Prof Dr. Ahmet İNAM Von der Freiheit der Gedanken zum freien und befreienden Denken I. Warum muß der Begriff der »Meinungsfreiheit« neu interpretiert werden? Der Irrglaube, daß der Begriff Meinungsfreiheit ausreichend geklärt sei, kann uns daran hindern, unsere Meinungen bzw. Gedanken frei zu entwickeln. Die Ausdrücke im Englischen und Türkischen für diese beiden Begriffe entsprechen sich genau: »freedom of thought« ist eine wortwörtliche Entsprechung für das Türkische »düşünce özgürlüğü«. Auch das deutsche Wort »Meinungsfreiheit« kommt dem englischen und türkischem Begriff nahe. Ein kleiner Unterschied zeigt sich im Französischem: »la liberté d'expression« heißt es hier. Dieser Unterschied offenbart die Problematik: Welche Freiheit ist gemeint? Die Freiheit der Meinung? Oder die Freiheit der Äußerung von Meinungen? Oder noch etwas anderes, das bisher nicht erwähnt wurde? Ein weiterer Irrglaube besteht darin, die Beschäftigung mit solchen Fragen als unnötige Haarspalterei zu betrachten. Wir behandeln hier die Probleme, die mit der »Meinungsfreiheit« in verschiedenen Ländern der Welt zusammenhängen. Die Kollegen aus den sozialwissenschaftlichen, juristischen und politikwissenschaftlichen Fächern haben anhand dieses Begriffs Theorien aufgebaut und Ansichten entwickelt. Als Philosoph habe ich die Befürchtung, daß ihre Bemühungen ohne eine Hinterfragung des Begriffs ergebnislos bleiben. Denn die Probleme, die sich sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in den Gesellschaftswissenschaften stellen, rühren nicht zuletzt von der Unbestimmtheit des Begriffs her. Weitere Schwierigkeiten haben ihre Ursache darin, daß man nicht aufzeigt, in welches begriffliche Netz der Begriff eingebettet ist. Eine philosophische Untersuchung kann daher zur noch ausstehenden Klärung beitragen. Ich werde in meinem Beitrag keine kritische Übersicht über den Gebrauch des Begriffs »Meinungsfreiheit« im Laufe der Geschichte geben und auch eine Kritik am bisherigen Gebrauch des Begriffes nur zwischen den Zeilen zum Ausdruck bringen. Stattdessen werde ich darlegen, welche Schwierigkeiten mit dem Bedeutungspotential des Begriffs zusammenhängen, und eine neue definite Interpretation des Begriffs geben. II. Der Gedanke, das Denken und seine Grenzen Das Denken ist ein mentaler Prozeß, der Gedanke sein Produkt. Das Denken ist kein spontaner Prozeß. Es erfordert Anstrengungen und Mühen. Es wird aus Erfahrung genährt und von der Welt 1 unserer Empfindungen und Gefühle gestärkt. Es erfordert Wissen. Es bestimmt unsere Stellung in der Gesellschaft, unsere Weltanschauung und unsere Kultur. Es hat keine solipsistischen Eigenschaften, sondern wird von unserer Sprache getragen. Zum Denken braucht man Kraft! Der größte Irrtum besteht in der Vorstellung, daß der Mensch ein denkendes Tier sei. Es wird stetig (in der abendländischen Geisteswelt vor allem seit Aristoteles) hervorgehoben, daß das Denken grundlegend dafür sei, daß sich ein Mensch von anderen Lebewesen unterscheidet. Doch in einem gewissen Sinne denkt auch ein Tier; es muß sogar — gemäß den Ansichten PIAGETS - denken können, um am Leben zu bleiben, um sich in seiner natürlichen Umgebung zu behaupten und um sich fortzupflanzen. Selbst der Mensch trifft Maßnahmen, die auf dem Denken beruhen, nur um als biologische Art zu überleben. Die Entwicklung der Begriffe »Wille« und »Vernunft« in der westlichen Geistesgeschichte seit Augustinus und die jahrhundertelangen Auseinandersetzungen um ihre Gegensätzlichkeit waren wichtige Meilensteine in der Erkenntnis des menschlichen Kampfes ums Dasein. Warum vertrete ich die Auffassung, daß die These, der Mensch sei ein denkendes Tier, einen Irrtum darstellt? Ich vertrete sie, weil ich den Begriff »Denken« in einem speziellen Sinne verstehe. Aus diesem Verständnis heraus folgere ich: Nicht jeder Mensch kann denken. Genauer noch behaupte ich, daß nicht jeder Mensch frei, original und autonom denken kann. Oft denkt der Mensch nur oberflächlich nach gewohnten vorgegebenen Schablonen; oft ist er nicht aufmerksam; er betrachtet die Beziehungen zwischen seinen Gedanken nicht konsequent; seine Begriffe sind unklar und widersprüchlich, seine Schlußfolgerungen falsch; er kennt nicht die Prämissen seiner Folgerungen, seine Urteilskraft ist mangelhaft. Man kann all die vielen Mängel und Behinderungen in unserem Denken gar nicht aufzählen. Dürfen wir dennoch behaupten, der Mensch könne denken? Mir scheint, nur einige von uns verfügen über die Kraft des Denkens, sind darin erfolgreiche Meister! Denken ist schwierig. Noch schwieriger ist sein Gebrauch beim Forschen, bei der Suche nach etwas ... Denn der Behinderungen sind viele! Es gibt Kräfte, die unseren Denkbemühungen Schranken setzen. Einige bemerken wir, andere nicht. Eine Liste der einschränkenden Kräfte, die wir bemerken, könnte wie folgt aussehen: Unsere Gedanken werden von unserer Umwelt, d.i. der Natur außerhalb von uns bzw. der von uns als »Welt« bezeichneten Struktur unseres Planeten bestimmt. Auch unsere biogenetische Struktur ist ein bestimmender Faktor. Wir denken innerhalb der neurophysiologischen Struktur unseres Gehirns und der Funktionsfähigkeit unseres Körpers. Unsere Kultur, Sprache und Geschichte begrenzen und bestimmen unser Denken. Unsere Gesellschaft und unsere Stellung 2 in der Gesellschaft ziehen eben falls Grenzlinien in unser Denken. Schließlich beeinflußt unser Wissen unser Denken. Das Wissen ist der Stoff unseres Denkens und bestimmt es somit. III. Frei sein Wenn wir uns dem Denken als Prozeß nähern, dann sehen wir, daß die Freiheit dieses Prozesses nicht etwa die Abwesenheit von bestimmenden Faktoren bedeutet. Freiheit in anderen humanen Bereichen bedeutet ja ebenfalls nicht, daß sie ohne bestimmende Faktoren sind. Der Wunsch nach Freiheit ist nicht der Wunsch, sich von bestimmenden Faktoren zu »befreien«; er ist der Wunsch, mit ihnen, ja sogar mit ihrer Hilfe frei zu sein. Frei sein heißt auch nicht, Einflüsse oder Abhängigkeiten abzustreifen. Kann man sich im Universum befinden und es gleichzeitig von sich abstreifen? Von anderen, von ihren Gedanken oder Handlungen unabhängig sein, ist etwas anderes als Freiheit. Man kann von den Gedanken anderer Menschen, mit denen man in enger Beziehung steht, abhängig sein und sich dennoch als freier Mensch begreifen. Freiheit fängt damit an, daß man innerhalb eines Handlungsraumes, der durch bestimmende Faktoren eingegrenzt ist, tätig wird. Diesen Handlungsraum zu kennen, zu bemerken, wieweit er reicht und welche Faktoren in ihm wirken, ist ein weiteres Kennzeichen des freien Menschen. Solange kein Freiheitsbewußtsein vorhanden ist, können wir von Freiheit nicht sprechen. Freiheit ist eine Angelegenheit des Bewußtseins. Dieses Bewußtsein darf man nicht in einem engen Sinne verstehen. Freiheit muß bis in das Knochenmark des Menschen gehen, man muß sie in den Adern spüren. Auch das Freiheitsgefühl ist ein untrennbarer Bestandteil der Freiheit. Was aber ist eine Freiheit, die sich innerhalb eines durch bestimmende Faktoren begrenzten Handlungsspielraums bewegt, deren wir uns bewußt sind und die wir fühlend erleben? Obendrein sagten wir noch, daß diese etwas anderes sei als Unabhängigkeit. Wie können wir behaupten, frei zu sein, solange wir die Freiheit als eine uns sowohl bekannte als auch unbekannte Kraft erleben? In einem ersten Zugang können wir sagen, daß wir im Erleben dann frei sind, wenn das Erlebnis unserer Erkenntnis oder unserem Gefühl zugänglich ist. Wie können wir nun sagen, daß wir wissen oder daß wir fühlen, frei zu sein? Eine Antwort ist schwer. Ich glaube, daß jede Theorie, die die Möglichkeit von Freiheit hinterfragt und zu erklären versucht, sich mit Fragen auseinandersetzen muß, die die Stellung des Menschen im Universum betreffen. An dieser Stelle möchte ich mich mit einigen wenigen Hinweisen begnügen, zu denen uns eine Betrachtung des Freiheitsgefühls führen kann. 3 Das Freiheitsgefühl ist ein Erlebnis der Zwanglosigkeit. Beweist aber das Gefühl, keinerlei Zwang zu unterliegen, daß wir frei sind? Ist Zwanglosigkeit nicht trügerisch, solange wir sie nur als ein Gefühl erleben? Ich möchte an dieser Stelle zwei wichtige ontologische Eigenschaften anführen, die das Gefühl der Freiheit m.E. erst ermöglichen: Die bestimmenden Faktoren bestimmen den denkenden und handelnden Menschen nicht vollständig. Unsere unvollständige Bestimmtheit verschafft uns einen Handlungsspielraum, einen Raum, in dem wir frei wirken können. Infolge unserer unvollständigen Bestimmtheit können wir sagen, daß unsere Zukunft keine notwendige Konsequenz unserer Vergangenheit und Gegenwart ist. Als denkenden und handelnden Menschen eröffnet sich uns vielmehr ein Horizont freien Agierens, ein Handlungsraum für Freiheit1. Ich denke überdies, daß man bis zu einem gewissen Grad durch eine Untersuchung seiner äußeren Bedingungen überprüfen kann, ob ein Gefühl der Zwanglosigkeit trügerisch ist oder nicht 2. Auch die Erforschung unserer inneren Bedingungen, der Innenwelt unserer Gefühle, Gedanken und Wünsche, obwohl im Verhältnis zur Erkenntnis der äußeren Bedingungen schwierig, hat für die Echtheit unseres Freiheitsgefühls eine große Bedeutung. Zwang jedenfalls rührt von denjenigen Kräften her, die unseren Tätigkeitsraum zum Verschwinden bringen möchten. Und diese Kräfte können nicht nur von außen kommen und politischer, juristischer oder gesellschaftlicher Art sein. Sie können auch von innen kommen und als steuernde Kräfte in uns wirken: als Erinnerungen, Kenntnisse, Gefühle, Gedanken. 1 Ich möchte eine Beobachtung von Hannah Arendt in ihrem Buch Life of Mind (New York 1978, S. 19) anführen, die das Freiheitsverständnis der Griechen der Antike betrifft. Arendt meint, das altgriechische Wort έλευθερία, dessen Bedeutung gewöhnlich mit »Freiheit« wiedergegeben wird, sei eigentlich als »Möglichkeit zur Bewegung« zu verstehen. So heiße z.B. έλευθειν όπως έρω: »gehen, soweit ich möchte«. έλευθερία ist indessen nicht auf Bewegung begrenzt. Arendt hat m.E. den Bewegungsaspekt bei ihrer Interpretation von »Freiheit« übertrieben. Nur wenn man »Bewegung« in einem sehr weiten Sinne versteht und z.B. auch das Denken, Handeln und Fühlen als Bewegung auffaßt, kann man sich der Interpretation von Arendt anschließen, Bewegung als Grundmetapher des Verständnisses von Freiheit aufzufassen. Für die verschiedenen Bedeutungen des Wortes έθευθερία im Altgriechischen vgl. A GreekEnglish Lexicon (ed. H.G. Liddell/R. Scott, 1968, S. 532) oder Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch, Teil 1 (Hg. H. Menge, Berlin 1970, S. 227). 2 Mit »äußeren Bedingungen« meine ich die Bedingungen, die unseren Freiheitsraum für das Denken, das Gefühl, physische Bewegungen, moralische Handlungen usw. begrenzen. 4 Wenn wir »Freiheit« sagen, dann meinen wir in der Regel, daß wir keinen äußeren Zwängen unterliegen. Dagegen möchte ich betonen, daß die Aufhebung der äußeren Zwänge für jemanden, der innerlich nicht frei ist, gar keine Bedeutung hat. Auch innerlich müssen wir frei sein3. Deshalb bedeutet Freiheit die Entdeckung und Erforschung des Handlungsspielraums sowohl unserer Außen- als auch unserer Innenwelt. Ohne Kenntnis seines Handlungsspielraums kann sich kein Mensch frei herausbilden. Ohne diese Kenntnis ist es ihm unmöglich, die Faktoren, die seine Innenund Außenwelt bestimmen, nicht zu akzeptieren und sich stattdessen Freiräume zu erschließen. In diesem Sinne ist Freiheit nicht etwas, das gegeben wird, sondern etwas, was gewonnen wird. Sie verlangt Anstrengung, Beherztheit und Mut. Sie will, daß wir uns vom Sklaven in unserem Inneren befreien. Sie fordert Auflehnung gegen Zwänge. Aus einem verängstigten, zaghaften, faulen und unwissenden Menschen wird niemals ein freier Mensch. Unsere Gefühle können Sklaven sein. Unterdrückt seufzen sie in den tiefsten Abgründen unseres Inneren, manchmal erscheinen sie maskiert und in veränderter Kleidung unter den Zwängen der Peitsche an der Oberfläche. Unsere Gedanken können Sklaven sein. Sie sind Ausdruck einer vermittelten Bildung und Wohlerzogenheit, die sie zähmt und unschöpferisch werden läßt. Und auch unser Körper und unsere Aktionen können wie Sklaven sein. Doch mehr als alle politische, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Sklaverei interessiert mich hier die Sklaverei in uns. Sie vernichtet unsere Handlungsspielräume. Deshalb ist sie gefährlich (ein Umstand, den NIETZSCHE häufig bei unterdrückten Menschen festgestellt hat!). Sie stellt Verbote auf, sie unterbricht den Lauf unserer inneren Welt; sie wirkt als Polizei und Gendarmerie für unsere Gedanken und Gefühle, für unser Gedächtnis, für unsere Wünsche, für unseren Willen. Nur ein von Zwängen befreiter Mensch ist Herr seines Handlungsraumes. Dazu muß er allerdings auch stark sein. Dies kommt im türkischen Wort »özgür« für »frei« zum Ausdruck, das eigentlich »von starkem Wesen« oder »von starkem Charakter« (»özü-gür«) bedeutet4. Der Freie ist eine leistungsfähige Person, ist jemand, der Kraft hat. Für den, der nicht die Kraft zum Denken hat, ist deshalb Meinungsfreiheit bedeutungslos. Wer keine Meinungen hat, wer 3 Nietzsche sagt, daß der Freigeist ein Geist ist, dessen Innenwelt frei ist. (Menschliches, All zumenschliches, in: WW [Hg. K. Schlechte] Bd. I, München 1960, S. 584 f. [225]). Er ist eine Persönlichkeit, die ihren dem Körper und der psychischen Struktur entspringenden Trieben nachgehen kann. 4 In den europäischen Sprachen gibt es diesen Bedeutungsaspekt für den Begriff »frei« offen bar nicht. Genauer betrachtet kann man das türkische Wort »özgür« auf zwei Arten interpretieren: (a) wie oben im Sinne von »özü-gür«: Jemand, dessen Wesen (Essenz, Substanz) stark oder kräftig ist; (b) im Sinne von »öz« = »Selbst«; »özümgür« heißt dann »ich bin stark« mein Selbst ist stark, wenn es frei ist. 5 nicht denken kann, von dem kann man nicht sagen, daß seine Meinungen oder Gedanken unterdrückt würden. Das Recht der Meinungsfreiheit ist nicht allen rechtsfähigen Menschen gegeben - das wäre ein zu optimistisches Menschenbild! Es ist begrenzt auf diejenigen, welche die Kraft haben, sich eine eigene Meinung zu bilden. Wer nicht kräftig ist, der kann nicht frei sein. Doch woher kommt seine Kraft? Und welches ist insbesondere die Quelle der Kraft im Denken? IV. Die Kraft im Denken Die Technologie und die sich mitten im hektischen Leben befindlichen Menschen verstehen das Denken als eine Problemlösungsaktivität. Nicht nur bei der Lösung von Rätseln, sondern auch bei der Lösung von Problemen in Wissenschaften wie der Psychologie, Soziologie, Politik, Verwaltung, Architektur oder des Ingenieurswesens werden wir immer von diesem Gedanken geleitet: Wenn wir über ein Problem nachdenken und es erforschen, dann lösen wir es auch. Diese Rolle des Denkens verleugne ich nicht. Bei allen Lebewesen spielt das Denken eine Rolle, wenn sie Probleme lösen wollen. Der Mensch denkt aber nicht nur, um Probleme zu lösen, sondern z.B. auch, um das höchste Glück zu erlangen5. Er kann auch denken, weil es ihm Spaß macht, oder aus ästhetischen Gründen, oder um sich selbst darzustellen. Manch einer denkt aber auch - wie etwa der Philosoph - nicht deshalb, weil er Probleme lösen, sondern weil er Probleme entdecken oder erschaffen möchte. Denken beginnt mit dem Staunen. In diesem Sinne waren die alten Griechen erstaunt. Das Staunen hat sie zum Hinterfragen, zur Nachforschung und schließlich zur Wahrheit geführt. Nachforschungen aber erfordern einen Handlungsfreiraum. Wer auf vorgegebenen Wegen geht, kann nicht einmal ein Logiker werden: Er sieht nicht die Schwierigkeiten des Weges, auf dem er wandelt. Das forschende Denken ist ein Abenteuer, das durch Freiheit ermöglicht wird. In diesem Sinne ist die Freiheit des Denkens aufzufassen als die Freiheit des freien Denkens. Die Kraft zum freien Denken kommt aus der Seele. Das türkische Wort für Seele ist »can«. Es hat im Türkischen eine vielfältige Bedeutung. Einesteils ähnelt es den abendländischen Begriffen »anima« und »vita«, andernteils umfaßt es Bedeutungsaspekte von Freundschaft, Herzlichkeit, Göttlichkeit, Heiligkeit und schließlich Lebendigkeit im biologischen Sinne. Eine in diesem Sinne verstandene »Seele« bringt die Einheit von Körper, Gefühl und Denken hervor; sie ist eine Kraft, die uns zu lebendigen 5 Man denke an die εΰδαιμονια bei ARISTOTELES, Nik. Ethik I 6. 6 Wesen, zu Menschen macht. Sie ist es vor allem auch, die den Freien ausmacht - denjenigen, »dessen Wesen stark ist« - und die eine Verbindung zum Körper herstellt sowie dafür sorgt, daß wir uns der Kultur bewußt werden, in die wir hineingeboren wurden. Den eigentlichen Grund dafür, daß Menschen nicht denken können, sehe ich darin, daß die Menschen den Zugang zu ihrer Seele verloren oder vielleicht auch nie gefunden haben. Die Lebensfreude oder das >>Lebensgcfühl« i.S. NIETZSCHES6 entsteht erst dann, wenn sich die Seele öffnet. Auch in den Bitterkeiten des Lebens atmet die Seele. Der zerstreute Mensch der Gegenwart, der zwischen Körper, Gefühl und Gedanken keine Verbindung herstellen kann, verliert seine Seele sehr schnell. Technologie, moderne Apparate Medizin und freie Marktwirtschaft nehmen sie ihm. Wem es dagegen gelingt, Zu gang zu seiner Seele zu finden und sie in seine Persönlichkeit zu integrieren, der wird das Gemüt zu freundschaftlicher Kommunikation gewinnen womit ich mit »Gemüt« das türkische Wort »gönül« übersetzen möchte, das sich ebenso wie das zuvor erwähnte Wort »can« in keiner abendländischen Sprache genau wiedergeben läßt7. Freies Denken entwickelt sich nur in einem Menschen, der ein von der Seele gespeistes Gemüt besitzt oder sich bemüht, es zu erlangen. Was ich hier ausführe, ist nicht mystisch oder unbestimmt. Zwar kann das Wort »Gemüt« (ebenso wie das Wort »Seele«) auch eine mystische Bedeutung haben; doch hier ist es nicht in einen mystischen Mantel gehüllt. Ich sehe es hier vielmehr als eine alternative, aus der türkischen Kultur kommende Forschungsperspektive für den suchenden postmodernen Menschen, dessen ethische und ästhetische Kritikfähigkeit ins Wanken geraten ist. Wer mit dem Gemüt denkt, der denkt mit seinem Körper, mit seinen Gefühlen und mit seiner Kultur. Da er eine Seele hat, ist er begeistert und enthusiastisch. Und er ist frei; seine Kraft kommt aus seinem eigenen Wesen. Er ist nicht nur frei, sondern auch schöpferisch, er erntet die Früchte des von ihm selbst Vollbrachten; er kann zwischen der Kultur, in die er hineingeboren wurde, und der von ihm selbst geschaffenen eine Verbindung herstellen; er ist autonom, steht nicht unter Zwang; er fällt selbst die Entscheidungen über sein inneres Erleben. Wenn wir nun im Lichte dieser Hinweise wieder zum Thema »Meinungsfreiheit« zurückkehren, dann können wir genauer sehen, was für eine Art Meinung und was für eine Art Freiheit gemeint 6 F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Bd. II, aaO. S. 877 (9). 7 Das Wort kommt schon in der alten türkischen Literatur vor. Seinen Sinn und seine genaue Bedeutung möchte ich hier nicht diskutieren. Der des Türkischen mächtige Leser sei auf mein Buch Teknoloji Benim Neyim Oluyor? (Was bedeutet für mich die Technologie?), An kara 1993, verwiesen. Das deutsche Wort »Gemüt« ist eine Kollektivbildung zum Substantiv »Mut«, das im Türkischen ebenfalls mit »gönül« wiedergegeben wird 7 sind. V. Die Stufen der Meinungsfreiheit Ich denke, daß man bei einer Betrachtung der Meinungsfreiheit als einem juristischen, gesellschaftlichen und politischen Problem drei Stufen in Rechnung stellen muß: Die Stufe, auf der sich unsere Meinung noch in der »Küche«, oder, traditionell gesprochen, im Geist, im Kopf, bzw., m.E. am besten gesagt, in unserem Inneren befindet, bloßer Gedanke ist. Die Stufe, auf der der Gedanke aus der »Küche« heraus ans Tageslicht tritt, als Meinung in Wort oder Schrift zur Sprache bzw. nach draußen gebracht wird. Die Stufe, auf der durch Äußerung der Meinung eine Veränderung in der Welt, eine Steuerung der in ihr stattfindenden Ereignisse, eine Machtübernahme, beabsichtigt wird und dabei u. U. Medien, politische Aktionen oder sogar der bewaffnete Kampf eingesetzt werden. Wenn über Meinungsfreiheit debattiert wird, so ist meistens die dritte Stufe gemeint. Es wird zwar gesagt, daß »jeder das Recht hat, seine Meinung zu äußern«. Aber welche Meinung? Hier wird meistens von Meinungen geredet, die darauf abzielen, die Welt in der von uns gewünschten Weise zu verändern, gar die Herrschaft zu übernehmen. Diejenigen politischen Kräfte, die die Äußerung der Meinungen behindern, fürchten sie konsequent deshalb, weil sie die Veränderungen fürchten, die sie erzeugen, etwa den Verlust der Herrschaft. Sie versuchen, sich zu schützen, indem sie die Meinungen, die für sie eine Gefahr darstellen, unterdrücken. Eine Gefahr aber sind Meinungen nur dann, wenn sie zu Handlungen werden können, die die Welt und mit ihr die Herrschaftsstrukturen verändern. Aber es ist nicht richtig, die Meinungsfreiheit lediglich von der dritten Stufe aus, als politische Kraft zu sehen. Die Gedanken, die in Meinungen zum Ausdruck kommen, sind auch Träume und Phantasien, Entwürfe und Erwartungen, die über den gegenwärtigen politischen Zustand hinausgehen. Es ist mit einer realistischen Sichtweise nicht zu vereinbaren, all das gering einzuschätzen. Wer es dennoch tut, hat die Rolle der Gedanken und die Kraft des Denkens nicht ausreichend verstanden. Er setzt das Denken mit dem Handeln gleich, und betrachtet letzthin nur noch dessen Ergebnisse. Natürlich hängen Denken und Handeln zusammen. Aber die Herrschenden verstehen meistens nicht, daß die Gedanken über die Handlungen weit hinausgehen. Sie unterdrücken Denker wegen ihrer Meinung, verurteilen sie, weil sie ihre Gedanken als Gefahr betrachten. Ihr Verständnishorizont beschränkt sich auf die praktischen Konsequenzen, zu der eine Meinungsäußerung führen kann. Und dabei leistet ihr oberflächlicher Verstand manchmal gar noch 8 unabsichtlich Hilfe bei der freien Entfaltung der Gedanken in deren eigenem Bereich! Die zweite Stufe der Meinungsfreiheit wird in der Regel nicht mit der ersten, sondern mit der dritten Stufe in Verbindung gebracht. Eine Herrschaft, die sich »demokratisch« geben möchte, fürchtet sich z. B. nicht davor, daß Meinungen zur Sprache gebracht weiden, sofern sichergestellt ist, daß sie keine praktischen Konsequenzen haben. Wenn ein Staat von sich propagiert, daß er »ein freies Land sei, worin jeder eine beliebige Meinung haben kann, wie sehr sie auch von der herrschenden Meinung abweicht, und worin jeder seine Meinung auch schriftlich zum Ausdruck bringen kann«, dann erscheint er als sehr tolerant und liberal. Doch ist er es nicht, wenn er gleichzeitig verbietet, daß die geäußerten Meinungen in Handlungen übergehen. Übrigens: Wie sollte auch bewerkstelligt werden, daß ein Gedankensystem, das in Büchern dargelegt ist, nur gelesen und debattiert, nicht aber praktisch verwirklicht oder wenigstens erprobt wird? Die dargestellte Sichtweise vergißt, daß ein Mensch, der denken kann, der seine innere Freiheit erlangt hat, schon auf der ersten Stufe ein Handelnder ist Denken ist Angelegenheit des freien Geistes, des beherzten, hoffnungsvollen, forschenden und fragenden Geistes. Die Fähigkeit hierzu muß in den Körper, in die Gefühle, in die Sprache und in die Kultur des Menschen integriert sein, Es besteht eine enge Beziehung zwischen Denken und Selbstverwirklichung Denken realisiert sich in der Selbstverwirklichung des Menschen. In diesem Sinne ist Denken eine Handlung, selbst wenn es sich nur innerhalb unseres Kopfes abspielt! Solange wir keine Roboter oder Computer sind, sondern Menschen, entwickeln wir uns zusammen mit und in unseren Gedanken. Diejenigen, die auf Veränderung abzielende Gedanken entwickeln, sind dabei diejenigen, die sich auch praktisch verändern können. VI. Der befreiende Gedanke Der Gedanke, in dem von uns intendierten Sinne, ist frei, wenn unser < feilt frei ist, wenn wir ein durch die Seele genährtes Gemüt besitzen, wenn wir uns von der Sklaverei in uns befreien und wenn unsere Kenntnisse und unsere Kritikfähigkeit ausreichend sind. Die Redeweise vom freien Denken ähnelt dann dem Ausdruck »ein Dreieck mit drei Ecken« - ein Dreieck kann eben nicht vier Ecken haben. Doch wie ist die Situation heute? Man kann sie geradezu tragisch nennen: Das System nimmt uns mit Hilfe der Medien und der Erziehung die Freiheit in unserem Inneren weg; es nimmt uns die Gedanken aus den Köpfen, und anschließend klagt es uns wegen unserer Gedanken an. Doch damit ein Mensch überhaupt wegen seiner Meinung schuldig gesprochen werden kann, muß er erst einmal die Freiheit zum Denken haben! Unsere Situation enthält somit et was Rätselhaftes: Menschen, die 9 nicht denken können, werden wegen ihrer Gedanken bestraft. Man fragt sich: Sind solche Menschen überhaupt straffähig? Es bleiben weitere Fragen: Wie kann ein gesellschaftliches System es ermöglichen, daß sich denkfähige Menschen zu innerlich freien Menschen entwickeln? Können sich auch dann innerlich freie Menschen entwickeln, wenn kein geeignetes gesellschaftliches System besteht? Oder anders: Welches sind die gesellschaftlichen und politischen, d. h. äußeren, und welches sind die inneren Bedingungen für eine Befreiung des Menschen? Die Antworten auf diese Fragen müssen einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben; ich habe aber Hinweise darauf gegeben, daß ich meine Hoffnung in Menschen lege, die ihre Türen vor seelenvoller und herzlicher Zuneigung, vor Humor, Ironie, Spontaneität, Offenheit, Hoffnungen und Forschungen nicht verschlossen halten, sondern versuchen, ihre innere Freiheit zu erlangen. Meinungsfreiheit als Menschenrecht adlı kitaptan alınmıştır.Derleyen Ernst-Joachim Lampe, Nomos Verlagsgeellschaft,Baden-Baden,1998,s.19-28 10