Franziska Müller 18.1.2007 G6 Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes und Soziale Ungleichheit Soziale Ungleichheit Soziale Ungleichheit bezeichnet die ungleiche Verteilung von materiellen und immateriellen Ressourcen innerhalb einer Gesellschaft auf soziale Positionen und die daraus resultierenden ungleichen Lebensbedingungen von Individuen oder Personengruppen. Den Maßstab für gesellschaftlich akzeptierte soziale Ungleichheit bildet dabei die Auffassung sozialer Gerechtigkeit. Das Sozialstaatsprinzip Das Sozialstaatsprinzip ist das vierte Verfassungsprinzip. Es zählt nach der Ewigkeitsklausel1 zum unabänderbaren Verfassungskern und bildet damit eine Grundlage des Grundgesetzes und des Strukturprinzips. Im Gegensatz zu den anderen Prinzipien, wird seine gestaltung nicht weiter konkretisiert. So ist „die Bundesrepublik Deutschland“, laut Grundgesetz, „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“2 Genauere Maßgaben zur Ausgestaltung des Sozialstaates erhält der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang nicht. Auch enthält das Sozialstaatsprinzip keinerlei soziale Anspruchsrechte, i.e. in Recht auf Bildung, Arbeit oder Wohnung wird beispielsweise nicht explizit erwähnt. Auffassung und Inhalt des Sozialstaatsprinzips Durch die offene Formulierung liegt die Interpretation und Umsetzung des Sozialstaatsprinzips stets in den Händen des Gesetzgebers und ist damit auch dem Zeitgeist unterworfen. So wandelt sich z.B. das Verständnis eines Minimums an sozialer Sicherheit oder die Definition sozialer Gerechtigkeit. Das Sozialstaatsprinzip ist lediglich ein Postulat, weil es als Festlegung formuliert ist und keine einklagbaren Rechte enthält. Folglich ist es als Staatsziel zu verstehen, das die Umsetzung sozialstaatlicher Elemente fordert. Daher wird es auch Sozialstaatsgebot genannt. Dieser Forderung fehlen allerdings konkrete Handlungsrichtlinien. Um den Sozialstaat auszugestalten ist daher eine genauere inhaltliche Bestimmung erforderlich. Hierzu dienen im Grundgesetz enthaltene soziale Grundwerte sowie Urteile des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG). Im Folgenden werden Interpretationsmöglichkeiten einiger Urteile und Artikel des Grundgesetzes vorgestellt. 1 GG, Art. 79, Abs. 3 GG, Art. 20, Abs. 1. Teilweise wird GG, Art. 28 Abs. 1 zum Sozialstaatsprinzip hinzugezählt. Dieser legt die Gültigkeit des Verfassungsprinzipien für die Länder fest. 2 Eindeutig geht aus dem Grundgesetz zunächst die Sozialpflichtigkeit des Eigentums3 hervor. Ein weiterer wichtiger Ansatz besteht in der sozialstaatlichen Interpretation der Grundrechte. Sie enthalten soziale Grundwerte, die der Staat einhalten muss und die ihn so zum Handeln verpflichten. Folgende Beispiele verdeutlichen diesen Zusammenhang: Mit der Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde4 geht die staatliche Sicherung des Existenzminimums einher. Aus den Gleichheitssätzen5 ergibt sich der Gleichberechtigungsgrundsatz, nach dem Männer und Frauen in staatlichem Dienst an gleichen Maßstäben gemessen und bei gleicher Leistung gleich entlohnt werden müssen. Die Pflicht Ehe, Familie und Mütter zu schützen hat zum Beispiel Maßnahmen des Mutterschutzes sowie Steuererleichterungen für Familien und Ehepaare als Konsequenz. Der Ansatz alle Grundrechte sozialstaatlich zu interpretieren ist allein durch die Ausnahme, dass „der einzelne von der Gesellschaft vernünftiger Weise“ etwas „beanspruchen kann“6 hinfällig, weil dadurch kaum Rechte einklagbar sind. Unter allen Interpretationsmöglichkeiten gelten die folgenden zwei Ziele, zu denen das Sozialstaatsprinzip den Staat verpflichtet als allgemein anerkannt: Erstens muss ein Minimum an sozialer Sicherheit gewährleistet werden, i.e. die Existenzgrundlage muss gesichert werden und Daseinsvorsorge muss (unabhängig vom sozialen Ausgleich) betrieben werden. Zweitens muss der soziale Ausgleich gefördert werden „um damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“7. Das heutige System orientiert sich am Fortschritt zu sozialer Gerechtigkeit, i.e. in der möglichst gleichmäßigen Förderung aller und der annähernd gleichmäßigen Verteilung der Lasten innerhalb der Gesellschaft besteht der Zielgedanke8. Dabei bedeutet die politische Ausgestaltung von Freiheiten und Rechten mehr als nur ein „nicht eingreifen“ des Staates. Jedem Bürger soll zusätzlich die Chance gegeben werden diese Rechte wahrzunehmen. Die Berufsfreiheit nützt z.B. jemandem ohne Qualifizierungen wenig. Daraus hat sich eine Kombination aus planenden, fördernden und erhaltenden Maßnahmen entwickelt, die das heutige System, die soziale Sicherung, bildet. Sie konkretisiert die Verfassungsziele dahingehend, dass neben der Daseinsvorsorge jeder Bürger vor einer „unzumutbaren Verschlechterung“ seiner finanziellen Lage geschützt werden soll und dass zur 3 GG, Art. 14, Abs. 2 GG, Art.1, Abs. 1 5 GG, Art. 3 6 BVerfGE33, 303 - numerus clausus I vom 3. Mai 1972 4 7 8 Aus einem Urteil des BVerfG BVerfGE vom 17.8.1956 Existenzsicherung und dem sozialen Ausgleich eine besondere Verbesserung für sozial schwache angestrebt wird. Inwieweit die genannten sozialen Grundwerte in sozialstaatliche Maßnahmen und Strukturen umgewandelt werden bleibt dem Ermessen des Gesetzgebers genauso überlassen wie das Wirtschaftssystem. Die endgültige Konkretisierung erfolgt jeweils durch die demokratische Mehrheit. Das Grundgesetz legt die Gesellschaft nicht ausschließlich auf die soziale Marktwirtschaft fest. Mehr oder weniger Sozialstaatlichkeit (als jetzt) ist ebenfalls verfassungskonform. Einzig ausgeschlossen werden auf der einen Seite extrem kollektivistische Wirtschaftsformen durch die Eigentumsgarantie, das Recht zur Persönlichkeitsentfaltung, die Berufs- und Vereinigungsfreiheit. Das Sozialstaatsprinzip und Art. 15 grenzen das Wirtschaftssystem auf der anderen Seite vom Manchesterliberalismus ab. Der Gesetzgeber kann sich also im Rahmen der demokratischen Ordnung im Spektrum zwischen Armenpolitik und vorausplanendem Eingreifen des Staates in alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche bewegen. Vereinbarkeit mit sozialer Ungleichheit Generell Ob die Situation der sozialen Ungleichheit in Deutschland mit dem Sozialstaatsprinzip vereinbar ist hängt wiederum von der Interpretation ab. Da die Formel heute als Ziel aufgefasst wird ist zunächst jede Momentaufnahme der sozialen Verteilung innerhalb der Gesellschaft verfassungskonform. Die Regierungsbemühungen bezüglich sozialer Ungleichheit müssen die genannten Ziele verfolgen. Dazu zieht sie die Entwicklung sowie zukünftige Auswirkungen aktueller Maßnahmen in Betracht. Das soziokulturelle Existenzminimum wird in Deutschland durch Leistungen wie das Arbeitslosengeld II und die Grundsicherung gewährleistet. Die Daseinsvorsorge wird mit Hilfe der gesetzlichen Pflichtversicherungen und anderen sozial- und gesellschaftspolitischen Eingriffen, z.B. in der Familienpolitik, dem Bildungs- und dem Gesundheitswesen. Der soziale Ausgleich nimmt aber faktisch nur dann zu, wenn die Maßnahmen auch Wirkung zeigen und gleichzeitig keine bestehenden politischen Programme dem entgegenwirken. Wird an Statistiken zur Sozialstruktur die Intensivierung der sozialen Ungleichheit deutlich, sollte die Politik versuchen, die Situation durch neue Maßnahmen zu entschärfen. Aktuell Die Agenda 2010, die Hartz-Gesetze und Rürup-Vorschläge stellen Maßnahmen dar, die sowohl versuchen dem Trend der wachsenden sozialen Ungleichheit entgegen zu wirken, als auch den Sozialstaat aufrechtzuerhalten. Daher sind sie meiner Meinung nach mit dem Grundgesetz und seinem Sozialstaatsprinzip vereinbar. Nach einer anderen Auffassung verschlimmern die Reformen die soziale Ungleichheit weiter. Demnach verbärgen sich neoliberale Pläne, die den Gerechtigkeitsbegriff wandeln wollen, hinter dem Umbau des Sozialstaates. Mit der Verschiebung von Bedarfs- zur Leistungsgerechtigkeit, von der Verteilungs- zur Beteiligungsgerechtigkeit und von der sozialen zur Generationsgerechtigkeit stehe den Leistungsunfähigen und –unwilligen immer weniger zu. Ein leistungsbelohnendes Steuersystem stärke den Standort Deutschland. Nach jetzigem Verständnis sozialer Gerechtigkeit verhindert das Sozialstaatsprinzip jedoch ein solches Steuersystem. Soziale Ungleichheit ist zuletzt dadurch verfassungskonform, dass das Grundgesetz eine Marktwirtschaft, die zwangsläufig zu Besitzunterschieden führt, zulässt. Quellen Bücher: 1.) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Ausgabe Hannover 2002 2.) Buchners Kolleg – Politik, Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 3.) Wolfgang Rudzio. Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Mai 2006. VS Verlag für Sozialwissenschaften Internet: 1.) Wikipedia: Sozialstaatspostulat, Postulat, Prinzip, soziale Gerechtigkeit 2.) http://www.chezoo.de/weltgeschehen/system-der-deutschen-bundesrepublik 3.) http://www.wsws.org/de/2002/nov2002/ungl-n20.shtml (http://www.sozialpolitik-aktuell.de/docs/kap1.pdf http://www.nachdenkseiten.de/?p=1886)