Rede des Präsidenten des Sozialverbandes VdK Deutschland, Minister a. D. Walter Hirrlinger, beim Forum des Sozialverbandes VdK Nordrhein-Westfalen am 24. November 2006: Reformkritik als Verbandsaufgabe: Wir leben in einer schwieriger gewordenen Welt. Die Solidarität nimmt ab, der Egoismus nimmt zu. Jeder versucht, seine Probleme zu lösen, auch wenn es auf Kosten der Allgemeinheit geht. Dabei ist die Verständigung der Menschen untereinander die Voraussetzung dafür, dass es auch zu einer Verständigung unter den Völkern kommt. Denn Intoleranz, Hass und Feindschaft sowie Diskriminierungen von Minderheiten verhindern ein vertrauensvolles Miteinander. Dies aber ist die Grundlage des Wohlergehens. Unsere Situation bietet ein ernüchterndes Bild. Deutschland entwickelt sich sozial- und gesellschaftspolitisch fast um Jahrzehnte zurück. Denn die Sozialpolitik steht immer wieder im Brennpunkt der innenpolitischen Auseinandersetzungen. Dabei sollte nicht verkannt werden, dass zuweilen zumindest einzelne Konfliktlagen denen der Weimarer Republik verblüffend ähneln. Wiederum stehen Verbände der Unternehmer für eine Krisenbewältigung durch Reallohnsenkung und Sozialleistungsabbau. Dabei gibt es keinen Zweifel: Das Sozialstaatsprinzip verbietet eine solche Politik der einseitigen Lastenabwälzung auf Arbeitnehmer und schwächere Bevölkerungsteile. Zwar erwachsen aus dem Sozialstaatsprinzip unmittelbar keine Ansprüche des einzelnen. Dazu ist in der Regel das Tätig werden des Gesetzgebers erforderlich. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wie im Sozialgesetzbuch wird als wesentlicher Inhalt des Sozialstaatsprinzips heraus gearbeitet: Soziale Sicherheit als Voraussetzung für Menschenwürde und Freiheit. Das Bundesverfassungsgericht meint zwar, dass ein unbegrenztes subjektives Anspruchsdenken auf Kosten der Allgemeinheit mit dem Sozialstaatsprinzip unvereinbar sei, weil das grundlegende Ziel des Sozialstaatsprinzips darin bestehe, dem einzelnen die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Lebensführung zu eröffnen. Trotzdem dürfe der Staat den einzelnen nicht allein lassen. Hilfe zur Selbsthilfe ist eine entscheidende Absage an Subsidiaritätsvorstellungen, die unter dem Deckmantel des Leistungsprinzips abwarten wollen, bis der sozial Schwache versagt, ehe man ihm von Staatswegen hilft. Wenn man allerdings die Maßnahmen der Einschnitte ins soziale Netz betrachtet, dann hat man den Eindruck, dass die Politiker sich zuweilen ungern an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erinnern. Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass bei vielen politischen Auseinandersetzungen mit der Keule des Bundesverfassungsgerichts gedroht wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nicht instituionalisierte SelbsthilfeEffektivitäten der Bürger ihren Platz im Gefüge unseres Staates haben. Das Bundesverfassungsgericht hat schließlich festgestellt: Es lässt sich nicht bezweifeln, dass außerparlamentarische Aktionen vielfältiger Art denkbar sind, die einer legitimen Einwirkung auf das Parlament dienen können, vor allem soweit sie dazu bestimmt sind, 1 die Abgeordneten über die bei den Wählern zu bestimmten politischen Fragen vorhandenen Meinungen zu unterrichten. Damit wird im Sozialstaatsprinzip selbst der teilweise rivalisierende Dualismus zwischen staatlicher Sozialpolitik und Selbsthilfe der Betroffenen deutlich gemacht. Als Ausdruck unseres demokratischen und sozialen Bundesstaates, wie er in Artikel 20 des Grundgesetzes festgelegt ist, haben unsere Sozialleistungszweige dem einzelnen einerseits die Menschenwürde sichernde Freiheit im Rahmen des notwendigen und angemessenen nach Maßgabe der grundgesetzlichen Werteordnung, insbesondere unter Beachtung der Grundrechte auf Selbstverantwortlichkeit, Entfaltungsfreiheit und Chancengleichheit zu ermöglichen und zu gewährleisten und andererseits für die staatliche Gemeinschaft dazu beizutragen, dass deren gesellschaftspolitisch für notwendig erachtete Aufgaben in Abstimmung mit den übrigen Aufgaben des Staates erfüllt werden. Leitbild unseres Rechts der sozialen Sicherheit ist also nicht der total verwaltete Sozialuntertan, der dem Staat zu leisten hat, was dieser auch immer fordert, sondern vielmehr der selbstverantwortliche, entfaltungsfreie und chancengleiche Bürger. Er kann zwar sozial eingebunden werden, soweit dies unerlässlich ist, damit der Staat allen Bürgern gegenüber seine Aufgaben erfüllen kann, muss aber stets Ausgangs- und Zielpunkt unserer grundgesetzlichen Ordnung bleiben. Das bedeutet: Auch Wirtschafts-, Finanz- und Steuerrechthaben der Menschenwürde in Freiheit zu dienen und nicht umgekehrt, selbst wenn sich das offenbar nicht immer mit dem Staatsverständnis einiger Politiker in Einklang bringen lässt. Deshalb ist schon zu fragen, ob sich der Begriff des sozialen Rechtsstaates in einem System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung der gesetzlichen Freiheit erschöpft, allerdings mit der Staatszielbestimmung, dass sich die staatlichen Gewalten der Mühseligen und Beladenen besonders anzunehmen hätten, wie Ernst Forsthof meinte, oder ob die sozialstaatliche und die egalitäre Komponente unseres Staates zu dominieren hat mit der Maßgabe, dass das Rechtsstaatliche nur noch verwaltungsmäßig Bedeutung haben soll, wobei das Parlament weitgehend bestimmt, was „Gleich" ist und was dem einzelnen frommt. Der soziale Rechtsstaat muss vielmehr - auch nach seiner Sozialrechtsgeschichte - formell und materiell eine eigenständige Ausprägung in einer Gesellschaft haben, die sich im staatlichen Verband zur Freiheit der Person, gleichzeitig aber auch zur sozialen Gerechtigkeit und dabei insbesondere zur Chancengleichheit bekennt. Wenn Sie so wollen, dann habe ich das Credo des Sozialverbandes VdK Deutschland dargestellt, wie ich es sehe. Was ergibt sich daraus? Wenn man die Entwicklung betrachtet, wird die Arbeitslosigkeit immer mehr zu einem sozialpolitischen Kernproblem. Solange die Unternehmen im Gesundschrumpfen ihr Ertrags-Heil suchen, kostet das Arbeitsplätze. Viele Arbeitsplätze, die heute verloren gehen, stehen aber auch morgen, selbst in Boomzeiten, für Arbeitssuchende nicht zur Verfügung. Sie sind dann zwischenzeitlich ins Ausland verlagert oder wegrationalisiert. Ich kann nur davor warnen, die demographische Entwicklung mit der künftigen Verschiebung des Generationsgefüges zum Anlass zu nehmen, notwendige soziale Leistungen überdimensional einzuschränken oder gar abzubauen. Das Sozialstaatsprinzip steht in der Bewährung. Es darf nicht zu einer Leerformel erstarren, sondern muss wirksam den aktuellen und drohenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen begegnen. Aber was muss der Umbau des Sozialstaates bewirken? Ziel muss sein, die Lebensqualität zu verbessern, vorhandene soziale Sicherungslücken zu schließen und nicht neue zu eröffnen, ausreichende soziale Dienste zu schaffen, die dauernde 2 Finanzierbarkeit des Sozialleistungssystems zu sichern und lastengerecht zu verteilen. Solche Ziele werden nicht durch kurzatmige Kostendämpfungsmaßnahmen, sondern nur durch strukturelle, sozial gerechte und ordnungspolitisch richtige Reformen erreicht. Aber diese müssen sozial verträglich sein. Nicht die Sozialleistungsempfänger allein, die den größeren Teil aus Beiträgen finanziert haben, dürfen zur Lastentragung herangezogen werden. Auch die Besserverdienenden müssen ihren Beitrag leisten. Und hier sieht die Rechnung bisher unausgeglichen aus. Denken Sie an die Kosten der Wiedervereinigung, die überwiegend aus dem Sozialleistungssystem finanziert wurden. Warum hat man dies nicht über Steuern geleistet, damit alle Bürgerinnen und Bürger nach ihrem Leistungsvermögen daran beteiligt gewesen wären? Davon will man heute nichts mehr wissen. Aber das ist ein wesentlicher Punkt für die schwierige Finanzlage unserer Sozialsysteme. Gerade deshalb haben wir immer wieder die Forderung erhoben: Der Umbau des Sozialstaates muss gerecht gestaltet werden. Und wir haben immer dazugefügt: Wer den notwendigen Umbau zu einem einseitigen Abbau nutzen will, wer Klientel denken vor die Beachtung des Sozialstaatsgrundsatzes stellt, den werden wir mit allen demokratischen Mittel bekämpfen und wir werden dies auch in der Öffentlichkeit und bei unseren Mitgliedern deutlich machen. Das haben wir bei der Agenda 2010 getan und werden es auch weiter tun. Denn wir wollen, dass wieder zur „sozialen" Marktwirtschaft zurückgekehrt wird. Eine Marktwirtschaft, die nicht die notwendige soziale Abfederung der allgemeinen Lebensrisiken garantiert, kann nicht erfolgreich sein und gefährdet auf Dauer den sozialen Frieden in unserem Land, der als Standortfaktor immer wieder unterschätzt wird. Marktwirtschaft pur heißt nichts anderes als mindestens ein Drittel unserer Gesellschaft der Armut zu überantworten. Ein einseitiger Abbau des Sozialstaates anstelle eines Umbaus wird sich früher oder später als Rückschlag gegen die Marktwirtschaft und die sie stützende Sozialordnung erweisen. Davor warnen wir! Denn Markt und Wettbewerb sind Mittel und Instrument. Sie als alleinige ultima ratio gelten zu lassen, führt in die Irre. Denn die Würde des Menschen darf nicht auf der Strecke bleiben. Ein Beispiel für viele andere: Durch die Rentenreform 2001 ist in die Rentenformel ein Kürzungsfaktor von 0,5 Prozent für die Jahre 2003 bis 2010 eingefügt worden, danach um 0,25 Prozent. Trotzdem hat man ab 2005 den Nachhaltigkeitsfaktor zusätzlich eingeführt, der eine weitere Kürzung von 0,5 Prozent bei der Rentenanpassung bringt. Das bedeutet: Auch weiter wird es keine Rentenanpassung geben. Dafür wurde ab 01.07.2005 Zahnersatz und Krankengeld für Versicherte und Rentner allein beitragspflichtig. Für die Rentner bedeutete dies eine erneute Kürzung ihrer laufenden Rente. Dabei können sie kein Krankengeld bekommen, obwohl sie dafür Beiträge zahlen. Wie sollen sie noch an Gerechtigkeit glauben? Die Beispiele könnten auf anderen Gebieten der Sozialpolitik fortgesetzt werden. Lassen Sie mich deutlich sagen: Jede Einzelmaßnahme ist diskussionswürdig. Aber die Kumulation, die Summe der Einschnitte gleichzeitig, das ist die Grausamkeit, wie sie von den sozial Betroffenen empfunden wird. Und daraus resultiert die Angst und Verunsicherung. Man hätte vieles von dem, was man jetzt mit Gewalt durchgedrückt hat, leichter haben können, wenn man es nicht auf einmal gemacht hätte. Deshalb braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Politikverdrossenheit wächst. 3 Vor allem entsteht bei den Menschen der Eindruck, dass es sich grundsätzlich nur um Kürzungen handelt, ohne dass eine Zukunftsvision vorhanden ist. Warum begreift man beispielsweise nicht, dass die Renten sich vielfach in Richtung Grundsicherung bewegen. Wenn die Hälfte der männlichen Rentner in Deutschland eine monatliche Rente von 1.000 Euro und darunter hat, dann wird doch sichtbar, dass dies für junge Menschen kein Zukunftstraum sein kann. Gerade deshalb sollte doch überlegt werden, ob nicht mein Traum verwirklicht werden könnte, ein zweites Standbein auf dem Rentensektor zu schaffen. Die Schweiz hat es uns doch vorgemacht. Dort hat man 1985 ein Gesetz gemacht, wonach alle Erwerbstätigen in einer betrieblichen Altersversorgung obligatorisch versichert werden müssen. Das wünsche ich mir auch für Deutschland. Diesen Vorgang halte ich für wichtig, weil er zeigt: Man muss Menschen deutlich machen, dass nicht nur gespart werden muss, sondern dass auch sinnvolles Vorgehen zweckmäßig ist. Es ist doch nicht mehr vermittelbar, wenn man bei Hartz IV zunächst einmal den Lebensversicherungsvertrag kündigen muss oder Vermögen aufzubrauchen hat. Wie soll man jungen Menschen deutlich machen, dass sich private Altersversorgung lohnt? Wie soll man jemanden beibringen können, dass er nicht sagt, ich verbrauche mein Geld und es wird schon jemand da sein, der mir im späteren Ernstfall hilft. Es sind doch schlechte Beispiele, die geliefert werden und eigentlich kontraproduktiv wirken. Die Politik muss wieder lernen, Gesetze in der Breite zu beachten und nicht jedes Gesetz für sich. Denn die Wirkungen sind zuweilen verheerend, wenn man keine Gesamtübersicht mehr hat. Dies und noch mehr gehört dazu, wenn wir sagen: Wir müssen zuweilen der Pfahl im Fleisch sein, unsere warnende Stimme erheben, auch wenn es nicht allen Politikern passt. Wir dürfen uns nicht irre machen lassen. Die Menschen vertrauen uns und dieses Vertrauen dürfen wir nicht verspielen! Und ein Letztes: Wie sieht es mit der politischen Moral aus, wenn gleichzeitig bekannt wird, dass Politiker mehrfach kassieren. Man kann nicht predigen, die Leute sollen Wasser trinken und selbst gießt man sich Wein ein. Das vereinbart sich nicht miteinander. Und deshalb ist es die Aufgabe des Sozialverbandes VdK Deutschland, den Finger in die Wunden zu legen. Das tun wir gegenwärtig und werden es weiter tun. Denn Deutschland braucht ein mahnendes Gewissen. Und als solches betrachten wir uns ohne Selbstüberschätzung. Denn die vielen Briefe und E-Mails, die wir ständig bekommen, bestärken uns in unserer Meinung und Absicht. Deshalb die Bitte: Begleiten Sie uns dabei und helfen Sie uns. Die betroffenen Menschen werden es Ihnen danken! Lassen Sie mich mit der Feststellung schließen: Zwar haben wir die Aufgabe, Reformkritik zu üben. Doch haben wir auch in den letzten 20 Jahren die Politik deshalb bei ihren Sozial- und Gesundheitsreformen kritisch begleitet, weil wir unseren Beitrag zu einer ausgewogenen Sozialpolitik in Deutschland leisten wollten. Ich verspreche Ihnen: Das werden wir auch in Zukunft so halten! 4