Aus: David Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Hrsg. Von Manfred Kühn. Hamburg: Meiner 2003 ABSCHNITT I Von den allgemeinen Prinzipien der Moral 4 Streitgespräche mit Menschen, die einen hartnäckigen Eigensinn in ihren Prinzipien beweisen, sind besonders ärgerlich, ausgenommen vielleicht solche mit vollkommen unaufrichtigen Personen, die eigentlich die Meinungen, die sie verteidigen, nicht selber vertreten, sondern an der Kontroverse aus einem bloß vorgegebenen Interesse, einem Geist des Widerspruchs oder einem Verlangen teilnehmen, Witz und Einfallsreichtum zu demonstrieren, welche den Rest der Menschheit übertreffen. (…) Diejenigen, welche die Realität von moralischen Unterscheidungen verneint haben, dürfen unter die unaufrichtig Streitenden gezählt werden. (…) 5 In den letzten Jahren hat eine Kontroverse begonnen, deren Untersuchung sehr viel lohnender ist, nämlich die über das Fundament der Moral: Ob sie auf der Vernunft oder auf dem Gefühl beruht, ob wir sie durch eine Kette von Argumenten und Induktion erkennen oder durch ein unmittelbares Gefühl und einen feineren inneren Sinn; ob die Moral, wie alle verläßlichen Urteile über Wahrheit und Falschheit, für jedes rationale und intelligente Wesen dieselbe sein soll, oder ob sie, wie die Wahrnehmungen von Schönheit und Häßlichkeit, voll und ganz auf der besonderen Struktur und Konstitution der menschlichen Gattung beruht. (…) 7 Obgleich diese Frage nach den allgemeinen Prinzipien der Moral interessant und wichtig ist, müssen wir uns jetzt nicht weiter mit Untersuchungen über sie aufhalten. Denn sollten wir so glücklich sein, im Fortgang dieser Untersuchung den wahren Ursprung der Moral zu entdecken, dann wird es leicht sein festzustellen, inwieweit entweder Gefühl oder Vernunft in alle Entscheidungen dieser Art einfließt. Um dieses Ziel zu erreichen, werden wir versuchen, einer sehr einfachen Methode zu folgen. Wir werden den Sachverhalt von geistigen Eigenschaften untersuchen, der das ausmacht, was wir im täglichen Leben 8 persönliches Verdienst nennen. Wir werden jede Eigenschaft des Gemüts untersuchen, die einen Menschen zum Gegenstand von Hochachtung und Zuneigung oder von Haß und Verachtung macht, jede Gewohnheit, Empfindung oder Fähigkeit, die, wenn sie auf eine Person angewandt werden, entweder Lob oder Tadel einschließen, und so Teil eines Lobliedes oder einer Satire seines Charakters und seines Benehmens werden können. Die spontane Einfühlung, die in dieser Hinsicht so allgemein unter den Menschen verbreitet ist, gibt dem Philosophen hinreichende Sicherheit, nie einen gänzlich falschen Katalog zu erstellen oder der Gefahr zu erliegen, die Gegenstände seiner Kontemplation aus dem Blick zu verlieren: Er muß nur für einen Augenblick in sein Herz schauen und überlegen, ob er möchte, daß ihm diese oder jene Eigenschaft zugeschrieben wird, und ob eine solche Zuweisung von einem Freund oder Feind ausginge. (…) Da dies eine Frage von Tatsachen, nicht von abstrakter Wissenschaft ist, können wir nur dann Erfolg erwarten, wenn wir die experimentelle Methode befolgen und allgemeine Maximen aus einem Vergleich besonderer Beispiele erschließen. Die andere Methode der Wissenschaft, bei der zuerst ein abstraktes Prinzip aufgestellt und dieses dann nachher durch verschiedene Schlüsse und Schlußfolgerungen aufgegliedert wird, ist vielleicht an sich vollkommener, aber sie paßt weniger zu den Unvollkommenheiten der menschlichen 9 Natur und ist eine häufige Quelle von Illusion und Irrtum bei diesen und anderen Themen. Die Menschen sind jetzt von ihrer Leidenschaft für Hypothesen und Systeme in der Naturphilosophie kuriert und vertrauen nur Argumenten, die auf Erfahrung beruhen. Es ist wirklich an der Zeit, daß. sie eine ähnliche Reform bei allen moralischen Untersuchungen anstreben und 1 jedes ethische System verwerfen, das nicht auf Tatsachen und .Beobachtungen beruht, gleichgültig wie subtil und einfallsreich es sein mag. Wir werden unsere Untersuchungen über dieses Thema mit der Betrachtung der sozialen Tugenden von Wohlwollen und Gerechtigkeit beginnen. Ihre Erklärung wird uns wahrscheinlich einen Weg zeigen, durch den die anderen erklärt werden 10 ABSCHNITT 2 Von dem Wohlwollen Der Beweis, daß unsere wohlwollenden oder sanftmütigeren Gefühle schätzenswert sind und daß sie immer die Billigung und .den guten Willen der Menschheit hervorrufen, darf vielleicht als ein überflüssiges Unternehmen angesehen werden. Die Attribute gesellig, gutmütig, menschlich, gütig, dankbar, freundlich, großzügig, wohltätig oder deren Entsprechungen sind in allen Sprachen bekannt, und sie drücken universell das höchste Verdienst aus, das die menschliche Natur zu erreichen fähig ist. (…) 11 Da aber unser Thema mehr spekulativ ist und nicht der praktischen 12 Ethik angehört, genügt es, wenn ich hier anmerke (was von allen, wie ich glaube, zugegeben wird), daß es keine Eigenschaften gibt, die den guten Willen und die Billigung der Menschheit mehr verdienen als Wohltätigkeit und Menschlichkeit, Freundschaft und Dankbarkeit, natürliche Zuneigung und Gemeinsinn oder was auch immer einem sanftmütigen Mitgefühl mit anderen entspringt und einer freigebigen Sorge um unsere Art und unser Geschlecht. Wo immer diese Eigenschaften auftreten, scheinen sie sich selbst auf eine gewisse Art jedem Betrachter mitzuteilen und für sich selbst die gleichen vorteilhaften und liebevollen Empfindungen hervorzurufen, die sie auch auf alle anderen ausüben. Teil 2 Wir können hier beobachten, daß, wenn ein menschlicher und wohltätiger Mensch gelobt wird, es einen Umstand gibt, der immer ausführlich betont wird, nämlich das Glück und die Befriedigung, die der Gesellschaft durch den Umgang mit ihm und durch seine guten Taten zukommen. (…) 14 Bei allen moralischen Bestimmungen ist dieser Umstand der öffentlichen Nützlichkeit prinzipiell immer Objekt der Betrachtung. Und sobald es einen Streit in der Philosophie oder im täglichen Leben über die Grenzen der Pflicht gibt, kann die Frage durch nichts mit größerer Sicherheit entschieden werden, als durch die Bestimmung der wahren Interessen der Menschheit. Wenn sich irgendeine falsche Meinung, die auf trügerischen Eindrücken beruht, als vorherrschend herausgestellt hat, dann revidieren wir diese erste Empfindung (sentiment) und ändern die Grenzen des moralisch Guten und Bösen erneut, sobald weitere Erfahrung und bessere Argumente uns genauere Begriffe des menschlichen Lebens geliefert haben. Das Geben von Almosen an gewöhnliche Bettler wird natürlich gelobt, weil es dem Bedürftigen und Mittellosen zu helfen scheint. Wenn wir aber bemerken, daß es Untätigkeit und Verführung verursachte, dann betrachten wir diese Art von Wohltätigkeit eher als Schwäche denn als Tugend. (…) 15 Luxus oder eine Verfeinerung der Vergnügen und Bequemlichkeiten des Lebens wurden lange verdächtigt, die Quelle jeder Korruption von Regierungen und die unmittelbare Ursache von Spaltung, Sezession, Bürgerkrieg und vollkommenem Verlust der Freiheit zu sein. Luxus wurde darum generell als ein Laster angesehen und war Gegenstand der Deklamation für alle Satiriker und strengen Moralisten. Diejenigen, die beweisen oder zu beweisen versuchen, daß solche Verfeinerungen eher den Fleiß, die Höflichkeit und die Künste stärken, revidieren unsere moralischen und politischen Empfindungen erneut und repräsentieren etwas als löblich und unschuldig, das vorher als schädlich oder tadelnswert betrachtet wurde. 2 Im Ganzen scheint es daher unbestreitbar, daß nichts einem menschlichen Geschöpf mehr Verdienst verleihen kann als die Empfindung eines starken Wohlwollens, und daß wenigstens ein Teil seines Verdienstes aus seiner Tendenz resultiert, die Interessen unserer Gattung zu befördern und der menschlichen Gesellschaft Glück zu bringen. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die heilsamen Folgen eines derartigen Charakters und einer derartigen Disposition und betrachten mit Wohlgefallen 16 und Freude, was einen derart guten Einfluß hat und ein derart wünschenswertes Ziel befördert. Die sozialen Tugenden werden niemals ohne ihre wohltätigen Tendenzen betrachtet und werden nie als unfruchtbar und fruchtlos angesehen. Das Glück der Menschheit, die Ordnung der Gesellschaft, die Harmonie der Familien und die gegenseitige Unterstützung von Freunden werden immer als das Resultat ihrer milden Herrschaft über die menschlichen Herzen angesehen. (…) 17 ABSCHNITT 3 Von der Gerechtigkeit Ein Versuch zu beweisen, daß die Gerechtigkeit für die Gesellschaft nützlich ist und daß darum zumindest ein Teil ihres Verdienstes aus dieser Überlegung entstehen muß, wäre überflüssig. Daß der öffentliche Nutzen der einzige Ursprung der Gerechtigkeit ist und daß die Reflexion auf die nützlichen Folgen dieser Tugend die einzige Grundlage für ihr Verdienst ist, stellt eine interessantere und wichtigere Behauptung dar und ist darum eher ein angemessener Gegenstand unserer Prüfung und Untersuchung. Nehmen wir einmal an, daß die Natur dem menschlichen Geschlecht einen so reichlichen Überfluß an allen äußeren Bequemlichkeiten gegeben hätte, daß sich jedes Individuum ohne jede Ungewißheit gegenüber der Zukunft, ohne jede Sorge oder Fleiß von unserer Seite mit allem ausgestattet findet, was auch sein unersättlichster Appetit oder seine üppigste Phantasie wünschen oder verlangen kann. Wir wollen weiterhin annehmen, daß seine natürliche Schönheit allen erworbenen Schmuck übertrifft. Die immerwährende Milde der Jahreszeiten macht alle Kleidung oder Bedeckung überflüssig. Die wilden Pflanzen geben ihm die wohlschmeckendste Nahrung und die klaren Quellen den reichhaltigsten Trunk. Keine mühselige Beschäftigung ist notwendig: kein Pflügen, keine Schiffahrt. Musik, Dichtung und Denken stellen sein einziges Geschäft dar: Gespräch, Heiterkeit und Freundschaft sind seine einzigen Vergnügungen. Es scheint offensichtlich, daß in einer derartigen Situation jede andere soziale Tugend blühen und sich zehnfach ausdehnen würde, daß man aber von der vorsichtigen und eifersüchtigen Tugend der Gerechtigkeit nicht einmal auch nur 18 geträumt hätte. Denn welcher Absicht würde die Aufteilung der Güter dienen, wenn jeder schon mehr als genug hat? Warum Eigentum entstehen lassen, wenn es nicht verletzt werden kann? Warum soll ich diesen Gegenstand mein nennen, wenn ich nur meine Hand ausstrecken muß, um einen gleichwertigen zu erhalten, sollte einmal ein anderer ihn wegnehmen? Gerechtigkeit, weil vollkommen nutzlos, wäre in diesem Falle ein leeres Zeremoniell und könnte unmöglich einen Platz im Katalog der Tugenden beanspruchen. (…) 20 Um diese Wahrheit noch evidenter werden zu lassen, wollen wir die vorhergehenden Annahmen umkehren und, indem wir alles zum entgegengesetzten Extrem führen, betrachten, was die Folge dieser neuen Situation sein würde. (…) Wenn eine belagerte Stadt eine Hungersnot erleidet, können wir uns dann vorstellen, daß die Menschen die Mittel für das Überleben vor Augen haben und dennoch ihr Leben verlieren, nur weil sie sorgfältig das berücksichtigen, was in anderen Situationen die Regeln der Gerechtigkeit wären? Der Nutzen und der Zweck dieser Tugend sind die Beschaffung von Glück und Sicherheit durch die Bewahrung der Ordnung in der Gesellschaft. Wenn aber die Gesellschaft im Begriff ist, an extremer Not zugrunde zu gehen, kann kein Übel von Gewalttätigkeit und Unrecht befürchtet 3 21 werden, das größer als diese Not ist; und ein jeder kann dann mit allen Mitteln, die von der Besonnenheit vorgeschrieben oder von der Menschlichkeit zugelassen werden, für sich selbst sorgen. (…) 24 Je mehr wir unsere Ansichten des menschlichen Lebens variieren und je neuer und außergewöhnlicher das Licht ist, in dem wir es betrachten, desto mehr wird die Überzeugung wachsen, 25 daß der Ursprung, den wir hier der Tugend der Gerechtigkeit zugewiesen haben, richtig und zufriedenstellend ist. Wenn es eine Art von Lebewesen gibt, die mit den Menschen zusammenleben und die, obwohl rational, so schwach an Körper und Geist sind, daß sie sich in keiner Weise wehren oder uns die Folgen ihrer Verstimmung fühlen lassen können, dann haben wir die Pflicht, sie aufgrund der Gesetze der Menschlichkeit milde zu behandeln. Wir sind ihnen gegenüber aber, genau genommen, nicht dem Zwang der Gerechtigkeit unterworfen. Sie hätten auch kein Recht auf Besitz, durch das ihre willkürlichen Herren von ihrem Besitz ausgeschlossen würden. Unser Verhältnis zu ihnen könnte nicht Gesellschaft genannt werden, die einen Grad von Gleichheit voraussetzt, sondern wäre durch absolute Macht auf der einen Seite und knechtische Unterwerfung auf der anderen gekennzeichnet. Was uns gefällt, müssen sie sofort abgeben. Unsere Erlaubnis ist die einzige Art und Weise, in der sie Eigentum besitzen. Unser Mitleid und unsere 26 Freundlichkeit sind die einzigen Kontrollen, durch die sie unseren gesetzlosen Willen einschränken. Und da durch die Ausübung unserer Macht, die so fest in der Natur begründet ist, nie ein Nachteil entsteht, würden die Kontrollen der Gerechtigkeit und des Eigentums, da vollkommen nutzlos, nie einen Platz in einer so ungleichen Konföderation haben. Dies ist offensichtlich das Verhältnis, in dem sich Menschen zu Tieren befinden; und inwieweit letztere Vernunft besitzen, sollen andere entscheiden. Die große Überlegenheit der zivilisierten Europäer über die barbarischen Indianer hat uns zu der Vorstellung verleitet, daß wir auf ähnliche Weise zu ihnen stehen, und hat uns dazu geführt, alle Schranken der Gerechtigkeit und sogar der Menschlichkeit im Umgang mit ihnen aufzuheben. In vielen Ländern wird das weibliche Geschlecht zu einer ähnlichen Sklaverei erniedrigt und, im Gegensatz zu ihren Herrschern und Meistern, von jedem Eigentum ausgeschlossen. Obwohl aber die Männer, wenn sie sich einig sind, in allen Ländern die notwendige körperliche Macht haben, diese schwere Tyrannei aufrechtzuerhalten, sind die Frauen als ihre schönen Begleiterinnen durch Anspielungen, Benehmen und Charme in der Lage, diesen Bund zu brechen und mit dem anderen Geschlecht alle Rechte und Privilegien der Gesellschaft zu teilen. [Zur Forderung der Gleichheit an Eigentum:] 29 Es kann im ganzen so scheinen, als wäre die Regel der Gleichheit, weil höchst nützlich, nicht vollkommen undurchführbar, sondern schon in unvollkommener Form in einigen Republiken verwirklicht worden – besonders in Sparta, wo sie, wie man sagt, mit großem Nutzen verbunden gewesen ist; ganz zu schweigen davon, daß die Landgesetze, die so oft in Rom aufgestellt und in vielen griechischen Städten angewandt wurden, alle von der allgemeinen Idee der Nützlichkeit dieses Prinzips ausgingen. Historiker und sogar der gesunde Menschenverstand können uns jedoch zeigen, daß diese Ideen der vollkommenen Gleichheit, gleichgültig wie verführerisch sie erscheinen mögen, letztlich unmöglich zu verwirklichen sind; und wären sie dies nicht, dann wären sie für die menschliche Gesellschaft höchst schädlich. Auch wenn die Besitztümer der Menschen einmal vollkommen angeglichen werden könnten, so würden die verschiedenen Grade der Kunst, der Vorsicht und des Fleißes diese Gleichheit sofort wieder zerstören. Unterdrückte man diese Tugenden, würde man andererseits die schlimmste Armut schaffen, und statt einer Verringerung der Armut und der Bettelei würden diese für die ganze Gemeinschaft unvermeidbar werden. Außerdem wäre die strengste Inquisition 4 notwendig, um jede Erscheinung der Ungleichheit sofort zu bemerken, und die strengste Rechtsprechung, um sie zu bestrafen und zu beseitigen. Abgesehen davon aber, daß eine solche Autorität bald in Tyrannei 30 ausarten und mit großer Parteilichkeit ausgeübt werden würde, wer könnte in der Situation, wie sie hier vorausgesetzt wird, eine derartige Autorität wirklich besitzen? Vollkommene Gleichheit des Eigentums zerstört allen Gehorsam, schwächt die Autorität des Magistrats extrem und muß die Macht ebenso wie das Eigentum nahezu restlos nivellieren. (…) 39 Das einzige, was einen Zweifel an der von mir verteidigten Theorie hervorrufen wird, ist der Einfluß der Erziehung und der erlernten Sitten, die uns üblicherweise Ungerechtigkeit mißbilligen lassen, so daß wir uns nicht in jedem Fall einer unmittelbaren Reflexion auf die schädlichen Folgen bewußt sind. (…) Die Sache ist allerdings nicht so dunkel, daß wir nicht schon im täglichen Leben jederzeit auf das Prinzip des öffentlichen Nutzens zurückgreifen und uns fragen würden: Wohin würde die Welt kommen, wenn sich eine derartige Praxis durchsetzte? Wie könnte die Gesellschaft bei derartigen Regelwidrigkeiten bestehen? (…) 41 ABSCHNITT 4 Von der bürgerlichen Gesellschaft Wenn jeder Mensch genügend Weisheit besäße, um das starke Interesse zu bemerken, das ihn zur Befolgung von Gerechtigkeit und Fairneß verpflichtet, und wenn er zusätzlich genügend Stärke des Gemüts besäße, ein allgemeines und entferntes Interesse statt der Versuchungen eines zeitweiligen Vergnügens und Vorteils beharrlich zu verfolgen, dann hätte es niemals so etwas wie eine Regierung oder politische Gesellschaft gegeben, sondern jeder Mensch hätte in vollem Frieden und vollkommener Harmonie mit allen anderen gelebt. Warum brauchen wir positives Recht, wenn die natürliche Gerechtigkeit selbst schon eine hinreichende Einschränkung ist? Warum soll man einen Magistrat erschaffen, wenn es Unordnung und Unrecht niemals gibt? Warum soll unsere angeborene Freiheit eingeschränkt werden, wenn ihre dauernde Ausübung in jedem Fall und in jedem Umfang unschuldig und wohltätig ist? Es ist klar, daß die Regierung, wenn sie vollkommen nutzlos wäre, niemals entstanden wäre, und daß das einzige Fundament der Bürgerpflicht der Vorteil ist, den sie einer Gesellschaft bringt, indem sie Frieden und Ordnung unter der Menschheit aufrechterhält. (…) 46 Bei Spielgesellschaften gibt es Gesetze für den Ablauf des Spiels. Diese Regeln sind für jedes Spiel anders. Die Gründung solcher Gesellschaften ist, wie ich zugebe, frivol, und die Regeln sind, wenn auch nicht vollkommen, so doch weitgehend launenhaft und willkürlich. In dieser Hinsicht besteht ein substantieller Unterschied zwischen ihnen und den Regeln der Gerechtigkeit, Treue und Loyalität. Die allgemeinen Gesellschaften der Menschen sind absolut notwendig für das Bestehen der menschlichen Gattung, und der öffentliche Vorteil, der die Moral beherrscht, ist unausweichlich in der menschlichen Natur und in der Welt, in der wir leben, begründet. Der Vergleich ist darum in dieser Hinsicht sehr unvollkommen. Wir können von ihm nur die Notwendigkeit von Regeln für alles menschliche Beisammensein lernen. Die Menschen können ohne Regeln nicht einmal auf der Straße aneinander vorbeifahren. Fuhrleute, Kutscher und Postillione haben Prinzipien, nach denen sie einander ausweichen, 47 und diese beruhen hauptsächlich auf gegenseitiger Erleichterung und Bequemlichkeit. Manchmal sind sie auch willkürlich und hängen zumindest von einer launenhaften Analogie ab, wie viele der Argumente von Rechtsanwälten. Um die Sache noch weiter zu treiben, können wir anmerken, daß es für Menschen sogar unmöglich ist, sich gegenseitig ohne Statuten und Maximen und einer Idee von Gerechtigkeit und Ehre zu ermorden. Der Krieg hat ebenso seine Gesetze wie der Frieden, und selbst der Krieg, den Sportler 5 wie Ringer, Boxer, Knittelfechter und Gladiatoren ausführen, wird von festen Prinzipien geregelt. Gemeinsame Interessen und gemeinsamer Nutzen bringen unfehlbar einen Standard von richtig und falsch bei den betroffenen Parteien hervor. ABSCHNITT 5 Warum Gerechtigkeit gefällt Teil 1 (…) 54 Nützlichkeit ist angenehm und ruft unsere Zustimmung hervor. Dies ist eine Tatsache, die durch die tägliche Beobachtung untermauert wird. Aber nützlich? Wofür? Sicherlich für jemandes Interesse. Doch wessen Interesse? Sicher nicht allein unser eigenes Interesse, denn unsere Billigung reicht oft weiter. Es muß darum das Interesse derjenigen sein, denen durch den Charakter oder die gebilligte Handlung gedient ist; und wir können schließen, daß diese Menschen uns nicht vollkommen gleichgültig sind, wie entfernt auch immer sie von uns sein mögen. Durch die Aufstellung dieses Prinzips können wir eine wichtige Quelle der moralischen Unterscheidungen erkennen. Teil 2 Selbstliebe ist ein Prinzip der menschlichen Natur von einer derart großen Kraft und das Interesse eines jeden Individuums im allgemeinen so eng mit dem der Gemeinschaft verbunden, daß dies die Philosophen entschuldigt, die sich einbildeten, unsere ganze Sorge um die Öffentlichkeit reduziere sich auf die Sorge um unser eigenes Glück und unsere eigene Erhaltung. Sie sahen jeden Moment Beispiele der Zustimmung oder des Tadels, der 55 Befriedigung oder der Unzufriedenheit gegenüber Charakteren und Handlungen; sie nannten die Gegenstände dieser Empfindungen Tugenden und Laster; sie beobachteten, daß die ersten eine Tendenz besaßen, das Glück, und die andern, das Unglück der Menschheit zu fördern; sie fragten, ob es möglich sei, daß uns eine kontinuierliche Rücksicht auf das menschliche Geschlecht oder ein uneigennütziges Mißfallen der Wohlfahrt oder der Verletzung anderer auszeichnen könnte; sie fanden es einfacher, all diese Empfindungen als Veränderungen der Selbstliebe zu betrachten. Und für diese Einheit des Prinzips fanden sie den scheinbaren Grund in jener so offenkundigen und engen Verbindung von öffentlichen und individuellen Interessen. Trotz dieser häufigen Verwirrung von Interessen ist es aber leicht, etwas anzustellen, das Naturphilosophen seit Lord Bacon gern das experimentum crucis nennen oder das Experiment, das angesichts eines Zweifels oder einer Zweideutigkeit den richtigen Weg weist, Wir haben Beispiele aufgewiesen, in denen, das private Interesse von dem öffentlichen verschieden war oder ihm sogar widersprach; und doch beobachteten wir, daß sich die moralische Empfindung erhielt, obwohl die Interessen auseinandergingen. Und wo immer diese verschiedenen Interessen merklich übereinstimmten, fanden wir stets einen sinnfälligen Zuwachs der Empfindung und eine stärkere Zuneigung zur Tugend und größere Verachtung des Lasters, also zu dem, was wir angemessenerweise Dankbarkeit und Rache nennen. Überzeugt von diesen Beispielen, müssen wir die Theorie zurückweisen, die alle moralischen Empfindungen durch das Prinzip der Selbstliebe erklärt. Wir müssen eine eher auf die Allgemeinheit gerichtete Zuneigung annehmen und zugeben, daß uns die Interessen der Gesellschaft sogar um ihrer selbst willen nicht vollkommen gleichgültig sind. Nützlichkeit ist nur eine Tendenz zu einem bestimmten Ziele, und sie ist etwas, das uns als ein Mittel zum Zweck gefällt. Die Idee, daß uns etwas als Mittel zu einem Zweck gefällt, ohne daß uns der Zweck gefällt, konstituiert einen begrifflichen Selbstwiderspruch. Wenn die Nützlichkeit darum eine Quelle der moralischen Empfindungen ist, und sie nicht immer als das verstanden wird, was uns nützt, so 56 folgt daraus, daß alles, was zum Glück der Gesellschaft beiträgt, sich selbst direkt unserer Billigung und unserem guten Willen empfiehlt. Dies ist ein Prinzip, das zu einem großen 6 Teil den Ursprung der Moralität erklärt. Und warum sollten wir verworrene und fernliegende Systeme suchen, wenn es eines gibt, das so offensichtlich natürlich ist.(…) 67 Wenn wir die Prinzipien der menschlichen Natur betrachten, wie sie in der täglichen Erfahrung und Beobachtung erscheinen, dann müssen wir a priori schließen, daß es für ein Geschöpf wie den Menschen ebenso unmöglich ist, der Wohlfahrt und dem Unglück seiner Mitgeschöpfe gegenüber vollkommen gleichgültig zu sein, wie es ihm unmöglich ist, nicht unmittelbar und ohne weitere Rücksicht oder Betrachtung das als gut zu bezeichnen, was das Glück fördert, und das als schlecht, was zum Unglück führt, sofern nicht etwas durch eine bestimmte Vorliebe hervorgerufen wurde. Dies sind die ungefähren Grundlinien oder der Entwurf eines allgemeinen Unterschieds zwischen Handlungen. Und in dem Maße, in dem die Menschlichkeit einer Person zunimmt, wächst nicht nur seine Verbundenheit mit denen, die verletzt oder gerettet wurden, sondern auch seine lebendige Auffassung ihres Unglücks oder Glücks. Der Tadel und die Billigung, die durch diese Erfahrungen hervorgerufen werden, erwerben eine entsprechende Macht. Es ist nicht notwendig, daß eine großzügige Handlung, die in einer alten Geschichte oder fremden Zeitung nur erwähnt wird, derartig starke Gefühle von Beifall und Bewunderung hervorrufen sollte. Tugend, die so weit entfernt ist, ähnelt einem Fixstern, der so unendlich weit entfernt ist, daß er die Sinne weder durch Licht noch durch Hitze erregt, obwohl er dem Auge der Vernunft so hell wie die Sonne am Mittag erscheinen kann. Wenn uns diese Tugend durch Bekanntschaft oder Verbindung mit den Personen oder auch nur durch eine eindrucksvolle Darstellung des Falles nähergebracht wird, dann werden unsere Herzen sofort davon eingenommen, 68 unser Mitgefühl belebt und unsere kühle Billigung in die wärmste Empfindung von Freundschaft und Aufmerksamkeit verwandelt. Diese Dinge scheinen notwendige und unfehlbare Folgen der allgemeinen Prinzipien der menschlichen Natur zu sein, wie sie im täglichen Leben und in der täglichen Praxis entdeckt werden. (…) Es scheint eine Tatsache zu sein, daß der Umstand des Nutzens bei allen Dingen eine Quelle des Lobs und der Billigung ist, daß man sich bei allen moralischen Entscheidungen über das Verdienst oder die Schädlichkeit von Handlungen ständig darauf beruft, daß er die einzige Quelle der Hochschätzung ist, die man der Gerechtigkeit, Treue, Ehre, Bürgerpflicht und Keuschheit entgegenbringt, daß er untrennbar ist von allen anderen sozialen Tugenden wie die der Menschlichkeit, Großzügigkeit, Barmherzigkeit, Höflichkeit, Milde, Gnade und Mäßigung, und daß er, mit einem Wort, das Fundament des wichtigsten Teils der Moral ist, der unsere Verbindung mit der Menschheit und unseren Mitgeschöpfen zeigt. .Es scheint auch, daß uns bei unserer allgemeinen Billigung von Charakteren und Sitten die nützliche Tendenz der sozialen Tugenden nicht durch Rücksicht auf Selbstinteressen bewegt, sondern daß sie einen allgemeineren und ausgedehnteren Einfluß hat. Es scheint, daß uns eine Tendenz zum öffentlichen Wohl und zur Förderung von Frieden, Harmonie und Ordnung in der Gesellschaft immer für die sozialen Tugenden einnimmt, weil es die wohlwollenden Prinzipien unserer Natur anregt. Und weiterhin scheint dadurch bestätigt zu werden, daß diese Prinzipien der Menschlichkeit und des Mitgefühls so tief in all unsere Empfindungen eindringen und einen derart mächtigen Einfluß haben, daß sie die stärkste Ablehnung und den stärksten Beifall erregen können. Die gegenwärtige Theorie ist das einfache Resultat all dieser Argumente, wovon sich jedes auf gleichförmige Erfahrung und Beobachtung stützt. 69 Wäre es zweifelhaft, ob es derartige Prinzipien wie Menschlichkeit oder eine Sorge um andere in unserer Natur gibt, dann sollten wir dennoch die Macht des wohlwollenden Prinzips von den zahllosen Beispielen lernen, in denen alles, was eine Tendenz hat, die Interessen der Gesellschaft zu fördern, den höchsten Beifall findet, da es für eine Sache vollkommen unmöglich ist, uns als Mittel zu einem Zweck zu gefallen, wenn uns der Zweck vollkommen gleichgültig ist. Andererseits, wenn es zweifelhaft wäre, ob unserer Natur ein allgemeines Prinzip des moralischen 7 Tadels und der Billigung eingepflanzt wäre, dann sollten wir dennoch aus den zahllosen Beispielen des Einflusses der Menschlichkeit schließen, daß jedes Ding, welches die Interessen der Gesellschaft fördert, Vergnügen, und was schädlich ist, Unbehagen verbreiten muß. Wenn aber diese unterschiedlichen Reflexionen und Beobachtungen übereinstimmen und zu derselben Schlußfolgerung führen, müssen sie ihr dann nicht eine unbestreitbare Evidenz verleihen? ABSCHNITT 9 Schluß Teil 2 Nachdem ich die moralische Billigung, die Verdienst oder Tugend begleitet, erklärt habe, muß nun nur noch unsere mit Eigeninteresse verbundene Verpflichtung ihr gegenüber betrachtet werden. Dabei muß untersucht werden, ob nicht jeder Mensch, der an seinem eigenen Glück und seiner eigenen Wohlfahrt interessiert ist, seinen Profit am besten in der Erfüllung einer jeden Tugend finden wird. Wenn dies aus der vorgehenden Theorie klar hervorgeht, dann werden wir mit Zufriedenheit darauf reflektieren, daß wir Prinzipien angeführt haben, die nicht nur, wie wir hoffen, den Test der Vernunft und Untersuchung bestanden haben, sondern auch zur Erweiterung des menschlichen Lebens und zur Verbesserung der Moralität und sozialen Tugend beitragen. Obwohl die philosophische Wahrheit eines jeden Urteils in keiner Weise von seiner Tendenz abhängt, die Interessen der Gesellschaft zu fördern, zeigt ein Mann nur schlechtes Benehmen, wenn er eine Theorie vorträgt und dann zugeben muß, daß sie zu einer gefährlichen und schädlichen Praxis führt, wie wahr auch immer sie ist. Warum in den Winkeln der menschlichen Natur kratzen, wenn dies nur Ärger schafft? Warum die Pest aus dem Loch ausgraben, in dem sie vergraben ist? Man kann die Originalität deiner Untersuchungen bewundern, aber deine Systeme werden verachtet werden. Und die Menschheit wird darin übereinstimmen, daß sie auf jeden Fall in ein ewiges Schweigen und Vergessen gehüllt werden, auch wenn man sie nicht widerlegen kann. Wahrheiten, die der Gesellschaft schädlich sind, werden, wenn es derartige geben sollte, Irrtümern weichen, die heilsam und vorteilhaft sind. Doch welche philosophischen Wahrheiten können der Gesellschaft mehr nutzen als jene, die hier vorgestellt worden sind, die die Tugend in all ihren echten und ansprechendsten Reizen 119 darstellen und uns erlauben, sich ihr mit Leichtigkeit, Vertrauen und Zuneigung zu nähern? Das häßliche Kleid, mit dem viele Theologen und einige Philosophen sie bedeckt haben, fällt ab, und es zeigt sich nichts anderes als Zärtlichkeit, Menschlichkeit, Wohltätigkeit, Freundlichkeit, ja, zu angebrachten Zeiten sogar Spiel, Ausgelassenheit und Fröhlichkeit. Sie spricht nicht von nutzlosen Enthaltsamkeiten und Härten, Leiden und Selbstverneinung. Sie behauptet, daß es ihr einziger Zweck ist, ihre Anhänger und die ganze Menschheit in jedem Moment ihrer Existenz möglicherweise fröhlich und glücklich zu machen. Auch gibt sie freiwillig kein einziges Vergnügen auf, sondern höchstens in der Hoffnung auf ausgiebige Kompensation zu irgendeiner späteren Lebenszeit. Die einzige Anstrengung, die sie fordert, ist die genaue Berechnung und die fortdauernde Wahl des größeren Glücks. Und wenn irgendein strenger Heuchler, ein Feind von Glück und Vergnügen, ihr nahekommt, dann weist sie ihn entweder als Scheinheiligen und Betrüger zurück, oder, wenn sie ihn in ihre Partei einläßt, dann weist sie ihm den am wenigsten favorisierten Platz unter den Anhängern zu. Um alle bildlichen Ausdrücke zu vermeiden, können wir in der Tat fragen: Welche Hoffnung können wir jemals haben, alle Menschen in einer Praxis zu vereinigen, die wir als streng und rigoros erklären? Oder, welche Theorie der Moral kann jemals ein wirkliches Ziel haben, wenn sie nicht im Detail zeigt, daß alle Pflichten, die sie empfiehlt, auch im wahren Interesse des Individuums liegen? Der besondere Vorteil des vorangegangenen Systems scheint zu sein, daß es angemessene Mittel für diesen Zweck angibt. (…) 8 124 ANHANG I Von dem moralischen Gefühl Wenn die gerade vorgeschlagene Hypothese angenommen wird, dann wird es uns jetzt leicht fallen, eine Antwort auf die am Anfang gestellte Frage nach den allgemeinen Prinzipien der Moral zu geben. Wir hatten die Beantwortung dieser Frage aufgeschoben, weil wir nicht in komplizierte und für moralische Diskurse unpassende Spekulationen verwickelt werden wollten. Jetzt aber dürfen wir sie wieder aufnehmen und untersuchen, inwieweit entweder Vernunft oder Gefühl in alle unsere Entscheidungen über Lob und Tadel einfließt. Da der Nutzen einer jeden Eigenschaft oder Handlung eine wichtige Grundlage des moralischen Lobs sein soll, ist es offensichtlich, daß die Vernunft in jeder Entscheidung dieser Art eine beträchtliche Rolle spielen muß; denn nur dieses Vermögen kann uns über die Tendenz von Eigenschaften und Handlungen Auskunft geben und ihre nützlichen Folgen für die Gesellschaft und deren Eigentümer selbst aufzeigen. In vielen Fällen ist dieser Sachverhalt sehr umstritten. Es mag Zweifel geben; entgegengesetzte Interessen können entstehen; und es kann sein, daß eine Seite wegen sehr schöner Aussichten und einem kleinen Übergewicht an Nutzen bevorzugt wird. Dies ist in Fragen der Gerechtigkeit besonders bemerkenswert, was bei der Art des Nutzens, der zu dieser Tugend gehört, auch nur zu erwarten ist. Wenn jedes einzelne Beispiel der Gerechtigkeit für die Gesellschaft so nützlich wäre wie jedes Beispiel der Wohltätigkeit, dann wäre dies ein einfacherer Fall, der selten Anlaß zu großen Kontroversen gäbe. Weil aber einzelne Beispiele der Gerechtigkeit in ihrer ersten und unmittelbaren Tendenz oft schädlich 58 sind und ihr Vorteil für die Gesellschaft nur aus der Beobachtung der allgemeinen Regel und dem Einverständnis und der Verbindung von verschiedenen Personen in demselben rechtmäßigen Verhalten resultiert, ist dieser Fall komplizierter und verwickelter. Die verschiedenen Verhältnisse der Gesellschaft, die verschiedenen Folgen einer jeden Praxis, die verschiedenen Interessen, die vorgebracht werden können – all diese Dinge sind in vielen Fällen zweifelhaft und Gegenstand ausgedehnter Diskussion und Untersuchung. Ziel der bürgerlichen Gesetze ist es, alle Fragen der Gerechtigkeit festzulegen. Die Debatten der Rechtswissenschaftler, die Reflexionen der Politiker, die Präzedenzfälle aus der Geschichte und aus den öffentlichen Archiven, sie alle haben denselben Zweck. Bei so vielen komplizierten Zweifeln, die aus dunklen und widersprüchlichen Nützlichkeiten entstehen, ist für die richtige Bestimmung häufig eine vollkommen zuverlässige Vernunft oder eine vollkommene Urteilskraft notwendig. Obwohl aber die Vernunft, wenn sie vollständig informiert und ausgebildet ist, hinreichend sein mag, um uns über die schädlichen und nützlichen Folgen von Eigenschaften und Handlungen aufzuklären, so ist sie jedoch allein nicht hinreichend, um moralischen Tadel oder moralisches Lob hervorzurufen. Nutzen ist immer eine Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel, und wenn das Ziel uns vollkommen gleichgültig wäre, dann würden wir dieselbe Gleichgültigkeit den Mitteln gegenüber fühlen. Es ist notwendig, daß sich hier ein Gefühl einstellt, das bewirkt, daß wir das Nützliche dem Schädlichen vorziehen. Dieses Gefühl kann nichts anderes sein als eine Freude über das Glück der Menschheit und eine Empörung über deren Elend, da dies die verschiedenen Ziele sind, auf deren Verwirklichung Tugend und Laster hinzielen. Die Vernunft belehrt uns hier über die verschiedenen Tendenzen der Handlungen und die Menschlichkeit trifft eine Entscheidung zugunsten derjenigen Handlungen, die nützlich und wohltätig sind. (...) 128 Dies alles ist Metaphysik, rufst du. (...) Die Hypothese, die von uns verteidigt wird, ist einfach. Sie sagt, daß die Moralitat durch das Gefühl bestimmt ist. Sie definiert die Tugend als jede geistige Handlung oder Eigenschaft, die in einem Zuschauer das angenehme Gefühl der Billigung hervorruft, und das Laster als dessen Gegenteil. Dann fahren wir fort, eine einfache Tatsache zu untersuchen, nämlich, welche Handlungen diesen Einfluß auf uns haben. Wir betrachten alle 9 Umstände, in denen diese Handlungen miteinander übereinstimmen, und versuchen, daraus einige allgemeine Beobachtungen hinsichtlich dieser Gefühle zu ziehen. Wenn du dies Metaphysik nennst und hierbei etwas Abstruses findest, dann solltest du nur den Schluß ziehen, daß deine geistige Verfassung nicht für die moralischen Wissenschaften geeignet ist. (...) 132 Es scheint offenkundig, daß die letzten Zwecke menschlicher Handlungen in keinem einzigen Fall durch die Vernunft erklärt werden können, sondern daß sie sich ganz allein den Gefühlen und Neigungen empfehlen, ohne in irgendeiner Weise von den intellektuellen Vemögen abzuhängen. (...) 133 Es kann nicht immer wieder einen Grund geben, warum etwas anderes gewollt wird. Es muß etwas geben, daß um seiner selbst willen und wegen seiner unmittelbaren Harmonie und Einstimmung mit dem menschlichen Gefühl gewollt wird. Weil aber die Tugend ein Zweck ist und um ihrer selbst willen, ohne Bezahlung oder Belohnung, ganz allein wegen der unmittelbaren Befriedigung gewollt wird, ist ein gewisses Gefühl notwendig, das von der Tugend berührt wird, irgendein Geschmack oder eine Empfindung oder wie immer man es nennen soll, das zwischen dem moralisch Guten und Schlechten unterscheidet, das eine annimmt und das andere zurückweist. So werden die deutlichen Grenzen und Aufgaben der Vernunft und des Geschmacks leicht erkannt. Die Vernunft ist für uns die Quelle der Erkenntnis des Wahren und Falschen. Der Geschmack ist die Quelle des Gefühls von Schönheit und Mißbildung, Laster und Tugend. Die eine entdeckt Gegenstände, wie sie wirklich in der Natur vorkommen, ohne ihnen etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen. Der andere besitzt ein produktives Vermögen und vergoldet oder färbt alle natürlichen Gegenstände mit solchen Farben, die er sich von dem inneren Gefühl leiht, und so schöpft er in gewisser Weise etwas Neues. Die Vernunft ist kühl und distanziert. Sie ist kein Motiv der Handlung und zeigt dem Impuls, den wir von der Lust oder der Neigung empfangen, nur die Mittel, durch die wir Glück erreichen oder Unglück vermeiden können. Der Geschmack wird ein Motiv der Handlung und ist die erste Quelle oder der erste Impuls für Verlangen und Wollen, weil er Freude oder Schmerz erzeugt. Die Vernunft führt uns von den bekannten oder vermuteten Umständen und Verhältnissen zur Entdeckung des Verborgenen und Unbekannten. Nachdem alle Umstände und Verhältnisse bekannt sind, läßt uns der Geschmack durch das Ganze ein neues Gefühl von Tadel oder Lob fühlen. Der 134 Maßstab der einen, in der Natur der Dinge gegründet, ist ewig und unbeugsam – und wäre es der Wille des höchsten Wesens, der ihn beugen wollte. Der Maßstab des anderen, der aus der inneren Natur und der Konstitution der Tiere resultiert, hängt letztlich vom höchsten Willen ab, der jedem Wesen seine eigene Natur gegeben und die verschiedenen Klassen und Ordnungen des Seins eingerichtet hat. 135 ANHANG 2 Von der Selbstliebe Es gibt ein Prinzip, das anscheinend von vielen akzeptiert wird und mit jeder Tugend und jedem moralischen Gefühl vollkommen unvereinbar ist; und da es nur aus einer höchst verdorbenen Einstellung entstehen kann, so trägt es auch wiederum dazu bei, diese Verderbtheit weiter zu fördern. Dieses Prinzip besagt, daß alles Wohlwollen nichts als Scheinheiligkeit, daß jede Freundschaft nichts als Betrug, daß das Gemeinschaftsgefühl ein schlechter Witz und die Treue eine Falle ist, durch die Vertrauen und Sicherheit eingefangen werden. Und obwohl wir alle eigentlich nur unsere eigenen Interessen verfolgen, tragen wir diese schönen Verkleidungen, um die Wachsamkeit anderer zu verringern, so daß sie unserer Schlauheit und Manipulation noch stärker ausgesetzt sind. Es ist leicht zu sehen, welches Herz derjenige haben muß, der diese Prinzipien befürwortet und durch kein inneres Gefühl darauf hingewiesen wird, daß eine derart schädliche 10 Theorie falsch ist. Weiterhin ist auch leicht zu sehen, wie wenig Zuneigung und Wohlwollen er zu einer Gattung haben kann, die er in so häßlichen Farben malt und die er so wenig der Dankbarkeit oder der Erwiderung von Zuneigung fähig hält. Selbst wenn wir diese Prinzipien nicht gänzlich einem verdorbenen Herzen zuschreiben wollen, so müssen wir sie doch zumindest auf eine sehr sorglose und flüchtige Untersuchung zurückführen. Oberflächliche Denker, die viele falsche Versprechen bei den Menschen beobachtet haben und die vielleicht selbst keinen starken Widerstand gegen diese in ihrer eigenen Einstellung fühlen, könnten in der Tat einen allgemeinen und voreiligen Schluß ziehen, daß alles gleichermaßen korrupt ist und daß die Menschen, anders als alle anderen Tiere und sogar alle anderen Arten des Seins, keinen Grad von gut oder schlecht besitzen, sondern in jedem Fall die 136 gleichen Geschöpfe mit verschiedenen Verkleidungen und Erscheinungen sind. Es gibt ein anderes Prinzip, das dem ersten ähnlich ist, auf dem Philosophen mit großem Nachdruck bestanden haben und das die Grundlage vieler Systeme gewesen ist. Nach diesem Prinzip gibt es keine Leidenschaft, die uneigennützig ist, ganz gleich, ob wir Zärtlichkeit wirklich fühlen oder uns nur einbilden, ein Gefühl für andere zu haben. Die freigebigste Freundschaft, wie ehtlich sie auch sein mag, ist nichts als eine Form der Selbstliebe. Wir suchen nur unsere eigene Befriedigung, wenn wir uns intensiv mit Plänen für die Freiheit und das Glück der Menschheit beschäftigen, auch wenn wir uns dessen nicht bewußt sind. Durch eine Wendung der Einbildungskraft, eine Verfeinerung des Reflexionsvermögens und durch eine schwärmerische Leidenschaft scheinen wir an den Interessen anderer teilzunehmen und bilden uns ein, von allen selbstsüchtigen Überlegungen frei zu sein. Aber der freigebigste Patriot und der größte Geizhals, der tapferste Held und der verächtlichste Feigling haben im Grunde in jeder Handlung das gleiche Interesse an ihrem eigenen Glück und Wohlergehen. Wer aus der scheinbaren Tendenz dieser Meinung den Schluß zieht, daß diejenigen, die sie vertreten, unmöglich selbst das wahre Gefühl der Wohltätigkeit empfinden oder ein Interesse an der eigentlichen Tugend haben können, wird oft durch die Praxis widerlegt. Redlichkeit und Ehre waren dem Epikur und seiner Schule nicht unbekannt. Atticus und Horaz scheinen wegen ihrer durch Reflexion kultivierten Natur eine ebenso großzügige und freundliche Einstellung gehabt zu haben wie irgendein Schüler der strengeren Schulen. Und unter den modernen Denkern scheinen Hobbes und Locke, die das System der Selbstliebe in der Moral vertreten haben, vorbildlich gelebt zu haben, und dies, obwohl Hobbes von keinen religiösen Skrupeln beeinflußt wurde, die diese Defekte seiner Philosophie hätten beheben können. Ein Epikureer oder ein Hobbesianer gibt natürlich zu, daß es so etwas wie Freundschaft ohne Verstellung oder Verschleierung wirklich gibt, obwohl er versuchen würde, die Elemente 137 dieser Leidenschaft durch eine chemische Analyse der Philosophie, wenn ich es so nennen darf, auf etwas anderes zu reduzieren. Er würde versuchen, jede Zuneigung dadurch zu erklären, daß die Selbstliebe durch eine besondere Ausrichtung der Einbildungskraft in eine Anzahl von verschiedenen Erscheinungen verzerrt und verformt wird. Da aber dieselbe Ausrichtung der Einbildungskraft nicht jeden Menschen beherrscht und auch der ursprünglichen Leidenschaft nicht dieselbe Richtung gibt, so ist dies genug, die größten Unterschiede zwischen menschlichen Charakteren hervorzubringen und den einen tugendhaft und menschlich, den anderen gefährlich und als einen Menschen von niederen Interessen zu bezeichnen. Ich achte den Menschen, dessen Selbstliebe ihn so geleitet hat, daß er Anteilnahme an anderen empfindet und so der Gesellschaft nützlich ist, wie auch immer dies geschehen ist. Genauso hasse oder verachte ich denjenigen, der keinerlei Interesse an irgendeiner Sache hat, die nicht seine eigene Befriedigung oder eigenen Freuden betrifft. Du würdest vergeblich versuchen mir einzureden, daß diese Charaktere, obwohl scheinbar einander entgegengesetzt, letztlich dieselben sind und daß nur eine sehr unscheinbare Veränderung des Denkens den ganzen Unterschied zwischen ihnen ausmacht. Abgesehen von 11 diesen unwichtigen Unterschieden, scheinen mir beide Charaktere in der Praxis durchaus beständig und unverändetlich zu sein. Auch kann ich in diesem Gebiet nicht mehr als in anderen finden, daß die natürlichen Empfindungen, die von den allgemeinen Erscheinungen der Dinge hervorgerufen werden, leicht durch subtile Reflexionen über die kleinsten Einzelheiten des Ursprungs dieser Erscheinungen zerstört werden. Erweckt nicht die lebendige und fröhliche Farbe eines Gesichtsausdrucks das Gefühl von Zufriedenheit und Freude in mir, auch wenn ich aus der Philosophie weiß, daß jeder Unterschied in der Farbe des Gesichts aus den geringsten Unterschieden der Dichte in den kleinsten Bestandteilen der Haut resultiert, durch welche die Oberfläche in der Lage ist, eine der ursprünglichen Farben des Lichts zu reflektieren und die anderen zu absorbieren? 138 Obwohl die Frage nach der universellen oder eingeschränkten Selbstsucht des Menschen vielleicht nicht so wichtig für die Moralität und Praxis ist, wie man im allgemeinen annimmt, so hat sie mit Sicherheit Folgen für die spekulative Wissenschaft über die menschliche Natur und ist ein legitimer Gegenstand der Neugier und Forschung. Es mag darum nicht unangebracht sein, ihr hier einige Reflexionen zu widmen. Der offensichtlichste Einwand gegen die Hypothese der Selbstsucht ist, daß es der größten Anstrengung der Philosophie bedarf, ein derart außergewöhnliches Paradox zu beweisen, weil es dem allgemeinen Gefühl und den vollkommen vorurteilsfreien Begriffen widerspricht. Dem unbesorgtesten Zuschauer scheint es, daß es Anlagen wie Wohlwollen und Großmut, Neigungen wie Liebe, Freundschaft, Mitleid und Dankbarkeit gibt. Die alltägliche Sprache und Beobachtung haben Ursachen, Wirkungen, Gegenstände und Verlauf dieser Empfindungen benannt und sie klar von denen der selbstsüchtigen Leidenschaften getrennt. Da die Dinge offensichtlich so zu sein scheinen, müssen wir sie so akzeptieren, wenn wir nicht durch eine gründlichere Untersuchung der menschlichen Natur eine Hypothese entdecken, die vielleicht beweist, daß die vorherigen Neigungen nur Formen der Selbstsucht sind. Alle Versuche, dies zu zeigen, waren bislang fruchtlos und scheinen nur ein Resultat der Vorliebe für Einfachheit zu sein, die so viele 139 falsche Argumente in der Philosophie nervorgebracht hat. Ich werde hier nicht auf irgendwelche Einzelheiten dieses Themas eingehen. Viele fähige Philosophen haben die Unzulänglichkeit dieser Systeme aufgezeigt. Und ich werde hier als bewiesen ansehen, was meiner Meinung nach die geringste Überlegung jedem uneigennützigen Forscher sofort als evident erscheinen lassen wird. Die Natur dieses Themas gibt uns jedoch die größte Zuversicht, daß auch in Zukunft kein besseres System erfunden werden wird, um den Ursprung der wohlwollenden aus den selbstsüchtigen Neigungen zu erklären und all die verschiedenen Gefühle des menschlichen Geistes auf etwas vollkommen Einfaches zu reduzieren. Der Fall ist in dieser Art von Philosophie nicht identisch mit dem in der Physik. So manche Hypothese über die Natur, die den primären Erscheinungen widerspricht, hat sich nach genauerer Untersuchung als wohlbegründet und überzeugend erwiesen. Beispiele dieser Art sind so zahlreich, daß ein Philosoph, der ebenso einsichtig wie geistreich war, die Behauptung gewagt hat, daß, wenn es mehr als eine Ursprungsart für ein Phänomen gibt, die Wahrscheinlichkeit dafür, daß es eine Wirkung der am wenigsten offensichtlichen Ursachen ist, groß ist. Bei allen Untersuchungen über den Ursprung unserer Neigungen und der inneren Tätigkeit des menschlichen Geistes hingegen findet sich die Wahrscheinlichkeit immer auf der anderen Seite. Die einfachste und offensichtlichste Ursache, die hier irgendeinem Phänomen zugeordnet werden kann, ist wahrscheinlich die wahre. Wenn ein Philosoph sich auf sehr spitzfindige und raffinierte Reflexionen verlassen muß, um sein System zu erklären, und sie als wesentlich für die Entstehung einer jeden Leidenschaft oder Empfindung ansehen muß, dann haben wir einen Grund, äußerst vorsichtig gegenüber einer so trügerischen Hypothese zu sein. Die Neigungen sind gar nicht 12 empfänglich für einen Eindruck, der aus der Kultivierung der Vernunft oder der Einbildungskraft resultiert; und 140 wir entdecken in jedem Fall, daß eine heftige Anstrengung der Vernunft und der Einbildungskraft infolge der eingeschränkten Fassungskraft des menschlichen Geistes alle Tätigkeit der Affektionen notwendig zerstört. Die uns beherrschenden Motive oder Intentionen sind uns in der Tat oft nicht bewußt, wenn sie mit anderen Motiven vermengt und verwechselt werden, die der Geist aus Eitelkeit oder Selbsttäuschung gern als wichtiger annehmen möchte. Es gibt aber kein Beispiel dafür, daß eine derartige Täuschung jemals aus der Verworrenheit und Unübersichtlichkeit des Motivs herrührte. Ein Mensch, der seinen Freund und Helfer verloren hat, mag sich selbst schmeicheln, daß all seine Trauer aus großzügigen Gefühlen entsteht, ohne jede Beimischung von Überlegungen, die parteiisch sind und Eigeninteresse zeigen. Wie können wir jedoch glauben, daß die innige Zärtlichkeit desjenigen, der um einen werten Freund trauert, der seine Unterstützung und seinen Schutz brauchte, aus einer metaphysischen Überlegung über das eigene Interesse entsteht, das keine Grundlage oder Realität hat? Wenn wir den Ursprung der Leidenschaft aus derart verworrenen Reflexionen erklären, dann können wir ebenso gut glauben, daß die winzigen Räder und Federn, die sich in einer Taschenuhr befinden, einen beladenen Wagen antreiben. Man glaubt, daß Tiere Freundlichkeit gegenüber ihrer eigenen Gattung und gegenüber der unseren zeigen können, und in diesem Fall gibt es nicht den geringsten Grund, Verstellung oder List anzunehmen. Sollen wir auch alle ihre Gefühle aus raffinierten Deduktionen des Eigeninteresses ableiten? Wenn wir aber ein derart uneigennütziges Wohlwollen bei der niedrigeren Gattung annehmen, nach welcher Regel der Analogie können wir sie dann der höheren absprechen? Die Liebe zwischen den Geschlechtern bringt eine Selbstzufriedenheit und Hilfsbereitschaft hervor, die von der Befriedigung einer Begierde sehr verschieden ist. Zärtlichkeit gegenüber den Nachkommen wiegt bei allen fühlenden Wesen gemeinhin schon die stärksten Motive der Selbstliebe auf und hängt in keiner Weise von diesem Gefühl ab. Welches Interesse sollte eine liebende Mutter im Auge haben, die ihre eigene Gesundheit 141 durch die unermüdliche Pflege ihres kranken Kindes verliert, um dann später dahinzusiechen und aus Trauer zu sterben, wenn sie durch dessen Tod von der Sklaverei dieser Pflege befreit wird? Ist Dankbarkeit eine Wirkung des menschlichen Herzens oder ist sie nur ein Wort ohne jeden Sinn und jede Bedeutung? Ziehen wir nicht die Gesellschaft eines Menschen der eines anderen vor; und haben wir nicht den Wunsch, daß es unserem Freund gutgeht, auch wenn Abwesenheit oder Tod es uns nicht erlauben würden, daran in irgendeiner Weise teilzuhaben? Was ist es, wenn nicht unsere Zuneigung und Sorge, die uns gemeinhin daran Anteil nehmen lassen, selbst wenn wir noch leben und bei ihm sind? Dies und tausend andere Dinge mehr sind Zeichen eines allgemeinen Wohlwollens in der menschlichen Natur, auch wenn uns kein wirkliches Interesse an den Gegenstand bindet. Und es scheinr schwer erklärbar zu sein, wie ein eingebildetes Interesse, das als solches bekannt und anerkannt ist, die Quelle irgendeiner Leidenschaft oder irgendeines Gefühls sein kann. Bis jetzt ist noch keine befriedigende Hypothese in dieser Hinsicht entdeckt worden, und es besteht auch nicht die geringste Wahrscheinlichkeit, daß künftigem Fleiß der Menschen jemals größerer Erfolg beschieden sein wird. Wenn wir diesen Sachverhalt richtig betrachten, dann werden wir außerdem finden, daß die Hypothese eines uneigennützigen, von der Selbstliebe verschiedenen Wohlwollens in Wirklichkeit einfacher ist und auch in größerem Einklang mit der Analogie der Natur steht als jene Hypothese, die vorgibt, alle Freundschaft und Humanität in das Prinzip der Selbstliebe aufzulösen. Es gibt körperliche Wünsche oder Begierden, die von jedermann akzeptiert werden, die notwendigerweise allen sinnlichen Vergnügen vorausgehen und uns unmittelbar dazu antreiben, den Besitz des Gegenstandes anzustreben. So haben Hunger und Durst Essen und Trinken zum Ziel, und aus der 13 Befriedigung dieser primären Begierden entsteht ein Vergnügen, das Ziel einer anderen Art von Wunsch oder Neigung werden kann, die dann sekundär und parteiisch ist. In gleicher Weise 142 gibt es geistige Leidenschaften, durch die wir interesselos und unmittelbar bewegt werden, besondere Ziele, wie Ruhm, Macht oder Rache anzustreben. Wenn man diese Dinge erreicht hat, dann entsteht aus der erfüllten Neigung ein angenehmes Gefühl der Freude. Die Natur muß auf grund der inneren Struktur und Konstitution des Geistes einen ursprünglichen Hang zum Ruhm hervorrufen, ehe wir irgendein Vergnügen aus seiner Erwerbung erhalten oder ihn aus Selbstsucht oder einem Wunsch nach Glück anstreben können. Bin ich nicht eitel, kann ich keine Freude am Lob haben. Wäre ich ohne jeglichen Ehrgeiz, würde mich Macht nicht erfreuen, wäre ich nicht zornig, dann würde die Bestrafung eines Gegners mir vollkommen gleichgültig sein. In all diesen Fällen gibt es eine Leidenschaft, die unmittelbar auf den Gegenstand zielt und ihn zu unserem Gut oder Glück macht. Ebenso gibt es auch sekundäre Leidenschaften, die später entstehen und denselben Gegenstand als Teil unseres Glücks anstreben, sobald unsere ursprünglichen Neigungen ihn so konstituiert haben. Gäbe es keine Art von Lust, die der Selbstliebe vorausgeht, dann könnte sich diese Vorliebe kaum jemals zeigen, da wir in diesem Fall nur wenige und schwache Schmerzen und Vergnügen fühlen würden und wenig Unglück oder Glück vermeiden oder anzustreben hätten. Welches Problem nun liegt in der Annahme, daß etwas Ähnliches für Wohlwollen und Freundschaft gilt und daß wir wegen der ursprünglichen Ausrichtung unseres Temperaments einen Wunsch nach Glück oder Gut eines anderen fühlen können, das durch dieselbe Neigung zu unserem eigenen Gut wird und später aufgrund der Vereinigung der Motive des Wohlwollens und der eigenen Befriedigung selbst angestrebt wird? Wer versteht nicht, daß die Rache allein aufgrund der Macht dieser Leidenschaft so eifrig verfolgt werden kann, daß sie uns dazu verleitet, jede Rücksicht auf Bequemlichkeit bewußt zu mißachten und unsere Seele selbst in die Wunden zu legen, die wir einem Feind zufügen? Wie bösartig muß eine Philosophie sein, die der Humanität 143 und der Freundschaft nicht dieselben Vorzüge zugestehen will, die sie ohne jeden Disput den dunkleren Leidenschaften der Feindschaft und der Mißgunst einräumt? Eine derartige Philosophie ähnelt mehr einer Satire als einer wahren Analyse und Beschreibung der menschlichen Natur. Sie mag eine gute Grundlage für paradoxen Witz und Spott sein, aber sie ist sehr schlecht für ernsthaftes Folgern und Denken. 14