Wilhelm Heitmeyer

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Text zu Kapitel 5, S. 89
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als Folge gesellschaftlicher Zustände
(­Wilhelm Heitmeyer)
„Ideologien sind Ausdruck der Interessen des überlegenen
Teils der Gesellschaft“, sei es in Macht- oder Mehrheitskonstellationen, was nicht ausschließt, dass spezifische
Ideologien auch in unterlegenen Teilen oder Minderheiten
5 grassieren. […]
Die Rechtfertigungsideologie versucht den Status quo
zu legitimieren. Sie hat apologetische Züge, die z. T. mit
anthropologischen Festschreibungen versehen werden,
wenn z. B. der Kapitalismus unserer Zeit als die beste Form
10 menschlichen Lebens dargestellt wird.
Die Verschleierungsideologie hat eine Ablenkungsfunktion.
Es geht um die Verschiebung von Problemen, um Ursachen, die den eigenen Machtinteressen zuwiderlaufen,
abzudecken und dafür andere Ursachen in der Regel auf
15 essentielle Eigenschaften von Personen und Gruppen zu
fokussieren: Dazu werden Vorurteile aktiviert.
Die Ausdrucksideologie setzt Mythen und Vorstellungen als
Aprioritäten, deren Funktionen darin bestehen, daraus politische Forderungen abzuleiten. Entscheidend ist, dass nicht
20 mehr aufwendig gerechtfertigt, sondern schlicht geglaubt
wird. Das Weltbild ist dichotomisch, indem es Freund und
Feind, In-Group und Out-Group scheidet und eine Gemeinschaft postuliert, die ihre Identität durch Ausgrenzungen
und Diskriminierungen gewinnt.
25 Sie dient der Integration der In-Group und der Desintegration der Out-Group. „Gesellschaftliche Erfahrungen, insbesondere politisch und sozial erzeugte Ohnmachtsgefühle,
führen zur Flucht in ein Übersubjekt, werden nun durch
die Zugehörigkeit zu diesem Übersubjekt aufgehoben, d. h.
30 negiert“ (Lenk 1982, 154). Das charakteristische Kennzeichen
ist der emotionale Appell an das Volk, deshalb ist diese
Ideologieform mit massenwirksamen Populismus-Varianten
verbunden. Historisch gesehen war der Nationalsozialismus
die extremste Form dieser Ideologievariante mit dem Kern
35 der Ungleichwertigkeit und des unwerten Lebens. […]
Es gibt einen prinzipiellen Unterschied zwischen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit. Ungleichheit ist materiell
fundiert und sozial erzeugt durch gesellschaftliche Strukturentwicklungen, die Klassen oder Schichten hervorbrin40 gen, Chancen des Aufstiegs oder Bedrohung durch Ab-
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stieg bereithalten, durch Öffnung oder Schließung, durch
Integration oder Desintegration zu unterschiedlichen
Positionen und Möglichkeiten des luxuriösen wie verarmten Lebens führen. […] Solange diese Entwicklungen in
45 der Bevölkerung über breit abgesicherte Gerechtigkeitskriterien gestützt und akzeptiert werden, bleiben sie ungefährlich im Hinblick auf Konflikte oder Gewalt. Gleichwohl
ist ein riskantes Spiel mit der Ungleichheit zu verzeichnen.
Hier setzt die Rechtfertigungsideologie an. Ungleichheit
50 gilt den einen als natürlich, den anderen, z. B. Wirtschaftsvertretern, als entscheidender Dynamisierungsfaktor
gesellschaftlichen Fortschritts, ohne dass die ideologische
Funktion der Rechtfertigung von Hierarchien, von Überlegenheiten und Machtsicherung hervortritt oder in den
55 öffentlichen Debatten gesondert betrachtet wird.
Es bleibt außer Betracht, wie viel soziale Spaltung etwa
eine Gesellschaft ertragen kann, also Desintegration und
die Verweigerung von Anerkennung. Soziale Ungleichheit
hat einen hohen Standard von „Normalität“ erreicht, gegen
60 die Kritik immer mehr zu verstummen droht.
Stattdessen mischt sich in die Debatte ein ökonomistisches Denken, in dem im Zuge der Umwandlung von der
Marktwirtschaft in die Marktgesellschaft die faktischen
Unterschiede mit Bewertungen verbunden werden. Der
65 Wert oder die Wertigkeit werden mit sozialen Lagen und
Verhaltensweisen verbunden. Die Rede von Arbeitslosen
als „Wohlstandsmüll“ zeigt die abwertende Verdinglichung
dieser Gruppe in Elitekreisen ebenso wie die Metapher
eines Showmasters, der „Bierdosen als Hartz IV-Stelzen“
70 bezeichnet.
Aufgabe
Erarbeiten Sie, wie und warum nach Heitmeyer in unserer
Gesellschaft über Ungleichheit auch Ungleichwertigkeit
erzeugt wird.
Herausgeber: Michael Willemsen, Elmar Wortmann
Autoren: Carsten Püttmann, Christoph Storck, Michael Willemsen, Elmar Wortmann
Textquelle: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008.
Online-Code zu
ISBN 978–3–12–006138–0
Perspektive Pädagogik 4
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