Beitrag Heiko Hoffmann (Evangelische Hochschule Freiburg) zur Tagung „Lebenslauf, soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheit“ der DGS-Sektionen ‚Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse‘‚ ‚Medizin- und Gesundheitssoziologie‘, ‚Soziologische Netzwerkforschung‘ und der AG ‚Medizinsoziologische Theorien‘ (DGMS) in Rostock, 28./29. Mai 2015 Agency und soziale Netzwerke von Menschen mit Borderline-Diagnose Hradil (2001: 28) bestimmt soziale Ungleichheit als ungleiche Verteilung von „Lebensund Handlungsbedingungen (…), die zur Erlangung von allgemein verbreiteten Zielvorstellungen einer Gesellschaft dienen“ und führt dies insbesondere auf die Stellung im sozialen Beziehungsgefüge zurück (ebd.: 30). Soziale Beziehungen gewinnen in modernen Gesellschaften zusätzlich an Bedeutung, um sozial ungleiche Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund der allgemeinen Anhebung materieller Ressourcen nach wie vor angemessen erfassen zu können (Burzan 2011: 89). Aktuelle Agency-Diskurse fokussieren gerade auf diese Interdependenzen zwischen Handlung und Struktur (Giddens 1997: 34), um an der Schnittstelle von mikro- und makrosoziologischen Perspektiven der Frage nachzugehen, wie Subjekte in ihrem Handeln strukturiert werden und umgekehrt durch ihr Handeln soziale Strukturen gestalten (Giddens 1997: 77; Barnes, 2001: 345). Anschlussfähig daran wird der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und gesundheitlicher Ungleichheit als durch den Lebensstil der Menschen moderiert aufgefasst (Elkeles, Mielck 1997: 32), der wiederum durch die Wechselbeziehung von Lebenslage und mentaler Ebene bestimmt werde (Georg 1998: 98). Menschen mit der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung bieten sich an, um das Verhältnis von mentaler Ebene und Lebenslage, von Handlung und Struktur exemplarisch zu untersuchen: Sie gelten als psychisch krank und sind im Zuge sozialpolitischer Ungleichbehandlung von systematischer Verarmung betroffen, Handlungsziele werden als unklar beschrieben (Weltgesundheitsorganisation, 2000: 230) und die sozialen Beziehungen als instabil (ebd., American Psychiatric Association 2013: 663). Daher sei Agency auch insgesamt von Ohnmacht und der Annahme eines Opferstatus geprägt (ebd.: 777f; Adler et al. 2012: 507), obwohl umgekehrt den Betroffenen ebenso vorgeworfen wird, sehr wirkmächtig auf ihr soziales Umfeld Einfluss zu nehmen, es zu „spalten“ und somit für die Instabilität sozialer Beziehungen selbst verantwortlich zu sein. Seite | 1 Der hier skizzierte Beitrag (Hoffmann 2015) widmet sich der Frage, wie soziale Beziehungen als bedeutende Dimension sozialer Ungleichheit in Verbindung zu psychischer Erkrankung stehen und arbeitet Handlungsroutinen heraus, die sich im Zuge lebensgeschichtlich aufgeschichteter Interaktionserfahrungen in sozialen Netzwerken verfestigt und in Identitäten eingeschrieben haben. Methodisch wurde ausgehend von einer formalen egozentrierten Netzwerkanalyse bei 59 Betroffenen eine Clusterstruktur mit vier theoretisch interpretierbaren Typen sozialer Einbindung herausgearbeitet. In sechs exemplarischen Fällen wurden zehn bis zwölf Monate später qualitative Netzwerkinterviews geführt, um Kontinuität und Wandel von sozialen Netzwerken erfassen zu können. Zudem wurde bei dieser Teilstichprobe auf Grundlage von biographischen Interviews die narrative Dar- und Herstellung von Identität und Agency rekonstruiert. Borderline erscheint ausgehend davon weniger als eine Eigenschaft von Menschen, sondern ist – so die abschließende These – angemessener als biographisch etabliertes und relational aufrechterhaltenes Muster der Interaktion zwischen den Betroffenen und ihren Interaktionspartnerinnen und -partnern zu verstehen. Literaturverzeichnis Adler, J. M., Chin, E. D., Kolisetty, A. P. & Oltmanns, T. F. (2012). The Distinguishing Characteristics of Narrative Identity in Adults with Features of Borderline Personality Disorder: An Empirical Investigation. Journal of Personality Disorders, 26 (4), 498–512. American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders. DSM-5. Arlington, Va: American Psychiatric Association. Barnes, B. (2001). The Macro/ Micro Problem and the Problem of Structure and Agency. In G. Ritzer & B. Smart (Hrsg.), Handbook of Social Theory (S. 339–352). London: Sage Publ. Burzan, N. (2011). Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in die zentralen Theorien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Elkeles, T.; Mielck, A. (1997): Ansätze zur Erklärung und Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit. In: Jahrbuch für Kritische Medizin 26 "Soziale Medizin". Argument-Verlag, Hamburg: 23 - 44. Georg, W. (1998): Soziale Lage und Lebensstil. Eine Typologie, Opladen: Leske + Budrich. Giddens, A. (1997). Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt am Main: Campus. Hoffmann, H. (2015). Borderline-Interaktionen. Komplexe Verflechtungen der Agency in Netzwerken sozialer Unterstützung. Wiesbaden: Springer VS. Hradil, S. (2001): Soziale Ungleichheit in Deutschland. Opladen: Leske + Budrich. Weltgesundheitsorganisation. (2000). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10, Kapitel V (F); klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern: Huber. Seite | 2