1 Kampf der Kulturen? Eine empirische und evolutionäre Kritik der Huntington-These. Gerhard Schurz, Universität Düsseldorf 1. Phänomenologische Analyse des Konfliktes zwischen Weltkulturen 1.1 Huntingtons Thesen und ihre Aktualität Mit seinem Aufsatz "The Clash of Civilizations" in Foreign Affairs von 1993 und mit seinem gleichnamigen Buch von 1996 hat der Harvarder Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington breites Aufsehen erregt. Im Deutschen wurde das Buch etwas sinnentfremdend als "Kampf der Kulturen" übersetzt Huntington hätte "Civilization" lieber mit "Zivilisation" übersetzt (Huntington 1996, 14); und "Clash" meint mehr "Kollision" als "gewollter Kampf". Huntingtons zentrale These besagt, dass die Weltpolitik der Gegenwart und Zukunft durch die Koexistenz und den Konflikt zwischen einigen wenigen Weltkulturen bestimmt wird. Huntingtons Thesen haben durch die islamistischen Terroranschläge vom 11. September und ihre weltweiten Folgen eine bedrückende Aktualität erfahren. Aber treffen seine Thesen wirklich zu? Diese Frage wollen wir in dieser Beitrag mithilfe empirischer und evolutionstheoretischer Methoden zu beantworten versuchen. Huntingtons Thesen lassen sich wie folgt zusammenfassen: These 1: Nach dem ersten Weltkrieg trat die Welt aus der Ära der Kolonialzeit in die Ära des kalten Krieges. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks, also seit 1990, tritt die Welt nun in eine neue Ära: die Ära der Auseinandersetzungen zwischen Großkulturen. Die politische Aufteilung der Welt in Großkulturen ist Huntington zufolge auch die natürliche, denn die Kulturzugehörigkeit ist Huntington zufolge die entscheidende Basisvariable der Menschen. Die kulturelle Weltaufteilung wurde in Kolonialzeit lediglich unterdrückt und begann heimlich schon während des 1 2 2 kalten Krieges zu wirken. These 2: Huntington (1996, 20, 26, 30) unterteilt die gegenwärtige Welt in mindestens vier und maximal acht Kulturkreise, welche er vorwiegend nach ihrer Religion unterscheidet: 1) die sinische bzw. chinesische Kultur, beginnend ca. 1500 v.C., die weitgehend konfuzianisch ist; 2) die hinduistische Kultur, beginnend ca. 1500 v. C. auf dem indischem Subkontinent; 3) die islamische Kultur, die im 7. Jh. beginnt, sich von der arabischen Halbinsel ausgehend über Nordafrika, Zentralasien und Teile des den indisch Subkontinents bis nach Indonesien verbreitet hat; sowie 4) der westliche Kulturkreis, den Huntington ebenfalls erst 700-800 n.C. beginnen läßt, der sich von Westeuropa ausgehend nach Nordamerika und auch nach Lateinamerika verbreitet hat und durch seine christliche Religion bestimmt ist. Es fällt auf, dass sich Huntington in dieser Aufzählung an den vier Weltreligionen orientiert; die fünfte Weltreligion, der Buddhismus, sei dagegen schon früh in Indien ausgerottet worden und hätte daher keinen eigenen Kulturkreis gebildet (Huntington 1996, 61). Weniger sicher ist sich Huntington hinsichtlich der Eigenständigkeit der folgenden weiteren vier Kulturkreise: 5) die japanische Kultur, die sich 100-400 n.C. aus der chinesischen heraus entwickelt hat; 6) der orthodox-christlich Kulturkreis in den ex-kommunistischen Ländern Osteuropas und Nordasiens; 7) der lateinamerikanische Kulturkreis, der eng dem westlichen verbunden ist, sowie 8) der afrikanische Kulturkreis, bei dem anhand seiner Diversität von Stammesidentitäten und -religionen fraglich ist, ob hier von einer Kultur gesprochen werden kann. 3 These 3: Die provozierendste These Huntingtons besagt, dass der Universalitätsgedanke der westlichen Moderne ausgespielt hat und sich besser zurückziehen sollte. Nach dem Ende des kalten Krieges haben zahlreiche westliche Intellektuelle geglaubt, dass die westlich-demokratische Gesellschaftsordnung im Verein mit dem freien Wirtschaftssystem sich nun zu einer globalen Weltkultur entwickeln würde. Führende amerikanische Politiker und Wirtschaftsführer erhofften sich sozusagen, dass der Marshall-Plan nun für die ganze nichtwestliche Welt funktionieren würde: läßt man den nicht-westlichen Ländern die politische Unabhängigkeit und importiert westliche Wirtschaft, so würden sie sich von selbst zu einem Modell westlicher Demokratie entwickeln. Fukuyama (1992) bezeichnete diese erhoffte Entwicklung als "Das Ende der Geschichte". Doch derzeit scheint das genaue Gegenteil einzutreten: in den nichtwestlichen Kulturkreisen sind massive kulturelle Restaurierungsbewegungen im Gange, die sich auf die junge Generation dieser Ländern stützen und mit einem erstarktem antiwestlichem Selbstbewusstsein einhergehen. Huntington wurde von vielen Kultur- und Geisteswissenschaftlern in einer mir übertrieben und unfair erscheinenden Weise kritisiert; daher beginne ich mit einer Bemerkung als wissenschaftstheoretischer Sicht. Huntington ist kein Theoretiker: er führt eine enorme Fülle an Fakten an, aber etliche seiner Begriffe erscheinen zu undifferenziert. Doch seine Thesen sind sicherlich gehaltvoll und belegt genug, um es zu verdienen, ernsthaft diskutiert zu werden. Beispielsweise ist die Kritik berechtigt, dass der "christlich-orthodoxe" Bereich von Huntington als eigener Kulturkreis bezeichnet wird was diese Länder stattdessen gemeinsam haben, ist die 'jüngste' exkommunistische Vergangenheit. Doch auch wenn diese und andere Kritiken zutreffen, so ändert dies doch nichts daran, dass die fundamentale These Huntingtons, dass sich nämlich die Weltgroßkulturen nicht im Sinne der Modernisierungsthese aufeinander zu bewegen, sondern trotz technisch-industrieller Globalisierung nachhaltig divergent bleiben, einer gewissenhaften empirischen Analyse bedarf. Zahlreiche Kulturwissenschaftler bezeichnen Huntington herablassend als 3 4 4 "unwissenschaftlich" Riesebrodt (2000, 15f.) etwa präsentiert Huntington als den "Karl May der Politik" und bezeichnet seine kulturellen Weltkarten als ein "Disneyland der Zivilisationen". Aber häufig besteht die vorgebrachte HuntingtonKritik, statt aus empirischen Widerlegungsversuchen, lediglich aus abweichenden Werturteilen, welche im quasi-wissenschaftlichen Gewande daherkommen und dies ist vielleicht noch unwissenschaftlicher als Huntingtons theoretische 'Schlampigkeit' (vgl. Schurz 2006, Kap. 2.5). Ob Huntingtons Hauptthese stimmt oder nicht, ist in erster Linie eine empirische und keine moralische Frage und jenen, die Huntingtons Diagnose als "politisch gefährlich" ablehnen, möchte ich entgegenhalten, dass es wohl politisch noch gefährlicher ist, den moralisierenden Blick vor den Fakten zu verschließen. Als Belege für seine Thesen führt Huntington an, dass zahlreiche nichtwestliche Länder zwar mit mehr oder minder großem Erfolg westliche Naturwissenschaft, Technik und Industrie übernommen haben, ohne aber westliche Demokratie und Werte mit zu übernehmen. Ein erstes Beispiel ist der ostasiatische Wirtschaftsaufschwung: die vier Tigerstaaten Hongkong, Taiwan, Südkorea, Singapur, sowie China, Malaysia, Thailand und das islamisch dominierte Indonesien erlebten ein anhaltendes Wirtschaftswunder, sie hatten zwischen 1970 und 1996 durchschnittliche Wachstumsraten von ca. 8%; aber je stärker diese Länder wirtschaftlich wurden, desto mehr haben sie ihre Stärke auf das Festhalten an den traditionalen Werten ihrer Kultur wie patriarchalischer Familienzusammenhalt, Ordnung und Arbeitsdisziplin zurückgeführt, und westlicher Werte zurückgewiesen (s. Huntington 1996, 156-9). Auch im Islam setzt man entschieden auf den Wirtschaftsaufschwung durch Import westlicher Technologie und beharrt noch massiver auf traditionalen Werten. Zwischen 1950 und 1992 stieg der Anteil der islamischen Länder am Weltbruttosozialprodukt von 2,9% auf 11%, der Anteil des sinischen Kulturkreises von 3,3% auf 10%, während der Anteil des westlichen Kulturkreises von 64,1% auf 48,9% sank (ebd. 129). Dasselbe Rückbesinnungsphänomen auf die eigenen Werte läßt sich für den indisch-hinduistischen 5 Kulturkreis feststellen, wobei hier der Wirtschaftsaufschwung nur wenig vorankommt; so bezeichnete der indische Ministerpräsident Mahatir "asiatische Werte als universale Werte; europäische Werte als europäisch" (ebd. 167). Die Rückbewegung zu den traditionalen Werten wird vor allem von der jungen Generation getragen, welche in islamischen Ländern einen enorm hohen Bevölkerungsanteil besitzt. Man spricht von einem Indigenisierungsphänomen der zweiten Generation. Gleichzeitig gibt es seit den 1980er Jahren ein weltweites Erstarken von Religionen und von fundamentalistischer Tendenzen in den Religionen. Zuvorderst im Islam, aber auch in anderen Religionen (Huntington 1996, 144), wie z.B. in Indien, wo 1991 die radikale Hindu-Partei BIP zur zweitstärksten Partei Indiens gewählt wurde (Kienzler 1996, 11). In den ex-kommunistischen Ländern findet eine Renaissance des Christentums statt (Huntington 1996, 135); und obwohl das Christentum in Europa an Boden verloren hatte, konnte es in Lateinamerika oder Südkorea gute Zuwächse verzeichnen (ebd. 149). Selbst in den USA und abgeschwächt sogar katholisch-christlichen Bereich haben fundamentalistisch orientierte religiöse Gruppierungen stark zugenommen (vgl. Kienzler 1996, 28ff; Riesebrodt 2000, 122). Umgekehrt konvertiert in Deutschland eine steigende Zahl werteverunsicherter Deutscher zum Islam (Filter 2002, 77f). Der generelle Grund für das Wiedererstarken der Religion ist Huntington zufolge dasjenige, was die Religion gemäß landläufigen Thesen eigentlich hätte eliminieren sollen nämlich die Modernisierung (Huntington 1996, 146). Zu viele Identitätssysteme sind in der Moderne geborsten; und als Reaktion auf den moralischen Relativismus der Moderne wenden sich Menschen wieder verstärkt religionsgestützten Autoritäten zu. Der Universalisierungsgedanke der westlichen Demokratie und freien Wirtschaft ist Huntington zufolge pure westliche Überheblichkeit, ein Erbstück der kolonialistisch-imperialistischen Tradition. Huntington kommt in diesem Zusammenhang auf die weitgehend gescheiterten Integrationsbemühungen westlich-europäischer Länder gegenüber den Immigrationsströmen zu sprechen, die sich in unseren 5 6 6 Tagen am deutlichsten in Frankreich und Deutschland bemerkbar gemacht haben, und die vergleichbar sind zu den Schwierigkeiten der USA gegenüber mexikanischen Einwanderungsströmen hatte. Huntington (1996, 524) gibt die Empfehlung ab, der Westen solle seine außenpolitischen Versuche, die Demokratie weltweit zu installieren, weitgehend reduzieren, und statt dessen dem nicht-westlichen Bevölkerungsanteil in den eigenen Ländern engere Grenzen ziehen als bisher, um einen Zerfall der Gesellschaft zu vermeiden. Für einen Anhänger der Aufklärungsrationalität ist Huntingtons Kritik der Universalität von Demokratie und Menschenrechten freilich höchst irreführend. Schließlich ist, nach Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen autoritären und nationalistischen Regimes, das moderne demokratische Gesellschaftssystem verbunden mit der Doktrin grundlegender Menschenrechten genau der Versuch, eine universale Grundlage für das friedliche Zusammenleben von Menschen aller Wertorientierungen zu entwickeln nichtwestliche Kulturen sind in diesem Modell virtuell schon inbegriffen. Ich komme auf das damit verbundene Pluralismusparadox in §1.4 zurück. Zuvor seien zwei Konfliktpunkte näher beleuchtet; erstens der blutige 'Islamismus-kontra-Westen'-Konflikt (§1.2), und zweitens, teilweise als intellektueller Reflex davon, der gottseidank unblutige Universalismus-versuskultureller-Relativismus-Konflikt (§1.3). 1.2. Islamismus versus westlichen Werte Am beängstigenden sind die islamistischen Bewegungen, die Gottesstaat verwirklichen wollen, ein auf religiös-fundamentalistischen Gesetzen, der sogenannten Scharia, aufgebautes autoritäres Staatsgebäude. Sowohl das Ziel des Gottesstaates als auch der Dschihad oder Heilige Krieg gegen die Ungläubigen können sich auf Grundlagen im Koran berufen (vgl. Sure 5 vs. Sure 9; in Schwarzer Hg. 2002, 124; sowie Kippenberg/Seidenstricker, Hg., 17ff.), auch wenn in der Vergangenheit des Islam ein beschränkt tolerantes Glaubenskonzept praktiziert 7 wurde und der rigide Fundamentalismus erst gegenwärtig dominant wird (Tibi 2002a, 114). Mittlerweile kontrolliert der Islamismus eine beträchtliche Anzahl von Ländern, und es vergeht keine Woche, in der nicht ein islamistisches Selbstmordattentat oder ein Terroranschlag gemeldet wird. Wie der liberale muslimische Intellektuelle Tibi feststellt, wenden sich wie im Zuge der reaktionären islamistischen Bewegung auch zahlreiche ehedem liberal eingestellte muslimische Intellektuelle dem Fundamentalismus zu (Tibi 2002b, 52ff), und er betont zugleich, dass es sich bei den islamistischen Revolutionsführern in Hinblick auf Technik, Wissenschaft und ultratraditionalen Industrie um Modernisten Werteinstellungen. Spätestens handelt, aber seitdem gepaart der mit iranische Regierungschef öffentlich zur Vernichtung Israels aufgerufen hat, ist auch den hartgesottensten Kulturpluralisten die Parallele zum Faschismus der deutschen Nationalsozialisten aufgefallen. Während die USA den Islamismus durch äußere Angriffe spüren bekommen, bekommt ihn der europäische Westen von innen zu spüren, in Form von kontinuierlichen Immigrationsbewegungen, die sich immer schwerer integrieren lassen, denn der gegenwärtige Islamismus fordert die Einwanderer dazu auf, sich gegen die Integration sperren (Tibi 2002a, 112), was mittlerweile auch die Lehrer in deutschen Schulen in Form von mangelnder deutscher Sprachfähigkeit und zunehmender Gewaltbereitschaft unter türkischen Jugendlichen massiv zu spüren bekommen (s. Spiegel-Artikel Nr. 14, 3.4.2006, vgl. Heitmeyer et al. 1997). Das hervorstechendste Kennzeichen der islamistischen Werteordnung ist patriarchalische Familien- und Geschlechterordnung und die repressive Kontrolle weiblicher Sexualität. So tat man nach der iranischen Revolution von 1979 wenig, um das Los der Bauern zu verbessern, aber man wandte sich umgehend der Regelung der Sexualmoral zu (Riesebrodt 2000, 121). Aus männlich-islamistischer Sicht ist die weibliche Sexualität eine Quelle der Verführung zum Bösen; sie entfesselt die männliche Leidenschaft und raubt dem Mann Verstand und Würde. Daher muss die weibliche Sexualität, um Arbeit und Sozialleben nicht ständig durcheinander zu 7 8 8 bringen, rigide kontrolliert und aus der Öffentlichkeit verbannt werden (ebd. 120-5). Für den Islam gleicht die sexy gekleidete Frau des Westens einer Prostituierten oder Nackten (ebd. 123). Ist man als Mann einen solchen visuellen Entzug weiblicher Sexualität erst einmal gewöhnt, so muss die permanente Zurschaustellung halbnackter Frauenkörper in der westlichen Kultur zum Zwecke der Werbung und Einschaltquotenerhöhung, die schon für viele westliche Bürger schwer auszuhalten ist, für den Islamisten wie eine völlige Entgleisung, eine mentale Verrücktheit erscheinen und ähnliches gilt für große Teile des sinnenberauschenden Freizeitund Unterhaltungsangebots der westlichen Konsumgesellschaft. Ganz abgesehen von der Homosexualität, die für Islamisten noch schlimmer ist als Prostitution und unter dem Strafverdikt der Steinigung steht (Tibi 2002a, 106), wogegen sich im Westen Homosexuelle mittlerweile vor dem Altar trauen dürfen. Ein brutale Kollision von inkompatiblen Werten ist die unausweichliche Folge der Huntingtonsche Begriff des "Clash" hat hier seine Berechtigung. Die Unterdrückung der weiblichen Sexualität im Islam paart sich mit der islamistischen Unterdrückung der Frau insgesamt. Dabei ist das, was nach den Frauen nach der Konterrevolution der Ayatollahs im Iran passierte, noch harmlos gegen den Steinzeitislamismus in Algerien oder dem der Taliban in Afghanistan: während die vergleichsweise fortschrittlichen Schiiten im Iran den Verschleierungszwang durch den liberaleren Kopftuchzwang ersetzten und Frauen lediglich aus höheren Ämtern wie z.B. Richterberufen vertrieben, verbieten die Steinzeitislamisten den Frauen im Regelfall den Schulbesuch sowie das Verlassen des Hauses ohne männliche Begleitung (vgl. (Halm 2000, 83; Flitner 2002, 152; Crossette 2004, 281f.). Einige Feministinnen, an vorderster Front Alice Schwarzer und die Zeitschrift Emma, haben sich den Kampf gegen den Islamismus zum Ziel gesetzt. Sie werden jedoch von einer anderen Gruppierung intellektuellen Frauenbeweglerinnen bekämpft, die sich dem kulturrelativistischen Standpunkt verschrieben haben und in der islamistischen Frauenbewegung ein Zeichen von Freiheit und Autonomie der Frau sehen. Schwarzer und ihre Genossinnen verstehen die Welt nicht 9 mehr, wenn heute junge Iranerinnen in Deutschland für das Kopftuchtragen in der Schule kämpfen und deutsche Lehrer diszipliniert werden, weil sie Schülern das Kopftuch verbieten wollen, während noch vor kurzer Zeit islamischen Frauen unterstützt von der gesamten westlichen Öffentlichkeit gegen das Kopftuch auf die Strasse gingen (vgl. Schwarzer Hg., 2002, 11f., 129ff.). Ähnlich kritisiert Tibi (2002a) die gegenwärtigen deutschen Intellektuellen als "Gutmenschen", die sich das politische Tabus vorgeschrieben haben, keine Ausländer oder Kulturen zu kritisieren, und angesichts der islamistischen Terroranschläge voralledem um das "Feindbild Islam" besorgt sind (ebd. 111). 1.3. Humanistischer Universalismus versus kultureller Pluralismus/Relativismus Wie die Ausführungen des letzten Absatzes andeuten, schlägt die westlichislamistische Kollision von Werten unter westlichen Intellektuellen um in einen Konflikt zwischen zwei politischen Grundorientierungen, der sich unabhängig vom Links-Rechts-Spektrum auftut: nämlich (moderner) humanistischem Universalismus versus (postmoderner) kulturellem Pluralismus bzw. Relativismus. Die moderne Standardposition des aufgeklärten Westens ist der Universalismus von Demokratie und Menschenrechten. Diese Position wurde in einer mühsamen Entwicklungen mit vielen Rückschlägen errungen, als eine maximal tolerante und gewaltvermeidende ethische Minimalposition, welche alle autoritär begründeten Wertmaßstäbe ablehnt und sich zu einem durchgängigen Wertepluralismus bekennt, in dem als einzig universal verbindliche Werte die Wahrung der Menschenrechte und demokratischen Prozeduren übrig bleiben. Zu bekämpfen sind lediglich Standpunkte oder Regimes, welche Intoleranz predigen und Menschenrechte verletzen. Schon vor Huntington haben jedoch verschiedene Gruppen, anthropologische Kulturrelativisten oder postmoderne Differentialisten, den entgegengesetzten Standpunkt vertreten, es gäbe überhaupt keine objektiven ethischen oder epistemischen Maßstäbe, und alle Kulturen, demokratische wie autoritäre, seien gleichberechtigt. Beide Gruppierungen 9 10 10 berufen sich also auf das Prinzip des Pluralismus, kommen aber zu entgegengesetzten Konklusionen. So sehen universalistische Feministinnen in den Frauen- rechtsverletzungen islamistischer Länder einen Grund für die UNO, in diese Länder einzumarschieren (Messaoudi 2002), wogegen kulturpluralistische Feministinnen in islamistischen Bekleidungsvorschriften oder Rollentrennungen eine kulturell andere, aber ebenso legitime Art weiblichen Selbstverwirklichung erblicken (Schwarzer Hg., 2002, 15f., 144-6; Filter 2002, 100-102; Crossette 2004, 280-282). Die UNO-Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist das Fortschrittlichste, was die Menschheit bisher im universalistischen Sinn zustande gebracht hat. Für die American Anthropological Association ist diese UN-Menschenerklärung dagegen ein westlich-ethnozentrisches Dokument, das damals nur aufgrund der Dominanz des Westens zustande kam (Huntington/Harrison Hg, 2004, 29). Viele nichtwestliche Länder halten sich de fakto nicht an die UNO-Erklärung und begründen dies mit ähnlichen Argumenten wie westliche Kulturrelativisten. Vor der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien 1993 versammelten sich die asiatischen Länder in Bangkok und erklärten, dass Menschenrechte in kulturellem Kontext zu sehen sind, dass die Überwachung von Menschenrechten die staatliche Souveränität verletze, und eine an Menschenrechte geknüpfte Wirtschaftshilfe dem Recht auf Entwicklung widerspräche (Huntington 1996, 313). Die gemeinsame Erklärung dieser Menschenrechtskonferenz, die dann in Wien erarbeitet wurde, entspricht dem tatsächlichen internationalen Konsens und ist gegenüber der UNO-Erklärung von 1948 ein Rückschritt, denn Rede-, Versammlungs-, Presse- oder Religionsfreiheit kommen darin nicht vor (ebd. 313). Die UNO-Erklärung der universalen Menschenrechte steht im übrigen auch in Konflikt mit der rechtlichen Hauptgrundlage der UNO, dem historisch älteren Völkerrecht, welches die Souveränität des Staates betont, und militärische Aktionen der UNO gegen einen Staat nur für den Fall erlaubt, dass dieser den Weltfrieden bedroht, nicht aber schon dann, wenn ein Staat die eigene Bevölkerung grausam unterdrückt (vgl. Art. 2, Ziffer 7 der UN-Charta, s. http://www.un.org/aboutun/charter). 11 Wollte die UNO die globale Einhaltung dieser Menschenrechte wirklich in die Tat umsetzen, so müsste im Auftrag der UNO in den meisten islamischen Ländern, in China und anderswo einmarschiert werden (so wie dies einige Feministinnen tatsächlich fordern; s. Messaoudi 2002). Damit sind wir beim entscheidenden pragmatischen Argument für den Kulturpluralismus: die Folge einer solchen militärischen Eingriffspolitik wäre nämlich ein dritter und vermutlich ins Atomare eskalierender Weltkrieg, dessen Schaden jeden möglicherweise erzielten Nutzen bei weitem überbieten würde. Gegenwärtig sind die Risiken einer kriegerischen Eskalation noch größer geworden, da einige islamisch regierte Länder bereits Atomwaffen besitzen und andere Anstalten machen, diese zu erwerben (Venzky2002, 40; Huntington 1996, 298-305). Somit hat der radikale kulturelle Pluralismus viele pragmatische Argumente für sich. Andererseits ist gerade auch diese gefährliche Entwicklung ein Argument für den Universalismus in Form von internationaler Rüstungskontrolle. Schon jetzt erpressen islamistische Terroristen mit Anschlägen und Geiselnahmen ganze Staaten. Sollen wir uns auf einen 'Pluralismus der Kulturen' hinbewegen, in dem zehn bis zwanzig mit ABC-Waffen hochgerüstete Diktaturen die gesamte restliche Welt erpressen? Die gegenwärtige weltpolitische Situation ist in der Tat äußerst verfahren: weder militärische Intervention noch kompletter militärischer Rückzug von USA und UNO sind lösungstauglich, und der erforderliche Balanceakt in der Mitte dürfte höchst schwierig sein. 1.4. Die innere Inkohärenz des kulturellen Pluralismus Obwohl der radikale kulturelle Pluralismus kurzfristig pragmatische Argumente für sich hat, so sei doch klargestellt, dass diese politische Einstellung sowohl praktisch wie theoretisch inkohärent ist, und daher langfristig nicht zu weltpolitischer Stabilität, sondern zu anhaltenden Konflikten führen muss. Man betrachte als Beispiel den Kulturpluralismus des Anthropologen Shweder (2004, 256): in der pluralistischen Weltordnung, die ihm vorschwebt, sollte es möglich sein, zwischen 11 12 12 demokratischen und autoritären Kulturen und Staaten nach freien Stücken hin- und herzuwechseln. Die Naivität dieses Standpunktes erkennt man am sogenannten Eintrittsparadox des Islam: es ist jedermann jederzeit freigestellt, dem Islam beizutreten, aber daraus wieder auszutreten ist unter strenge Strafe gestellt (Halm 2000, 61). Ähnlich dürfte es dem postmodernen Kulturpluralisten in islamistischen Staaten gehen, denn man wird ihn, bevor man ihn aufgrund seiner abweichenden Lebensvorstellung einsperrt oder steinigt, wohl nicht fragen, ob er vorher wieder ausreisen will. Darüber hinaus muss der Kulturpluralismus auch im Inland zu politischer Inkohärenz führen: angenommen ein Staat wie Deutschland toleriert offiziell die islamistische Kulturvorstellung im eigenen Lande als gleichberechtigt; müsste er dann nicht auch islamistische Praktiken wie die Zwangsverheiratung von Mädchen bei Moslems (nicht aber bei Christen oder Nichtkonfessionelle) für legal erklären (s. dazu Kelek 2005, und sogar islamistische Parteien, welche die Abschaffung der Demokratie zum Ziel haben, im eigenen Land tolerieren? Der Kulturpluralismus ist nicht nur praktisch undurchführbar, sondern auch theoretisch inkohärent, denn er läuft darauf hinaus, Kulturen zu tolerieren, die selbst Intoleranz gegenüber Kulturen lehren. Man kann leicht die logische Inkonsistenz dieser Einstellung nachweisen. Das radikale kulturelle Toleranzprinzip besagt (1): Für alle kulturellen Praktiken X gilt: die Ausübung von X ist erlaubt. Aus begrifflichanalytischen Gründen kann (2): die Behauptung "die Ausübung von P ist erlaubt" dann und nur dann gelten, wenn es (jedermann) verboten ist, die Ausübung von P zu behindern. Nun besitzt aber eine intolerante Kultur gewisse Intoleranz-Praktiken PI, die darin bestehen, andere kulturelle Praktiken P* abweichender Kulturen zu behindern, d.h. es gilt (3): die Ausübung von PI ist notwendigerweise äquivalent mit der Behinderung von P*. Würde das radikale kulturelle Toleranzprinzip (1) nun auch auf die Intoleranzpraktiken PI angewandt werden, so ergäbe sich aus (1) (durch Einsetzung von PI für X) die Konklusion (4): "die Ausübung von PI ist erlaubt", somit mithilfe von (2) die Konklusion (5:) "die Behinderung der Ausübung von P* ist erlaubt"; anderseits folgt durch Einsetzung von P* für X in (1) natürlich auch die 13 Konklusion (6): "die Behinderung von P* ist verboten", und (6) steht im Widerspruch zu (4). Kurz gesagt, um kohärent zu sein, kann das kulturelle Toleranzprinzip nur für jede kulturellen Praktiken gelten, welche ihrerseits nicht intolerant sind und eben diese Einsicht bildet die Grundlage der westlich-universalistischen Gesellschafts- und Werteordnung. 2. Empirische Analyse der Weltkulturen Ein Hauptübel der Diskussion um Huntingtons Thesen besteht in der scheinbaren Beliebigkeit von Behauptungen, denn man spricht über etwas empirisch scheinbar schwer Greifbares, nämlich kulturelle Werte. Prototypisch wird diese Problematik in der Dissertation von Uwe Metzinger (2000) exemplifiziert, der auf engem Raum wohl um die hundert verschiedene Positionen darstellt, ohne dass daraus irgendwie erkenntlich wird, welche Position nun durch die Fakten besser und welche schlechter gestützt wird. Auch die Vielfalt von Fakten, die Huntington anführt, ist empirisch unbefriedigend, denn sie besteht aus viele zusammengetragenen politische Geschehnisberichten, zusammen mit einigen demographischen und wirtschaftlich Eckdaten, aber Huntington erhebt nirgends die kulturellen Werteinstellungen auf empirische Weise, ja er erklärt nicht einmal, was er unter der "westlichen", "islamischen" oder "sinischen" Kulturvorstellung (etc.) genau versteht (s. Riesebrodt 2000, 19). Umso wichtiger scheinen mir die empirisch-sozialwisenschaftlichen Forschungen des World Value Survey (WVS) Projektes zu ein, welche mit großem Aufwand die weltweite Entwicklung von kulturellen Werten und Einstellungen empirisch zu erfassen trachten. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Sozialwissenschaftlern in mehr als 65 Ländern. Es werden detaillierte Fragebögen entwickelt, die Sozialwissenschaftler in allen diesen Ländern zur Erhebung bringen; riesige Datenmengen werden elektronisch erfasst und statistisch ausgewertet (auf die Internetadresse http://wvs.isr.umich.edu/index.html sind viele der Daten und 13 14 14 Auswertungen zugänglich). Führend in dieser Gruppe ist der Sozialwissenschaftler Ronald Inglehart von der University of Michigan in Ann Arbor, und es sollen in diesem Kapitel einige seiner Untersuchungsergebnisse diskutiert werden. In den Fragebögen des WVS wird z.B. gefragt, ob die Menschen insgesamt mit ihrem Leben zufrieden sind, ob sie ihre Zeit mehr mit Arbeit, Familie, Freunden oder Vereinen verbringen, welche Religion sie haben und wie gläubig sie sind, wie sie sich die ideale Mann-Frau-Beziehung und Familie vorstellen, welche Dinge sie moralisch schlecht empfinden, usw. Um eine bessere Vorstellung zu gewinnen, seien zunächst einige typische Fragen aus dem 1999-2000 WVS Fragebogen aufgelistet (s. http://wvs.isr.umich.edu/index.html; "Var." steht abkürzend für Variable): Var.(iable) 11: Taking all things together, would you say you are: 1 Very happy 2 Quite happy 3 Not very happy 4 Not at all happy (9 Don't know) I’m going to ask how of often you do various things. For each activity, would you say you do them every week or nearly every week; once or twice a month; only a few times a year; or not at all? Var. Weekly/ Once or Only a Not at (Don't nearly every twice a few all know) week month times a year 27 Spend time with parents or other relatives 1 2 3 4 28 Spend time with friends 1 2 3 4 29 Spend time socially with colleagues from 1 2 3 4 work or your profession 30 Spend time with people at your church, 1 2 3 4 mosque or synagogue 31 Spend time socially with people at sports 1 2 3 4 clubs or voluntary or service organization Do you agree or disagree with the following statements? Var. 78 When jobs are scarce, men should have more right to a job than women 79 When jobs are scarce, employers should give priority to [home] people over immigrants Agree 1 Neither 2 Disagree 3 1 2 3 (Din't know) Var. 80: How satisfied are you with the financial situation of your household? 1 = Completely Dissatisfied 10 = Completely Satisfied 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Var. 83: Which point on this scale most clearly describes how much weight you place on work (including housework and schoolwork), as compared with leisure or recreation? 1 = It's leisure that makes life worth living, not work 2 3 4 5 = Work is what makes life worth living, not leisure Var. 109: If someone says a child needs a home with both a father and a mother to grow up happily, would you tend to agree or disagree? 15 1 Tend to agree Var. 164 165 166 167 2 Tend to disagree (Don't know) I'm going to describe various types of political systems and ask what you think about each as a way of governing this country. For each one, would you say it is a very good, fairly good, fairly bad or very bad way of governing this country? VERY FAIRLY VERY Don't GOOD GOOD BAD BAD know Having a strong leader who does not have 1 2 3 4 to bother with parliament and elections Having experts, not government, make 1 2 3 4 decisions according to what they think is best for the country Having the army rule 1 2 3 4 Having a democratic political system 1 2 3 4 Var. 186: Independently of whether you go to church or not, would you say you are... 1 A religious person 3 A convinced atheist 2 Not a religious person (Don't know) Please tell me for each of the following statements whether you think it can always be justified, never be justified, or something in between, using this card. Var.: 204 Claiming government benefits to which you are not entitled 205 Avoiding a fare on public transport 206 Cheating on taxes if you have a chance 207 Someone accepting a bribe in the course of their duties 208 Homosexuality 209 Prostitution 210 Abortion 211 Divorce 212 Euthanasia-- ending the life of the incurably sick 213 Suicide For each Variable: 1 = Never Justifiable 10 = Always Justifiable 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Jede Antwort entspricht einer Variable, gemessen auf einer Intervallskala. z.B. 1 = sehr glücklich, 2, 3, 4 = sehr unglücklich. Die Lage des Nullpunkts und die Einheit ist dabei willkürlich und renormierbar; die endgültige Skala wird im Regelfall ztransformiert; d.h. der Mittelwert wird mit Null identifiziert, und die Einheitsdifferenz mit der Streuung (Schurz 2006, Kap. 4.5.1). Voraussetzung für die Messung ist voralledem, dass die Voraussetzung einer Ordinalskala vorliegt, also dass Zahlenzunahme einer stetigen Zunahme der jeweiligen Einstellungstendenz spricht. Bei einer Intervallskala wird zusätzlich angenommen, dass die Skalendifferenzen (zwischen Einstellung 1 und 2, Einstellung 2 und 3, usw.) ungefähr 'gleich stark' ausgeprägt sind letztere Annahme ist zwar eine Idealisierung, die aber im Regelfall harmlos ist (Schurz 2006, Kap. 3.1.4). Zur Messung von inneren Befindlichkeiten wie der 15 16 16 Glückszustand einer Person durch verbale Selbstbeurteilung ist allerdings anzumerken, dass die Selbstbeurteilung bekanntermaßen nur ein mehr-oder-weniger verzerrtes Bild der tatsächlichen Befindlichkeit abgibt (ebd., Kap. 5.1); wir werden auf die Problematik unten näher eingehen und hier davon ausgehen, dass trotz diese Verzerrung die Selbstbeurteilung einen wertvollen empirischen Aufschluss gibt. Davon abgesehen habe ich eine Reihe von Geistes- und Kulturwissenschaftlern diffuse grundsätzliche Bedenken gegen diese Art der 'Vermessung' kultureller Einstellungen äußern gehört; doch trotz aller gebotenen methodologischen Vorsicht sehe ich darin einen bedeutenden Fortschritt gegenüber einer primär spekulativen oder empirisch unsystematischen Analyse, und ich meine, Kulturwissenschaftler sollten diese vielversprechende Richtung sozialwissenschaftlicher Forschung keinesfalls ignorieren, sondern deren Resultate in ihre eigenen Arbeiten integrieren. Um die verwirrende Vielzahl von ca. 250 Antwortvariablen zu interpretieren, hat Inglehart eine Faktorenanalyse durchgeführt, gemäß dem Standardverfahren der Hauptkomponentenanalyse plus anschließender Varimax-Rotation (Inglehart 2000, 24, "Note"). Dabei kristallisieren sich zwei Faktoren bzw. theoretische Variablen heraus, welche über 50% der Gesamtvarianz der ca. 250 empirischen Variablen erklären. Sie werden auf einer z-normierten Intervallskala wiedergegeben und von Inglehart so interpretiert (s. auch Inglehart 2000, 23f.; 2004, 144-8): Faktor 1: traditional-religiöse versus säkular-rationale Orientierung (traditional vs. secular-rational) sowie Faktor 2: Überlebenswerte vs. Selbstartikulationswerte (survival vs. selfexpression). Bevor diese beiden Faktoren inhaltlich erläutert werden, sei in der gebotenen Kürze erklärt, was in einer Faktorenanalyse vor sich geht (vgl. Bortz 1985, Kap. 15). Gegeben ist eine Menge von empirisch erhobenen intervallskalierten Variablen X1,,Xn, die für verschiedene Versuchseinheiten verschiedene Werte annehmen. In Ingleharts Analysen werden als Versuchseinheiten nicht die Versuchspersonen (in den verschiedenen Ländern) herangezogen, sondern die Länder selbst, deren Werte 17 durch Mittelung über die in ihnen interviewten Versuchspersonen gewonnen werden (s. Inglehart 1998, 121f.; 2000, 24f.). In dem mathematischen Verfahren der sogenannten Hauptkomponentenanalyse werden nun die Variablen X1,,Xn durch eine Linearkombination von einer wesentlich geringeren Anzahl m <<n von theoretisch konstruierten statistisch unabhängigen Variablen, sogenannten Faktoren F1,,Fm dargestellt; also Vi =ai1F1 + + aimFm + Ri (für 1in). Die Ladung(skoeffizient)en aij werden so optimiert, dass die m Faktoren einen möglichst hohen %-Anteil der Gesamtvarianz der empirischen Variablen erklären; d.h., die Summe der verbleibenden unerklärten Restvarianzen Ri wird minimiert. Wie die Variablen Xi nehmen auch die Faktoren Fj für verschiedene Versuchseinheiten verschiedene Werte an; die Ladungen aij sind dagegen für alle Versuchseinheiten dieselben und entsprechen den (z-normierten) Kovarianzen zwischen der Variable Xi und dem Faktor Fj. Anschließend werden die so gewonnenen Faktoren ebenfalls z-normiert und dann einer Varimax-Rotation unterzogen, welche bewirkt, dass bei gleichbleibendem erklärten Varianzanteil die Faktoren im m-dimensionalen Faktoren-Koordinatensystem so gedreht werden, dass sie zwischen den empirischen Variablen möglichst scharf diskriminieren; d.h., die Ladungen sollen entweder möglichst hohe (positive oder negative) Werte einnehmen, oder möglichst nahe bei Null liegen. Auf diese Weise lassen sich, ohne Änderung des erklärten Varianzanteils, die Faktoren gut gewissen Gruppen von hoch interkorrelierenden empirischen Variablen zuordnen, und damit einfach empirisch interpretieren. Man addiert nach und nach neue Faktoren und bricht das Verfahren ab, wenn die Hinzufügung weiterer Faktoren keine starke Erhöhung des erklärten Varianzanteil mehr bewirkt. Inglehart hat in mehreren voneinander teilweise unabhängigen Studien immer wieder die beiden genannten Faktoren erhalten, die über 50% der Gesamtvarianz erklären, was dafür spricht, dass es sich hierbei um ein robustes Resultat handelt (s. 1998, 135; 2000, 28, Fn 5). Die so gewonnenen Faktoren stellen, wissenschaftstheoretisch gesehen, hypothetische gemeinsame Ursachen der empirischen Variablen dar, welche diese partiell empirisch erklären. Dass Inglehart das Verfahren bereits nach zwei Faktoren abbricht, läßt 17 18 18 darauf schließen, dass die weiteren knapp 50% Varianzanteile keine einfache kausale Interpretation mehr zuließen. Die Interpretation der beiden von Inglehart gefundenen Faktoren orientiert sich daran, mit welchen Gruppen von empirischen Variablen die Faktoren besonders hoch korrelieren (s. 2000, 24; 26f., 33f; 2004, 144-8): 1) Traditional-religiöse versus säkular-rationale Orientierung (z-standardisierte Intervallskala, negative bzw. positive Werte entsprechen Stärke der traditionalreligiösen vs. weltlich-säkularen Orientierung) korreliert mit: religiös-absolute vs. aufgeklärt-säkularisierte Wertmaßstäben (Säkularisierung bedeutet die Trennung von staatlicher Legitimität und religiösen Wertmaßstäben); Bedeutung von Familienbande vs. Betonung der Individualität; Nationalstolz hoch vs. niedrig; Respekt vs. Nichtrespekt vor staatlicher Autorität inkl. Militärherrschaft; hohe vs. niedrige Fruchtbarkeitsrate; Arbeitsethik hoch vs. niedrig. Der Übergang von traditionalreligiösen zu weltlich-säkularer Orientierung korreliert insbesondere (länderbezogen) mit dem Übergang von vorwiegend agrarischen zu vorwiegend industriellen Zivilisationen (s. 2000, 31). 2) Überlebenswerte vs. Selbstverwirklichungswerte (Skalierung wie oben) korreliert mit: niedrigen vs. hohen ökonomischen Standards; Betonung von Existenzsicherung vs. Spaß und Lebensqualität; geringes vs. hohes Interesse an Geschlechtergleichstellung; Ablehnung vs. Akzeptanz von Homosexualität; Intoleranz vs. Toleranz gegenüber Fremden; geringes vs. hohes zwischenmenschliches Vertrauen; Akzeptanz vs. Nichtakzeptanz autoritärer Regierungen; Nichtschätzung vs. Hochschätzung von Demokratie. Der Übergang von Überlebenswerten zu Selbstartikulationswerten korreliert insbesondere mit dem 'postindustriellem' Übergang zu Wohlstandsgesellschaften, welche sich ein hohes Maß an Infrastruktur für sozialen Service und Unterhaltung leisten. Im Rahmen von Ingleharts Modernisierungstheorie stellt der Übergang zu säkular-rationalen Werten einen Übergang der Modernisierung, der Übergang von Überlebens- zu Selbstverwirklichungswerten dagegen einen Übergang der Postmodernisierung dar (s. 1998, Kap. 1). Aus wissenschaftstheoretischer Sicht ist jedoch zu betonen, dass die 19 Interpretation der beiden Faktoren theoretischer Natur ist und einen beträchtlichen Unsicherheitsspielraum besitzt. Beispiele hierfür werden später noch angeführt. Auffallend ist ferner, dass man prima facie die beiden Inglehartschen Faktordimensionen als historisch voneinander abhängig ansehen würde, d.h. den Übergang zu postmaterialen Werten als ein vom Modernisierungsgrad abhängiges Phänomen ansehen würde, während die beiden Faktoren in Ingleharts Nationenanalyse als statistisch voneinander unabhängig herauskommen. Dies hat damit zu tun, dass sich Ingleharts Analyse auf einen synchronen Zeitquerschnitt von Nationen bezieht, die sich in unterschiedlichen historischen Entwicklungsstadien befinden (s. dazu auch Kap. 3): gewisse Länder, insbesondere die ex-kommunistischen, befinden sich in einem Stadium, in dem Säkularisierung und Industrialisierung stark vorangeschritten sind, aber das die Postmodernisierung vorantreibende Wohlstandsniveau noch nicht erreicht ist. Darüber hinaus ist zu betonen, dass genauere Analysen der umfangreichen WVS-Daten, welche durch die beiden Inglehart-Faktoren nur sehr grob ausgewertet werden, vermutlich wesentliche differenzierte Zusammenhänge erkennen lassen würden dies wird durch einige noch anzuführende jüngere Auswertungen der WSV-Daten belegt, welche sich auf ausgesuchte Variablengruppen konzentrieren (vgl. Inglehart 2003; Inglehart Hg. 2003; Inglehart/Norris 2003a, 2003b; Norris/Inglehart 2004). Dennoch gibt die Inglehartsche Grobauswertung ein Maß an empirischer Information, das verglichen zum bisherigen Stand einen enormen Fortschritt darstellt. Diesem wenden wir uns nun zu. Abb. 1 gibt die Weltkarte der kulturellen Werte wieder (Inglehart 2003, 101; vgl. auch http://wvs.isr.umich.edu/index.html; Inglehart 2000, 29; 2004, 149). Einige typische Einstellungen, welchen unterschiedlichen Positionen auf Abb. 1 entsprechen, sind in Abb. 2 wiedergegeben. Von den islamischen Ländern wurden aus organisatorisch-technischen Gründen bislang nur wenige untersucht; es ist aber zu erwarten, dass sie sich wie die schon erhobenen und teilweise noch stärker in der linken unteren Ecke konzentrieren (Inglehart 2004, 148), also im prämodernen Stadium bei hohen traditional-religiösen und Überlebenswerten. Noch stärker traditional-religiös 19 20 20 bzw. autoritär sind nur noch die erhobenen afrikanischen Länder. Die exkommunistischen Länder, zu denen tendenziell auch die christlich-orthodoxen zählen, befinden sich links oben, d.h. bei hochgradig säkular-rationalen Werten, als Einfluss der kommunistischen Modernisierung, verbunden mit hohen Überlebenswerten. Ähnliches gilt für den konfuzianischen bzw. chinesischen Kulturkreis. Interessant ist die hohe Divergenz des von Huntington als 'westlich' bezeichneten Kulturkreises. Protestantisches, katholisches Europa und die englischsprachigen Länder liegen in deutlich verschiedenen kulturellen Regionen. Das katholische Europa in der Mitte bis leicht rechts-oben (leichte Tendenz zu rational- Abb. 1: Die Landkarte kultureller Einstellungen. Quelle: Inglehart 2003, 101. (Die Ergebnisse beruhen primär auf der 1995-98 WVS-Untersuchung; einige Länder wurden durch die Europäische Studie von 1990; andere neueren Pilotstudien entnommen). 21 -säkular und Selbstartikulation); das protestantische Europa am extremsten links oben; während die englischsprachigen Länder hohe postmoderne bzw. Selbstartikulationswerte mit vergleichbar hoher Religiosität verbinden. Pointe am Rande: Österreich ist kulturell von Westdeutschland etwa gleich weit entfernt wie von Indien. Die lateinamerikanischen Ländern befinden sich schließlich auf der Modernisierungsachse auf der Höhe der islamischen Länder; sind in der Postmodernisierung weiter fortgeschritten. Wie Ingleharts Befunde zeigen, gibt es gegenwärtig ganz offensichtlich sehr un- Abb. 2: Typische Einstellungen auf der Landkarte kultureller Einstellungen. Quelle: http://wvs.isr.umich.edu/index.html. terschiedliche Kulturkreise, die sich in gewisse Ländergruppen zusammenfassen lassen. Einige davon entsprechen Huntingtons Kulturen, aber überwiegend erweist sich Huntingtons kulturelle Klassifizierung als inadäquat. Huntingtons westlicher Kulturkreis ist keine Einheit, sondern zerfällt in drei Gruppen, die ebenso 21 22 22 unterschiedlich sind wie die Unterschiede zum ex-kommunistischen, indischen oder chinesischen Kulturkreis. Huntingtons "christlich-orthodoxer" Kulturkreis wird sich als voralledem durch die gemeinsame ex-kommunistische Vergangenheit geprägt erweisen. Die Diagonale der kulturellen Landkarte entspricht genau jener Entwicklungsrichtung, welche die die traditionelle Modernisierungstheorie lehrte (s. Inglehart 1998, Kap. 1), während Abweichungen von dieser Diagonale kulturelle Eigentümlichkeiten darstellen. Gemäß den Ergebnissen von Abb. 1 sind jedoch, entgegen Huntington, die USA einerseits, und die spiegelbildlich-entgegengesetzt lokalisierten ex-kommunistischen Länder andererseits noch 'eigentümlicher' lokalisiert als die chinesischen oder südostasiatischen Kulturen. Abb. 3 zeigt die Abhängigkeit der Entwicklung in beiden Dimensionen vom Wirtschaftsstand einer Nation, gemessen mithilfe des Bruttonationalprodukts (GNP). Abb. 3: Abhängigkeit der kulturellen Einstellungen vom Bruttonationalprodukt (BNP-Schätzungen von 1995; WVS-Bericht 1997) Quelle: http://wvs.isr.umich.edu/index.html. 23 Einige typische Länder sind angeführt; alle Länder von Abb. 1 (mit Ausnahme der Dominikanischen Republik) passen in die eingezeichneten Zonen. Offenbar nehmen mit höherem ökonomischen Wohlstand sowohl rational-säkulare Orientierung wie Selbstverwirklichungswerte zu. Die Korrelation ist allerdings nicht sonderlich hoch, und neben dem Haupttrend gibt es eine Reihe kultureller Besonderheiten. Inglehart selbst ist Modernisierungstheoretiker, er glaubt an einen kontinuierlichen Trend der Entwicklung zur Modernisierung, entlang der Diagonalen von Abb. 1 in Richtung rechts oben, ein Trend, der mit Erhöhung von wirtschaftlichem Wohlstand einhergeht, der die Menschen freier und demokratischer macht, und der zugleich die traditionellen Werte aushöhlt (Inglehart 1998, Kap. 1; 2004, 143). Dabei können Kulturen verschiedene historische Pfade durchschreiten, und die zeitliche Momentanaufnahme einer Kultur spiegelt das historische Erbe einer Kultur auf ihrem Weg zur Modernisierung wieder (Inglehart 2004, 141). Ingleharts Modernisierungsthesen werden jedoch von seinen eigenen Daten in nur geringem Ausmaß gestützt. Wie divers die kulturellen Pfade sein können, zeigt Abb. 4, in der die kulturelle Dynamik, also die Veränderung der kulturellen Position der Länder in den letzten Jahren eingezeichnet ist (die angeführten Zeitspannen sind unterschiedlich, da die ersten WVS-Studien nur vergleichsweise weniger Länder umfassten; s. Inglehart 2000, 40). Sowohl die Änderungsrichtungen (Pfeilrichtungen) wie die Änderungsraten (Pfeil längen geteilt durch Anzahl vergangener Jahre) sind divers. Von den 39 Ländern folgen nur 13 dem Modernisierungstrend; die restlichen 25 weichen davon ab. 6 Länder (Russland, Belarus, Großbrittanien, Estland, Südafrika, Nigeria) haben sich entlang beider Achsen 'rückwärts' entwickelt; 12 Länder haben sich auf der Achse auf traditional vs. rational 'rückwärts' entwickelt und nur auf der Achse Überleben vs. Selbstartikulation 'vorwärts' entwickelt (Südafrika, Brasilien, Argentinien, Türkei, Indien, Republik Irland und Nordirland, in geringem Ausmaß Spanien, Italien, Frankreich, U.S.A., Südkorea); und 7 Ländern, die meisten davon ex-kommunistisch, haben sich umgekehrt auf der Achse traditional vs. säkular 23 24 24 'vorwärts' und auf der Achse Überlebens vs. Selbstartikulation 'rückwärts' entwickelt (Lettland, Litauen, China, Ost-Deutschland, Polen, Ungarn Island). Es ist anzunehmen, dass viele islamische Länder, die in Abb. 4 nicht aufscheinen, demselben 'rückwärts' gewandten Trend entsprechen. Die rapideste kulturelle Veränderung haben Polen, Ost-Deutschland und andere ex-kommunistische Länder durchgemacht; aber auch die kulturelle Entwicklung in West-Deutschland, Niederlande oder Schweden ist beträchtlich. Ich habe die Begriffe 'vorwärts' und 'rückwärts' aus zwei Gründen in Anführungszeichen gesetzt: erstens, um Wertungen auszuklammern, und zweitens, weil die Ergebnisse zeigen, 25 Abb. 4: Kulturelle Entwicklungspfade während der letzten zwei Jahrzehnte. Quelle: Inglehart (2000, 40). dass von einem generellen (Post-)Modernisierungstrend gegenwärtig nicht gesprochen werden kann, sondern sich die 'vorwärts' und 'rückwärts' gerichteten Kräfte sich gegenseitig zu balancieren scheinen. Dies wiederum scheint eine zentrale These Huntingtons zu bestätigen. Abb. 5 zeigt den Zusammenhang des Trends zu Selbstartikulationswerten mit dem Trend zu Menschenrechten und Demokratie. Zur Messung der letzteren benutzt 25 26 26 Überleben contra Selbstartikulation Abb. 5: Korrelation zwischen Selbstartikulationswerten (WVS-Umfragen 1990-1995) und Verwirklichung von Menschenrechten & Demokratie gemäß Freedom-House-Rating (Durchschnitt 1981-1998). Quelle: Inglehart 2004, 161. Inglehart die Einschätzung des Verwirklichungsindexes von politischen Rechten und staatsbürgerlichen Freiheiten in Ländern, die jährlich durch das Freedom House vorgenommen wird, eine in den USA gegründete Organisation (s. http://www.freedomhouse.org/publications/Freedom in the World). Dieser Index wird aufgrund von Checklisten zu politischen und zivilen Rechten vorgenommen, wie z.B. ob es in einem Land freie und faire Wahlen gibt, ob es Meinungs-, Presse-, und Versammlungsfreiheit gibt; ob Universitäten und Religionswahl frei sind; ob 27 Recht auf Privatbesitz, geschützte Privatsphäre, und freies Unternehmertum gibt; ob es Gleichberechtigung der Geschlechter gibt, usw. Die ex-kommunistischen Länder in Abb. 5 verfälschen das Bild, da die Freedom-House-Bewertungen über die Periode vor und nach dem Mauerfall mitteln (die Überleben-Selbstartikulations-Achse basiert dagegen auf den Umfragen von 1990 und 1995). Da wie aus Abb. 4 hervorgeht, diese Länder seit dem Mauerfall durchschnittlich nur geringe Verschiebungen in Richtung Selbstartikulationswerte durchmachten, müssten sie heute um etwa die Hälfte der Abbildung nach oben verschoben gedacht werden, etwa in der Höhe des damaligen Abb. 6: Der Übergang zu dominant postmaterialistischer Einstellung (Differenz in % Vpn) in den letzten Jahrzehnten. Quelle: http://wvs.isr.umich.edu/index.html. Ungarns. Vergleicht man etwa die auf einem vertikalen Band liegenden Länder Ghana, Türkei, Chile, Mexiko, Peru, Philippinen, Brasilien, Venezuela, Argentinien, Portugal, Frankreich, Spanien, Italien, Japan und Österreich, so erkennt man, dass bei einer ähnlichen Positionierung in Hinblick auf die Achse Überleben vs. Selbstartikulation einige Länder in vordemokratischen Zuständen verharren, während sich andere hoch in Demokratisierung und Egalisierung sich hineinbewegt haben. Abb. 6 zeigt schließlich, dass der Übergang von materialistischen' zu 27 28 28 'postmaterialistischen' Werten in den westlichen Ländern historisch äußerst jungen Datums ist, nämlich im wesentlichen erst in der Generation aber den 1970er Jahren erfolgte. Abb. 7: Zusammenhang von Selbstzufriedenheit (WVS-Umfragen 1990 und 1990) und Bruttonationalprodukt (Schätzung 1995). Quelle: http://wvs.isr.umich.edu/index.html. Eine Hauptthese der Modernisierungstheorie besagt, dass mit zunehmender (Post-) Modernisierung die Menschen zunehmend glücklicher und zufriedener werden. Der wirtschaftliche Wohlstand eines Landes ist die mit der Modernisierung am stärksten korrelierende Variable (vgl. Inglehart 2000, 33). Abb. 7 zeigt den Zusammenhang zwischen der allgemeinen subjektiven Zufriedenheit der Menschen in verschiedenen Ländern mit dem Bruttonationalprodukt (GNP) dieser Länder, bezogen auf das Jahr 1995. Wieder verfälschen die ex-kommunistischen Länder das Bild, in welchen sich 29 die Menschen nach dem Mauerfall auffallend unzufrieden fühlen, obwohl sie in ihrem wirtschaftlichen Wohlstand gleichauf sind mit China oder den lateinamerika- Abb. 8: Fortsetzung von Abb. 7 die Besonderheit ex-kommunistischer Länder (Russland 1981 aus früheren Einzelstudien geschätzt). Quelle: http://wvs.isr.umich.edu/index.html. nischen Ländern. Abb. 8 zeigt die dramatische Entwicklung der ex-kommunistischen Länder anhand Russland auf: dort ist der Prozentsatz der zufriedenen Menschen von durchschnittlich 70% im Jahr 1081 auf durchschnittlich 48% im Jahr 1990 und durchschnittlich 38% im Jahr 1996 gesunken (die anderen ex-kommunistischen Länder sind weggelassen). Die Tatsache, dass die Menschen in ex-kommunistischen Ländern sich von der Befreiung vom Kommunismus hohe (speziell wirtschaftliche) Versprechungen machten, erklärt diese Besonderheit der ex-kommunistischen 29 30 30 Länder, die eine ähnliche Entwicklung durchmachten wie Russland. Lässt man diese historisch vergleichsweise kurzfristige Besonderheit der ex-kommunistischen Länder außer Betracht, so ist die Korrelation zwischen Selbstzufriedenheit und wirtschaftlichem Wohlstand nur mehr gering. Beispielsweise fühlen sich Menschen in Ghana, China, Brasilien oder Mexiko etwa gleich zufrieden wie Menschen in Spanien, Österreich, Japan, Frankreich und West-Deutschland, obwohl das wirtschaftliche Niveau völlig unterschiedlich ist. Überdies muss man bei dieser Abbildung das oben angesprochene Faktum bedenken, dass die Selbsteinschätzung von Menschen üblicherweise von ihrer de-fakto Befindlichkeit abweicht, und dass diese Verzerrung ebenfalls von der jeweiligen Kultur abhängt. Beispielsweise wird in Kalifornien die Aussage, man fühle sich selbst nicht wirklich zufrieden, häufig als Eingeständnis des Selbstversagens angenommen, während dieselbe Aussage in Österreich eher als Ausdruck von 'melancholischer Tiefe' gedeutet wird (Eigenerfahrung). Daher wird eine solche Aussage in Österreich leichter geäußert werden als in den USA, obwohl es gut möglich ist, dass Österreicher durchschnittlich glücklicher sind als USA-Bürger. Wenn man diese kulturabhängige Verzerrung zwischen verbaler Selbstbeurteilung und wahrer Befindlichkeit mit in Betracht zieht, so ist die geringfügige Korrelation von Abb. 8 wohl als unschlüssig zu betrachten. Insgesamt bestätigen die Inglehartschen Resultate eine deutliche Gruppierung der Länder in teils sehr unterschiedliche kulturelle Denk- und Verhaltensmuster, wenngleich diese Gruppierung den Huntingtonschen Kulturkreisen nicht gut entspricht. Die These der globalen Modernisierung und Postmodernisierung wird durch Ingleharts Resultat jedoch nur geringfügig gestützt; insbesondere Abb. 4 zeigte zahlreiche abweichende Entwicklungstrends und sprach damit eher für die zentrale These Huntingtons, und Abb. 8 zeigte keinen signifikanten Zusammenhang von subjektiver Zufriedenheit und Modernisierung. Eine weitere Differenzierung in Punkte Modernisierung ergibt sich aus jüngeren Auswertungen der WVS-Daten, die von Inglehart und Norris durchgeführt wurde (Inglehart/Norris 2003a,b). Dort zeigte sich nämlich, dass der stärkste kulturelle Unterschied zwischen westlichen und 31 islamischen Nationen nicht im Wunsch nach demokratischer Gesellschaftsordnung, schon mehr in der Befürwortung von Religiosität, aber voralledem in den befürworteten Familien- und Geschlechterbeziehungen liegt. Anhand einer Untersuchung von 11 islamischen Ländern, nämlich Albanien, Algerien, Azerbaijan, Bangladesh, Ägypten, Indonesien, Iran, Jordanien, Marokko, Pakistan, Türkei, im Vergleich zu 22 westlichen Ländern, darunter 9 westeuropäische Länder, USA, Australien, Neuseeland, und 10 ex-kommunistischen Länder, wurden die folgenden Daten erhoben, die in Abb. 9 zusammengestellt sind (Inglehart/Norris 2003a, 69f.): (%-Zustimmung) Westliche Länder Islamische Länder Demokratie funktioniert gut 68% 68% Demokratie wird befürwortet 86% 87% Ablehnung autoritärer politischer Führer 61% 61% Ablehnung religiöser politischer Führer 62% 39% Befürwortung der Geschlechtergleichheit 82% 55% Scheidung ist zulässig 60% 35% Abtreibung ist zulässig 48% 25% Homosexualität ist zulässig 53% 12% Abb. 9: Einstellungsunterschiede zwischen westlichen und islamischen Ländern (WVS-Umfragen 1995-6 und 2002-2). Quelle: Inglehart/Norris (2003a, 69f). Obwohl in den untersuchten Ländern de fakto keine Demokratie installiert ist, oder nur in geringem Maße, scheint der Wunsch nach Demokratisierung dort ein beträchtliches politisches Potential darzustellen, auch wenn Religiosität oder insbesondere die befürworteten Familien- und Geschlechterbeziehungen auf traditionalem Niveau verharren. Freilich bedeutet dies auch einen gewissen Konflikt innerhalb dieser Gesellschaften selbst, da eine Demokratisierung notwendigerweise eine Säkularisierung, also eine Befreiung politisch-demokratischer Mehrheitsbeschlüsse von religiösen Vorschriften nach sich zieht. Dass zwischen Grad der Religiosität von 31 32 32 Menschen und dem Grad ihrer Zustimmung zu demokratischen Idealen bzw. Ablehnung von starken Führern keine signifikante Korrelation besteht, zeigen schließlich auch die Untersuchung von al-Braizat (2003, 59-64) anhand einer Analyse der WVS-Daten von 2000-2. Diese Befunde stimmen mit der in Kap. 1 diagnostizierten Zunahme von Religiosität inmitten einer sich technisch-industriell modernisierenden Welt überein. 3. Evolutionäre Analyse der Weltkulturen Die empirische Analyse der Weltkulturen hat einige der Huntingtonschen Thesen bestätigt: es gibt gegenwärtige kulturell sehr divergierende Länderbereiche, die allerdings eine anderen Gruppierung folgen als der Huntingtonschen, und die sich mehr an typischen Weltauffassungen und Lebensstilen als an spezifischen Religionen festmachen lassen. Während auf der Oberfläche einiges für Huntington spricht, möchte ich in diesem letzten Abschnitt argumentieren, dass Huntingtons Tiefenanalyse der globalen kulturellen Konflikte gänzlich inadäquat ist. Huntington fasst Kulturen ja als historisch langfristige Zivilisationsgleichgewichte auf, mit gewissen sich historisch sich durchhaltenden intrinsischen Merkmalen, deren Unterschiede für die gegenwärtigen globalen Kulturkonflikte verantwortlich sein sollen. Ich möchte stattdessen zeigen, dass Huntingtons Kulturen, qua historische Entitäten, alles andere als homogene Größen sind, sondern dass dahinter lediglich gewisse Entwicklungsstadien von generellen Entwicklungstrends der Menschheit stehen. Den Angelpunkt zur Aushebung des Huntingtonschen Kulturparadigmas liefert mir folgende einfache Feststellung: Antithese zu Huntington: die westlich-christliche Kultur Europas in der vordemokratischen Zeit, also von 800-1900, steht den modernen nichtwestlichen Kulturen viel näher als der modernen westlichen Kultur. 33 Wenn das stimmt, dann bricht das Huntingtonsche Kulturparadigma in sich zusammen. Ich möchte für meine These einige Belege anführen. Schon Müller (1998, 135) führte gegen Huntington hauptsächlich ins Feld, dass die gegenwärtigen konfuzianischen Werte sehr gut mit den Werten des europäischen Bürgertums im Europa des 19. Jahrhunderts zusammenstimmen wie Gottesfurcht und Respekt vor Autorität, hoher Wert der Familie, traditionale Rollentrennung von Mann und Frau, Sparsamkeit, Lernbereitschaft, Fleiß, usw. Diese konservative Werteliste repräsentiert auch heute noch gut das konservative Lager Europas oder das republikanische Lager der USA. Die mehrheitliche Unterhöhlung dieser traditionalen Wertestrukturen begann im Westen erst mit der Etablierung von egalitären Demokratien seit 100 oder maximal 200 Jahren, und die beschleunigte Entwicklung in Richtung postmoderner Selbstverwirklichungswerte trat überhaupt erst ab den 1960iger Jahren ein (s. Abb. 6), und wurde durch ein Ansteigen des Wohlstandsniveaus ermöglicht, welches bezogen auf die ökologische Zukunft unseres Planeten langfristige wohl kaum zu halten ist. Dabei ist augenfällig, das sich in England und den USA, in denen sich der Demokratisierungsprozess wesentlich früher und weniger 'radikalrevolutionär' als in Kontinentaleuropa abspielte, ein deutlich höheres Maß an säkularisierter Religiosität erhalten konnte als etwa in Frankreich, Deutschland oder den skandinavischen Ländern (vgl. auch Mayr 1982, 371ff). Ebenso finden wie große Parallelitäten der vergangenen westlichen Kultur mit der islamischen Kultur, wobei wir hier noch weiter in die Geschichte des westlichen Christentums zurückgehen müssen. Nicht nur im Islam, sondern auch im katholischen Christentum steht die unverhüllte Frau symbolisch für die Verführung zum Bösen, während sie nur als Mutter und Hausfrau gottgewollt ist; auch die christliche Kultur ordnet die Frau dem Manne unter; auch in dieser Kultur war es bis vor kurzem selbstverständlich, dass Frauen sich keusch und verdeckt bekleiden müssen (Crossette 2004, 277), und die sexuell aufreizenden Moden des heutigen 33 34 34 Westens entsetzen nicht nur Khomeini oder Bin Laden, sie hätten auch meine Großmutter entsetzt. Insgesamt besitzen jüdische, christliche und islamische Religion große Ähnlichkeiten: sie haben sich alle als monotheistische Religionen gegenüber einem vorherrschen Polytheismus etabliert; Teile des Alten Testaments sind für alle drei Religionen maßgeblich; in allen drei Religionen wird der eine Gott von Propheten verkündet wird, usw. (s. dazu den Spiegel-Artikel, Nr. 16., 15.04.2006, S. 152ff.) Insbesondere waren alle drei Religionen in höchstem Maße kriegerischexpansiv, wenngleich sich dies auf historisch unterschiedliche Weise entwickelt hat. Mohammed war politischer Staatsgründer (Halm 2000, 9). Christus lehrte zwar, sein Reich sei nicht von dieser Welt, aber was sich daraus entwickelte, war die Zweigewaltenlehre, in der sich politische und kirchliche Führer die Macht aufteilten. Selbstverständlich war die katholische Kirche militarisiert; zur Ottonenzeit war ihr Kampfpotential manchmal größer als das der weltlichen Macht; und noch 1933 gab es eine vatikanische Munitionsfabrik (vgl. Deschner 1996, Bd. 1, 20ff.). Die Vertreter des katholische Christentums führten fortgesetzte religiöser Eroberungskriege; und auch die Idee des Dschihad mit der Versprechung an den Gotteskrieger, nach seinem Tod auf dem Schlachtfeld direkt ins Paradies zu kommen, gab es schon in den Kreuzzügen des Christentums. Die Säkularisierung der katholisch-christlichen Kirche hat sich erst spät mit der Demokratisierung Europas durchgesetzt. Bedenkt man, dass die islamische Religion erst 600 Jahre später als die christliche ihre geschichtliche Entwicklung begann, so erscheint es plausibel, dass es bis zur Säkularisierung des Islam noch ein weiter geschichtlicher Weg ist. Auch die Geschichte des konfuzianischen Chinas ist durch und durch imperialistisch: von 1100 bis 221 v.C. eroberte die chinesische ZhouDynastie fast das gesamte chinesiche Gebiet (s. Diamond 1998, 322ff). Kriegsführung ist freilich nicht nur ein Kennzeichen von monotheistischen Religionen, sondern von monokratisch organisierten politischen Systemen überhaupt, deren Legitimität sehr häufig religiös abgesichert wurde; und die Demokratisierung westlicher Gesellschaften war andererseits wohl das bedeutendste Mittel, um zu 35 friedlichen Formen des Zusammenlebens zu gelangen. Zum Abschluss dieses Beitrag sei versucht, eine dynamische Typologie von traditionalen versus modernen Werten aus evolutionärer Sicht herauszuarbeiten. Im Effekt steht eine kulturelle Evolutionstheorie in der Mitte zwischen einer kulturellen Prägungstheorie und einer kulturellen Reifungstheorie. Eine reine kulturelle Prägungstheorie, wonach für den Menschen diejenigen Werte am attraktivsten sind, in deren Umfeld er erzogen wurde, könnte überhaupt keine übergeordneten kulturellen Entwicklungstrends erklären alles hinge in diesem Modell von historischen Zufälligkeiten ab. Eine reine kulturelle Reifungstheorie, wonach sich alle Kulturen in dieselbe Richtung auf denselben Endpunkt zusteuern, wie es die (Post-) Modernisierungstheorie lehrt, widerspricht dagegen der Diversität der kulturellen Entwicklungspfade auf der Landkarte der Kulturen, die wir im vorigen Kapitel diagnostiziert haben. Für die kulturelle Evolutionstheorie ist es dagegen wesentlich, dass es einige wenige von den historischen 'Variationen' der Kulturgeschichte mehr oder-weniger unabhängige Selektionskräfte gibt, welche sich in unterschiedlichen Gleichgewichtslagen einpendeln können und dadurch die kulturelle Entwicklung in verschiedene Richtungen Evolutionäre Klassifikation kultureller Werte Überlebensdruck Biologisch-genetisches Erbe Traditionale Werte evolutionäre Kräfte Dominanter Typus Positive substantielle Werte (Autorität) (bestimmte gute Dinge tun) Geistige Werte Religion(en) Konzept "absoluter/heiliger" Werte Tradition, Normalität Ehrfurcht des Individuums vor Autorität Monokratie Macht und Autorität Disziplin, Arbeitsethik Modernisierungsdruck Ökonomisch-techn. Fortschritt Moderne Werte Prozedurale Werte (Demokratie), plus negative substantielle Werte (nicht behindert werden, beliebige zu tun) Aufklärung, kritische Wissenschaft Interessen, Utilitarismus Innovation, Anti-Diskriminierung Autonomie, Emanzipation, Egalität Gesellschaftlich-politische Werte Demokratie Liberalismus und Pazifismus Selbstbestimmung, Genuss 35 36 36 Soziale Beziehungswerte Patriarchat, Rollenaufteilung Familie, Fürsorge Strenge Sexualmoral, Tabus Kontrolle weibl. Sexualität Emanzipation, Rollengleichheit Pluralismus der Beziehungen Tabubrechung, Enthemmung Zurschaustellung weiblicher Sex. Abb. 10: Evolutionäre Klassifikation kultureller Werte treiben können (vgl. Schurz 2001). Abb. 10 zeigt einen ersten Vorschlag für eine solche evolutionstheoretische Klassifikation. Ich sehe den Werteübergang von traditionalen zu modernen Kulturen unter dem Zug zweier entgegengesetzt gerichteter Arten von Kräften: einerseits das biologischgenetische Erbe des Menschen, welches die Menschheit zu traditionalen Werten zieht, und andererseits der wirtschaftliche und technische Fortschritt, der sie in Richtung (Post-)Modernisierung treibt. Dass die genetisch-angeborene Verfassung in der Kulturentwicklung überhaupt eine Rolle spielt, wird von vielen (insbesondere politisch links stehenden) Kulturwissenschaftlern nach wie vor bezweifelt, aber ich denke, angesichts des reichhaltigen psychologischen und soziobiologischen Wissens läßt sich dieses Faktum kaum bestreiten. Auch die traditionellen Geschlechterrollen haben vermutlich bis zu einem gewissen Grade eine genetisch-evolutionäre Grundlage. Unklarheit besteht jedoch darüber, in welchem Maß die kulturelle Evolution des Menschen, die auf erworbenen (d.h. nicht-genetisch verankerten) Merkmalen beruht, sich von Einfluss der Gene loslösen kann. Die genetisch-biologische Verfasstheit des Menschen hat sich auf Bedingungen eines hohen Überlebensdruckes, einer ständigen existentieller Bedrohung durch knappe Ressourcen und lebensbedrohliche Feinde entwickelt. Daher entwickelt sie auch heute noch unter solchen Bedingungen ihre Stärken. Zahlreiche Studien, sowie die historische Erfahrung insgesamt, belegen, das Armut und hohe soziale Kriminalität autoritäre Regimes begünstigen und Demokratisierung verhindern (vgl. Schmidt 2000, 439ff.) Die traditionale Familie und die damit verbundene Rollenaufteilung sind seit uralten Zeiten die zentrale menschliche Organisationsform, welche Fortpflanzung, physisch-materielle Sicherung, und voralledem die Erziehung (d.h. die primäre Weitergabe des kulturellen Erbes) bewerkstelligt. Riesebrodt (2000, 138) kommt in seiner Studie der 37 Weltkulturen zum Schluß, dass sich selbst unter gesellschaftlich optimalen Bedingungen bislang weder das egalitaristische noch das patriarchalische Familienmodell voll durchsetzen kann. Ökonomischer und wissenschaftlich-technischer Fortschritt, verbunden mit Erziehung und Ausbildung, ziehen die Entwicklung in Richtung Modernisierung. Zunehmende gesellschaftliche Vernetzung und Spezialisierung verlangen zunehmende Liberalisierung und Demokratisierung; zunehmender materieller Wohlstand erzeugt den Drang zu 'postmodernen' Werten. Die kausale Wechselwir- Armut Soz. Unsicherheit Angst Kriminalität Schutzbedürfnis Wirtschaftliche Traditionale Werte Strenge Ordnung Stagnation Überleben / Religion Autoritäre Regimes Traditionelle Frauenrolle Kriegerisch-expansive Regimes Hohe Geburtenrate Wenig Erziehung und Bildung Abb. 11: Kausalvernetzung einiger zentraler Größen welche traditionale Werte begünstigen. Polar entgegengesetzte Größen begünstigen Modernisierung. kung zwischen einigen zentralen Variablen, die im Gleichgewicht der evolutionären Kräfte zwischen 'Überlebensdruck' und 'Modernisierung' eine Rolle spielen, sind in Abb. 11 zusammengefasst. Wie die empirischen Befunde der vorigen Kapitel gezeigt haben, bewirkt Modernisierung nicht zwangläufig den Übergang zu einer a-religiösen Gesellschaft in vielen Ländern gehen (Post-)Modernisierung mit einem hohen Maß an Religiosität zusammen. Der demokratische Pluralismus verbietet ja nicht religiöse Weltbilder, so 37 38 38 wie dies der Kommunismus erfolglos versuchte. Entscheidend für die Vereinbarkeit ist jedoch die Säkularisierung und Pluralisierung der Religion; ihr Verzicht auf kulturelle Absolutheitsansprüche und politische Macht. Der wichtigste Wertewandel beim Übergang von traditionalen Werten zu (post-)modernen Werten scheint vielmehr der Übergang zu einem höheren Abstraktionslevel zu sein, so wie dies in Abb. 10 angeführt ist. Positive substantielle Werte können nur die Grundlage einer Gesellschaft bilden, die an absolute Maßstäbe glaubt, also an religiös und autoritär fundierte Werte. Beim Übergang zu aufgeklärten Demokratien fallen diese absoluten Maßstäbe weg. Es bleiben fast keine allgemeinen positiven substantiellen Werte mehr übrig; dagegen dominieren negative substantielle Werte wie Freiheit von Zwang, Freiheit zur Entfaltung von selbstgesetzten Werten, welche immer dies seien, sowie die prozedurale Werte der Demokratie. Diese Unterschied mag viele Missverständnisse in der gegenwärtigen Weltkulturdebatte erklären. Wenn der gläubige Islamist das völlige Fehlen von 'echten' Werten in der westlichen Kultur kritisiert, dann meint er damit offenbar nur die fehlenden positiven substantiellen Werte, während er den Abstraktionsübergang, der sich in Demokratien eigentlich vollzog, nicht recht versteht. "Was sind die Werte der Ungläubigen?" fragte der Spiegel-Artikel nach dem Anschlag vom 11. September und brachte die Sache nicht richtig auf den Punkt, weil sich seine Autoren krampfhaft bemühten, verbindliche positive substantielle Werte des Westens herauszuarbeiten, die es kaum gibt. Viele westliche Bürger beklagen die Auswüchse der Konsumgesellschaft in Werbung und Wirtschaft ebenso wie der gläubige Islamist, nehmen sie aber als Übel in Kauf, weil sie vom Wert von Demokratie und freier Wirtschaft überzeugt sind und diesen langfristig höher einschätzen als die in Kauf genommenen Übel. Andererseits ist klar, dass der Übergang zu überwiegend negativen und prozeduralen Werten die Stabilität des menschlichen und sozialen Wohlbefindens auch zu verunsichern und auszuhöhlen vermag. Viele Autoren, auch Huntington (1996, 151), sprechen hier vom psychischen Trauma der Modernisierung, aber niemand sagt genauer, worin dieses besteht. Ich denke, es geht um folgendes: das 39 ungeheure Ausmaß an individuellen Freiheiten und Verlockungen der modernen westlichen Konsumkultur, verbunden mit der ständigen Überflutung von sinnlichen Aufreizungen, geht nicht ohne hohen psychischen Zivilisationsdruck ab. Es erfordert speziell im jungen Menschen ein hohes Maß an verinnerlichter psychischer Kontrolle, um dem gegenüber die eigene Identität und Zielorientierung aufrechtzuerhalten. Dieses hohe Maß an verinnerlichter Impulskontrolle erfordert wiederum ein hohes Maß an inniger Erziehung, welche durch das Elternhaus geleistet werden muss, sowie ein hohes Maß an Aufklärung und Bildung, welches die gesellschaftlichen Bildungsinstitutionen zu bewerkstelligen haben. Wo beides nicht vorhanden ist, kann das hemmungslose Reiz- und Konsumangebot des Westens leicht zu sozialen Entgleisungen, Frustrationen und Wertemäßigen Kehrtwendungen von Menschen führen. Diese Gefahr ist einerseits dort gegeben, wo sehr traditionale Kulturen durch Globalisierung in das enthemmte Reiz- und Konsumangebot des Westens hineinkatapultiert werden; deutlich zu sehen nicht nur bei in den Westen emigrierten Moslems, sondern auch in den ex-kommunistischen Ländern. Andererseits ist diese Gefahr auch in den am meisten im Modernisierungstrend fortgeschrittenen westlichen Ländern selbst gegeben, insbesondere dann, wenn postmoderne Lebenseinstellungen die traditionalen Familienbanden aushöhlen und zunehmende Staatsverschuldung die Qualität der Erziehungs- und Ausbildungssysteme schwinden lassen man denke etwa an die Problem mit schwer erziehbaren und gewalttätigen Jugendlichen in Deutschlands Schulen (s. Spiegel-Artikel Nr. 14, 3.4.2006), die hohen Scheidungsraten, das Schwinden traditioneller Familien, die niedrige Geburtenrate, usw. Solche Länder, in denen der rapide Postmodernisierungstrend mittlerweile negative Folgen zeitigt, könnten hier von jenen westlichen wie nichtwestlichen Ländern etwas lernen können, die sich bei gleichem Modernisierungsgrad und wirtschaftlichem Wohlstand nicht so weit ins postmodernistische Extrem hineinbewegt haben. Literatur 39 40 40 al-Braizat, F. (2003): "Muslims and Democracy: An Empirical Critique of Fukuyama's Culturalist Approach", in: Inglehart (Hg. ,2003), 46-76. Bortz, J. (1985): Lehrbuch der Statistik, Springer, Berlin, 2. Aufl. (Neuaufl. als Statistik für Human- u. Sozialwissenschaflter, 6. überarb. Aufl. 2005). Crossette, B. (2004): "Kultur, Geschlecht und Menschenrechte", in: Huntington/Harrison (Hg., 2004), 271-287. Deschner, K.-H. (1996ff): Kriminalgeschichte des Christentums (8 Bde), Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. Diamond, J. (1998): Guns, Germs, and Steel, Vintage, Random House, London. Filter, C. 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