Eine Theorie des Wertewandels

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Eine Theorie des
Wertewandels
Materialismus – Postmaterialismus
Modernisierung – Postmodernisierung
Ringvorlesung Soziologische Theorien II
SoSe 2009, 16.6.2009
Dr. Guido Mehlkop
Prolog: Was bin ich?
Wählen Sie aus den folgenden vier Zielen, die Deutschland
verfolgen sollte, das wichtigste und das zweitwichtigste
aus:
Ziel 1: Kampf gegen steigende Preise.
Ziel 2: Mehr Einfluss der Bürger auf die Entscheidungen
der Regierung.
Ziel 3: Schutz des Rechtes auf freie Meinungsäußerung.
Ziel 4: Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung.
Prolog: Was bin ich?
• Ziel 1 und Ziel 4 ausgewählt  reine/r
Materialist/in (MAT)
• Ziel 2 und Ziel 3 ausgewählt  reine/r
Postmaterialist/i (PM)
• An erster Stelle ein MAT-Item und an zweiter
Stelle ein PM-Item  MAT-Mischtyp
• An erster Stelle ein PM-Item und an zweiter
Stelle ein MAT-Item  PM-Mischtyp
Ronald Inglehart
• Geb. 1934 in Milwaukee, USA.
• Studium der Politikwissenschaft
u.a. in Chicago und Leiden (NL).
• Seit 1978 Professor für Politikwissenschaft
an der University of Michigan (Ann Arbor).
• Zahlreiche Gastprofessoren, u.a. in
Mannheim, Berlin, Kyoto, Taipei, Rom.
• Federführend beim World Value Survey
World Value Survey
• Befragungen, die seit 1980 alle fünf Jahre durchgeführt
werden (kein Panel auf Individualebene!).
• Zeitreihe, wenn aggregiert verwendet.
• Welle 1: 21 Länder (Europa, Nordamerika, Japan,
Argentinien. Welle 5: 78 Länder (Afrika
unterrepräsentiert).
• Standardisierte Befragung durch Interviewer, im Schnitt
1 330 Befragte pro Land (Zufallstichprobe).
• Themen: allgemeine Lebenszufriedenheit, Religiosität,
Demokratieverständnis, Postmaterialismus, Vertrauen.
Definition „Werte“
• Wiswede (1998: 44-45): „Werte sind wünschenswerte
Zustände, die den handelnden Individuen bei der Verfolgung
ihrer Absichten als Zielvorstellung dienen. Sie hängen meist
mit dem übergreifenden sozialen Wertsystem zusammen.
Einstellungen sind wertgeleitet, beziehen sich aber auf ganz
bestimmte Objektbereiche. Durch die Annahme der Existenz
von Einstellungen kann das Auftreten einer Vielzahl
verschiedenartigster Verhaltensweisen erklärt werden“.
• Inglehart (1977: 29) Werte sind „tiefsitzende, unveränderliche
und generalisierte Vorstellungen von Lebenszielen“. Werte
bestimmen sich bei Inglehart aus den Grundbedürfnissen
eines Menschen und sind hierarchisch geordnet. Die Werte
eines Menschen kann man als Struktur sehen, die sein
Denken und Handeln leiten.
Werte
• Bedürfnishierarchiepyramide nach Maslow
(1955):
Selbstverwirklichung
Soz. Anerkennung
Soz. Beziehungen
Sicherheit
Physische Bedürfnisse
Ingleharts zentrale Thesen
• Mangelhypothese:
• „… die Prioritäten eines Individuums reflektieren seine
sozioökonomische Umwelt. Man schätzt jene Dinge
subjektiv am höchsten ein, die verhältnismäßig knapp
sind“ Inglehart 1984: 280).  abnehmender
Grenznutzen
• Sozialisationshypothese:
• „… das Verhältnis zwischen sozioökonomischer Umwelt
und Wertprioritäten ist nicht eines der unmittelbaren
Anpassung. Eine beträchtliche zeitliche Verzögerung
spielt hierbei die Rolle, da die Grundwerte einer Person
zum größten Teil jene Bedingungen reflektieren, die
während der Jugendzeit vorherrschten“ (Inglehart 1984:
280).
Dynamik des Wertewandels
• Ob es einen Wertewandel gibt, hängt von
der wirtschaftlichen Entwicklung einer
Gesellschaft ab.
• Wertewandel geschieht nur durch
Generationensukzession (KohortenEffekte). Perioden- bzw. „Turning-Point“Effekte (Sampson & Laub 2005) werden
grundsätzlich ausgeschlossen.
Messung der Wertprioritäten,
12-Item Skala
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1. Mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz.
2. Weniger unpersönliche Gesellschaft.
3. Ideen zählen mehr als Geld.
4. Mehr politische Mitbestimmung.
5. Freie Rede.
6. Schönere Städte.
7. Kampf gegen steigende Preise.
8. Starke Verteidigungskräfte.
9. Wirtschaftswachstum.
10. Verbrechensbekämpfung.
11. Stabile Wirtschaft.
12. Aufrechterhaltung der Ordnung.
Messung der Wertprioritäten,
12-Item Skala
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1. Mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz.
2. Weniger unpersönliche Gesellschaft.
3. Ideen zählen mehr als Geld.
4. Mehr politische Mitbestimmung.
5. Freie Rede.
6. Schönere Städte.
7. Kampf gegen steigende Preise.
8. Starke Verteidigungskräfte.
9. Wirtschaftswachstum.
10. Verbrechensbekämpfung.
11. Stabile Wirtschaft.
12. Aufrechterhaltung der Ordnung.
Messung der Wertprioritäten
• Ranking-Verfahren: Die Befragten erhalten
Karten mit je einem Item und sollen die
Karten gemäß der „Wichtigkeit“ der Items
sortieren.
• Rating Verfahren: Die Befragten sollen
jedes Item beurteilen, z.B. in LikertsSkalen:
• „Mehr Mitsprache am Arbeitsplatz?“
Sehr wichtig
O
O
O
gar nicht wichtig
O
O
Die Wertedimension
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Ergebnisse einer Faktorenanalyse, Quelle: Inglehart 1997: 112.
(Erwartete) Charakteristika von
Materialisten
• Bezüglich ihrer Einstellungen:
• Eher konservativ (autoritär), risikoavers (politisch
passiv),
eher
religiös
geprägt,
starke
Orientierung an Referenzgruppen, Klassenbewußtsein, eher leistungsorientiert, eher
pessimistisch und unzufrieden mit eigener
Situation; „Glück“ wird an ökonomischer
Sicherheit festgemacht, Nationalismus möglich.
• Bezüglich Soziodemographika:
• Eher in älteren Generationen zu finden,
geringeres Bildungsniveau.
(Erwartete) Charakteristika von
Postmaterialisten
• Bezüglich ihrer Einstellungen:
• Progressive Einstellung zu Politik, Egalitarismus,
Gleichberechtigung, eher politisch aktiv (aber
nicht in Parteien), eher sekular eingestellt, eher
anti-autoritär,
tolerant
gegenüber
Abweichendem Verhalten (in Grenzen), mäßig
leistungsorientiert, nicht „Anti-Materialisten“(!).
• Bezüglich Soziodemographika:
• In jüngeren Generationen zu finden, hohes
Bildungsniveau – aber kein überdurchschnittl.
Einkommen.
Gesellschaftliche Veränderungen
aufgrund des Wertewandels
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Abnehmende Bedeutung von Klassenstrukturen / -konflikten.
Zunehmende Gleichheit zwischen Geschlechtern.
Abnehmende Legitimität und Akzeptanz traditioneller Institutionen (wie
Familie und Kirche).
Verstärktes Infragestellen der Eliten (Elitenlenkendes statt elitengelenktes
Handeln).
Zunehmende Bereitschaft zu direktem politisch Handeln in Issue-Groups.
Sinkende nationale Loyalität.
Verstärkte Orientierung an supranationalen Systemen.
Zunehmende Bedeutung von Fragen der Lebensqualität für das politische
Verhalten.
Verlagerung des politischen Links/Rechts zum Establishment/AntiEstablishment Schema.
Wirtschaftliche Leistung eines Landes wird sinken.
Wissenschaftliche Leistungen (Innovationen) werden seltener.
Kulturelle Leistungen steigen (?).
Formale Beschreibung der Theorie
• Tendenziell historizistisch: es gibt „Bewegungsgesetze“
in der Geschichte. Hat man diese erkannt, dann kann die
Zukunft vorhergesagt werden.
• Theorie ist materialistisch: Die (sozio-ökonomische)
Umwelt „erschafft“ das Wertesystem einer Gesellschaft
(„Sein bestimmt das Bewusstsein“, Marx).
• Theorie ist dialektisch: eine Gesellschaftsformation
(Materialismus) legt die Grundlage für eine neue
Gesellschaftsformation (Postmaterialismus), welche die
alte verändert / abschafft.
Neuere Modifizierungen: „Two dimensions of
cultural variation and change“,
Inglehart & Welzel 2005
Kritik an Ingleharts Ansatz
• Lehner 1984: Die Thesen widersprechen sich
partiell. Mangelhypothese sagt, dass
sozioökonomische Lage Werte eines Menschen
beeinflusst. Sozialisationshypothese
widerspricht dem (zumindest für Erwachsene).
• Herz 1987: Wertvorstellungen sind nicht (nur)
eine Funktion aus der Befriedigung von
Grundbedürfnissen, sie werden (auch) in
instutionalisierter Form von Referenzgruppen
übernommen und stehen immer im kulturellen
Zusammenhang (den Inglehart fast völlig
ausblendet).
Kritik an Ingleharts Ansatz
• Rössel 2006: es wird nicht spezifiziert, wann
sich jemand „sicher“ fühlt; es gibt keine Theorie
der Sozialisation; misst Inglehart Werte oder
Einstellungen? Inglehart erhebt keine echten
Paneldaten.
• Mehlkop 2000: Die Items zur Erfassung von
Wertprioritäten sind nicht „kulturfair“, d.h. einige
messen in bestimmten Kulturkreisen etwas
anderes als anderswo.
Ein empirischer Test von Klein und Pötschke 2000
mit EUROBAROMETER-Daten (4- Item Skala)
Ein empirischer Test von Klein und Pötschke 2000
mit EUROBAROMETER-Daten (4- Item Skala)
Aktuelle Daten des Statistischen Bundesamtes (2009)
Aktuelle Daten des Statistischen Bundesamtes (2009)
Aktuelle Daten des Statistischen Bundesamtes (2009)
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