Dürrenmatt.Theater

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Friedrich Dürrenmatt
(1921 – 1990)
aus: Zum Tode Ernst Ginsbergs
Die Frage ist aufgeworfen worden nach dem Wesen des Theaters im wissenschaftlichen Zeitalter, ob das
Theater in einer Welt des wissenschaftlichen Denkens noch das gleiche sein könne wie in einer nicht
wissenschaftlich denkenden Welt, es ist eine Frage nach der Funktion des Theaters. Als Position ist sich das
Theater gleich geblieben. Das wissenschaftliche Denken ist ein Denken in begrifflich scharf gestellten
Fragen, ein Denken in Problemen, denn Wissenschaft ist nur möglich, wenn das Objekt der Wissenschaft
begrifflich dargestellt werden kann, und wenn wir heute feststellen, daß der Mensch nicht nur die Natur,
sondern sich selbst und sein Zusammenleben mit den anderen Menschen wissenschaftlich untersucht, so
meinen wir damit, daß er sich als Problem sieht, vergessen aber, daß es auch eine nicht wissenschaftliche
Problematik gibt, zum Beispiel ein philosophisches oder theologisches Denken, auch hier steht der Mensch
begrifflich scharf gestellten Fragen, Problemen gegenüber. Der Mensch denkt immer in Begriffen und stellt
aus den Begriffen seine Probleme auf, aber er selbst lebt in einer Welt der Konflikte, in einer Welt, in der
sich die Einsichten, Motive und Leidenschaften widerstreiten, er lebt in ständiger Kollision bald mit sich
selbst, bald mit der Familie, bald mit dem Staat. In dieser Welt der Konflikte steht aber auch das Theater, das
ist seine gleichbleibende Position, die Frage nach seiner Funktion lautet, ob sich das Theater als Mittel eigne,
die Welt der Konflikte vom Problem her zu ändern, eine Frage, die sich für den Dramatiker in der Form
stellt, ob er vom Problem oder vom Konflikt auszugehen habe.
Ich möchte diese Frage hier nur aufwerfen, sie nicht in allen ihren Aspekten beleuchten, Verwirrung entsteht
nur, wenn die Frage nicht gesehen wird, wenn die Meinung aufkommt, die Dramatik gehe an sich von einem
Problem aus. Grundsätzlich scheinen beide Methoden möglich. Geht der Dramatiker vom Problem aus, so
hat er es auch zu lösen, die Handlung als Illustration dieses Vorgangs kann er jedoch nur als Konflikt
darstellen. Die Lösung eines Problems ist etwas Positives, sie ist die Beantwortung einer Fragestellung, sei sie
nun in Form einer Moral oder einer Doktrin, sie befriedigt den Intellekt, doch stellt sich ihr die Wirklichkeit
entgegen, denn die Lösung eines Problems ist nicht auch schon die Lösung des Konflikts, der dem Problem
zugrunde liegt, der Konflikt als das Konkrete ist vielschichtiger als das Problem, als das Abstrakte. Geht der
Dramatiker vom Konflikt aus, braucht er keine Lösung, sondern nur ein Ende, seine Handlung ist keine
Illustration eines Problems, sondern die Darstellung eines Konflikts, bei der die verschiedenen Probleme, die
der Konflikt stellt, zwar gezeigt werden können, jedoch nicht gelöst werden müssen. Die Beendigung eines
Konflikts kann glücklich oder unglücklich ausfallen, der Dramatiker hat nicht ein Problem zu lösen, sondern
seine Geschichte zu Ende zu denken. Beim Dramatiker vom Problem her ist die Frage nach Positiv oder
Negativ sinnvoll, beim andern ist sie sinnlos, denn die Frage, ob Coriolan, König Lear, Tartuffe oder der
Dorfrichter Adam positive oder negative Helden seien, ist Stumpfsinn.
Diese Frage, meine Damen und Herren, nach der Ausgangsposition meines eigenen Arbeitens, ging mir zum
ersten Male am Beispiel des Hamlet auf, den Ernst Ginsberg spielte, an einem Stück, worin alles, was sich
ereignet, jede Ungeheuerlichkeit und jeder unglückliche Zufall, nicht einem Problem, sondern einem
Konflikt zuliebe geschieht; die Antwort, die ich darauf zu geben hatte, war nicht schlagartig, als eine
Erleuchtung, sondern erst nachträglich, zuerst noch dunkel und vage, als Ahnung des Weges, den ich
einzuschlagen hatte, von nun an nämlich nur vom Konflikt auszugehen. Nicht aus Mißachtung den
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Problemen gegenüber, sondern aus besorgter Achtung vor ihnen, weil sie bedenklich werden, werden sie
nicht immer vom Konflikte her, vom Besonderen, korrigiert. Ich glaube an eine natürliche Arbeitseinteilung
der menschlichen Gesellschaft. In ihr hat der Schriftsteller und mit ihm der Schauspieler den Menschen in
seinen Konflikten sichtbar zu machen, ihn zu dokumentieren, der Denker, in welcher Form er sich auch
präsentiert, hat die Probleme des Menschen zu finden und als Probleme zu lösen, die Menschheit braucht
beide Darstellungsweisen, die denkerische als Vorschlag zur Lösung ihrer Konflikte, die künstlerische als
Warnung, in ihren Lösungsversuchen nicht unmenschlich zu werden.
aus: 21 PUNKTE ZU DEN PHYSIKERN
1
Ich gehe nicht von einer These, sondern von einer Geschichte aus.
2
Geht man von einer Geschichte aus, muß sie zu Ende gedacht werden.
3
Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmst-mögliche Wendung
genommen hat.
4
Die schlimmst-mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.
5
Die Kunst des Dramatikers besteht darin, in einer Handlung den Zufall möglichst wirksam
einzusetzen.
6
Träger einer dramatischen Handlung sind Menschen.
7
Der Zufall in einer dramatischen Handlung besteht darin, wann und wo wer zufällig wem
begegnet.
8
Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.
9
Planmäßig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie
dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: das, was
sie befürchteten, was sie zu vermeiden suchten [z. B. Ödipus].
10
Eine solche Geschichte ist zwar grotesk, aber nicht absurd [sinnwidrig].
11
Sie ist paradox.
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19
Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit.
20
Wer dem Paradoxen gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus.
21
Die Dramatik kann den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht
zwingen, ihr standzuhalten oder sie gar zu bewältigen.
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