Erlebnisraum Theater Interaktion und Rezeption am Beispiel der Produktion „Holzklopfen“ Im Folgenden wird eine nachträglich überarbeitete Diskussion wiedergegeben, die Hanne Seitz im Anschluss an die Aufführung von „Holzklopfen“ auf dem Villacher Symposium mit Michael Lurse, Puppenspieler, Schauspieler, Regisseur, künstlerische Leitung (zusammen mit Barbara Kölling) am Helios Theater in Hamm und mit dem Musiker und Perkussionisten Roman D. Metzner geführt hat. Hanne Seitz Ein Puppenspieler und ein Percussionist erkunden auf geistreiche, witzige, manchmal auch tiefgründige Weise die Möglichkeiten, die das Material Holz bietet. Auf verblüffend naheliegende, bisweilen auch unerwartete Weise wird das Holzding zum lebendigen Mitspieler und Komplizen – ganz ohne Worte, nur durch Klänge und Handlungen. Darum geht es in „Holzklopfen“, einem Theaterstück für Kinder ab zwei Jahren des Helios Theaters Hamm. Einige haben die Aufführung ja heute morgen sehen können. Die Probenprozesse sind im Rahmen des Projekts „Theater von Anfang an!“ des Kinder- und Jugendtheaterzentrums der Bundesrepublik Deutschland von Bina Elisabeth Mohn und Gesche Wartemann wissenschaftlich begleitet und die Ergebnisse als kameraethnographische Studie auf der DVD „Wechselspiele im Experimentierfeld Kindertheater“ veröffentlicht worden. Der Film zeigt Ausschnitte aus den öffentlichen Proben und führt die Komplexität des Interaktionsfeldes Kindertheater eindrucksvoll vor Augen. Er führt unterschiedliche Themenfelder vor Augen: das Ankommen im Theater, Momente des Rollenwechsels zwischen Zuschauern und Darstellern, die Anfälligkeit der Spielvereinbarungen, u. a. Die DVD gibt zuletzt Einblick in die vielfältigen Wechselspiele, die sich zwischen den Darstellern und Zuschauern, den Kindern untereinander und zwischen Kindern und den sie begleitenden Erwachsenen ereignet haben. Michael Lurse Ich würde gerne kurz etwas dazu sagen, wie das Stück entstanden ist. Nur so ein bisschen, damit man unsere Motive erkennt. Wir haben damals vereinbart, dass wir während der Probenzeit, ab der ersten Woche, Kinder einladen. Also jeden Freitag gab’s ein sogenanntes Expermentierfeld, wobei wir das, was wir unter der Woche improvisiert haben, gezeigt haben. Ich weiß nicht mehr in der vierten oder fünften Woche da haben wir versucht, die Sachen, die wir bereits entwickelt hatten, mit den Kindern zusammen zu verstehen: Was macht es, was erzählt es, wie funktioniert das? Und dabei war die Bina Mohn, die als Video-Ethnographin, immer wieder das Publikum und auch das Geschehen auf der Bühne gefilmt hat und dieses Wechselspiel, also was geschieht da genau, wenn auf der Bühne das ist, was ist dann im Publikum los, das wird in den verschiedenen Momenten dieser DVD untersucht und kommentiert. Hanne Seitz Aus dieser DVD haben wir ja gerade jenen Ausschnitt gesehen, der als „Krisenexperiment“ bezeichnet wurde. Ein kleines Mädchen betritt unerwartet den Bühnenraum, sucht die Nähe des Musikers und macht durch ihr Verhalten deutlich, wie fragil die Theaterkonvention eigentlich ist. Das Mädchen hat sich offenbar so sehr angesprochen gefühlt, dass es – auf zwar zurückhaltende, aber doch unübersehbare Weise – quasi zur Mitspielerin wird und offenbar, ohne dies zu bemerken, in den vorgesehen Ablauf eingreift. Man muss dazu sagen, dass die Kleine fast blind ist, was zu diesem Zeitpunkt aber nur die Kinder wussten, mit denen sie ins Theater gekommen war. Das junge Publikum zeigt sich denn auch völlig unbeeindruckt, als das Mädchen aufsteht und langsam den Bühnenraum betritt. Während die Kinder es gar nicht wahrzunehmen scheinen, hat das bei Euch allem Anschein nach doch zu mehr oder weniger großer Irritation geführt. Was also hat diese Situation bei Dir – einem Schauspieler, der vermutlich eine klare Vorstellung von dem Ablauf hat – ausgelöst? Hast Du Dich gestört gefühlt? Du hast ja zu Beginn des Stücks den Raum buchstäblich abgesteckt und den Kindern 1 auf spielerische Weise deutlich gemacht, dass hier eine Grenze ist, die nicht übertreten werden soll. Die Kinder haben das ja auch prima verstanden, nur das blinde Mädchen nicht – ihr Ohr hörte keine Grenze. Michael Lurse Sie ist glaube ich immer, so wie ich es im Nachhinein verstanden habe, dem Klang gefolgt. Sie hat also immer gehorcht, wo die Quelle des Klangs ist und dann hat sie sie ausgemacht auf der Bühne, durch das was da akustisch geschah. Das Musikalische war für sie interessant, und dann hat sie den Musiker sozusagen begleitet und während der Vorstellung selber ausprobiert, wie die Instrumente klingen. Natürlich hätte man sie einfach wegschnappen können, einer von den Theaterpädagogen hätte sie einfach auf den Arm nehmen und wegtragen können. Aber wir hatten vereinbart, dass wir uns einlassen wollen, auf das, was im Publikum geschieht: Was passiert also, wenn z.B. jemand um die Bühne rennt? Nun bin ich das nicht gewohnt gewesen, dass ich solche Kinder nicht erreichen kann. In der Regel kriegt man über einen Blick, eine Geste oder über andere Kontaktaufnahmen das als Schauspieler wieder in den Griff und ein Kind merkt, uppss, das war jetzt vielleicht nicht ganz so richtig und geht wieder zurück an seinem Platz, was ich schon präferiere. Und dann gab es eine Diskussion danach wo sehr extreme Positionen auftauchen und ich als Spieler sage, ich hab's schon ganz gern wenn die Zuschauer dem folgen, was ich da anbiete. Das ist so, das geht in Richtung Konvention vielleicht: Ich finde es aber eine vernünftige Konvention, wenn man sagt, da sind zwei, die was machen, und die anderen schauen erst einmal zu, bis sie vielleicht eingeladen werden mitzumachen, was ja auch am Ende des Stückes geschieht. Das hat man ja auch im Video gesehen. Das Stück war aber damals auch noch anders. Da gab's nicht die Idee, dass die Kinder auf die Bühne können, sondern wir haben sie rausgeführt und einige Varianten ausprobiert, wie kommt man eigentlich ins Theater rein, wie kommt man raus, aber das ist ein anderes Thema. Entscheidend war, das haben sie auch alle gesehen, ich spiele ohne Brille. Ich bin aber kurzsichtig, d. h. ich sehe nicht alles scharf, aber ich kann mich sehr gut auf meinen siebten Sinn verlassen, ich sehe, wo die Leute sind, aber ich konnte diese verdrehten Augen von dem Mädchen nicht erkennen, die man auf dem Video sieht, die ja ganz klar zeigen, dass da eine Form von Sehbehinderung vorliegt, dazu kam auch noch eine geistige Behinderung, also sie war wirklich sehr gehandicapt, aber auch sehr angesprochen. Das ist auch der Grund, der es jetzt hinterher interessant macht – vorher war es mir eher unangenehm, weil ich nicht verstanden habe, was los war. Wer spielt weiß bzw. versteht es, wenn ein Kind aus der Reihe tanzt oder irgendwie plötzlich anfängt mit dem Aufführungsmaterial zu spielen. Da weiß man schon ungefähr, was da los ist. Zu dem Mädchen habe ich keinen Kontakt hingekriegt, weil sie mich nicht sehen konnte. Ich habe sie nicht angesprochen. Wenn ich es getan hätte, dann wäre es vielleicht gegangen. Wenn ich etwas zu ihr gesagt hätte. Aber so war es mir nicht möglich, irgendwie Kontakt aufzunehmen und damit waren wir beide isoliert voneinander. Sie hat ihre Runden gedreht und ich habe meine gedreht und ich habe sehr geschwitzt, weil ich dachte: Was ist hier los? Warum funktioniert das Stück nicht ? Und sie hat einfach das getan, was sie gerne tut oder tun wollte. Hanne Seitz Richtig gutes Kindertheater, so sagen manche, sollte Kinder aktiv beteiligen. Sie sollen nicht nur zuschauen, sondern einbezogen werden. Und Schauspieler müssten aus dem Stehgreif improvisieren können und in der Lage sein, aufzugreifen, was die Kinder einbringen. Ihr habt ein anderes Konzept. Euch scheint etwas anderes wichtig. Der theatrale Raum soll möglichst störungsfrei wirken können, seine Magie entfalten und diese erst ganz zum Schluss entzaubert wird, wenn die Kinder den Bühnenraum betreten. Wie ich heute morgen sah, ist es den Kindern sichtlich schwer gefallen, am 2 Ende auf die Bühne zu kommen und somit Deiner Einladung zu folgen. Der Bann wurde gebrochen, durch eines der Mädchen, die den mutigen Schritt auf die Bühne wagte. Die magische Aufladung hat sich schließlich durch das ‘profane’ Spiel mit den Holzrequisiten und Instrumenten gelöst, in das die Kinder dann eingetaucht sind. Warum also kein „Mit-mach-Theater“? Wollt Ihr kein Risiko eingehen? Michael Lurse Also ich mache schon lange Theater und wir habe schon alles mögliche ausprobiert. Wir haben auch dieses sogenannte „Mit-mach-Theater“ irgendwann mal probiert. Ich finde schon wichtig, zu Gunsten des Künstlerischen – also der Ganzheit des künstlerischen Prozesses, der da auf der Bühne stattfindet – in welcher Form auch immer zu sagen: Es gibt zumindest eine Phase, und das sind in diesem Stück 25 bis 30 Minuten, wo der Zuschauer aufgefordert ist, zu betrachten, zu hören, sich darauf einzulassen und danach gilt vielleicht etwas Gemeinsames in dem Sinne, dass der Zuschauer in den Bühnenraum hinein, die Dinge berühren kann. In einer anderen Produktion „Erde, Stock und Stein“, wo es um Erde als Material geht. Da essen wir am Ende gemeinsam mit den Zuschauern Möhren, die wir aus der Erde ziehen. Da sagen wir quasi, die sind da gewachsen. Die Teilnehmer, die Kinder essen mit uns zusammen, aber sie dürfen nicht auf die Bühne. Also es gibt schon immer wieder den Wunsch, auch später ein gemeinsames Tun hinzubekommen oder auch den Raum zur Verfügung zu stellen, aber nicht unbedingt von Anfang an. Wir wollen zeigen, was wir in den Proben entwickelt haben, bevor wir dann die Tore öffnen. Das ist ein ganz wesentliches Motiv für mich als Künstler. Wenn das von Anfang an offen ist, dann ist das was anderes. Dann ist das ein gesellschaftliches Ereignis, ein Ereignis zwischen Menschen. Also eigentlich ein miteinander Spielen, und dann ist das für meine Begriffe eher weg von dem, was ich unter Theater verstehe. Aber wir wollen in einer der nächsten größeren Arbeiten eine Rauminstallation machen, in der wir mit den Kindern gemeinsam spielen. Wir versuchen auch diesen Schritt weiterzugehen, das würde ich aber nicht „Mit-mach-Theater“ nennen. Das ist für mich aus den 70ern, wo der Kasperl fragt: "Seid ihr alle da?" und "Habt ihr alle Zähne geputzt?", also wo die Antworten schon vorkonfektioniert sind. Wirkliches „Mit-mach-Theater“, wo also wirklich Risiko eingegangen wird und etwas nicht geplantes passieren kann, das habe ich noch nie gesehen. Also ich nicht, vielleicht gibt es oder gab es das, aber ich hab es noch nie gesehen, im Kindertheater. Es ist schon immer so dass die Spieler versuchen die Fäden in der Hand zu behalten. Hanne Seitz Wie ist das für den Perkussionisten? Die Musik und der Klang spielen ja eine sehr eigenständige und für die Atmosphäre in „Holzklopfen“ entscheidende Rolle. Roman D. Metzner Ich würde sagen, genauso, das heisst aber ebenso nicht, dass es hermetisch ist. Mit „Holzklopfen“ habe ich in einen Raum gespielt, der war sehr hallig. Da gab es eine Reflektion, d. h. das akustische Signal wurden im Raum sehr verzerrt . Und als ich angefangen habe, die Trommel zu schlagen, gab es Proteste von Kindern. Proteste: "Leiser spielen", "leiser, leiser", sagt einer. Und das sagte er zwei, drei Mal, und ich habe die Lautstärke zurückgetan, das habe ich wahrgenommen. Es wurde in dem Moment mit den Zuschauern verhandelt, in dem wir gespielt haben. Bei der nächsten Szene habe ich von vorn herein leiser gespielt und dann kamen wieder Proteste: "leiser, leiser". Diese Proteste kamen aber von allen Kindern, und darauf habe ich nicht mehr reagiert. Also ich habe dann ziemlich klar darauf nicht mehr reagiert, sodass es für die Kinder wahrnehmbar wurde, und das war für sie dann okay. Für sie waren die Grenzen hier, wir haben verhandelt, soweit geht es, soweit können wir mitspielen und dann nicht mehr und dann war es gut. Wir benötigen also 3 mehr Offenheit für das Publikum, aber es gibt auch Momente, wo wir sagen, dass ist das Kunstwerk und das schützen wir auch. Das wird im Verlaufe des Stückes verhandelt mit den Kindern. Michael Lurse Also ich habe gelernt, dass die kleinen Kinder für mich auch eine Rückführung zu den Wurzeln des Theaters sind. Sozusagen viele Jahre zurück, wo ich für Erwachsene, für alle Altersgruppen produziert habe. Ich glaube dass der Begriff ‘Mitmachen’ bei den kleinen Kindern anders zu begreifen ist, als bei älteren Kindern. Kleine Kinder, die noch nicht so mit der Sprache vertraut sind, die funktionieren so, als hätten sie eine Ganzkörper-Membran. Sie sind nicht angewiesen auf nur gucken, nur hören sondern es ist eine ganzheitliche Wahrnehmung, d. h. die machen die ganze Zeit mit! Wenn man da genau hinschaut, da fangen sie an, z. B. wenn die Trommeln anfangen, fangen sie fast zu tanzen an, bleiben aber sitzen. Also das Bedürfnis aufzustehen und die Sachen anzufassen ist gar nicht so stark wie man das gerne vermutet als Erwachsener. Oder wie viele Pädagogen sagen, die Kinder lernen nur durch Mitmachen und durch Zuschauen lernen die gar nichts. Aber die machen ja mit, anders als vielleicht Erwachsene. Wir behalten das so mehr bei uns, und sie agieren sozusagen im Sitzen, im Schauen, da passiert das alles im Körper, sie müssen gar nicht aufstehen, nichts anfassen. Hanne Seitz Es scheint Euch wichtig zu sein, dass die Kinder sehen und wahrnehmen lernen. Aus meiner Sicht heißt dies aber auch, den Kindern Respekt abzuverlangen, dass sie auf diese Weise würdigen, was Ihr ihnen darzubieten habt, ohne dass sie ‘dazwischenfunken’. Wir können mittlerweile davon ausgehen, dass auch das Sehen ein konstruktiver Vorgang und nicht einfach ein abbildender Akt ist. Das Zuschauen erlaubt Teilhabe, macht die Kinder zu Co-Autoren, die das Geschehen ihrem Verständnis und Möglichkeiten nach deuten. Auch ohne aktive Teilnahme, sind sie mitten drin. Zumal auf diese Weise eine viel größere Spannung entsteht. Das Fremde jener Theaterwelt bleibt fremd und wird nicht sofort zu eigen gemacht. Myrto Dimitriadou (Publikumsmeldung) Aus der Sicht der Dinge besteht für mich auch ein Unterschied. Wir finden ihn bei den ganz kleinen Kindern. Wenn dieses Risiko, sich auf etwas einzulassen, in Energie umgesetzt wird - und das kennen wir, sie nicken mit, sie tanzen mit, sie sind ja noch vorsprachig - haben sie diese Energie, in das Risiko hinein „Ich lass mich auf so einen Typen ein, der da auf der Bühne etwas mit Holz macht“. Es ist eine sehr offene Situation. Das Mitmachen hingegen für mich etwas anderes, es ist eine gelenkte Energie mit gestopptem Aufnehmen und auch gestoppter Risikogeschichte. Also ich kenne dieses Risiko auch persönlich, wenn ich ein Buch lese und plötzlich anfange zu heulen. Ich hab mich wo eingelassen und womöglich komm ich da nicht mehr raus. Es ist eine ganz große Gefahr und diese, denke ich mir, ist auch der Unterschied zu dem sogenannten Mitmachtheater. Ich muss euch sagen, mich erinnert dieses Risiko manchmal an ein Amphietheater mit Geschichten, wo 15.000 Leute in die ganze Energie hinein fallen. Das hat was. Michael Lurse Also ich glaube da passiert auch was von selbst. Also ich weiß es, wenn ich mit Kindern spiele, mit meinem Sohn spiele, da haben wir so richtig Spaß. Ich bin dann auch der Spieler, das ist ja das, was ich jetzt seit 30 Jahren in meinem Beruf mache. Dann hören sie auf zu spielen, die gucken mir nur noch zu. Mein Sohn, z. B. hat sich zurückgelehnt und gesagt: "Es ist so lustig, mach weiter". Man wird dann automatisch der Vorspieler. Ich glaube, dass es selbst bei kleinen Kindern schon so eine Freude am Zuschauen, am Zuhören, in der relativen Passivität gibt. 4 Hanne Seitz Das scheint mir doch sehr wichtig, und ich glaube, dass das Selbermachen oft überschätzt wird. Kinder sehen einfach auch gerne nur zu, verfolgen begeistert oder voller Ungeduld, wie sich die Dinge entwickeln und wandeln, freuen sich diebisch, wenn etwa das kleine Holzding, dem großen Holzding den Garaus macht. Statement aus dem Publikum Was wir sehr oft als Feedback bekommen haben ist, z. B. beim „Himmelsgucker“, eine Produktion von La Baracca, dass Kinder nicht in dem Moment also nur dieses mitnehmen, aber dann oft Wochen später plötzlich ganze Szenen vom Stück zu Hause den Eltern zeigen. Solche Reaktionen, dass man selber was tut, finden statt. Nicht unmittelbar und nicht genau dann, wenn wir es von Ihnen wollen, sondern wenn sie es wollen. Hanne Seitz ... also nicht unbedingt im theatralen Rahmen, sondern in einer anderen Situation, zu Hause, im Kindergarten, in der erneuten Begegnung mit dem Material – etwa einem Stück Brennholz, das in Eurem Stück eine zentrale Rolle spielt. Michael Lurse Ich denke, alles ist ‘aufgeladen’ für Kinder. Ich werde oft gefragt, z. B. "Warum denn diese Naturmaterialien? " Und dann sage ich immer: "Okay, ich mach’ ein Stück über Plastik!" Das ist mir egal, ob es jetzt Holz ist oder Plastik. Denn es gibt ja letztlich überhaupt keine Materialien, die noch natürlich sind. Kinder haben immer ein ästhetisches Erlebnis – wie auch immer man das bewerten mag. Jede Gesellschaft, jede Generation hat sich mit ihrem Umfeld von Objekten und Materialien zu befassen, und die können wir natürlich auch ins Theater holen. Da gibt es welche, die sind zeitenlos, da gibt es Holz, da gibt es Wasser, Erde und da gibt es eben welche die sind topaktuell, also da müssen wir heute vielleicht auch Siliziumplatten ins Theater holen. Warum nicht, also mich interessiert das. Mich interessiert auch Kunststoff. Ich würde zwar nicht mit Playmobil auf der Bühne spielen wollen, das ist mir zu belegt – aber diese Dinge einmal auf der Bühne zu schmelzen oder sie in ungewohnte Zusammenhänge zu stellen, das könnte interessant sein. Was ist die Welt, die Materialien, die Dinge die uns umgeben? Dies zu thematisieren, das finde ich sehr wichtig. Hanne Seitz In „Holzklopfen“ geht Ihr ja mit einem sehr ursprünglichen, einfachen Material um. Das Bühnenbild ist eine eindrucksvolle Installation aus Holz, Holz in allerei Größen und Varianten: Holzspäne, Holzscheite, Holzklötze, Holzbretter. Du spielst mit einem Stück Holz, und das Ding wird zu einer Figur und beginnt zu leben. Ein unverbrauchtes Material, das die Phantasie anregt, ein Holzding, mit dem Du zeigst, was Theater kann: Verwandlung herbeiführen, Figuren schöpfen, Bilder produzieren, wortlose Dialoge in Szene setzen. Playmobilfiguren sind hingegen, was sie sind. Mehr nicht. Sie sind belegt, wie Du sagt. Das Bild ist bereits fix und fertig auf die Figur gelegt, Verwandlung eigentlich nicht vorgesehen und Phantasie kaum gefragt. Aus meiner Sicht ist es eine große Kunst, die Plastikwelt, in der wir uns befinden, so abzuspecken, dass die Dinge – und insbesondere das Theater – wieder einfach werden und gerade darum ihre Komplexität entfalten können. Genau das geschieht in Eurem Stück. Alles wird möglich. Die Einspielung ist nicht nur ohne Sprache, sie macht auch – auf manchmal beglückende Weise – sprachlos. Man vermutet übrigens, dass selbst in den Mythen oder Märchen, die Erzählung gar nicht das zentrale ist, sondern dass unsere Einbildungskraft angestachelt wird. Wichtig erscheint, dass der Protagonist Unmögliches bewerkstelligen muss – Unterwelten durchlaufen, Hürden bewältigen, Abenteuer 5 bestehen. Wie ein Denkmal, das für ein wichtiges Ereignis steht, werden die Stationen markiert. Was dort im Einzelnen passiert, ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass es passiert und dass dort Wesentliches erlebt wird. Das Wesentliche, die Essenz – die Evidenz, wenn Du so willst – ist meist sowieso nicht in Worte zu fassen. Aber dies nur nebenbei bemerkt. Es ist auffällig, dass Erwachsene nicht müde werden zu fragen, ob Kinder es wohl verstehen? Wir unterschätzen Kinder nur allzu gerne. Natürlich verstehen sie – auf ihre Weise und vor allem, was sie verstehen wollen. Dass dabei vieles von dem auf der Strecke bleibt, was wir uns für sie ausdenken und ihnen gerne mitgeben würden, ist nicht ihr Problem, sondern ein Erwachsenenproblem. Kinder verstehen intuitiv – mit ihrem Körper, durch die Sinnen, durch ihr Gespür. Michael Lurse Wir versuchen alles in Worte zu fassen. Und was wir nicht in Worte fassen können, versuchen wir als nicht existent zu beschreiben. Das ist ja auch so in den Wissenschaften. Was die Wissenschaft nicht beschreiben oder erklären kann, das existiert ja im Grunde gar nicht. Und wenn man eine Weltauffassung hat, die ganzheitlich ist, dann spürt man, dass da was fehlt. Es gilt nur, was in Sprache zu fassen ist – so funktioniert Schule, Universität wahrscheinlich auch. Wenn der Rest nicht existent ist, was ist das für ein Leben? Da fehlt doch etwas Wesentliches. Frage ein Kind, ob es drei oder fünf Jahre alt ist: "Was hast du da gesehen? " Na klar, da war der Kasperl oder da war so ein Mann oder irgendwas. Da haben sie sich gar nicht so um ein Verstehen bemüht, sie waren im Erleben. Das geht mir selber auch so, wenn ich ein gutes Stück gesehen habe. Da soll mich bitte nicht 10 Minuten danach jemand fragen, was ich gesehen habe, das finde ich fürchterlich. Ich meide auch Begegnungen mit Leuten, wo ich genau weiß, dass sie mich danach fragen. Ich geh’ dann immer woanders raus aus dem Theater, damit mir das nicht passiert. Weil ich es erst einmal durch mein System laufen lassen will und dann steigt schon irgendetwas auf und das war vielleicht etwas von Bedeutung und der Rest war vielleicht nicht bedeutsam. Hanne Seitz Was heißt das für die Vermittlung? Ist Vorarbeit oder Nacharbeit wichtig, wenn man mit Kindern ein Stück wie „Holzklopfen“ anschaut? Was habt Ihr da für Erfahrungen? Michael Lurse Wir haben viele Kindergärten gehabt, die ihre Bauklötze weggeräumt und sich Brennholz besorgt haben. Durch das Theaterstück haben die bemerkt, Bauklötze sind viel zu einfach weil geometrisch. Brennholzstücke sind nicht so geometrisch, die stehen ja nicht einfach, da muss man sich viel mehr anstrengen, um etwas zu konstruieren. Dabei lernt man natürlich auch mehr: über die Schwerkraft und Statik und diese ganzen Dinge auf natürliche Weise. Hanne Seitz Kulturelle Bildung ist ja zur Zeit en vogue und damit die Frage, ob und wie ästhetische Praxis zur Identitätsbildung beitragen, wie sie Handlungs- und Sozial- und Wissenskompetenz entwickeln kann. Du hast Erfahrungen, wie so ein Stück wie „Holzklopfen“ wirkt. Aber Du könntest sicher keinen Nachweis abgeben, dass Kunst unsere Kinder zu klügeren, kompetenteren, gar zu besseren Menschen macht – oder? Der Kunst ist das egal und zuletzt geht es auch gar nicht darum. Es geht darum, das Leben kennenzulernen. Wenn bei einem Stück Kunst dann auch noch Wissen abfällt, umso besser. Aber die ästhetische Einstellung interessiert sich dafür nicht – eher schon für Bildungsprozesse, die dazu anregen, sich ein möglichst vielfältiges Bild von der Welt machen zu können. Bei ausreichender Anregung geschieht dies dann auch meist von ganz alleine. Die Einbildungskraft will angestachelt sein und jenem Eigensinn begegnen, der der Kunst innewohnt, sie will erforschen und erproben und einsehen, herausfinden, was Dinge und Menschen tun können, wie 6 das Leben spielt und bisweilen auch, wie es einem (unter Tränen oder Lachen) mitspielt. Vor lauter Rechtfertigungszwänge gestellt, bleibt das künstlerische häufig außen vor – besonders wenn es um die Allerkleinsten geht, die angeblich davon nichts verstehen. Ein pädagogischer Nutzen muss her und dieser auch evaluiert werden. Doch wenn Kinder in den Bann ästhetischer Einspielungen geraten, gibt es kein Halt. Die Antwort darauf, was ein Theaterbesuch nachhaltig bewirken kann, ist, wenn überhaupt, nur auf ästhetische Weise herauszufinden. Das zumindest zeigen uns die Kinder eindrucksvoll. Erwachsene können von ihnen diesbezüglich noch einiges lernen. Michael Lurse Die Rolle der Erwachsenen in dem Ganzen ist noch ein ganz eigenes Thema. Ich glaube schon, dass wir unseren Erfahrungsvorsprung ernst nehmen müssen. Kinder, die allein spielen, werden die Welt nicht neu erfinden, dazu brauchen sie uns. Wenn wir dann z.B. sagen, wenn dein Turm höher werden sollte, wenn es Dein Wunsch ist, dann müssen wir jetzt eine neue Technik anwenden, eine neue Methode entwickeln, dann unterstützen wir im besten Sinne. Hanne Seitz Ich möchte in unserer kleine Diskussion abschließend noch einmal auf die Wurzeln des Theater zu sprechen kommen. Euer Stück ist ja ein sehr sinnliches, körperliches, bisweilen auch rauschhaftes und räselhaftes Ereignis voller Energie und Atmosphäre. Kein Wort wird gesprochen. Ein Theaterereignis also, wie es das auf Rolle und Text reduzierte bürgerliche Schauspiel kaum hervorbringt. Doch einige Formen der zeitgenössischen Theateravantgarde berufen sich wieder auf die Ursprünge; Die Künstler nehmen Anleihen am Ritual, am Spiel, an der Performance – keine Rollen mehr, keine dramatischen Texte, kein Schauspiel, keine vom Bühnengeschehen gelenkte Aufmerksamkeit, sondern Parallelhandlungen und multimediale performative Einspielungen. Theater zielt auf das Herstellen einer von Darstellern und Zuschauern im Hier und Jetzt geteilten Situation, bei der die Wahrnehmung der Zuschauer und ihr Bemühen um Deutung des Dargestellten im Zentrum stehen. Der technische Forschritt scheint an eine Grenze geraten. Wir sind durch die Neuen Medien derart entfremdet von der Welt, dass eine weitere Entfernung kaum mehr möglich erscheint. Wir müssen einen Schritt zurückgehen – nicht als Rückschritt, sondern im Bewusstsein all dessen, was wir erreicht haben. Vor dem Hintergrund unserer durch und durch ästhetisierten und mediatisierten Gesellschaft und mit Blick auf so manche Aufführung scheint das zeitgenössische Theater heutzutage fast wirklicher als die Wirklichkeit zu sein. Die digitalen Welten ermöglichen alles, aber nichts ist greifbar, nicht wirklich. Die situative und körperliche Präsenz des Theaters und auch des Tanzes haben hier einiges zu bieten. Sie füllen einen grundlegenden Mangel: die Sehnsucht nach Gegenwart. Und darum ist auch das Theater für ein junges Publikum so interessant – auch für erwachsene Zuschauer. Es sucht seine Darstellungs- und Handlungsformen auf einer ganz grundlegende Ebene. Das haben die Aufführungen hier in Villach (wie auch jene, die im letzten Jahr am Toihaus in Salzburg oder bei La Baracca in Bologna zu sehen waren) deutlich gemacht. Und diese Suchbewegung teilt es aus meiner Sicht auch mit den neuen avantgardistischen Theaterkünsten. Michael Lurse Ich bin in meinem Atelier herumgegangen, als wir beschlossen haben für die Kleinsten zu arbeiten. Da baue ich Puppen. Normalerweise habe ich da Holz und Wasser, Ton und Sand, Papier – alles, was man so braucht. Und da habe ich mir gedacht, wenn es um die Kleinen geht, fange ich vor dem Moment an, wo die Puppe gebaut wird. Ich nehme das Holz, aus dem normalerweise geschnitzt wird, als Grundmaterial und versuche mit den Kindern herauszufinden, was sind die Puppen, die Materialien, eigentlich bevor sie gestaltet werden? Und das war der Ansatz, wo wir gesagt haben, dahin gehen wir zurück. So einen Schritt zurück vor die gewollte Gestalt. Und damit arbeiten wir jetzt 7 und versuchen herauszufinden. Was ist das? Was kann es uns geben? Was kann es uns erzählen?, das jeweilige Material. Im besten Fall entsteht dann so was wie ein Theaterstück. Hanne Seitz Vielen Dank! Ich möchte mit einem etwas provokanten Spruch von Ad Reinhard schließen: "Kunst ist Kunst. Alles andere ist alles andere." Das wissen selbst kleine Kinder! 8