Die kulturelle Identität Europas und die Frage der Menschenrechte

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Die kulturelle Identität Europas und die Frage der Menschenrechte
Wo liegt eigentlich Europa? Hat es klare Grenzen oder franst es an den Rändern ins
Unbestimmte aus? Wie gehören Europa und Europäische Union zusammen? Und wer
bestimmt das eigentlich? Wenn man sich diese Fragen stellt, kann man sich auf einiges
gefasst machen, denn um die geographische Identität Europas steht es nicht zum besten.
Schon die Rede von dem Kontinent Europa hat seine Tücken, denn keine fassbaren
natürlichen Grenzen unterscheiden Europa im Osten von Asien, und selbst im Norden liegen
die Dinge, wie ich gleich noch zeigen will, viel komplizierter, als der erste Anschein nahe
legt. Australien zum Beispiel hat es in dieser Hinsicht einfacher: wer die Grenzen dieses
Kontinents verlässt, der fällt einfach ins Wasser.
Eine Möglichkeit scheidet daher sofort aus: wir können die kulturelle Identität Europas nicht
dadurch erkunden, dass wir eine geographisch definierte Landmasse hernehmen und nun nach
der Identität ihrer Bewohner fragen. Da es sich, insbesondere im Blick auf die
Osterweiterung, nicht von selbst versteht, welche Länder zu Europa gehören sollen, treten
geographische Größen und kulturelle Wertbestimmungen in eine Wechselbeziehung. Die
räumliche Ausdehnung kann nicht unabhängig von den kulturell leitenden Wertvorstellungen
über die Identität Europas bestimmt werden, was aber auch umgekehrt gilt: welche Werte,
Religionen, Identitätskonzepte hier eine Rolle spielen, ist mit der Geschichte der
geographischen Region eng verknüpft. Europas Geschichte aber ist offenkundig nicht die
einer über lange Zeiträume relativ stabilen Großregion – China ist hier das klassische Beispiel
- , sondern eine schier endlose Verkettung von Grenzverschiebungen, Austauschbeziehungen,
Assimilationen, Migrationen vielfältigster Art, gegen die selbst die Ideologie des
geschlossenen Nationalstaates, obwohl sie Europa seine beiden größten Katastrophen beschert
hat, langfristig nichts ausrichten konnte. Der Aufstieg der Europäischen Union seit dem
Zweiten Weltkrieg lässt sich aus dieser Perspektive als Ausdruck der Einsicht verstehen, dass
Europa keine isolierten nationalen Identitäten kennt und ein hybrides Wesen hat, eine
bewegliche Identität der Einheit in der Vielheit, in der die Karten andauernd neu gemischt
werden.
Wir befinden uns mit der Frage nach Europas Identität also in einem klassischen Zirkel, aus
dem es kein Entkommen gibt: die Katze beißt sich in den Schwanz. Räumliche Ausdehnung
und kulturelle Wertüberzeugungen bedingen sich gegenseitig. Ein gemeinsamer
geographischer Raum mit allerdings äußerst vagen Grenzen bildet die äußere Klammer für
eine innere Geschichte, eine Geschichte, die im Verlauf dauernder Auseinandersetzungen und
Annäherungen Wertüberzeugungen reifen lies, die bei aller ethnischen, nationalen und
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religiösen Pluralität doch auch auf identitätsstiftende Gemeinsamkeiten befragt werden
können.
Wo Europa liegt – was zu Europa gehört – und was Europa bedeutet: diese beiden Fragen
gehören also zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. Diesen Punkt möchte ich anschaulich
machen, indem ich mich auf zwei Gegenbeispiele beziehe, die zeitlich und geographisch weit
auseinander liegen: das mittelalterliche Grönland und das zeitgenössische Neuseeland. Die
Insel hoch im Norden soll die Fallstricke einer falsch verstandenen Auffassung von kultureller
Identität illustrieren, die sich gegen geographische Gesichtspunkte abschottet, das Land an
den Antipoden hingegen soll eine Schwierigkeit verdeutlichen, in die der Zusammenhang von
Identität und Menschenrechten führen kann. Den Hinweis auf Grönland verdanke ich dem
faszinierenden Buch von Jared Diamond, Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder
untergehen. Diamond schildert dort das traurige Schicksal der Wikinger in Grönland. Diese
brachten, als sie um das Jahr 1000 von Norwegen aus mit der Besiedelung des 2500 km
entfernten Grönlands begannen, ihre erst kürzlich erworbene kulturelle Identität als
europäische Christen mit. So machten sie Grönland zu einem Teil Europas. Als ich zu Beginn
auf die Schwierigkeit einer natürlichen Grenzziehung sogar im Norden Europas hinwies, hatte
ich diese Seltsamkeit im Auge. Etwa 500 Jahre hielten sich die Wikinger in Grönland und
installierten eine komplette europäische Infrastruktur einschließlich des Baus von Kathedralen
und der aus Norwegen importierten Viehhaltungskultur. Unter anderem an einer
Verschlechterung des Klimas gingen sie dann aber im 15. Jahrhundert zugrunde, während die
Inuit-Kultur auf Grönland, mit derselben Verschlechterung konfrontiert, überlebte. Diamond
zeigt nun in seinem Besteller höchst anschaulich, dass der Hauptgrund für den Untergang der
Wikinger-Kolonie auf Grönland in deren rigider kultureller Identität als Europäer bestand, die
sie dazu brachte, ihre angestammte Lebensform in ein dafür gar nicht geeignetes Umfeld zu
übertragen. So forcierten sie beispielsweise eine ökologisch ruinöse Viehwirtschaft, grenzten
sich aber gleichzeitig so entschieden von den als minderwertig betrachteten Inuit ab, dass es
ihnen unmöglich wurde, unter fast arktischen Bedingungen überlebenssichernde Techniken
wie die Jagd auf Wale zu übernehmen. Der Untergang der Wikinger auf Grönland ist also ein
Lehrstück in kultureller Hybris und statischer Identitätsauffassung, die zusammen
interkulturelles Lernen unmöglich machen.
Mein nächstes Beispiel knüpft sich an den Staat Neuseeland. Er ist in der jüngeren
Debatte zum Thema Europa immer wieder herangezogen worden, um eine Schwierigkeit
deutlich zu machen, die mich noch beschäftigen wird. Denken wir nur an die Präambel zu
dem in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Entwurf einer europäischen
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Verfassung. Dort heißt es in Artikel I.2: „ Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die
Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die
Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten
angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich
durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die
Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Hehre Werte also, und prominent unter
ihnen platziert, Menschenwürde und Menschenrechte, wie es sich gehört. Das Problem
besteht darin, dass jeder Bezug auf Europa als eine geographische Größe fehlt. An seiner
Stelle finden sich universell gültige und in der Tat zentrale Wertvorstellungen eines
humanistischen Menschenbildes, sozusagen Bausteine einer kulturellen Identität der
Gesamtmenschheit. Und nun kommt Neuseeland ins Spiel, eine gefestigte Demokratie, die
sich in ihrem Selbstverständnis emphatisch den eben genannten Werten unterstellt. Was wäre
nun, wenn Neuseeland unter Berufung auf Artikel I, 2 des Verfassungsentwurfs einen
Mitgliedsantrag in der Europäischen Union stellen und genauso wie die Türkei auf
Beitrittsverhandlungen insistieren würde? Wäre es nicht diskriminierend und damit ein
expliziter Verstoß gegen die – vielleicht – künftige EU-Verfassung, Neuseeland dieses
Ansinnen mit dem läppischen Argument abzuschlagen, das Land liege nun einmal am
anderen Ende der Welt?
Mit diesen beiden Beispielen ausgerüstet, lässt sich nun das zentrale Problem besser
verstehen: kulturelle Wertvorstellungen und Identitäten sind, so zeigt uns das Beispiel von
Normannisch-Grönland, keine starren Größen, sie können nur im Austausch und durch
Veränderungsbereitschaft überleben. Wo dieser Austausch aber stattfindet – und Europa ist,
im Guten wie im Schlechten, seit dem Ende der Antike eine einzige große Arena solcher
Begegnungen gewesen – geraten regionale Identitäten in Fluß und kann eine Dynamik der
„Wertgeneralisierung“ (Hans Joas) entstehen, an deren Ende universelle Werte stehen, die in
Auckland genauso zustimmungsfähig sind wie in Brüssel. Der Diskurs der Menschenrechte
hat ja, wie jüngst wieder Heiner Bielefeld gezeigt hat, schon seit einigen Jahrzehnten keinen
ernsthaften globalen Gegenspieler mehr. Menschenrechte können dann aber eben als solche
keine regionale Identität mehr begründen, wie das Beispiel Neuseeland zeigt. Damit haben
wir den Zirkelschluß zwischen dem kulturell-werthaften und dem geographischen Aspekt von
Identität zu einem Dilemma verschärft: werden Werte als regional und partikular verstanden,
dann können sie auch entsprechende Identitäten stiften. In Europa ist für diesen Mechanismus
vielleicht die Schweiz mit ihrer ausgeprägt kantonalen Struktur das beste Beispiel. Je enger
der Zusammenhang von Wertbindung und geographischer Identität aber gefasst wird, umso
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mehr gerät er in Widerspruch zu den universellen Werten der Menschheit. Alpine
Abgeschiedenheit und Liebe zum Brauchtum lassen sich zusammendenken , aber
Menschenrechte, die nur in Europa gelten würden, wären eine schreiende Absurdität.
Um diesem Dilemma zu entkommen, brauchen wir erstens einen genaueren Begriff von
Identität, zweitens eine Idee von der historisch-kulturgeographischen Eigenart Europas und
drittens und vor allem eine durchdachte Konzeption der Art und Weise, in der lokale
Erfahrungen und universelle Wertbindungen miteinander verknüpft sind.
1. Die Identität der Identität
Mein sicherlich zunächst überraschender Kronzeuge in dieser Frage ist Charles Darwin, der
Begründer der Evolutionstheorie. Er hat für das naturwissenschaftliche Denken etwas in Gang
gebracht, das auch in kulturellen Zusammenhängen von entscheidender Bedeutung ist: die
Überwindung des Essentialismus. Damit meine ich die Vorstellung, das jedes Ding einen
Wesenskern hat, eine unveränderliche Substanz, an der ihre Identität hängt. Dieses weit
verbreitete und tief in unser alltägliches Denken eingedrungene Bild könnte man auch das
Avocado-Modell der Identität nennen (weiche Schale, harter Kern). Es ist so suggestiv wie
falsch. Denn in der Wirklichkeit der Evolution gibt es keine ewigen Wesenheiten, sondern nur
ständige Interaktionen zwischen relativ stabilen Einheiten, die sich in der Zeit verändern.
Essentialisierungen dynamischer Prozesse haben seit Darwin in den Naturwissenschaften
jeden Kredit verloren und sind angesichts der interaktiven Struktur des Sozialen in den
Humanwissenschaften womöglich noch fataler als dort. Dennoch kommen sie in Feuilleton
und öffentlichen Debatten häufig vor und wirken dann meist als destruktive
Argumentationsstopper. Das beste Beispiel aus der Gegenwart sind Äußerungen über das
unveränderliche Wesen „des“ Islam. „Der“ Islam, so heißt es dann, sei im Kern – hier haben
wir wieder das Avocado-Modell – unfähig, die Trennung von Kirche und Staat zu denken, die
Geltung des Koran zu relativieren etc. An die Stelle solcher pauschalen Identitätsbehauptungen, in denen ein realer, aber begrenzter Ausschnitt des Spektrums (z.B. der Islamismus)
für die Sache selbst erklärt wird, sollten besser differenzierte Analysen über die faktisch
vorfindliche Mannigfaltigkeit islamischer Positionen und ihre Entwicklungsdynamik treten.
Ein anderes gutes Beispiel für die gefährliche Wirkung essentialistischer Identitätsmodelle ist
Samuel Huntingtons Buch über den „Clash of Civilisations“. Es arbeitet mit flächigen
Beschreibungen, in denen jeweils dynamische Prozesse, die von den Selbstbeschreibungen
der Beteiligten abhängig sind, auf unveränderliche Wesenheiten zurückgeführt werden, die
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dann wie Dinge aufeinanderprallen. Gefährlich sind solche Vorstellungen vor allem deshalb,
weil ja Identitäten nicht einfach in der Welt herumliegen wie Gegenstände. Sie werden durch
die Deutungen von Handelnden mit erzeugt und stabilisiert und wandeln sich mit ihnen. Eine
Beschreibung wie diejenige Huntingtons zu akzeptieren hat daher den Charakter einer selbst
erfüllenden Prophezeiung. Es hilft dabei mit, einen Zusammenstoß zu provozieren, der unter
einer weniger essentialistischen Beschreibung vielleicht hätte vermieden werden können.
Ein essentialistisches Modell von Identität verbietet sich also von selbst. Es wird dem
Austauschcharakter, der Beweglichkeit, Pluralität und zeitlichen Dynamik von individuellen
und sozialen Identitäten nicht gerecht. Huntington erweist sich in diesem Betracht als ein
würdiger Nachfahre der Wikinger. Identität wird, wie auch die Sozialpsychologie seit Georg
Herbert Mead immer wieder gezeigt hat, durch Interaktion und Kommunikation nach innen
und außen nicht gefährdet, sondern überhaupt erst erzeugt. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass
ein wichtiger Bestandteil von Identitäten darin besteht, das eigene vom anderen zu
unterscheiden. Man kann gar nicht „Ich“ oder „Wir“ sagen, ohne dabei implizit zu sagen: Du
nicht, Ihr auch nicht etc. Wie lässt sich diese unvermeidliche Abgrenzungsfunktion der
Identität von einer Ausgrenzung unterscheiden? Hier muß man zunächst hervorheben, dass
Identität nicht nach einem Entweder-Oder-Schema funktioniert. Jeder Mensch unterhält zu
jeder Zeit eine Menge von verschiedenen wertbesetzten Beziehungen zu höchst
unterschiedlichen Gruppen, Aktivitäten und geographischen Regionen, die sich problemlos
miteinander vertragen, oft auch ineinander verschachtelt sind. So kann ich mich problemlos
gleichzeitig als Darmstädter, Südhesse, Deutscher, Europäer und Weltbürger fühlen. Und je
stärker sich das zukünftige Europa von dem nationalstaatlichen Modell des 19. und 20.
Jahrhunderts entfernt, desto weniger treten regionale, nationale, europäische und globale
Identitätsaspekte in einen Gegensatz. Auch das buntscheckige Gewebe von Gebräuchen und
Vorlieben, durch das sich Landsmannschaften identitätspflegend von anderen abgrenzen, hat
an sich keine ausgrenzende Bedeutung. Man muß bloß die Kirche im Dorf lassen und
zwischen Folklore und wichtigerem unterscheiden. Freilich ist das gemütliche „mir san mir“
nicht selten schon auf dem Sprung, in ausgrenzende Xenophobie umzuschlagen. Verhindert
werden kann das – leicht in der Theorie, schwer in der Praxis –dadurch, dass regionale
Identitäten in einen universalistischen Rahmen hineingestellt und damit gewissermaßen
unschädlich gemacht werden. Das funktioniert aber nur, wenn die Werte, die ich als
ausschlaggebend für meine Identität vertrete, tatsächlich für alle gelten können und sollen.
Nehmen wir das Beispiel der Menschenrechte. Wer sich dadurch von anderen sozialen
Gruppen und Individuen unterscheidet, dass er im Unterschied zu diesen auf der zentralen
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Rolle der Menschenrechte besteht, der grenzt sich zwar ab, aber niemanden aus. Abgrenzung
meint dann das Bestehen auf dem Gehalt von identitätsstiftenden Werten. Diese Werte sind
aber in ihrem Umfang universell, d.h. für alle Menschen gültig.
Was sich hier abstrakt anhört, hat der Verfassungsrechtler Arnim von Bogdandy sehr
konkret zu Ende gedacht, nämlich im Blick auf das Verhältnis Europas zu den Vereinigten
Staaten von Amerika. Im Wertekanon der EU spielen die Idee des Völkerrechts und der
Gedanke ausgleichender sozialer Gerechtigkeit gegenwärtig offensichtlich eine andere,
größere Rolle als in den kulturellen Wertüberzeugungen der USA, was sich auch durch den
Wahlsieg Obamas nicht geändert haben dürfte. Dies könnte man nun antiamerikanisch zu
einer ausgrenzenden Identität stilisieren: Wir Europäer, so lautete dann die diabolische
Einflüsterung, sind Euch Amerikanern moralisch überlegen, weil wir die universelleren Werte
vertreten. Abgesehen von der dann fälligen historischen Erinnerung, dass die Idee eines
Völkerbundes von dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson aus der Erfahrung des
ersten Weltkriegs ins Spiel der internationalen Politik gebracht wurde, lässt sich aber nun
leicht zeigen, dass ein solches selbstgerechtes Verständnis universeller Werte
selbstuntergrabend ist. Wertüberzeugungen, die Gültigkeit für alle Menschen beanspruchen,
zielen auf den Einschluss aller und sind deshalb unvereinbar mit Strategien, in denen sie zur
geopolitisch-moralischen Besserstellung einzelner Weltregionen instrumentalisiert werden. So zu argumentieren, verschärft allerdings noch das Dilemma, auf das wir bereits gestoßen
waren: wie können kulturelle Werte, die unter den Bedingungen von Pluralismus und
Austausch einer Dynamik der Verallgemeinerung unterliegen, regionale Identitäten
begründen? Darauf werde ich in meinem letzten Punkt zu sprechen kommen.
2. Die Geburt Europas aus der Ehe von Kultur und Geographie
Europa ist ein soziales Konstrukt und gleichwohl nicht willkürlich, sondern erwachsen aus
historischen Erfahrungszusammenhängen, die geographische Nähe teils zur Voraussetzung
hatten, wie sie diese umgekehrt– durch Verkehrswege etc. – teils erst ermöglich haben.
Deshalb gehört Grönland zu Europa, Neuseeland aber nicht, unbeschadet dessen, dass seine
normativen Grundlagen in denselben universalistischen Werten gefunden werden können, die
die Verfassungspräambel für Europa beschreibt. Ich möchte das für Europa typische
Ineinandergreifen geographischer Vorgaben und kultureller Interpretationen nun anhand einer
Schrift von Remi Brague über Europas „Exzentrische Identität“ knapp nachzeichnen. Dieses
Buch war so etwas wie der Eröffnungszug in der jüngeren Debatte über das Identitätsthema.
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Den kulturgeographischen Gedanken, den ich hier entwickelt habe, spitzt Brague nochmals
zu, indem er betont, dass die Identität Europa weder kulturell noch geographisch in
irgendeiner Weise jemals gesichert gewesen sei, sondern im Verlauf seiner Geschichte in
dauernder Auseinandersetzung mit dem kulturell und geographisch Fremden ständig neu
errungen werden musste. Der Witz von Europas Identität liegt nach Brague darin, dass sein
Eigenes ausschließlich der mühevollen Aneignung des Anderen entsprungen ist. Das von ihm
benannte klassische Gegenbeispiel ist wiederum China, wo über viele Jahrhunderte ein in sich
geschlossenes Staatswesen, verkoppelt mit einer konfuzianistischen Weltanschauung, eine
substanzielle und höchst stabile Identität hervorgebracht habe. Sinologen werden hier mit
Recht entschieden widersprechen, aber Bragues Gegenbeispiel dient nur der rhetorischen
Zuspitzung und ist insoweit entbehrlich.
Europa sei jedenfalls ein besitzloser Habenichts, bestenfalls der Erbe heterogener Traditionen,
ein Schwamm, der gierig die kulturschöpferischen Taten früherer und fremder Zivilisationen
aufsaugt. Und in der Tat ist zumindest das Christentum, der unstrittig prägendste Faktor der
europäischen Geschichte, ja nicht auf europäischem Boden entstanden. Anders liegen die
Dinge zwar, wenn man von dem enormen Einfluss ägyptischer und asiatischer Quellen einmal
absieht, mit der zweiten zentralen Größe, der griechischen Philosophie. Aber sie ist eben
europäisches Erbe erst mittels ihrer Aneignung durch die Römer geworden. Brague spricht
deswegen von der „Romanität“ als dem Prinzip Europas und meint damit eine aneignende,
offene, interpretierende und weiterentwickelnde Einstellung dem Fremden gegenüber.
Exzentrisch ist Europas Identität dann deshalb, weil sie keine Hausgeburt ist, sondern, wenn
ich im Bild bleiben darf, eine Auslandsadoption.
An dieser Stelle kann ich nun Bragues Argumentation mit dem zusammenbringen, was
ich im Anschluß an Darwin zur Überwindung des Essentialismus gesagt habe. Substanzielle
und essentielle Identitäten werden sich schließlich, wenn diese Überlegungen zutreffend sind,
über kurz oder lang als Sackgassen erweisen, während exzentrische Identitäten zu immer
neuen Wegkreuzungen führen. Das Exzentrische, sozusagen Zweitklassige Europas verglichen mit in sich ruhenden alten Zivilisationen - , seine fehlende Essenz erweist sich
damit als Stärke. Das kulturelle Profil Europas ist eben nicht dem ruhigen und selbstgewissen
Blick nach innen erwachsen, es hat sich erst durch weiträumige Interaktionen, also im selben
Zug mit der Gliederung und Begrenzung seines geographischen Raums ausgebildet. Brague
unterscheidet dabei zwei Hauptachsen von zwei späteren Unterteilungen. Die erste
Hauptachse entsteht mit der Blüte der griechischen Kultur und trennt als Schnitt auf der NordSüd-Achse das Mittelmeerbecken als Okzident vom Rest der Welt als dem Orient. Quer dazu
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kommt es mit der Ausbreitung des Islam zu einem zweiten Schnitt auf der Achse Ost-West,
der die christlich geprägte nördliche Hälfte des Mittelmeerraums von seinem islamischen
Süden trennt. Auch die beiden späteren kulturgeographischen Achsen sind mit geistigen
Umwälzungen eng verbunden. Der dritte Schnitt unterscheidet innerhalb Europas lateinische
und byzantinische Christen und hat die Geschichte der Balkanländer, durch die er verläuft,
zutiefst geprägt. Der vierte und letzte Schritt schließlich setzt eine Zäsur im europäischen
Kernland, indem er den protestantischen Norden vom katholischen Süden trennt. Diese
geographischen Trennungslinien sind natürlich zugleich Verbindungslinien, Zonen der
Auseinandersetzung und mithin die Konfinien einer für Europa typischen Einheitserfahrung.
Diese entstand, wie jüngst der Historiker Michael Borgolte in einem faszinierenden Buch
vorgeführt hat, gerade aus der Vielfalt. Gerade im Mittelalter, so zeigt Borgolte, ist der innere
Bezug der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam bis hin zu
tödlichen Konflikten so intensiv, dass daraus neben Hass und Unverständnis doch auch die
Erfahrung eines neuen Typs von Identität entspringen konnte, nämlich einer Identität, die sich
weder auf territoriale Selbstverständlichkeiten, noch auf eine fraglose Leitkultur, sondern
gerade auf die „ertragene Differenz“ in der dauernden Auseinandersetzung stützen konnte.
Der geographische Aspekt wird hier also mit den kulturellen Selbstverständnissen in der
Weise verbunden, dass räumliche Nähe zum Medium einer gemeinsamen historischen
Erfahrung werden kann. Ich glaube, in diese Richtung sollte man weitergehen.
Hier ist aber eine wichtige Unterscheidung angebracht: eine „gemeinsame Erfahrung“
liegt nämlich nicht bereits dann schon vor, wenn Völker oder andere soziale Gruppen in einen
historischen Kontakt treten. Oft zielt dieser Kontakt ja auch auf Leib und Leben der anderen,
und dreißig Jahre hat es im 17. Jahrhundert gedauert, bis das Gemetzel der Konfessionskriege
durch den Westfälischen Frieden beendet werden konnte. Es gibt keinen Automatismus, der
von durchlebten Gewalterfahrungen zur Bereitschaft für Frieden und Toleranz führt. Das
beste und schrecklichste Beispiel hierfür ist natürlich der Beginn eines zweiten Weltkriegs 21
Jahre nach dem Ende des ersten. Erst nachdem der Aggressor, das deutsche Reich, militärisch
bezwungen war, konnten vorausschauende Europäer eine gemeinsame historische Erfahrung
formulieren, um Vergleichbares zukünftig zu verhindern. Das geeinte Europa war deshalb
schon in seinen Anfängen als Robert Schumans Montanunion mehr als ein
Wirtschaftsverband, der normative Hintergrund immer präsent, die wirtschaftliche Einheit nie
Selbstzweck.
Für das Argument, das ich hier entwickeln möchte, ist daher der Unterschied zwischen
zwei Arten von Erfahrung zentral: einer „Erfahrung, die alle machen“ und einer
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„gemeinsamen Erfahrung“. Die Frage nach der Rolle der Menschenrechte für die kulturelle
Identität Europas wird nur vor diesem Hintergrund überhaupt verständlich. Alle Völker
Europas, die Schweiz einmal beiseitegelassen, haben zweifelsohne im vergangenen
Jahrhundert Schreckliches durchgemacht. Aber die Gewaltgeschichte Europas kennt Täter,
Opfer und Unbeteiligte, manchmal in klar verteilten und moralisch scharf geschnittenen
Grenzen, wie im Falle von Nazideutschland und den europäischen Juden, manchmal in
komplexen, unentwirrbaren Gemengelagen. Es wäre aber nicht nur zynisch, sondern geradezu
moralisch verabscheuungswürdig, wollte man deshalb etwa sagen, Nazis und Juden hätten im
dritten Reich eine gemeinsame Erfahrung gemacht. Damit aus einem historischen Prozess, an
dem alle beteiligt sind, eine geteilte, gemeinsame Erfahrung werden kann, müssen die
beteiligten Parteien oder ihre Nachfahren eine gemeinsame Sprache finden, in der eine Lehre
aus der leidvollen Vergangenheit gezogen wird. Auch der positive Aspekt des europäischen
Erbes, die Vielfalt der Kulturen und die Kultur eines differenzoffenen Umgangs mit ihr,
gründet in der Idee von Europa als einem möglichen Raum geteilter Erfahrungen. Dies ist die
Argumentationslinie, mit der ich einen inneren Zusammenhang zwischen der kulturellen
Identität Europas und der Frage der Menschenrechte herstellen werde.
Zuvor will ich aber das historische Profil der europäischen Identität zusammenfassend
nochmals skizzieren und dabei die Rolle der Religionen ins Zentrum rücken. Dabei ist mir
bewusst, dass die wirkliche Geschichte ethnische, wirtschaftliche, machtpolitische und
religiöse Aspekte immer untrennbar verknüpft zeigt. Zwei Punkte sind es, die sich hier vor
allem als wichtig erweisen: erstens die Erfahrung von Vielheit und Fremdheit im Unterschied
zu einem fraglosen Ruhen im Eigenen, zweitens die Erfahrung von Gewalt von den
Kreuzzügen und Judenpogromen über die Konfessionskriege, den Kolonialismus bis hin zu
den Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts. Beides gehört natürlich eng zusammen. Es ist
eine faszinierende These Michael Borgoltes, dass sowohl die Intensivierung der Gewalt als
auch die Chancen zu einer pluralismusfreundlichen, toleranten Identität in einem engen
Zusammenhang mit der eigentümlichen Religionsgeschichte Europas steht, und zwar
wiederum sowohl innerhalb des Christentums als auch in der Auseinandersetzung mit
Judentum und Islam. Die Geschichte der Europäisierung des Christentums ist in gewissem
Sinn die Geschichte der Entstehung Europas. Sie ist gekennzeichnet durch den Übergang von
der polytheistischen Pluralität der vorchristlichen Antike zur Konkurrenz dreier
universalistischer Monotheismen, die sich alle auf die Tradition Abrahams begründen. Dieser
Universalismus, also die Vorstellung, die eine Wahrheit über den einen Gott für alle
Menschen zu vertreten, ist zweifelsohne ein unerschöpflicher Quell von Militanz und
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Aggression, der Jagd auf Ketzer und Ungläubige gewesen und bis heute geblieben. Er war
aber eben auch ein Quell für die Entwicklung von Toleranzvorstellungen und praktischen
Formen der Duldung, auch des Dialogs. Wenn es nur eine Wahrheit gibt, sie aber jeder von
sich aus entdecken muss, dann kommen die Dinge in Bewegung. Diese beiden Dimensionen
der abendländischen Religionsgeschichte, die gewaltsame und die tolerante, gehören
untrennbar zusammen. Die Vorstellung einer Identität durch die Erfahrung von Differenz
hindurch konnte sich im schiedlich-friedlichen Milieu polytheistischer Pluralität nicht
entwickeln, genauso wenig aber unter der Alleinherrschaft einer einzigen monotheistischen
Religion. Ein exklusiv christliches Abendland, wie es sich die Romantik gelegentlich
herbeigewünscht hat, hat es nie gegeben. Die kulturgeographischen Grenzen Europa sind in
jedem Sinne fließend, sie dokumentieren nicht die Essenz einer Identität, sondern den
aktuellen Stand einer Auseinandersetzung um die Frage, wie Einheit aus Vielheit entstehen
kann.
Ich halte deshalb auch die Rede von einem Kerneuropa, um das sich in konzentrischen
Kreis Neuzugänge und Beitrittswillige gruppieren, für wenig hilfreich. Sie leidet an dem
Essentialismus des Avocado-Modells. Wenn zutrifft, was ich hier über den dynamischen, von
Auseinandersetzung und Vielfalt lebenden Charakter der Identität Europas gesagt habe, dann
muss sich der Kern jedes Mal mit verändern, wenn eine neue Schale hinzukommt.
Die Wertvorstellungen, die Europas kulturelle Identität begründen, sind in den
Erfahrungen von tiefem Pluralismus und zerstörerischer Gewalt erwachsen. „Tief“ ist der
Pluralismus, weil er eine dauernde Konkurrenz um verbindliche Sinngebungen einschließt.
„Zerstörerisch“ ist die Gewalt, weil sie diese Tiefe nicht aushalten kann. - Dass die gewaltige
Zentrifugalkraft dieser Erfahrungen den Kontinent nicht auseinandergesprengt hat, ist nicht
selbstverständlich und war es vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht. Aber
die Geschichte der Europäischen Union, soweit sie über gemeinsame Märkte und Bürokratien
hinausgeht, zeigt auch, dass aus solchen Erfahrungen aller doch gemeinsame Werte werden
können. Diese Werte – Menschenrechte, Frieden, Gerechtigkeit usw. - sind universell und es
muss nun zum Schluss gefragt werden, ob und wie sich aus einem gemeinsamen
Wertuniversalismus der Europäer eine lokale Identität ergeben kann, durch die sich unsere
Weltregion von anderen abgrenzt, ohne sie auszugrenzen.
3. Universelle Menschenrechte und die regionale Identität Europas
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Seit der Gründung der Vereinigten Nationen und der Menschenrechtserklärung von 1948 hat
dieser Begriff eine ganz erstaunliche Karriere durchgemacht. Die Idee, dass Menschen ohne
weitere Qualifikationen, einfach weil sie Menschen sind, über angeborene und
unveräußerliche Rechte verfügen, die in ihrer unverlierbaren Würde begründet sind, ist zu
einer Art „Zivilreligion der Moderne“ geworden, zu einem Wert der Werte, einem Heiligen
Schrein des Globalismus, auf den sich zumindest in der Theorie alle einigen können. An
Versuchen, Menschenrechte und -Würde nicht bloß zu fordern, sondern auch zu begründen,
fehlt es nicht. Dabei kann man entweder von der Würde des Einzelnen ausgehen, wie in der
schöpfungstheologischen Begründung oder in Kants kategorischem Imperativ, oder man kann
den sozialen Charakter der Würde betonen und landet dann bei vertrags- oder
kommunikationstheoretischen Ansätzen wie etwa dem von Jürgen Habermas. Allen Varianten
ist gemeinsam, dass sie sozusagen auf der Augenhöhe der Menschheit argumentieren und von
allen persönlichen, kulturellen und geographischen Besonderheiten absehen. Und darin liegt
ja auch gerade der Witz des Wertkomplexes „Menschenwürde und Menschenrechte“. Er ist
von Hause aus universalistisch und in jüngster Zeit haben sich sogar, etwa in der Tierethik die
Stimmen vermehrt, die über die Gattung Mensch hinaus fordern, auch anderen Wesen, vor
allem den höheren Tieren, Rechte und eine abgestufte Würde zuzugestehen. Wie weit diese
Dynamik noch führen wird, lässt sich gar nicht absehen. Aber eines steht fest: wenn man den
normativen Gehalt des Menschenrechtsgedankens zu bestimmen versucht, dann fehlt ihm jede
europäische Note. Menschenrechte als Prärogativ einer Gruppe sind einfach absurd.
Aus diesem unbestreitbaren Sachverhalte haben einige Autoren geschlossen, dass ein
universalistischer Identitätsbegriff ebenfalls ein Paradox darstellt. Besonders weit hat sich in
diese Hinsicht der Politikwissenschaftler Thomas Meyer aus dem Fenster gelehnt. In einem
Buch mit dem Titel Die Identität Europas ironisiert er die Geschichte der einschlägigen
Bemühungen um entsprechende programmatische Texte, von der 1995 auf Anregung Vaclav
Havels verabschiedeten Charta der europäischen Identität bis hin zu den aktuellen
Verfassungsentwürfen, die seit Lissabon nicht mehr so genannt werden dürfen. Die Ironie
Meyers bezieht sich natürlich nicht auf die Geltung der dort hervorgehobenen Werte, sondern
auf den Versuch, sie zur Grundlage einer spezifisch europäischen Identität zu machen. Meyer
zieht aus seiner Analyse die weitreichende Schlussfolgerung, dass Europa gar keine kulturelle
Identität braucht, weil die einzigen Werte, die dafür in Frage kämen, universelle Werte sind,
diese aber nicht Europa alleine, sondern der ganzen Welt gehören. Damit schießt er meiner
Meinung nach über das Ziel hinaus und ich möchte nun begründen, warum: Die Position
Meyers ist typisch für jene Stimmen in der Diskussion, die, geleitet von einer
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geschichtsphilosophischen Theorie der Säkularisierung, universelle Werte in vernünftigen
Argumentationen begründet sehen, die auf die Überwindung historischer Traditionen,
religiöser Weltanschauungen und kultureller Identitäten zielen. Die Aufklärung wird in
diesem Denken als ein Prozess verstanden, der darauf abzielt, gewachsene, biographisch und
geschichtlich vermittelte und in affektiven Gemeinschaften verkörperte Wertbindungen – das
Partikulare - durch vernünftigen Universalismus zu ersetzen. Ich halte das für falsch und für
ebenso einseitig wie den reaktionären Versuch, den Universalismus der Menschenrechte
durch den Hinweis auf gewachsene lokale Auffassungen zu unterlaufen (wie etwa die
angebliche asiatisch-kollektive Deutung der Menschenrechte). Für die kulturelle Identität
Europas hängt deshalb vieles davon ab, zwei Dinge gleichzeitig festzuhalten: den
Universalismus der für Europa maßgeblichen Werte und die Tatsache, dass ein lebendiges
Verhältnis zu solchen Werten nur dadurch entstehen kann, dass man sich auf historische,
emotional erregende Erfahrungen bezieht. Ohne die Schubkraft der Gefühle und der
gemeinsamen Geschichte bleibt die Verpflichtung auf die Menschenrechte blass und droht
zum Ornament, zum rhetorischen Füllsel für Sonntagsreden zu verkommen. Europa ist der
Kontinent, in dem von Anfang an die verschiedensten Religion und Lebensformen nicht nur
mit einander in Kontakt kamen, sondern auch um die Deutung der Welt konkurrierten und
dabei von der wechselseitigen Auslöschung bis zu Verständnis und Toleranz alle Spielarten
des Umgangs mit Differenz durchprobiert haben. Es waren in meinen Augen diese
historischen Erfahrungen, die dann in der Aufklärungszeit zu philosophischen Begründungen
für die Menschenrechte geführt haben. Der rote Faden zu den emotional bedrängenden, häufig
extrem leidvollen und höchst unterschiedlichen Geschichten der zahlreichen ethnischen und
religiösen Gruppen ist dabei nicht zerschnitten worden.
Das lokale, historisch gewachsene Selbstverständnis der Menschen bleibt also auch
dann bestimmend, wenn man zu der Einsicht vorgedrungen ist, dass alle wichtigen Werte
universeller Natur sind und der ganzen Menschheit gehören. Kwame Anthony Appiah, der in
Ghana aufgewachsene Princetoner Philosoph, hat dies als den Kern seines
Kosmopolitanismus bezeichnet: „Cosmoplitanism, is, in a slogan, universality plus
difference“. Dieser Wechselbezug des Menschheitlichen und des Lokalen lässt sich in zwei
Richtungen ausbuchstabieren: erstens besteht zwischen den historischen Erfahrungen und
kulturellen Prägungen der Menschen und dem Durchbruch der Aufklärung zu universellen
Begründungen kein ausschließender Gegensatz; vielmehr bringen philosophisch-diskursive
Argumente Intuitionen auf den Punkt, die im Erleben der Menschen entstanden und schon
vorher in Erzählungen, Liedern und Ritualen lebendig gehalten wurden. Die Philosophie ist
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immer nur, wie Hegel schon sagte, ihre Zeit in Gedanken gefasst. Es ist ein absurdes Zerrbild
zu glauben, die moderne Auffassung der Menschenrechte sei durch einen Vernunftgebrauch
erreicht worden, der frei und unabhängig über einem Sumpf aus lebensweltlicher Dumpfheit
und religiösen Vorurteilen geschwebt habe. Zweitens aber ist es genauso falsch, aus dem
Universalismus der Werte zu schließen, der Weg, auf dem man zu ihnen gelangt ist, spiele
nun keine Rolle mehr. Damit etwas von einer abstrakten Norm zu einem die Person
ergreifenden Wert wird, muss dieser Wert in einer engen Beziehung zu der Herkunftsgeschichte der Person stehen. Das gleiche gilt für soziale Gruppen. Die Menschenrechte
gelten und sollen gelten in Europa wie in Neuseeland und anderswo. Aber hierzulande hat
ihre Geltung eine spezifische lokale Motivation. Zu ihr gehört natürlich auch, dass es vielfach
europäische Denker waren, die den Menschenrechtsdiskurs in Gang brachten. Genauso
wichtig sind aber die konkreten historischen Erfahrungen der Europäer. Sie reichen historisch
seit dem Mittelalter vom Dialog und der Einübung von Toleranz bis zu gegenseitigem Hass
und kriegerischer Aggression. Im 20. Jahrhundert hat sich dieser negative Aspekt der Identität
Europas als Arena des Austrags von tiefer Verschiedenheit katastrophal zugespitzt. Wie
essentiell die Geltung der Menschenrechte in die kulturelle Identität Europas hineinreicht,
haben die Europäer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert überwiegend dadurch lernen
müssen, dass diese mit Füßen getreten wurde. Soweit aber aus dieser Erfahrung aller im Zuge
der Einigungsprozesses dann auch eine gemeinsame Erfahrung wird, entsteht dabei dann auch
ein spezifisch europäisches Verständnis der Menschenrechte, das ihre universelle Geltung
eher noch unterstreicht. Viele Wege führen nach Rom, viele Exoduserzählungen ins gelobte
Land des menschenrechtlichen Universalismus. Europa kann seine kulturelle Identität finden,
indem es sich aus seiner regionalen Geschichte und auf seine besondere Weise als
Verkörperung globaler Werte entdeckt.
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