Institut für Soziologie Prof. Dr. Ueli Mäder Ordinarius Petersgraben 27 CH- 4051 Basel Tel. +41 (0)61 267 28 17 Fax +41 (0)61 267 28 20 E-Mail: [email protected] http://www.unibas.ch/soziologie/ Die soziale Herausforderung: Wirtschaft und die Kohäsion der Gesellschaft Ueli Mäder (Abstract) Welchen Beitrag leistet die Wirtschaft zum gesellschaftlichen Zusammenhalt? Wie fördert und wie behindert sie ihn? Und wie hilfreich erweist sich das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft? Das sind die Ausgangsfragen meines dreiteiligen Beitrags. Ich gehe erstens von aktuellen Bezügen zum Thema aus; etwa von Hans Kisslings Gegenwartsdiagnose einer Refeudalisierung der Schweiz1. Ich frage: Wie kommt ein vehementer Vertreter einer sozialen Marktwirtschaft zur Aussage, die Schweiz bewege sich von einer Meritokratie zur Oligarchie? Trifft diese Analyse zu? Und falls ja, was sagt sie über das Konzept und System der sozialen Marktwirtschaft aus? Liegt es an der Theorie oder an der Praxis? Diese Frage stellt sich auch im Kontext der „Finanzkrise“, die, so Franz Schirrmacher2, „mehr als eine Finanzkrise ist“ und „im Zeitalter des Unglücks“ verniedlichend so bezeichnet wird. Italiens früherer Finanzminister Tomaso Padoa-Schioppa3 moniert keine Krise im System, sondern „eine Krise des Systems“. Der Kapitalismus sei zwar nicht am Ende, aber „die Illusion, dass eine Marktwirtschaft ohne Regeln funktionieren kann“. Peter Witterauf4, Geschäftsführer der Hanns-Seidel-Stiftung in München, plädiert dafür, „die ‚Wirtschaftskultur’ zu hinterfragen: „Zum einen ist die starke Konsumorientierung zu nennen, die dazu führt, dass viele Käufe ohne ausreichende finanzielle Basis getätigt werden. Deshalb nimmt die Verschuldung zu... Zum andern haben sich eine extreme Deregulierung und Liberalisierung sowie der überzogene Glaube an die Selbstheilungs- und Steuerungkräfte der Marktwirtschaft verhängnisvoll ausgewirkt.“ Im zweiten Teil meines Beitrags kennzeichne ich den sozialen Wandel der letzten hundert Jahre und die sozialen Herausforderungen, die sich seit den rezessiven Einbrüchen der 1970er-Jahre manifestieren. Dabei interessiert, ob und inwiefern neue soziale Fragen alte ablösen und die sich verschärfende soziale Brisanz den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet. Ich beziehe mich hier auf aktuelle empirische Studien.5 Im dritten Teil meines Beitrags diskutiere ich weiter führende Perspektiven. Dazu gehören theoretische Analysen zur Dynamik von Wirtschaft und Gesellschaft. Das Augenmerk gilt Implikationen zu Chancen und Grenzen der Sozialen Marktwirtschaft. Seit einigen Jahren vollzieht auch die Schweiz einen Umbau vom Keynesianischen Wohlfahrtsstaat zum neoliberalen Post-Wohlfahrtsstaat. Das zeigt sich in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.6 Es gibt aber auch gegenläufige Tendenzen, die neue Verbindlichkeiten postulieren – auf individueller, gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Ebene, auf die ich im mündlichen Vortrag weiter eingehe. Eine starke Wirtschaft benötigt ein starkes politisches und gesellschaftliches Korrektiv. Freiheit setzt Sicherheit voraus.7 1 Hans Kissling, Reichtum ohne Leistung, Die Feudalisierung der Schweiz, Rüegger Verlag, Zürich 2008. FAZ, 18.9.08. Die Zeit, 13.1.08, S. 1. 4 Kompakt, Ausgabe vom 13.10.2008, S. 4. 5 Stefan Kutzner, Ueli Mäder, Carlo Knöpfel, Working poor in der Schweiz: Wege aus der Abhängigkeit, Rüegger Verlag, Zürich 2004; dieselben, Integration und Ausschluss: Segmentierung der Sozialhilfe, Rüegger Verlag, Zürich 2008. 6 Kurt Wyss, Workfare. Sozialstaatliche Repression im Dienst des globalisierten Kapitalismus, edition 8, Zürich 2007. 7 Erwin Carigiet, Ueli Mäder, Michael Opielka, Frank Schulz-Nieswandt (Hrsg.), Wohlstand durch Gerechtigkeit, rpv, Zürich 2006. 2 3