies zu kommen, gab es schon in den
Kreuzzügen des Christentums.
Die Säkularisierung der katholisch-christlichen Kirche hat sich erst spät mit der
Demokratisierung Europas durchgesetzt. Bedenkt man, dass die islamische Religion
erst 600 Jahre später als die christliche ihre geschichtliche Entwicklung begann, so
erscheint es plausibel, dass es bis zur Säkularisierung des Islam noch ein weiter
geschichtlicher Weg ist. Auch die Geschichte des konfuzianischen Chinas ist durch
und durch imperialistisch: von 1100 bis 221 v.C. eroberte die chinesische ZhouDynastie fast das gesamte chinesiche Gebiet (s. Diamond 1998, 322ff). Kriegsführung ist freilich nicht nur ein Kennzeichen von monotheistischen Religionen,
sondern von monokratisch organisierten politischen Systemen überhaupt, deren
Legitimität sehr häufig religiös abgesichert wurde; und die Demokratisierung westlicher Gesellschaften war andererseits wohl das bedeutendste Mittel, um zu
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friedlichen Formen des Zusammenlebens zu gelangen.
Zum Abschluss dieses Beitrag sei versucht, eine dynamische Typologie von
traditionalen versus modernen Werten aus evolutionärer Sicht herauszuarbeiten. Im
Effekt steht eine kulturelle Evolutionstheorie in der Mitte zwischen einer kulturellen
Prägungstheorie und einer kulturellen Reifungstheorie. Eine reine kulturelle
Prägungstheorie, wonach für den Menschen diejenigen Werte am attraktivsten sind,
in deren Umfeld er erzogen wurde, könnte überhaupt keine übergeordneten kulturellen Entwicklungstrends erklären  alles hinge in diesem Modell von historischen
Zufälligkeiten ab. Eine reine kulturelle Reifungstheorie, wonach sich alle Kulturen in
dieselbe Richtung auf denselben Endpunkt zusteuern, wie es die (Post-)
Modernisierungstheorie lehrt, widerspricht dagegen der Diversität der kulturellen
Entwicklungspfade auf der Landkarte der Kulturen, die wir im vorigen Kapitel
diagnostiziert haben. Für die kulturelle Evolutionstheorie ist es dagegen wesentlich,
dass es einige wenige von den historischen 'Variationen' der Kulturgeschichte mehr
oder-weniger unabhängige Selektionskräfte gibt, welche sich in unterschiedlichen
Gleichgewichtslagen einpendeln können und dadurch die kulturelle Entwicklung in
verschiedene Richtungen
Evolutionäre Klassifikation kultureller Werte
Überlebensdruck
Biologisch-genetisches Erbe
Traditionale Werte
evolutionäre Kräfte
  



Dominanter Typus
Positive substantielle Werte (Autorität)
(bestimmte gute Dinge tun)
Geistige Werte
Religion(en)
Konzept "absoluter/heiliger" Werte
Tradition, Normalität
Ehrfurcht des Individuums vor Autorität
Monokratie
Macht und Autorität
Disziplin, Arbeitsethik
Modernisierungsdruck
Ökonomisch-techn. Fortschritt
Moderne Werte

Prozedurale Werte (Demokratie), plus
negative substantielle Werte (nicht
behindert werden, beliebige zu tun)
Aufklärung, kritische Wissenschaft
Interessen, Utilitarismus
Innovation, Anti-Diskriminierung
Autonomie, Emanzipation, Egalität
Gesellschaftlich-politische Werte
Demokratie
Liberalismus und Pazifismus
Selbstbestimmung, Genuss
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Soziale Beziehungswerte
Patriarchat, Rollenaufteilung
Familie, Fürsorge
Strenge Sexualmoral, Tabus
Kontrolle weibl. Sexualität
Emanzipation, Rollengleichheit
Pluralismus der Beziehungen
Tabubrechung, Enthemmung
Zurschaustellung weiblicher Sex.
Abb. 10: Evolutionäre Klassifikation kultureller Werte
treiben können (vgl. Schurz 2001). Abb. 10 zeigt einen ersten Vorschlag für eine
solche evolutionstheoretische Klassifikation.
Ich sehe den Werteübergang von traditionalen zu modernen Kulturen unter dem
Zug zweier entgegengesetzt gerichteter Arten von Kräften: einerseits das biologischgenetische Erbe des Menschen, welches die Menschheit zu traditionalen Werten
zieht, und andererseits der wirtschaftliche und technische Fortschritt, der sie in
Richtung (Post-)Modernisierung treibt. Dass die genetisch-angeborene Verfassung in
der Kulturentwicklung überhaupt eine Rolle spielt, wird von vielen (insbesondere
politisch links stehenden) Kulturwissenschaftlern nach wie vor bezweifelt, aber ich
denke, angesichts des reichhaltigen psychologischen und soziobiologischen Wissens
läßt sich dieses Faktum kaum bestreiten. Auch die traditionellen Geschlechterrollen
haben vermutlich bis zu einem gewissen Grade eine genetisch-evolutionäre Grundlage. Unklarheit besteht jedoch darüber, in welchem Maß die kulturelle Evolution des
Menschen, die auf erworbenen (d.h. nicht-genetisch verankerten) Merkmalen beruht,
sich von Einfluss der Gene loslösen kann. Die genetisch-biologische Verfasstheit des
Menschen hat sich auf Bedingungen eines hohen Überlebensdruckes, einer ständigen
existentieller Bedrohung durch knappe Ressourcen und lebensbedrohliche Feinde
entwickelt. Daher entwickelt sie auch heute noch unter solchen Bedingungen ihre
Stärken. Zahlreiche Studien, sowie die historische Erfahrung insgesamt, belegen, das
Armut und hohe soziale Kriminalität autoritäre Regimes begünstigen und
Demokratisierung verhindern (vgl. Schmidt 2000, 439ff.) Die traditionale Familie
und die damit verbundene Rollenaufteilung sind seit uralten Zeiten die zentrale
menschliche
Organisationsform,
welche
Fortpflanzung,
physisch-materielle
Sicherung, und voralledem die Erziehung (d.h. die primäre Weitergabe des kulturellen Erbes) bewerkstelligt. Riesebrodt (2000, 138) kommt in seiner Studie der
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Weltkulturen zum Schluß, dass sich selbst unter gesellschaftlich optimalen Bedingungen bislang weder das egalitaristische noch das patriarchalische Familienmodell
voll durchsetzen kann.
Ökonomischer und wissenschaftlich-technischer Fortschritt, verbunden mit
Erziehung und Ausbildung, ziehen die Entwicklung in Richtung Modernisierung.
Zunehmende
gesellschaftliche
Vernetzung
und
Spezialisierung
verlangen
zunehmende Liberalisierung und Demokratisierung; zunehmender materieller
Wohlstand erzeugt den Drang zu 'postmodernen' Werten. Die kausale Wechselwir-
Armut
Soz. Unsicherheit
Angst
Kriminalität
Schutzbedürfnis
Wirtschaftliche
Traditionale Werte
Strenge Ordnung
Stagnation
Überleben / Religion
Autoritäre Regimes
Traditionelle Frauenrolle
Kriegerisch-expansive Regimes
Hohe Geburtenrate
Wenig Erziehung und Bildung
Abb. 11: Kausalvernetzung einiger zentraler Größen welche traditionale Werte begünstigen. Polar
entgegengesetzte Größen begünstigen Modernisierung.
kung zwischen einigen zentralen Variablen, die im Gleichgewicht der evolutionären
Kräfte zwischen 'Überlebensdruck' und 'Modernisierung' eine Rolle spielen, sind in
Abb. 11 zusammengefasst.
Wie die empirischen Befunde der vorigen Kapitel gezeigt haben, bewirkt
Modernisierung nicht zwangläufig den Übergang zu einer a-religiösen Gesellschaft 
in vielen Ländern gehen (Post-)Modernisierung mit einem hohen Maß an Religiosität
zusammen. Der demokratische Pluralismus verbietet ja nicht religiöse Weltbilder, so
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wie dies der Kommunismus erfolglos versuchte. Entscheidend für die Vereinbarkeit
ist jedoch die Säkularisierung und Pluralisierung der Religion; ihr Verzicht auf
kulturelle Absolutheitsansprüche und politische Macht. Der wichtigste Wertewandel
beim Übergang von traditionalen Werten zu (post-)modernen Werten scheint
vielmehr der Übergang zu einem höheren Abstraktionslevel zu sein, so wie dies in
Abb. 10 angeführt ist. Positive substantielle Werte können nur die Grundlage einer
Gesellschaft bilden, die an absolute Maßstäbe glaubt, also an religiös und autoritär
fundierte Werte. Beim Übergang zu aufgeklärten Demokratien fallen diese absoluten
Maßstäbe weg. Es bleiben fast keine allgemeinen positiven substantiellen Werte
mehr übrig; dagegen dominieren negative substantielle Werte wie Freiheit von
Zwang, Freiheit zur Entfaltung von selbstgesetzten Werten, welche immer dies seien,
sowie die prozedurale Werte der Demokratie. Diese Unterschied mag viele
Missverständnisse in der gegenwärtigen Weltkulturdebatte erklären. Wenn der
gläubige Islamist das völlige Fehlen von 'echten' Werten in der westlichen Kultur
kritisiert, dann meint er damit offenbar nur die fehlenden positiven substantiellen
Werte, während er den Abstraktionsübergang, der sich in Demokratien eigentlich
vollzog, nicht recht versteht. "Was sind die Werte der Ungläubigen?" fragte der
Spiegel-Artikel nach dem Anschlag vom 11. September und brachte die Sache nicht
richtig auf den Punkt, weil sich seine Autoren krampfhaft bemühten, verbindliche
positive substantielle Werte des Westens herauszuarbeiten, die es kaum gibt. Viele
westliche Bürger beklagen die Auswüchse der Konsumgesellschaft in Werbung und
Wirtschaft ebenso wie der gläubige Islamist, nehmen sie aber als Übel in Kauf, weil
sie vom Wert von Demokratie und freier Wirtschaft überzeugt sind und diesen
langfristig höher einschätzen als die in Kauf genommenen Übel.
Andererseits ist klar, dass der Übergang zu überwiegend negativen und
prozeduralen Werten die Stabilität des menschlichen und sozialen Wohlbefindens
auch zu verunsichern und auszuhöhlen vermag. Viele Autoren, auch Huntington
(1996, 151), sprechen hier vom psychischen Trauma der Modernisierung, aber
niemand sagt genauer, worin dieses besteht. Ich denke, es geht um folgendes: das
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ungeheure Ausmaß an individuellen Freiheiten und Verlockungen der modernen
westlichen Konsumkultur, verbunden mit der ständigen Überflutung von sinnlichen
Aufreizungen, geht nicht ohne hohen psychischen Zivilisationsdruck ab. Es erfordert
speziell im jungen Menschen ein hohes Maß an verinnerlichter psychischer
Kontrolle, um dem gegenüber die eigene Identität und Zielorientierung aufrechtzuerhalten. Dieses hohe Maß an verinnerlichter Impulskontrolle erfordert wiederum
ein hohes Maß an inniger Erziehung, welche durch das Elternhaus geleistet werden
muss, sowie ein hohes Maß an Aufklärung und Bildung, welches die gesellschaftlichen Bildungsinstitutionen zu bewerkstelligen haben. Wo beides nicht
vorhanden ist, kann das hemmungslose Reiz- und Konsumangebot des Westens leicht
zu sozialen Entgleisungen, Frustrationen und Wertemäßigen Kehrtwendungen von
Menschen führen. Diese Gefahr ist einerseits dort gegeben, wo sehr traditionale
Kulturen durch Globalisierung in das enthemmte Reiz- und Konsumangebot des
Westens hineinkatapultiert werden; deutlich zu sehen nicht nur bei in den Westen
emigrierten Moslems, sondern auch in den ex-kommunistischen Ländern.
Andererseits ist diese Gefahr auch in den am meisten im Modernisierungstrend fortgeschrittenen westlichen Ländern selbst gegeben, insbesondere dann, wenn postmoderne Lebenseinstellungen die traditionalen Familienbanden aushöhlen und
zunehmende Staatsverschuldung die Qualität der Erziehungs- und Ausbildungssysteme schwinden lassen  man denke etwa an die Problem mit schwer erziehbaren
und gewalttätigen Jugendlichen in Deutschlands Schulen (s. Spiegel-Artikel Nr. 14,
3.4.2006), die hohen Scheidungsraten, das Schwinden traditioneller Familien, die niedrige Geburtenrate, usw. Solche Länder, in denen der rapide Postmodernisierungstrend mittlerweile negative Folgen zeitigt, könnten hier von jenen  westlichen
wie nichtwestlichen  Ländern etwas lernen können, die sich bei gleichem Modernisierungsgrad und wirtschaftlichem Wohlstand nicht so weit ins postmodernistische
Extrem hineinbewegt haben.
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