Die Voice-Dialogue-Methode / Hal und Sidra - Weiterbildung

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Die Voice-Dialogue-Methode / Hal und Sidra Stone
Inhalt
1.
2.
3.
3.1
3.1.1
3.1.2
3.1.3
3.2
3.2.1
3.2.3
Einleitung
Was ist Voice – Dialogue?
Die Selbste
Die Entstehung der Selbste
Die Ebene der Bewusstheit
Die Ebene der Erfahrung der Selbste
Die Ebene des Bewussten Ichs
Eine Auswahl der wichtigsten Selbste
Der Beschützer/ Bewacher
Die Schwergewichte – Antreiber, Kritiker, Perfektionist,
Macht-Haber, Schmeichler, Eltern-Selbste
3.2.3 Die verletzlichen Selbste 3.3
Verdrängung von Selbsten
3.4
Wie arbeitet man mit der Voice – Dialogue – Methode?
3.5
Anhang
Seite
1
1
4
4
5
5
6
7
7
8
11
13
13
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1. Einleitung
Vor etlichen Jahren, während eines Kuraufenthaltes, habe ich zum ersten Mal
Kontakt mit psychotherapeutischen Sitzungen aufgenommen und dort die VoiceDialogue- Methode kennen gelernt. Zu der Zeit hatte ich noch große Vorbehalte
gegenüber der Arbeit mit Psychologen – hatte ich doch die Vorstellung, diese
könnten „in meinen Kopf schauen“, oder „etwas mit mir machen, was ich gar nicht
will“, ein äußerst unangenehmes, bedrohliches Gefühl – Kontrollverlust .....
Es wurde mir angeboten, mit der Voice – Dialogue – Methode zu arbeiten;
Bei dieser Arbeit wurde mir klar, dass ich diejenige war und blieb, die arbeitete, die
sich ihrer inneren Struktur klarer wurde, und das beruhigte mich sehr und machte
dazu noch Spaß.
Und das war auch meine Motivation für dieses Referat:
Ich will euch eine Methode vorstellen, die gerade für therapieunerfahrene Klienten
geeignet ist, die Scheu vor einer Erkundung der inneren Prozesse zu verlieren.
2. Was ist Voice – Dialogue?
Die Erfinder dieser Methode, Hal und Sidra Stone, gehen davon aus, dass innere
Stimmen, auch Teilpersönlichkeiten oder Selbste genannt, ständig in uns wirksam
sind. Damit keine Begriffsverwirrung entsteht: Diese Stimmen umfassen auch im
Vokabular der Gestalttherapie das „Selbst“ mit seinen Teilfunktionen „Ich“, „Es“ und
„Persönlichkeit“, aber auch „Charakter“ „Person“ und „Wesen“.
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Diese Teile des Selbstes machen sich eben durch den ständigen Dialog in uns
bemerkbar.
Es sind nicht „bloß“ Gedanken, die uns nun mal durch den Kopf gehen, oder – wie im
Qigong bezeichnet – wie eine „Horde wilder Affen“ durch den Kopf jagen. Sie sind
vielmehr Ausdruck von verschiedenen Energiemustern, mit denen wir den
unterschiedlichen Situationen in unserem Leben begegnen.
Beispiel:
Beim Einkaufen
Else steht an der Käsetheke. Jemand drängelt sich vor.
Gedanken:
„Der Idiot!“ - aufkommende Wut
„Ne, ich bin an der Reihe!“ - ärgerlich
„Ach, ich hab ja Zeit!“ - verzagt
Eine Situation – drei mögliche Gedanken und ihre Energiemuster/ Gefühlsqualitäten,
die Aufschluss darüber geben, welche Teilpersönlichkeit am Zuge ist.
Voice-Dialogue bietet den direkten Zugang zu diesen Stimmen, indem er sie einlädt,
sich zu äußern.
Beispiel:
„Else, könnte ich mit dem Teil von dir reden, der immer gleich wütend/ ärgerlich wird,
wenn er sich übervorteilt fühlt?“
„Else, was hat der Teil von dir noch zu sagen, der sich lieber immer wieder hinten
anstellt und anderen den Vortritt lässt?“
In dieser Arbeit lernt der Klient, die inneren Stimmen zu unterscheiden, zu benennen,
zu objektivieren und auch kreativ zu nutzen, sodass nicht sie ihn beherrschen,
sondern er sie für sein Leben nutzen kann. Er lernt, seine „innere Landkarte“ kennen.
Ein Beispiel soll verdeutlichen, was mit diesen „inneren Stimmen“ gemeint ist und wie
sie unser Leben beeinflussen können:
Vor einigen Wochen erzählte mir eine Bekannte folgende Geschichte, die ihr passiert
war.
In den Ferien war ihre Enkeltochter bei ihr zu Besuch; nun war das Ende der
Besuchszeit gekommen, und die Enkeltochter wollte wieder mit dem Zug nach Hause
fahren. Auch ihr Fahrrad musste mit – deshalb wurde ein besonderer Zug
ausgewählt. Zeitig vor dem Abfahrtstermin machten sich die beiden auf den Weg,
gerieten aber auf der Autobahn in einen Stau. Erst da erinnerte sich meine Bekannte
daran, dass sie kurz vorher den Freund der Enkelin darauf aufmerksam gemacht
hatte und ihm eine alternative Strecke genannt hatte. Doch sie selbst hatte nun
diesen Weg nicht gewählt. Die Zeit verrann, und meine Bekannte wurde immer
nervöser. Sie hatte nur noch ein Ziel:
Enkelin pünktlich an den Bahnsteig bringen!!!
So entschied sie sich dafür, auf dem Standstreifen an der Autokolonne vorbei zu
fahren, was ihr sonst nie im Leben eingefallen wäre. Leider stand ein Brückenpfeiler
im Wege und sie musste sich wieder einfädeln – die überholten Autofahrer waren
nicht gerade sehr freundlich. Sie raste danach weiter, die Zeit wurde immer knapper
und sie immer konfuser. Am Bahnhof gab es keinen Parkplatz in der Nähe des
Eingangs – so hielt sie einfach und versuchte, das Fahrrad vom Dachgepäckträger
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zu holen. Da sie ein wenig den Weg versperrte, wurde sie auch hier unsanft
angesprochen. Und nun musste sie noch um Hilfe bitten!!
Ende vom Lied : Die Enkelin bekam so gerade eben ihren Zug – Oma blieb völlig
fertig zurück.
Auf der Rückfahrt ging es dann los:“ Was hast du nur gemacht?!
Was warst du für ein Beispiel für deine Enkelin?! Du hast mehrfach die
Straßenverkehrsordnung missachtet – vor allen Dingen auf der Autobahn!!. ....“
Die ganze Nacht schwirrten ihr solch niedermachende Gedanken durch den Kopf
und der innere Druck wurde so stark, dass sie am nächsten Tag zur Polizei ging, um
eine Selbstanzeige zu machen. Das „schlechte Gewissen“ plagte sie so arg, dass sie
keinen anderen Ausweg wusste. Erst als die Polizisten ihr erklärten, dass sie keine
Straftat, sondern nur eine Ordnungswidrigkeit begangen hatte, konnte sie sich
beruhigen.
Ich finde, das ist ein gutes Beispiel dafür, wie uns das Steuer für unser Leben
„entgleiten“ kann – wenn wir wenig über die inneren Prozesse wissen; wenn wir nicht
wissen, wie wir mit unseren inneren Stimmen kommunizieren können.
Meine Bekannte hat dem „Triumvirat“ von Kritiker, Perfektionisten und Antreiber die
Macht überlassen:
Der Antreiber hatte ihr eingeflüstert „Mach schnell, das Kind muss pünktlich zum
Bahnhof! Koste es, was es wolle!“
Der Kritiker begleitete jeden ihrer Schritte mit Zynismus: „Was machst du denn da?
So willst du ein Vorbild für deine Enkelin sein? Du Versagerin!“
Und der Perfektionist skandierte: „ Du hast gegen Recht und Gesetz verstoßen. Egal
welchen Grund du anführst – du bist schuldig!“
Sie hatte diesem Triumvirat erlaubt, ihr Unwesen zu treiben, und hatte keine Chance,
diesen Stimmen selbst Einhalt gebieten zu können; ich nehme an, dass sie die
„Gegenstimmen“ in ihrem Leben nicht zu Wort kommen lässt, z.B. den Faulpelz oder
diejenige, die auch mal fünfe gerade lassen kann. Und es sprach kein Bewusstes
Ich, das situationsbezogen, von der Regel abweichend entscheiden kann.
Und so konnte sie sich auch ihre „Fehltritte“ nicht verzeihen.
Im Voice - Dialogue geht es darum, sich einerseits der inneren Stimmen/
Teilpersönlichkeiten bewusst zu werden und diese anzuerkennen; andererseits zu
helfen, dass ein Bewusstes Ich den Vorsitz bei den mannigfachen „inneren
Konferenzen“ führen kann. So stellt diese Methode ein Instrument der
Kommunikation, zur Selbsterfahrung dar, und keine Therapieform.
Das Ziel dieser Arbeit ist das innere Wachstum - die Entwicklung eines Bewussten
Ichs und einer Bewusstheitsebene, die beobachten kann.
Die Vorstellung jedoch, dass in uns mehrere Teilpersönlichkeiten wirken, ist für
manche Klienten nicht nachvollziehbar oder gar beängstigend; sie meinen, dass
durch eine solche Theorie die Persönlichkeit gespalten wird. Das gilt es zu
respektieren – und die Anwendung einer anderen Methode wird hilfreicher sein.
Hal und Sidra Stone hingegen sind der Ansicht, dass wir bereits gespalten sind und
dass es darum geht, verdrängte Anteile zu integrieren und uns alle in uns
wohnenden Anteile bewusst zu machen.
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3. Die Selbste
3.1 Die Entstehung der Selbste
Ausgangspunkt: Die Psyche besteht aus vielen Selbsten, auch Teilpersönlichkeiten,
innere Stimmen oder Energiemuster genannt. Wie schon gesagt, wirken diese
ständig in uns.
In der Arbeit mit Vioce – Dialogue geht es darum, alle in uns wohnenden Anteile
bewusst zu machen, verdrängte Anteile zu integrieren und ein starkes und
Bewusstes Ich zu entwickeln, um bewusstere Entscheidungen treffen zu können.
Doch wie entstehen nun diese Selbste?
Eine kurze Zusammenfassung von Hal und Sidra Stones Gedanken:
Wenn wir geboren werden, sind wir sowohl mit unserem speziellen genetischen Erbe
als auch durch unser ganz individuellen „seelischen Fingerabdruck“ ausgestattet.
Jeder, der mehrere Neugeborene kennen lernen durfte, weiß: Kein Neugeborenes
gleicht dem anderen.
In diesem Stadium unseres Menschenseins sind wir sehr verletzlich und abhängig.
Und doch sind wir in der Lage, zu lernen, uns unsere Umwelt „anzueignen“. Damit
meine ich, dass wir in den Dialog mit unserer Umgebung treten – einerseits, um
unsere Verletzlichkeit abzuschirmen, andererseits um aggressiv auf das zuzugehen,
was wir erfahren, erleben, ausprobieren und begreifen wollen.
Schon früh müssen wir lernen, ein gewisses Maß an Kontrolle über unsere Umwelt
zu erlangen, um Unlust zu vermeiden.
Wir lernen, aus der Fülle von Verhaltensweisen, die uns zu Gebote stehen, die
auszuwählen, die uns helfen, unsere grundlegenden Bedürfnisse befriedigt zu
bekommen, z.B. Ich lächele, denn dann ist Mami auch froh und kümmert sich um
mich und ich bekomme zu trinken.
Nun möchte ich nicht ausführlich die frühkindliche Entwicklung darlegen; an dieser
Stelle ist mir wichtig darauf hinzuweisen, dass in diesem frühen Stadium bereits der
Entwicklungsprozess der Selbste beginnt.
Er hängt von unseren eigenen individuellen Möglichkeiten ab, der Welt begegnen zu
können, und von der uns umgebenden Umgebung mit seinen sozialen Werten und
Normen, seinen zwischenmenschlichen Kontakten und auch seinen zur Verfügung
stehenden materiellen Bedingungen ab.
Auf unserem Weg zum Erwachsenwerden entwickeln wir dabei die Anteile, Selbste,
in uns, die uns in unserer Welt bestehen lassen – wir unterdrücken, verdrängen
diejenigen, die in unserer Umgebung nicht auf Gegenliebe stoßen und entfernen uns
so immer mehr von unserem eigentlichen, verletzlichen Wesenskern, spalten ihn
vielleicht sogar ganz ab.
So übernimmt in der Regel ein Teilselbst oder eine Gruppe von Teilselbsten die
Führung in unserem Leben, die am erfolgreichsten dafür sorgen konnten, dass wir
gut in der Welt dastehen: die strebsame Schülerin, Papas Liebling, der tapfere
Indianer, die folgsame Tochter, der pfiffige Junge etc. .....
Wir identifizieren uns mit diesen Selbsten und entwickeln unsere Persönlichkeit.
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Mit der Zeit aber spüren wir nebulös, dass „etwas fehlt“; wir haben in etwa ein Gefühl,
als säßen wir in unserem Lebensauto auf dem Rücksitz und müssten ohnmächtig
zusehen, wie andere den Wagen nach deren Gutdünken lenken.
In unseren Träumen werden wir dann oft darauf aufmerksam gemacht, dass da
etwas in unserem Leben nicht stimmt. Die Voice- Dialogue – Methode arbeitet daher
gern und häufig mit Träumen, die Aufschluss darüber geben können, welche Selbste
verdrängt wurden, welche die Hauptrollen und welche Nebenrollen in unserem Leben
haben.
Nun habe ich ja eingangs gesagt, dass die Voice- Dialogue – Methode zum Ziel hat,
das Bewusstsein für diese Prozesse in uns zu erweitern. Deshalb möchte ich an
dieser Stelle auf dieses Thema näher eingehen.
Hal und Sidra Stone beschreiben und definieren die Begriffe > Bewusstsein <,
> Bewusstheit < und > Bewusstes Ich < wie folgt:
Bewusstsein
Das Wesen des Bewusstseins ist kein statischer Zustand, den man erreichen kann,
kein Ding, keine feste Instanz in uns, sondern beschreibt eher einen Prozess.
Dieser verändert sich von Moment zu Moment – also im Hier und Jetzt – und es ist
wichtig, diesen Aspekt der Veränderung bei den weiteren Überlegungen im
Hinterkopf zu behalten.
Das Bewusstsein entwickelt sich auf drei verschiedenen Ebenen: 1. die Ebene der
Bewusstheit, 2. die Ebene der Erfahrung der verschiedenen Selbste, 3. die Ebene
eines Bewussten Ichs.
3.1.1 Die Ebene der Bewusstheit
Bewusstheit beschreibt die Ebene des „Stillen Beobachters“ oder „Stillen Zeugens“.
Damit ist die Fähigkeit gemeint, alles, was ist, was mir begegnet, gelassen ohne
Bewertung und ohne Beurteilung wahrnehmen zu können. Hier erinnere ich an die
Übungen in den ersten Selbsterfahrungsseminaren, die uns ganz deutlich gezeigt
haben, wie schnell wir Wahrgenommenes interpretieren.
Bewusstheit meint einfach einen Standpunkt, von dem man aus objektiv beobachten
kann – weder emotional noch rational.
Hier gibt es nichts zu tun, hier gibt es nur Wahrnehmung.
2. Die Ebene der Erfahrung der Selbste
Die Selbste erleben, spüren wir als Energiemuster – diese entsprechen unseren
inneren Zuständen, egal auf welcher Ebene: emotional, mental, körperlich oder auch
spirituell. Sie können sich uns in völlig unterschiedlichen Erscheinungsformen
darstellen, in der Bandbreite von einem kaum wahrnehmbaren Gefühl bis zu einer
voll ausgeprägten Teilpersönlichkeit.
Beispiel: Ich bin wütend. Egal wie ich das ausagiere – mein wütendes Selbst
übernimmt die Führung, mein Bewusstsein ist zunächst nicht daran beteiligt. Merke
ich aber, dass ich wütend bin, kann mir meine Bewusstheit ganz leidenschaftslos
diese Tatbestand mitteilen. Ich kann mich also „aus der Situation wegbegeben“,
sozusagen einen „höheren“ Standpunkt einnehmen ( ähnlich wie der Platz der
Schiedsrichter beim Tennis ) und nur dieses Energiemuster betrachten.
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3. Die Ebene des Bewussten Ichs
Was unterscheidet nun ein > normales < Ich, ein „Ego“, von einem
> Bewussten Ich < ?
Die traditionelle Definition besagt, dass das Ego der Entscheidungsträger der Psyche
sei. Es übernimmt die Aufgabe, Entscheidungen zu fällen und zu handeln.
Den obigen Ausführungen zu Folge informieren sowohl die Bewusstheits – Ebene als
auch das Erleben der verschiedenen Selbste dieses Ego, dass dann seine
Entscheidungen trifft. Je mehr sich unser Bewusstsein entwickelt – eben durch die
wachsende Fähigkeit, den > Stillen Zeugen < und die verschiedenen Selbste in uns
wahrzunehmen, desto eher sind wir in der Lage, „echte“ Entscheidungen zu treffen,
wächst auch unser > Bewusstes Ich <.
Meist ist es jedoch so, dass eine Gruppe von Teilselbsten die Führung übernommen
hat – wir identifizieren uns mit diesen Selbsten und werden von ihnen gesteuert.
Damit haben wir weit weniger Entscheidungsfreiheit wie wir glauben – es sei denn,
wir erwachen, wenden uns unseren Selbsten bewusster zu und kümmern uns vor
allen Dingen um die verdrängten Selbste.
Wie kann man nun aber erkennen, ob eine Gruppe von Selbsten die Führung
übernommen hat?
Identifikation gaukelt uns vor, dass alles in Ordnung sei, wir halten uns dann auch für
bewusst. Ein sicheres Zeichen ist dieses:
Wir müssen lernen, all unsere Selbste anzunehmen und zu würdigen; erklären uns
die inneren Stimmen - aus welchen Gründen auch immer, und sie können sehr gut
argumentieren - dass ein Selbst es nicht wert sei, gewürdigt zu werden – meist
nämlich der Gegenspieler – dann können wir sicher sein, dass eine Identifikation
vorliegt. Erst die Fähigkeit des Bewussten Ichs, beide „Pole“, beide gegensätzlichen
Selbste wahrzunehmen, zu würdigen und anzunehmen und die Spannung zwischen
beiden auch auszuhalten, kann bewirken, dass sich die Identifikation löst.
Beispiel:
„Matthias war Arzt und empfand den Wusch, in ein Entwicklungsland zu gehen, um
dort den Armen zu helfen. Er empfand sich als sehr altruistisch und spirituell und
wollte etwas für die Entwicklung unseres Planeten tun. Kurz nachdem er diese
Entscheidung getroffen hatte, träumte er, dass er auf einem Thron saß und von
armen Bauern mit Geschenken und Ehrbezeugungen bedacht wurde.
Nach unserem System war Matthias’ Ich mir einem spirituellen, aufopfernden
Energiemuster identifiziert. Er war schon immer ein sehr verantwortungsvoller Mann
gewesen, und der Dienst am Nächsten war eine Möglichkeit, durch die sich der
verantwortungsvolle Vater in ihm ausdrückte. Der Traum enthüllte ein neues
Energiemuster, das Matthias vorher nicht bewusst gewesen war: der Machtmensch;
der Teil in ihm, der ganz selbstsüchtig die eigene Verherrlichung sucht. Das bedeutet
nicht, dass seine Entscheidung falsch war; es bedeutet nur, dass die Wahl ohne ein
Bewusstes Ich getroffen wurde. Der spirituelle, verantwortungsvolle Vater in ihm traf
die Entscheidung.“ ( S. 39 )
Da haben wir ein Beispiel dafür, dass manche Selbste in uns unbewusst sein können
– sie sind nicht verdrängt, sie sind einfach nur noch nicht bewusst geworden.
Anders sieht es aus, wenn Selbste die Macht übernommen haben, um ungeliebte
Selbste wie z. B. Wut, Eifersucht, Bedeutungslosigkeit, Schüchternheit, ..... zu
unterdrücken. Diese „bekannten“, vielleicht nur kurz wahrgenommen Selbste
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versuchen wir so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Doch weggedrückt ins
Unterbewusste entziehen sie sich unserer Kontrolle und können ihr Unwesen treiben.
Beispiel:
Ich identifiziere mich mit meinem spirituellen, liebevollen Selbst. Dann bin ich
vielleicht davon überzeugt, dass ich keinen Grund habe, negative Gefühle
auszudrücken, wenn ich nicht genauso gut positive ausdrücken kann.
Genau an dieser Stelle besteht die Gefahr, spirituelle Führer miss zu verstehen,
> spirituellen Materialismus < zu betreiben.
Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh empfiehlt : „Umarme deine Wut“.
Das heißt jedoch nicht, durch meditative Versenkung dieses Energiemuster
sozusagen alchimistisch „umzuwandeln“ in liebende Güte, nach dem Motto: „Hallo
Wut, ja, ich spüre dich, und jetzt wandle ich dich um, denn du bist ja nicht gut.“
( meint: So kann ich dann Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen.“)
Thich Nath Hanh meint, wir sollen ganz durch diese Empfindung gehen, sie bewusst
annehmen, damit sich die andere Seite ganz natürlich einstellen kann.
Und das geht nicht, wenn ich ungeliebte Selbste unterdrücke.
3.2. Eine Auswahl der wichtigsten Selbste
Wie in Punkt 3.3 noch beschrieben wird, können eine Vielzahl von Teilselbsten bei
der Arbeit auftauchen; hier möchte ich nun auf die Selbste eingehen, die nicht nur
individuell sind, sondern bei jedem Menschen in individueller Form auftauchen. Bei
der Auswahl habe ich mich auf die beschränkt, die mir am wichtigsten erschienen.
Für interessierte Leser weise ich auf das Buch „Du bist viele“, H./.S. Stone hin.
3.2.1 Der Beschützer/ Bewacher
Zunächst entwickelt sich ein „Aufpasser“, der sich wie ein Leibwächter verhält. Er
ähnelt Freuds „Über-Ich“ oder dem „Eltern-Ich“ der Transaktionsanalyse und ist
grundsätzlich das Energiemuster, das uns beschützt. Dieses Selbst hat Angst vor der
psychologischen Arbeit; es repräsentiert den konservativen Teil in uns, der
Neuerungen gegenüber sehr misstrauisch ist.
Dieser Beschützer/ Bewacher bildet sich aus den Introjekten, Regeln und Vorgaben
der Eltern und kontrolliert unser Verhalten dahingehend, indem er uns einen
Verhaltenskatalog aufstellt. ( Topdog ) Manche Verhaltensweisen werden gestärkt,
andere in den Hintergrund gedrängt. Auf diese Weise will er sicher stellen, dass wir
unsere Bedürfnisse nach Sicherheit und Angenommensein durch andere Menschen
erreichen; daher passt er sehr genau auf, dass wir die sozialen oder familiären
Normen erfüllen. In vielen Familien sind z.B. Persönlichkeitsmerkmale aufgeteilt und
der Beschützer/ Bewacher wird dahingehend unterstützt, bestimmte Richtlinien
einzuhalten, die dem Betreffenden dann eine bestimmte Rolle in der Familie
zuschreiben.
Der Beschützer/ Bewacher steht hinter vielen anderen Selbsten, die uns
ermöglichen, in der Welt zu bestehen. Die meisten Menschen identifizieren sich mit
diesem Teil ihrer Persönlichkeit und sprechen und handeln aus ihm heraus, wenn sie
„Ich“ sagen. Tragisch ist dabei nur, dass wir dabei die Verbindung zu unserer
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Verletzlichkeit verlieren, wie das Hans Christian Andersen in seinem Märchen „Die
Schneekönigin“ beschreibt.
Dieses Selbst sorgt auch dafür, dass die verdrängten Selbste verdrängt bleiben –
logisch, hat es doch dafür gesorgt, dass die betreffende Person ein Image aufbaut,
dass es in seiner Umwelt überleben kann. Und diese Persönlichkeit soll aufrecht
erhalten bleiben. Das gilt es in der therapeutischen Arbeit zu achten. Doch ebenso
wichtig ist es, die Gegenstimme, das liberalere, risikobereitere Selbst anzuhören, um
zu ausgewogeneren Entscheidungen gelangen zu können.
Beispiele für Beschützer/ Bewacher:
der gute Junge/ das brave Mädchen – Vermeidung: Auseinandersetzung
der Erfolgsmensch – Vermeidung: Sich abhängig fühlen
der Rationalist – Vermeidung: verwirrende Gefühlslagen
3.2.2 Die Schwergewichte
Es gibt einige Selbste, die mit dem Beschützer/ Bewacher zusammen arbeiten
( ebenfalls Topdog ), die aber auch unabhängig von ihm agieren können. Ihr Ziel ist
es, Sicherheit und Erfolg im Sinne des Beschützer/ Bewachers zu gewährleisten, und
sie klingen immer so, als ob sie uns nur helfen wollen. Doch nur ein Bewusstes Ich
kann ihnen zuhören und dann entscheiden. Sind wir uns ihrer Anwesenheit nicht
bewusst, sieht die Welt ganz anders aus.
Der Antreiber
Ein starker Antreiber wird uns garantiert großen Erfolg bescheren – doch auch
Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, eine Herzinfarkt oder eine „gallige Haltung dem
Leben gegenüber“. Er ist die Teilpersönlichkeit, zu der wir am schnellsten und
leichtesten Zugang finden, z.B. wenn wir uns die Liste der unerledigten Aufgaben
vorstellen.....
Dann spüren wir, wie sich Anspannung und Verkrampfung in Gesicht und Körper
breit machen.
Die Aufgabe des Antreibers besteht darin, uns aktiv werden zu lassen, was ja auch
wichtig ist, denn sonst würden wir unseren Alltag nicht bewältigen können. Aktion an
sich ist ja nichts Schlimmes, ist ja förderlich – wenn es uns gelingt, auch den
Gegenspieler, den Faulpelz und Nichtsnutz anzuhören und ihm Raum geben
können.
Doch das ist nicht die Welt des Antreibers. Hier gilt „time is money“, Erholung ist
Zeitverschwendung. Der workoholik ist beherrscht von seinem Antreiber – und sein
Verhalten wird durch unsere Gesellschaft noch honoriert. Stellt sich nur die Frage,
wie lange er das durchhält.
Er arbeitet sehr gern mit dem Kritiker und dem Perfektionisten zusammen und bildet
ein „schreckliches Triumvirat“ :
„ Der Antreiber gibt uns riesige Aufgaben und setzt uns Fristen, die nicht einzuhalten
sind, und dann kritisiert uns der Kritiker, wenn wir nicht alles schaffen. Ein anderer
Kollege des Kritikers, der Perfektionist, setzt ideale Maßstäbe für unser Verhalten
oder unsere Leistung und der Kritiker kritisiert uns, wenn wir sie nicht erfüllen.“
( S.160 )
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Der Kritiker
Dieses Selbst übt einen ungünstigen Einfluss auf unser leben aus. Obwohl es uns,
wenn wir seine Energien transformiert haben, ein guter Freund sein kann, der uns
auf Dinge aufmerksam machen kann, wenn etwas nicht stimmt, der uns unsere
blinden Flecke zeigt und uns zwingt, unsere ungeliebten Seiten anzusehen, hat
dieses Selbst im Grunde nur ein ziel : Wir sollen uns mies fühlen!!
Es hindert uns daran, das Leben einfach zu genießen und kritisiert uns um des
Kritisierens Willen, und zwar destruktiv. Es ist immer bereit, uns unsere Fehler und
Unzulänglichkeiten unter die Nase zu reiben, in unseren wunden Punkten herum zu
stochern. Da schlägt er dann zu. Auch wenn wir in seinem Sinne etwas ändern, er
wird etwas Neues finden, er ist einfach nicht zufrieden zu stellen – Zufriedenheit ist
nicht sein Ding, auch wenn wir uns noch so anstrengen.
Geht doch mal mit einem solchen Kritiker einkaufen, vielleicht eine neue Hose.........
Wann bemerken wir dieses Energiemuster? Er ist am Zuge, wenn wir dieses flaue
Gefühl in der Magengrube verspüren – und es ist viel Achtsamkeit notwendig, um
ihm Paroli bieten zu können. Seine zerstörerische Tendenz bleibt immer erhalten und
wir wissen nie, wann er zuschlägt, auch wenn wir das Gefühl haben, wir hätten seine
Energie transformiert – das geht nur zeitweise.
Ein weiteres Merkmal: Er arbeitet gern im Team, z.B. mit dem Antreiber und dem
Perfektionisten zusammen – ein Super-Gespann!! Oder mit dem „Vergleicher“ – im
Vergleich mit anderen ziehen wir dort immer den Kürzeren.
Der Perfektionist
In Kombination mit dem Antreiber kann uns dieses Selbst helfen, Maßstäbe zu
setzen. Geschieht das jedoch nicht bewusst, bereiten wir uns unsere eigene Hölle,
denn dann setzt es unrealistische, unerreichbare Ziele. Du kannst den
Perfektionisten niemals zufrieden stellen. Immer denkt er sich weiter gesteckte Ziele
aus und wird dich für deine Mühen nicht loben.
Meist geht mit der Bildung dieses Selbstes einher, dass entspannte Seiten und die
Verletzlichkeit verdrängt wurden. Spielt der Perfektionist eine der Hauptrollen werden
Menschen, die diese gegenüberliegenden Seiten leben ( Schlamper ), als
unerträglich empfunden ( Projektion ).
Doch hat der Perfektionist in uns auch seine gute Seite, denn manchmal muss etwas
einfach perfekt sein, z.B. der Flugzeugcheck.
Doch breitet sich dieses Selbst in unkontrolliert in allen Bereichen des Lebens aus,
kann uns das sämtliche Kraft rauben.
Die „Macht-Haber“
Diese Gruppe von Selbsten hat mit unseren Macht-Seiten zu tun, u.a. Einfluss,
Ehrgeiz, Geld, Reichtum und Egoismus. Sie ist oft verwoben mit dem Beschützer/
Bewacher und so schlecht identifizierbar.
Die Macht-Haber-Gruppe sorgt dafür, wenn sie nicht durch das Bewusste Ich
kontrolliert wird, dass den Menschen äußere Werte das Wichtigste im Leben sind –
oft auf Kosten guter menschlicher Beziehungen. Wer zwanghaft Reichtümer
anhäufen muss, will damit meist nur sie Sorgen und Ängste des verletzlichen Kindes
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beruhigen. Dieser Aspekt ist bei dieser Gruppe von Selbsten immer dabei – auch
wenn der Betreffende sehr „mächtig“ auftritt.
Der Schmeichler
Obwohl dieses Selbst ein völlig anderes Energiemuster als die anderen
Schwergewicht aufweist, besitzt es große Macht. Es will es allen Recht machen, stellt
alle zufrieden (und ist dann auch zufrieden ), stimmt alle fröhlich – und denkt zuletzt
an sich. Für einen Menschen, der dem Schmeichler die Führung überlässt, ist alles
O.K. – bis sich vielleicht Schlafstörungen einstellen, die Zähne Abriebspuren vom
nächtlichen Knirschen aufweisen .... Die verdrängten Gegenspieler - Egoismus und
die Fähigkeit, Ja und Nein sagen zu können – melden sich auf diese Weise dann
eventuell des nachts.
Der automatische Schmeichler geht einher mit oftmals versteckter Wut, weil die
entgegengesetzten Anteile verdrängt wurden.
Hier wird auch deutlich, dass das Verdrängen von Selbsten Energie verbraucht. Wut
zu unterdrücken ist kein Kinderspiel, und verbraucht die körperlich – geistige Batterie.
Die Eltern-Selbste
Auch diese Selbste gehören zu den Schwergewichten; sie haben eine zentrale und
wichtige Position in unseren menschlichen Beziehungen inne.
Die gute und die negative Mutter
Das Bild einer „guten Mutter“ ist nicht zuletzt geprägt durch gesellschaftliche und
philosophische Vorstellungen. Attribute, die diesem Mutterbild entsprechen sind:
Immer präsent,
liebevoll,
hingebungsvoll,
unterstützend,
selbstaufopfernd,
behütend ......
Diese gute Mutter ist völlig in Ordnung, solange sie in gutem Kontakt zum Bewussten
Ich steht und frei zwischen eigenen und fremden Wünschen unterscheiden und
entscheiden kann, welchen Bedürfnissen sie gerecht werden will.
Ist das nicht der Fall, sieht die Welt für die betroffenen Personen und für die Frau
selbst ganz anders aus.
Die Frau wird spüren, dass sie immer kraftloser wird, eine gewisse Wut wird
aufkommen, denn die gute Mutter hat eine Schwester – die negative Mutter.
Während die erste alles tut, damit ihr Umfeld versorgt und zufrieden ist, ihre
Wichtigkeit und ihr Gebrauchtwerden genießt, sich gern um Bedürftige kümmert,
jedoch sich selbst und ihre Bedürfnisse gering schätzt, lauert im Hintergrund schon
die böse Schwester.
Plötzlich kann die Stimmung umschwenken: Dann wird alles, was sie vorher so gern
umhegt und umpflegt hat zu ihrem größten Ärgernis: Die Bedürftigkeit der anderen
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wird z. B. Anlass zu Spott, Schwäche wird verachtenswert erlebt und von
Hilfsbereitschaft ist nichts mehr zu merken.
Die negative Mutter ist voller Wut und das zu Recht: Was der guten Mutter fehlt ist
nämlich der Zugang zu ihrem Egoismus.
Sie ist verbittert darüber, dass die gute Mutter ihre eigenen Bedürfnisse missachtet
und rebelliert dagegen. Ist die Klientin in der Lage, dem Teilselbst der negativen
Mutter zuzuhören, wird sie kreative Lösungsmöglichkeiten für ihre Probleme finden.
Es kann natürlich auch sein, dass die negative Mutter die Herrschaft übernommen
hat – hier wird sich dann entsprechend die gute Mutter melden und mehr Fürsorge
und Hilfsbereitschaft fordern.
Der gute und der negative Vater
Auch für Väter gelten ähnliche Strukturen – der gute Vater weist ähnliche
Persönlichkeitsmerkmale wie die gute Mutter auf, ist jedoch mehr an Hilflosigkeit als
an Bedürftigkeit gebunden. Es ist toll, einen guten Vater an seiner Seite zu haben,
denn er übernimmt die Verantwortung in allen Lebensbereichen – ist aber in seinem
zwanghaften Bedürfnis, für alles und jeden verantwortlich zu sein, gefangen.
Bis sein Gegenspieler, der negative Vater, auftaucht. Wie’s weitergeht – s.o. ........ er
wird urteilend und strafend.
Der rationale Vater
Gegen diesen Vater ist fast jeder machtlos; er bleibt immer cool und hat stets das
letzte Wort. Er wird in seiner Argumentation immer rationaler und das, was sein
Gegenüber einbringt, klingt dagegen immer irrationaler. Der rationale Vater ruft im
Gegenüber in der Regel das rebellische Kind hervor, und dann „geht die Post ab“.
Nur wenn wir unseren Humor behalten und objektiv bleiben können, sind wir in der
Lage, dieses Muster zu knacken.
3.2.3 Die verletzlichen Selbste
In diesem Kapitel beschreiben die Stones das innere Kind; drei Aspekte dieses
Kindes sind von besonderer Bedeutung: das verletzliche Kind, das die Sensibilität
und Angst des Klienten darstellt, während das spielerische und das magische Kind
Freude, Vorstellungskraft und Phantasie in unser Leben bringen.
Besondere Beachtung findet hier das verletzliche Kind; es lebt fast immer in der
Angst, verlassen zu werden ( siehe Riemann ), und es hat Ängste, von denen der
Beschützer/ Bewacher und die anderen Hauptselbste keine Ahnung haben. Sie
beschützen die Verletzlichkeit dieses Kindes, doch begraben sie es dabei unter sich
und machen es mundtot.
Daher ist der Zugang zu diesem Teilselbst schwierig, zumal sein Schmerz sehr tief
ist und großen Respekts und Mitgefühls bedarf. In der Arbeit ist es daher wichtig,
einerseits dem Beschützer/ Bewacher Sicherheit zu vermitteln, dass er entspannen
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und von seiner Funktion absehen kann, und andererseits dem verletzlichen Kind die
Ruhe und Geborgenheit zu signalisieren, dass es sich trauen kann, sich zu zeigen.
Doch warum ist es so wichtig, sich diesen Selbsten zu öffnen, diese zu Wort kommen
lassen? Zumal, wenn das auch noch mit dem Aushalten von Schmerz zu tun hat?
Zum einen bereichern die inneren Kinder unser Leben mit Freude, Fähigkeit zu
Intimität in Beziehungen, Kreativität, Sensibilität und Phantasie – zum anderen
wissen sie um das „Sein“, während die anderen Selbste das „Tun“ und „Verhalten“
prägen.
Das verletzliche Kind
Dieses Teilselbst kommt unserer Essenz, unserem Wesen am nächsten – trotzdem
ist es die Teilpersönlichkeit, die am meisten – bis zum Alter von 5 Jahren bereits verdrängt wurde. In unserer Gesellschaft kann es ohne einen starken Beschützer/
Bewacher nicht existieren. Ist dieses Kind anwesend, so kann der Begleiter spüren,
wie von ihm eine körperliche Wärme und Fülle ausgeht. Diese Augenblicke von tiefer
Zuneigung und gegenseitigem Vertrauen können wir im engen Kontakt mit kleinen
Kindern oder z.B. auch mit Hunden fühlen. Bricht dieser Kontakt ab – und das
verletzliche Kind tut das bei der leisesten Provokation - bleibt oft ein leises Frösteln
zurück. Doch diese Fähigkeit des verletzlichen Kindes, ganz mit einer anderen
Person zu sein, bringt nicht nur Freude, denn es schwingt sich in jede Energie ein, ist
nach allen Seiten hin offen und bekommt so auch alles mit. Es achtet nicht auf
Worte, doch ist es sehr sensitiv und bekommt sofort mit, wenn es nicht beachtet wird
– und leidet.
Es braucht Sorge und Beachtung, es möchte vermisst werden, doch die anderen
Selbste wollen gar nicht wollen, dass es existiert.
Die Verdrängung der Verletzlichkeit verhindert jedoch, dass wir wahre Stärke
entwickeln können. Denn wie alle anderen Selbste hat auch dieses einen
„Gegenspieler“ – die Allmacht. Und nur wenn unser Bewusstes Ich beide Pole
wahrnehmen kann, ist es in der Lage, „auf der Klaviatur“ zu spielen; ansonsten wäre
es nichts anderes als eine Identifikation mit einem der Pole, der Allmacht-Energie
oder der Energie des Kindes.
Diese Darstellung erinnert mich stark an die Ausführungen in Marias Referat über die
narzisstischen Störung, wie sie Bärbel Wardetzki beschreibt :
Grandiosität Minderwertigkeit
Die Identifikation mit der Allmachtstimme – und jeder hat seine eigene und liebt sie
sehr – bewirkt, dass wir überheblich werden, eine gewisse Art von Selbst zufriedenheit entwickeln und einen Kampf mit dem verletzlichen Kind führen. Erst
wenn das Bewusste Ich eine Elternfunktion für dieses Kind übernehmen kann,
verliert die Allmachtstimme an Kraft und beide Pole können integriert werden.
Die Entdeckung des inneren Kindes in seinen 3 Aspekten ist ein Ausgleich gegen die
Übermacht der Schwergewichte. Diese halten uns von unseren tiefsten Selbsten fern
und haben die Aufgabe, Verteidigungsstrategien aufzubauen, die Gefühle, Schmerz
und das Zeigen von Bedürfnissen vermeiden.
Das innere Kind wird nie erwachsen – doch es hilft uns, menschlich zu bleiben.
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3.3 Verdrängung von Selbsten
An dieser Stelle möchte ich nur kurz darauf eingehen, was passiert, wenn Selbste,
vor allen Dingen Instinkt-Energien verdrängt werden – weil wir das alle schon mehr
oder weniger am eigenen Leib oder hier in der Gruppe erfahren haben.
Hier beschreiben Hal und Sidra Stone einen Vorgang, der sehr stark an die
Kontaktstörung „Retroflektion“ erinnert. Die Energien, die eigentlich gelebt werden
wollen, werden abgebogen und richten sich gegen die Person. Sie werden destruktiv,
hier werden sie „dämonisch“ genannt, und können große gesundheitliche Probleme
bereiten. Oftmals erkennen wir sie in der Arbeit mit dem inneren Kritiker – er legt mit
seiner Kritik die versteckten Projektionen offen.
Wie schon gesagt, lernen wir sehr früh, bestimmte Energiemuster in unserem Leben
zu unterdrücken – ungeliebte Energien wie Wut, Ärger, Aggression, Macht,
Egoismus, Gewalt, Sinnlichkeit, Hemmungslosigkeit, Lüsternheit, Sexualität, Lust,
u.ä. sperren wir lieber weg, weil wir die Konsequenzen für ihr Ausleben fürchten. Wir
sind abhängig von unseren Eltern und passen uns lieber ihren Regeln an als unseren
Instinkten zu folgen.
Jedoch wie ein Tier im Käfig werden diese Energien bösartig – und der Bewacher/
Beschützer und all die anderen Selbste, die sich auch vor diesen Selbsten fürchten,
haben nicht zu Unrecht große Bedenken ihnen zu begegnen, weil sie ein enormes
Zerstörungspotential haben.
Daher muss die Arbeit mit diesen verdrängten Selbsten sehr vorsichtig und wohl
abgewägt erfolgen. Erst wenn durch eine vorangegangene Arbeit mit den
Hauptselbsten ein Bewusstes Ich mit diesen Energien genauso umgehen kann wie
mit den beherrschteren rationalen Selbsten.
Überwinden wir jedoch unsere Angst vor diesen Selbsten und erkennen, dass sie
auch nichts weiter sind als Energiemuster, wie die anderen Selbste auch, die der
Aufmerksamkeit bedürfen, dann können sie für unsere Leben dienlich sein.
3.4 Wie arbeitet man mit der Voice – Dialog – Methode?
Ziel dieser Methode ist – wie schon gesagt - den Klienten aus einer alten
Bewusstseinsform zu führen, sein Wachstum zu fördern. Sie bietet Hilfestellung bei
der Erforschung der Teilselbste und ermöglicht, ein Bewusstes Ich zu entwickeln, das
den Vorsitz bei den inneren Konferenzen führt.
Wie sieht nun eine Voice-Dialogue-Sitzung aus?
Im Grunde ist sie eine „Stuhlarbeit“ mit besonderen „Spielregeln“.
Dem ICH wird ein besonderer, zentraler Platz im Raum eingeräumt, der von den
anderen Hauptselbsten und dem Beschützer/ Bewacher getrennt ist.
Die Aufgabe des Begleiters ist, einen Wechsel der Energiemuster wahrzunehmen.
Dazu muss er seinen eigenen Kritiker und Antreiber zur Ruhe bringen, um sich voll
und ganz auf sein Gegenüber konzentrieren zu können.
Dann ermuntert er den Klienten, etwas über sein Leben oder eine spezielle
Erfahrung zu erzählen. Bei dieser Arbeit ist es wichtig, eine mitfühlende und
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urteilsfreie Begegnung zu ermöglichen, auch wenn Stimmen auftauchen, die dem
Klienten oder seiner Umgebung schaden.
Die Hauptaufgabe des Begleiters ist es, die Hauptselbste von den verdrängten
Selbsten zu unterscheiden. Er sammelt Informationen zur Erstellung einer
„seelischen Landkarte“ des Klienten, die aufzeigt, welche Selbste vermutlich am
Werke sind. Sie dient als Bezugspunkt für die weitere Arbeit und kann im Laufe der
Arbeit verändert und korrigiert werden. So wird verhindert, dass der Begleiter zu
schnell mit einem Selbst arbeitet, ohne eine ungefähre Ahnung davon zu haben, wie
sich dieser Teil zur Gesamtpersönlichkeit verhält.
Wie in der Gestaltarbeit wird auch bei diesem Gespräch nicht nur auf das geachtet,
was die Klienten erzählen, sondern wie sie das tun. Jedes Teilselbst hat sein eigenes
Energiemuster und ist somit körperlich erfahrbar, bzw. findet seinen körperlichen
Ausdruck:
Angst wird als leichtes Zittern oder Angstschauder erlebt, gestaute Energie in
angespanntem Kiefer, Schulter oder Mund, das innere Kind zeigt sich oft an offenen
Augen, Strahlen, Entspannung; Stimmlage und Lautstärke sowie die Körperhaltung
geben weitere Hinweise.
Diese äußeren Anzeichen weisen darauf hin, dass eine andere Energieform den
Körper erfüllt, manche Aussagen deuten auf die Hauptselbste hin.
Diesen gilt das Hauptinteresse des Begleiters und er versucht so viel wie möglich
über sie zu erfahren, zu ergründen, warum sie in dieser Form existent sind.
Beispiel für die Erstellung einer seelischen Landkarte:( S.77/78 )
BEGLEITER: Was beschäftigt dich denn so in letzter Zeit?
FRANK: ( Frank erscheint ein wenig gebeugt, hat einen mürrischen Blick und spricht
ohne Begeisterung.) Ich streite mich mit meiner Frau, weil sie immer will, dass ich
Urlaub nehme. Sie sagt, ich nehme meine Arbeit zu wichtig. Aber ich liebe meine
Arbeit! ( Mit den folgenden Worten scheint er an Stärke zu gewinnen, seine Augen
leuchten auf und er sitzt aufrechter.) Weißt du, ich arbeite wirklich an einer sehr
wichtigen Stelle, vor allem jetzt, wo die Steuergesetze geändert werden. Die Leute
verlassen sich darauf, dass alles korrekt erledigt wird, und sie wissen, wenn ich
etwas tue, dann tue ich es gut. Und ich sage ihnen ( jetzt scheint er sehr stolz auf
sich selbst zu sein ), ich enttäusche sie auch nicht. Ich kümmere mich um alles, so
wie man es von mir erwartet. Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll – ich meine,
meine Frau. Sie versteht nicht, wie wichtig all das ist. Sie redet immer nur von
Entspannung. ( Franks Lippen werden wieder schmal und er schaut irritiert. )
Frank macht im Ganzen einen verengten, angespannten und konzentrierten
Eindruck. Seine Äußerungen lassen den Begleiter vermuten, dass nicht Franks
Bewusstes Ich spricht, sondern eine Gruppe von verantwortungsvollen,
erfolgsorientierten Hauptselbsten:
„Ich sage ihnen, ich enttäusche sie auch nicht. Ich kümmere mich um alles.“ –
verantwortliches Selbst;
„Ich arbeite an einer wichtigen Stellen, vor allem jetzt.“ – ein Antreiber;
„Die Leute verlassen sich darauf, dass alles korrekt erledigt wird, und sie wissen,
wenn ich etwas tue, dann tue ich es gut.“ – ein Perfektionist;
„Sie versteht nicht, wie wichtig all das ist. Sie redet immer nur von Entspannung.“ –
ein urteilendes Selbst.
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Andere Anhaltspunkte – seine depressive Verstimmung, der Streit mit seiner Frau –
sprechen dafür, dass sich Franks „hilfloser Sohn“ und die „fordernde Mutter“ seiner
Frau treffen.
Sind diese Hauptselbste entdeckt, wird der Begleiter sein Augenmerk auf die
wahrscheinlich verdrängten Selbste richten, in Franks Fall wohl seinen „Faulpelz“
und all die Anteile, die wissen, wie man das Leben genießt: ein
vergnügungssüchtiges Selbst, ein entspanntes Selbst und ein sich selbst liebendes,
annehmendes, sanftes und nicht urteilendes Selbst.
Mit diesen Ergebnissen setzt der Begleiter nun seine Erkundigungen fort, erfährt
mehr über die Hauptselbste und spricht auch die vermuteten verdrängten Selbste an,
z.B. „ Wie war es denn, als du dich das letzte Mal entspannt hast?“
Nach der ersten Erstellung der seelischen Landkarte kann sich der Begleiter
entscheiden, mit einem Hauptselbst zu sprechen:
„ Wenn ich dich so über deine Arbeit sprechen höre, dann höre ich da eine Stimme,
die sehr stark in dir zu sein scheint, jemand, der darauf besteht, dass die Dinge auf
eine bestimmte Art und Weise getan werden. Könnte ich einmal mit diesem Teil von
dir sprechen?“
Ähnlich wie bei der „Stuhlarbeit“ werden die Teilselbste angesprochen, als ob sie
reale Personen wären. Der Klient identifiziert sich mit diesen und der Begleiter fordert
ihn auf, den Platz zu wechseln – dem Teilselbst einen Platz im Raum zu geben, der
diesem entspricht, wo es sich wohlfühlt.
Bei den anschließenden Gesprächen muss kein Ziel verfolgt werden – sie sind eher
eine entspannte, wache Forscherreise ohne große Anstrengung.
Diese Atmosphäre ist notwendig, damit sich der Beschützer/ Bewacher entspannen
kann und somit den Blick auf die anderen Selbste freigibt. Erst wenn dieser sich
angenommen, sicher und gewürdigt weiß, ist diese Reise möglich.
Während der Arbeit mit den Teilpersönlichkeiten ist der Klient in einem Zustand, der
der Hypnose ähnlich ist. Er ist dann sehr verletzlich, denn der Beschützer/ Bewacher
ist ja weitgehend ausgeschaltet. Unterbrechungen ( Telefon, Mitarbeiter;) müssen
vermieden werden. Falls es doch einmal nötig ist, sollte der Begleiter den Klienten
bitten, auf den Platz des Bewussten Ichs zurückzukehren.
Im Laufe einer Sitzung kann es vorkommen, dass mehrere Selbste angesprochen
werden. Daher ist es am Ende einer Sitzung notwendig, den Klienten wieder in einen
normalen Bewusstseinszustand zurückzubringen.
1. Sein Gleichgewicht muss wieder hergestellt werden. Bevor das Bewusste Ich die
Verantwortung im Leben des Klienten übernommen hat, ist es wichtig, zunächst mit
einem der Hauptselbste zu sprechen, bevor der Klient den Platz des Bewussten Ichs
einnimmt.
Dieses Hauptselbst sollte befragt werden, wie es ihm mit der Arbeit ergangen ist.
Dieser Rückgriff bewirkt, dass dieses sich dem Veränderungsprozess nicht feindselig
gegenüberstellen – der Respekt, der ihrer Meinung über diesen Prozess
entgegengebracht wird, stabilisiert das, was neu hinzugekommen ist. Es geht ja nicht
darum, Teilselbste zu eliminieren, sondern die alten Strukturen „aufzuweichen“ und
Neues hinzu zu fügen. Dieser „Umbau“ kann ohne Sorge vor „Einsturzgefahr“
geschehen, wenn die Hauptselbste als fundamentale Säulen bestehen bleiben, das
Bewusste Ich der Architekt wird.
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2. Der Klient stellt sich neben den Begleiter, und dieser fasst die Arbeit zusammen,
weist noch einmal auf alle in Erscheinung getretenen Teilselbste hin. Der Klient
nimmt nur wahr und äußert sich nicht dazu.
3. Danach kehrt der Klient auf den Platz des Bewussten Ichs zurück und wird
aufgefordert, die verschiedenen Selbste zu fühlen und sich gleichzeitig ihrer bewusst
zu sein. Dabei ist es hilfreich, dass der Begleiter seine eigenen Energien aktiviert, um
die entsprechenden Energien im Klienten zu unterstützen. So wird dessen Fähigkeit,
die Energien der verschiedenen Teilselbste wahrzunehmen und somit die
Entwicklung eines Bewussten Ichs zu fördern, dass dann entscheiden kann, wie es
die Energie nutzen will.
4. Für diese Abschlussarbeit muss genügend Zeit eingeplant werden, damit der
normale Kontakt wieder hergestellt werden kann. Es ist auch nicht ratsam, nach einer
solchen Sitzung direkt wieder ins Alltagsleben, Autofahren zurück zu kehren, sondern
sich erst durch ein wenig Ruhe ( Spaziergang, Tee trinken ) zu stabilisieren.
Der Umgang mit den dämonischen Energien
1. Als Grundlage für diese Arbeit muss der Begleiter sicher sein, dass der Klient über
ein Bewusstes Ich verfügt. Diese innere Instanz ist allein in der Lage, diese zu
bändigen; der Beschützer/ Bewacher und die Hauptselbste, die sie im Zaume hielten,
sind ja weitgehend ausgeschaltet . Dadurch besteht die Gefahr, dass eine
Identifikation mit dieser dämonischen Energie nicht aufgelöst wird.
Der Begleiter muss seine eigenen dämonischen Energien erforscht haben; das gilt
zwar auch für die anderen Selbste, ist hier aber von höchster Relevanz.
Wo Voice –Dialogue nicht hilfreich ist
Wie schon anfangs erwähnt gibt es Menschen, die sich mit der Vorstellung, dass wir
mehrere Teilpersönlichkeiten besitzen, nicht anfreunden können. Dann sollten wir
nichts erzwingen.
Menschen mit einer ernsthaften emotionalen Störung sind besser in einer Therapie
aufgehoben. Dasselbe gilt natürlich auch für Menschen, bei denen kein
reflektierendes Ich vorhanden ist, das sagen kann: „Das ist eine Stimme, die nun
spricht.“ Multiple Persönlichkeiten verfügen nicht über ein solches Ich – jede
Teilpersönlichkeit existiert autonom – die Stimmen wissen nichts voneinander,
wissen nicht, was die andere tut.
Schlusswort
Mit diesem Referat wollte ich die Zuhörer neugierig machen, sich mit dieser Methode
zu beschäftigen, sich selbst auf die „inneren Konferenzen“ einzulassen und die Kraft
eines Bewussten Ichs zu spüren, das uns hilft, einfacher zu leben.
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3.5 Anhang und Literatur
Literatur
Dieses Buch ist Grundlage für das Referat:
Du bist viele / Hal und Sidra Stone
München, 1994
Diese Bücher habe ich unterstützend benutzt:
Gestalt / Claudio Naranjo
Arbor Verlag, Freiamt; 1993
Einführung in die Integrative Therapie / Dorothea Rahm u.a.
Junfermannsche Verlagsbuchhandlung, Paderborn, 1993
Diese Bücher empfehle ich – weitgefasst zum Thema:
Umarme deine Wut / Thich Nhat Hanh
ISBN 3-89620-110-7
Die Kraft der Gedanken / Swami Sivananda
ISBN 3-922 477-94-1
Im Internet bibt es unter „Voice-Dialogue“ mehrere Einträge;
Dort habe ich auch noch weitere Bücher von Hal und Sidra Stone entdeckt:
Du bist richtig. Der innere Kritiker, 1996 Heyne Verlag
Es wird Zeit, dass du gehst. Frauen befreien sich von inneren Patriarchen, 1997
Kösel
Abenteuer Liebe. Lebendige Partnerschaft, 1997, Kösel
Referentin: Sabine Albrecht – II Theorie-Seminar; 02.09.2006
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