Die Verschwundenen von Ad de Bont Material zur Vor- und Nachbereitung bravebühne Wülflingerstrasse 36 8400 Winterthur 052 222 78 07 www.katerland.ch ; [email protected] Die Verschwundenen – Infos rund ums Stück Die Verschwundenen („Desaparecidos“) von Ad de Bont „Die Verschwundenen“ spielt in Argentinien. 1976 ergreift das Militär die Macht. Oppositionelle verschwinden, werden gefoltert und ermordet. Jahre später, 1988, hört ein vierzehnjähriger Junge, aufgewachsen in einem vornehmen Villenviertel der Stadt Buenos Aires, plötzlich auf zu sprechen. Als er im Fernsehen einen Grossvater sieht, der seinen Enkel sucht, erkennt er plötzlich, dass der Junge, dessen Bild der alte Mann mit sich herum trägt, er selber ist. Er beginnt, seine wahre Herkunft zu erforschen. Das Stück basiert auf einer wahren Geschichte. Das Theaterstück erzählt die Geschichte auf zwei Zeitebenen: 1976, das Jahr, als die Eltern des Jungen verschwinden. Aus dieser Zeit berichtet der Junge, erzählt nach, was er später darüber erfahren hat. 1988, das Jahr, als der Junge seine wahre Herkunft erfährt. Das Stück zeigt den Weg von der Sprachlosigkeit des Jungen bis zu der Begegnung mit seinem wahren Grossvater. Zwischen den Zeitebenen wird laufend gewechselt. Besetzung Simon Alois Huber spielt: den Jungen Raul Mihura/Federico Zecca Katharina Bohny spielt: die Frau des Offiziers Ines Mihura die Mutter von Federico Estela Lopez Volando die Grossmuter von Federico Angeles Lopez Volando Martinez eine Prostituierte Cordula Sauter spielt: Musik (Akkordeon) Eine freigekommene Gefangene Juana Sola Peter Hottinger spielt: den Friseur Guillermo Diaz den Psychiater Jorge Cradero den Vater von Federico Reynaldo Zecca den Offizier José Antonio Mihura Graham Smart spielt: den Grossvater von Federico Ernesto Lopez Volando 1 Einleitung Die Verschwundenen "Politik interessiert sie nicht, solange sie ihre Familie in Sicherheit weiss." Ernesto Lopez Volando, Grossvater im Stück „Die Verschwundenen“ über seine Frau Die Grossmutter im Stück „Die Verschwundenen“ interessiert sich nicht für Politik. Am Tag, als ihre Tochter mit Mann und Enkelsohn verschwindet, ändert sich das. Sie entscheidet sich, aktiv Widerstand zu leisten. „Die Verschwundenen“ befasst sich mit einem Zeitraum der argentinischen Geschichte, der bis in die Gegenwart wirkt. Bei der Recherche zu diesem Material stiess ich auf viele traurige Schicksale und es stellte sich mir die Frage, warum man eine solche Geschichte überhaupt erzählen soll. Was hat diese Geschichte mit uns zu tun? Mit jungen Menschen in der Schweiz? Für mich geht es in „Die Verschwundenen“ darum, mit der eigenen Geschichte zu leben, weiter zu leben, vorwärts zu gehen. Und dabei geht es nicht in erster Linie um die grossen Krisen. Viele Menschen leben nicht mehr in intakten Familien, viele Jugendliche schauen auf eine ungewisse Zukunft, Werte sind beliebig, viele suchen Halt. In vielen unserer europäischen Nachbarländer herrscht eine grosse Jugendarbeitslosigkeit, Staatshaushalte sind bankrott. Das sind - auch heutzutage - Nährböden für ungute Tendenzen. Ich vertiefte mich auch in Themen aus der jüngeren Schweizer Geschichte. Unter anderem in das Projekt „Kinder der Landstrasse“, als den Jenischen in der Schweiz die Kinder weggenommen wurden, um sie in „richtigen“ Familien unterzubringen. Je mehr ich las, und je mehr ich wusste, desto mehr Gründe fand ich warum, solche Geschichten erzählt werden müssen. Wir erzählen gegen das Vergessen. In diesem Material geht es um Argentinien, es geht um Macht und Ohnmacht, um Widerstand und Mut. Und so schliesst sich der Kreis zu unserem Stück. Es ist ein Modell dafür, was in einer Gesellschaft passieren kann, wenn wir nicht menschlich bleiben, nicht Widerstand leisten gegen Unmenschlichkeit. Theater spricht für sich. Um das Erlebnis zu intensivieren, ist eine Vorbereitung unterstützend. Ob ganz kurz mit dem Infoblatt auf Seite 1, oder etwas ausführlicher mit den Materialien dieser Mappe. Das Material ist unterteilt in einen Vor- und in einen Nachbereitungsteil. Ich wünsche Ihnen einen anregenden Theaterbesuch! Barbara Schüpbach Theaterpädagogin 2 Inhalt Seite Vorbereitung Arbeitsvorschläge - Stück/Zeittafel - Rollenwechsel 1 - Rollenwechsel 2 - Club-Spiel - Wichtige Begriffe im Stück 5 Kopiervorlagen V1 bis V3 - Stück/Zeittafel 6 - Rollenwechsel 1 7 - Wichtige Begriffe im Stück 8 Nachbereitung Arbeitsvorschläge - Das nachbereitende Gespräch - Macht und Ohnmacht: Raumlauf „Gross und klein“ - Macht und Ohnmacht: Szene Pflegevater/Sohn - Argentinien: Geschichtlicher Überblick - WM 1978 in Argentinien - Die Kinder der Verschwundenen - Widerstand - Die Mütter der Plaza de Mayo - Schreiben gegen die Diktatur - Argentinische Menschenrechtsbewegungen heute - Der, den ich suchte - Erinnern – Fotos von Gustavo Germano - Schuld und Sühne - Rechercheprojekt Schweiz - Tango - Textbeispiel Tango Cambalache 9, 10 3 Seite Kopiervorlagen - Macht und Ohnmacht: Szene Pflegevater/Sohn 12 - Argentinien: Geschichtlicher Überblick 13 - WM 1978 in Argentinien 14 - Die Kinder der Verschwundenen 15 - Widerstand - Die Mütter der Plaza de Mayo 16 - Schreiben gegen die Diktatur 17 - Argentinische Menschenrechtsbewegungen heute 18 - Der, den ich suchte 19 - Erinnern – Fotos von Gustavo Germano 20 - Schuld und Sühne 21 - Rechercheprojekt Schweiz 22 - Tango 23 - Textbeispiel Tango Cambalache 24 4 Anregungen und Spiele zur Vorbereitung Die Verschwundenen Vorbereiten auf Theater ist immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Medium Theater. Oft spricht das Theaterstück für sich. In unserem Fall ist dient der Rezeption des Stückes, wenn die Jugendlichen etwas wissen über die Form des Stücks und die Zeit, in der es spielt. Stück/Zeitafel Kopiervorlage V1 Stückinhalt und Zeittafel lesen. Verständnisfragen klären. Diskussion: Kennst du ähnliche Ereignisse aus der Geschichte? Was ist eine Diktatur im Gegensatz zu einer Demokratie? Welche Mittel wenden Regierungen an, um stark zu bleiben? Wie macht das die Schweiz? Kennst du ähnliche Ereignisse, die sich jetzt oder vor kurzem in der Welt ereignet haben? Rollenwechsel 1 Kopiervorlage V2 Die fünf SchauspielerInnen übernehmen im Stück 12 Rollen. Damit das für das Publikum funktioniert, werden bestimmte Techniken angewendet. Rollen lesen und sich überlegen, wie der Rollenwechsel wohl gemacht wird. Aus den Rollen Beziehungen herauslesen. Nachnamen vergleichen und in der Skizze rund um den Jungen Federico einzeichnen. Ergebnisse anschauen. Rollenwechsel 2 Spiel Vierergruppen bilden. Setting festlegen: im Büro, am Familientisch, in der Schule. Mindestens sechs Rollen ausdenken. Eine Figur bleibt immer die Gleiche und ist auf der Szene. Die anderen kommen als wechselnde Figuren zur Tür rein. Gründe finden fürs Aufund Abtreten. Das Publikum beschreibt anschliessend, welche Figuren es gesehen hat. Welche Methoden wurden angewandt? Was hilft beim Zuschauen? Club-Spiel Spiel und Reflexion Version 1: Alle stehen im Kreis. Eine Person geht in die Mitte und sagt: Ich gründe einen Club für…Fussballer oder Leute, die gerne essen etc. Alle, die in diesen Club gehören, gehen auch in die Mitte. Dann stellen sich alle wieder zurück in den Kreis und der nächste Club wird gegründet. Ziel ist es, möglichst nie allein da zu stehen. Version 2: Club erfinden, den man möglichst exklusiv für sich hat. Reflexion: Wer bestimmt im Alltag, in welchen „Club“, zu welcher Gruppe man gehört? Wo bestimmst du selber, wo wird über dich bestimmt? Mach eine Liste mit deinen Zugehörigkeiten: Kind, Schüler, Sportlerin, Leser, Tänzerin… Sammlung an der Wandtafel. Bereits genannte Begriffe werden nicht mehr notiert. Wählt als Klasse einen beliebigen Begriff. Stellt euch vor, ab morgen würde eine Gruppierung, zum Beispiel die der Sportler von der Regierung verboten. Denkt euch mögliche Folgen aus, die bei Zuwiderhandlung eintreten. In Kleingruppen diskutieren, was das in eurem Alltag oder dem eurer Freunde verändern würde. Was würdet ihr tun oder nicht tun? Würdest du dich wehren für dich oder für die anderen? Welche Form des Widerstandes brächte wahrscheinlich Erfolg? Wichtige Begriffe im Stück Kopiervorlage V3 Im Stück werden verschiedene Begriffe genannt, die ohne Erklärung nicht verstanden werden können. Auf dem Blatt sind sie zusammengestellt und kurz beschrieben. In Zweiergruppen Arbeitsblatt lesen. Verständnisfragen notieren. Kurzes Gespräch darüber. 5 Stück/Zeittafel V1 Die Verschwundenen(„Desaparecidos“) von Ad de Bont „Die Verschwundenen“ spielt in Argentinien. 1976 ergreift das Militär die Macht. Oppositionelle verschwinden, werden gefoltert und ermordet. Jahre später, 1988, hört ein vierzehnjähriger Junge, aufgewachsen in einem vornehmen Villenviertel der Stadt Buenos Aires, plötzlich auf zu sprechen. Als er im Fernsehen einen Grossvater sieht, der seinen Enkel sucht, erkennt er plötzlich, dass der Junge, dessen Bild der alte Mann mit sich herum trägt, er selber ist. Er beginnt, seine wahre Herkunft zu erforschen. Das Stück basiert auf einer wahren Geschichte. Das Theaterstück erzählt die Geschichte auf zwei Zeitebenen: 1976, das Jahr, als die Eltern des Jungen verschwinden. Aus dieser Zeit berichtet der Junge, erzählt nach, was er später darüber erfahren hat. 1988, das Jahr, als der Junge seine wahre Herkunft erfährt. Das Stück zeigt den Weg von der Sprachlosigkeit des Jungen bis zu der Begegnung mit seinem wahren Grossvater. Zwischen den Zeitebenen wird laufend gewechselt. Zeittafel 1976 Das Militär ergreift die Macht in Argentinien. Oppositionelle, Wissenschaftler, Studenten werden verhaftet. 1977 Beginn der gewaltfreien Proteste der Mütter der Verschwundenen auf der Plaza de Mayo. 1978 Die Fussball WM findet in Buenos Aires statt. Argentinien wird Weltmeister. Die Fifa arbeitet mit der Militärregierung zusammen. 1982 Falklandkrieg: Argentinien besetzt die Falklandinseln, die seit 1833 zu Grossbritannien gehören. Argentinien verliert diesen Konflikt. 1983 Ende der Militärjunta. Mehr als 30'000 Personen sind verschwunden. 1984 Die Aufarbeitung der Ereignisse dauert bis heute an. 6 Rollen V2 Simon Huber spielt: den Jungen Raul Mihura/Federico Zecca Katharina Bohny spielt: die Frau des Offiziers Ines Mihura die Mutter von Federico Estela Lopez Volando die Grossmuter von Federico Angeles Lopez Volando Martinez eine Prostituierte Cordula Sauter spielt: Musik (Akkordeon) Eine freigekommene Gefangene Juana Sola Peach Hottinger spielt: den Friseur Guillermo Diaz den Psychiater Jorge Cradero den Vater von Federico Reynaldo Zecca den Offizier José Antonio Mihura Graham Smart spielt: den Grossvater von Federico Ernesto Lopez Volando Zeichne die Beziehungen, die du aufgrund der Rollennamen erkennst: Raul/Federico 7 Wichtige Begriffe im Stück V3 ESMA Escuela de la Mecànica de la Armada, Ingenieurschule der Marine. Auf dem Foto sieht man as Hauptportal der Militärakademie ESMA in Buenos Aires, in der – während der reguläre Ausbildungsbetrieb weiterlief – etwa 5.000 Menschen gefoltert und ermordet wurden. Die Schule ist heute eine Gedenkstätte. MILITÄRJUNTA Von meist rechtsgerichteten Offizieren, oft nach einem Putsch gebildete Regierung; Kurzform: Junta. OPPOSITIONELLE Andersdenkende, die Widerstand ausüben. Im eigentlichen Wortsinn bedeutet oppositionell abtrünnig, abweichlerisch, ketzerisch. DIE MADRES DE PLAZA DE MAYO Die wohl bekannteste Widerstandsgruppe sind die Madres de Plaza de Mayo, die Mütter der Plaza de Mayo. Seit dem 30. April 1977 halten sie einmal wöchentlich am Donnerstagnachmittag eine Protestkundgebung auf dem zentralen Platz in der Hauptstadt Buenos Aires ab. Da Proteste im Stehen von der Junta verboten worden waren, drehten die Mütter an jenem ersten Donnerstag eine Runde um die Pyramide vor dem Präsidentenpalast. Sie wollten zu Juntachef Jorge Videla vorgelassen werden, um von ihm Auskunft über den Verbleib ihrer vermissten Söhne und Töchter zu erhalten. Das Kennzeichen der Madres sind ihre weissen Kopftücher, mit denen sie die Friedfertigkeit ihrer Proteste signalisieren. Zwar sind die Madres eine Angehörigenorganisation, zu den Kundgebungen zum Jahrestag des Militärputsches, zu denen die Mütter bis heute aufrufen, versammeln sich jedoch Zehntausende solidarische Argentinier. NACHT DER BLEISTIFTE In der Nacht des 16. September 1976, wenige Monate nachdem die Militärs in Argentinien die Macht übernommen hatten, werden die sechs SchülerInnen Daniel Alberto Racero, 18 Jahre alt, Maria Clara Ciocchini, 18 Jahre alt, Claudio de Acha, 17 Jahre alt, Horacio Úngaro, 17 Jahre alt, Franciso López Muntaner, 16 Jahre alt und Maria Claudia Falcone, 16 Jahre alt in und aus der Stadt La Plata verschleppt. Sie waren, wie viele andere SchülerInnen auch, in der Schülergewerkschaft UES (Union de Estudiantes Secundarios) organisiert. Bis 1975 hatten sie für den Erhalt des Schülertickets für Bus und Bahn demonstriert. Von den verschleppten sechs SchülerInnen aus Mar del Plata fehlt bis heute jede Spur. Alle sind "Kinder der Nacht der Bleistifte“. In einem Fernsehinterview erklärt der damalige Polizeichef der Provinz Buenos Aires, General Camps dazu: „Wenn diese Mütter sich in der gleichen Weise um ihre Kinder gekümmert hätten wie sie es heute tun, würden sie jetzt nicht das Verschwinden ihrer Kinder beklagen.“ 8 Anregungen und Spiele zur Nachbereitung Die Verschwundenen In der Nachbereitung besteht die Gelegenheit, sich etwas vertiefter mit den Themen des Stücks auseinanderzusetzen. Ich habe Material zusammengestellt, das sowohl den Hintergrund in Argentinien beleuchtet, als auch Vorkommnisse aus der jüngeren Geschichte der Schweiz aufgreift. Das nachbereitende Gespräch Diskussion Die Schüler/innen schliessen die Augen. Erinnert euch an bestimmte Bilder, kleine Situationen, oder auch Requisiten, Kostümteile, Farben, Töne, Stimmungen usw. aus dem Stück, die euch aus irgendeinem Grund besonders im Gedächtnis geblieben sind. Wenn jede/r eine oder mehrere besondere Momente aus dem Stück vor Augen hat, öffnet die Augen wieder und notiert diese auf einen Zettel, pro Eindruck einen Zettel. Sortiert anschliessend in der Klasse die Zettel nach Inhalt (Was?) und Form/Inszenierung (Wie?). Sortiert die Zettel mit inhaltlichen Momentaufnahmen noch einmal. Es gibt verschiedene Möglichkeiten für eine Reihenfolge: so sind die Momentaufnahmen im Stück vorgekommen so ist die Geschichte in Wirklichkeit chronologisch verlaufen Auch die Zettel mit formalen Eindrücken lassen sich weiter sortieren. Zu welchen Eindrücken äussern sich die Schüler/innen spontan während dem Sortieren? Was hat euch am meisten beeindruckt, beschäftigt,…? Was habt ihr erlebt? Welche Gefühle und Stimmungen sind aufgekommen? Was hat euch überrascht? Was war unerwartet? Welche Erwartungen haben sich erfüllt? Was hat euch irritiert und warum? Wovon hast du dir mehr gewünscht? Wie haben sie die Geschichte erzählt, gespielt? Mit welchen Mitteln? Die Beziehungsskizze aus der Vorbereitung (V1) nochmals anschauen. Inwieweit stimmt eure Zeichnung mit dem Stück überein? Macht und Ohnmacht: Raumlauf „Gross und klein“ Spiel Die Gruppe halbieren. Dieses Spiel braucht etwas Platz. Im Raum umhergehen. Die eine Hälfte macht sich gross, die andere klein. Wechseln. Die eine Hälfte macht sich breit, die andere schmal. Wechseln. Alle Grossen-Breiten suchen sich ein kleines-schmales „Opfer“. Benimm dich in der Position als Chef bzw. Diener/Unterhund. Wie machst du das? Die Figuren haben einen unterschiedlichen Status. Um diesen zu spielen gibt es ein paar Tricks. Bewegungen Sprache Verhalten im Raum Hochstatus Sehr langsame, vor allem wenige Bewegungen Langsam und ruhig sprechen Jemand wird im Hochstatus wahrgenommen, wenn er sich dem Raum gegenüber so verhält, als wäre er zu Hause: den Raum entspannt durchschreiten, aus dem Fenster gucken, Gegenstände, die im Raum sind, selbstbewusst benutzen, es sich auf den Sitzmöbeln gemütlich machen und so weiter. Tiefstatus Viele, kleine, hektische Bewegungen Schnell und zu laut oder zu leise sprechen Jemand wird im Tiefstatus wahrgenommen, wenn er sich in einem Raum wie ein Eindringling verhält: schüchtern, verzagt, nur auf der äusseren Stuhlkante kauernd, möglichst wenig Raum einnehmend. 9 Macht und Ohnmacht: Szene Pflegevater/Sohn Kopiervorlage N1 In dieser Szene erlebt der Junge seine Ohnmacht am deutlichsten. Aber auch die Mutter ist ohnmächtig gegenüber dem zornigen Vater. Bildet Dreiergruppen und lest die Szene in verteilten Rollen. Eine Person hat keinen Text. Sie verkörpert die Position des Jungen. Lest nochmals und gestaltet den Text. Lest wütend, erschreckt etc. Beantwortet folgende Fragen: Wie fühlt sich der Vater? Wer ist stark in dieser Szene? Wie fühlt sich Federico? Was würdest du an Federicos Stelle tun? Lest die Spielhinweise auf der unteren Blattseite. Ordnet jedem von euch eine Liste zu. Bestimmt ein Gesprächsthema, zum Beispiel: Am Schulkiosk ist geklaut worden. Versucht euch entsprechend eurer Liste zu verhalten. Verteilt die Rollen Vater-Mutter-Sohn. Wählt dazu ebenfalls etwas aus der Liste aus. Spielt die Situation Vater-Mutter-Sohn nach, den Text aus der Erinnerung. Wichtiger sind die Beziehungen der Figuren zueinander. Argentinien: Geschichtlicher Überblick Kopiervorlage N2 Zur vertieften Auseinadersetzung mit der Zeit in Argentinien kann die Situation des Landes davor näher beleuchtet werden. Der Überblick ist bewusst kurz gehalten. Bei erweitertem Interesse kann die Klasse selber recherchieren. WM 1978 in Argentinien Kopiervorlage N3 Der Zeitungsbericht beleuchtet eine sehr spezielle Situation während der Zeit der Junta: Die Fussball-Weltmeisterschaft in Argentinien 1978. Diskussion: Was denkt ihr darüber? Wie hätte die Schweiz/wie hätten die anderen Länder reagieren sollen? Hättest du an dieser WM teilgenommen? Die Kinder der Verschwundenen Kopiervorlage N4 Ein Machtmittel der Junta war, den Oppositionellen die Kinder wegzunehmen. Diese kamen in Heime oder wurden, wie im Stück erzählt, von Offizieren adoptiert. Das Blatt liefert eine kurze Hintergrundsinformation dazu und erzählt ein Beispiel einer Schauspielerin, die als Kind einen Bruder bekam. Als Erwachsene fanden sie dann heraus, dass dieser Bruder ein Kind von Verschwundenen war. Diskussion: Die Tochter hat gegen den Vater ausgesagt und den Kontakt abgebrochen. Was denkt ihr dazu? Überlegt euch, was die Mutter ihrer Tochter dazu sagen würde. Widerstand - Die Mütter der Plaza de Mayo Kopiervorlage N5 Hintergrundmaterial zu der Bewegung der „Madres de Plaza de Mayo“. Im Stück wird gezeigt, dass der Grossvater Angst um seine Frau hat, als sie demonstrieren geht. Auftrag: Klasse in zwei Gruppen teilen. Eine Gruppe sammelt Argumente für den Widerstand, die andere sammelt Argumente dagegen. Danach Austausch, Streitgespräch darüber, ev. in Form einer Talkshow („Der Club“). Die Lehrperson moderiert. Wichtig ist, dass nicht eine Seite recht bekommt. Alle Argumente sollen ihren Platz bekommen. Schreiben gegen die Diktatur Kopiervorlage N6 Der argentinische Schriftsteller Rodolfo Walsh hat während der Diktatur einen offenen Brief an die Militärregierung veröffentlich. Einen Auszug dieses Briefes habe ich bereit gestellt. 10 Rodolfo Jorge Walsh (* 9. Januar 1927, † 25. März 1977) war ein argentinischer Journalist und Schriftsteller. Er wird als Begründer des investigativen Journalismus in Argentinien betrachtet. 1977 verschickte er, wegen der seit 1976 herrschenden Militärdiktatur im Untergrund lebend, seinen "offenen Brief eines Schriftstellers an die Militärjunta" an verschiedene Tageszeitungen. Darin kritisierte er massiv verschiedenste Aspekte der Militärherrschaft, vor allem die gravierenden Menschenrechtsverletzungen und Morde an Oppositionellen. Am gleichen Tag starb er bei einem Schusswechsel mit Soldaten, die ihn verhaften wollten. Sein Brief gilt heute als wichtiges Zeitdokument der argentinischen Geschichte. Argentinische Menschenrechtsbewegungen heute Kopiervorlage N7 Die Aufarbeitung in Argentinien dauert bis heute an. Aus den „Madres“ sind Menschenrechtsbewegungen hervorgegangen, die auch heute noch aktiv sind. Der, den ich suchte Kopiervorlage N8 Erinnern – Fotos von Gustavo Germano Kopiervorlage N9 Der Text von Nora Strejilevich und die Fotos von Gustavo Germano sind zwei Beispiele von künstlerischer Aufarbeitung der Geschehnisse. Der Text ist ein Zwiegespräch mit dem verschwundenen Bruder Gerardo. Germano hat in seinem Fotoprojekt frühere Bilder nachgestellt. Auf den neuen Bildern fehlen diejenigen Personen, die „verschwunden“ sind. Die beiden Kopien als Anlass nehmen, darüber zu diskutieren, wie man weiterlebt nach solchen Erfahrungen. Was gibt Kraft? Stell dir vor, in deiner Familie wäre jemand verschwunden. Was würdest du, was würdet ihr machen? Die beiden Künstler haben einen Weg gefunden, ihre Gefühle, ihre Erinnerungen auszudrücken. Kennst du andere Wege dafür? Hast du Strategien für dich? Schuld und Sühne Kopiervorlage N10 Zeitungsartikel zur Verurteilung der beiden Ex-Diktatoren Bignone und Videla. Was denkst du zu der Bestrafung? Ist die Gerechtigkeit wieder hergestellt? Gibt es in so einem Fall Vergebung? Wie würdest du empfinden? Kannst du dir erklären, warum diese Verurteilung erst im Jahr 2012 zustande kam? Rechercheprojekt Schweiz Kopiervorlage N11 Anregung, die nähere Schweizer Geschichte zu erforschen. Auch in der Schweiz sind Menschenrechtsverbrechen passiert. Betroffen war dabei das Volk der Jenischen. Der wohl berühmteste Schweizer jenischer Abstammung ist übrigens Stephan Eicher. Auf der Kopiervorlage finden sich Stichworte und ein paar Internetadressen als Starthilfe. Tango Kopiervorlage N12 Textbeispiel Tango Cambalache Kopiervorlage N13 Im Stück spielt Cordula Sauter auf dem Akkordeon Tangostücke. Diese beiden Arbeitsblätter sind für Liebhaber des Tangos gedacht. Der erste Text beschreibt die Entstehung des Tangos und dessen Bedeutung anhand eines Zeitungsberichtes aus dem Jahr 1913. Während der Diktatur waren Versammlungen verboten. Daher wurden auch weniger Konzerte gespielt, vieles spielte sich heimlich ab, viele Künstler hatten das Land verlassen. Der Tango „Cambalache“ aus dem Jahr 1935 wurde während der Militärjunta sogar ganz verboten. Der Text erschien zu provokativ. Den Tango kann man auf youtube anhören. 11 Macht und Ohnmacht JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES JOSÉ ANTONIO INES N1 Sag, warum du nicht mehr redest. José! Bind ihn los! Misch dich nicht ein. Du tust mir weh. Weiss ich. Das geht nicht. Ines, halt dich raus. Das kannst du nicht machen. Wenn du redest, lass ich dich gehn. Sonst nicht. Dann mach ich es. Was? Ich dulde nicht, dass mein Kind misshandelt wird. Was? Dein Kind? Dieser Bastard? José! Ich hätte ihn gleich mit seiner Mutter… Was sagst du da? Er hätte gleich mit seiner Mutter verrecken sollen. Hast du seine Mutter ermordet? Tu nicht so scheinheilig. Also doch. Das weisst du doch schon lang. Mörder. Das wusstest du von Anfang an. Und trotzdem wolltest du ihn haben. Ich zeig dich an. Tu das. Er bekommt keine Luft mehr. Rede endlich, Bastard! Du bringst ihn um. Leuten das Leben schwermachen Widersprich ihnen. Beende die Sätze für sie. Sei unruhig, trommle mit den Fingern. Kritisiere ihr Äusseres, ihre Grammatik usw. Dringe in ihren Raum ein. Schau immer wieder weg. Sei nur an dir interessiert. Sich schuldig fühlen Entschuldige dich. Sag oft: Ist es recht so? Macht es dir etwas aus? Vermeide Blickkontakt. Lass den Kopf hängen. Als Held erscheinen Hab eine feste, volltönende Stimme. Stelle deine Kraft zur Schau. Halt den Kopf ruhig beim Sprechen. Geh Risiken ein. Lache laut. Sei stolz. Jemanden demütigen Tadle sie/ihn. Sie sollen es nicht wagen, dich anzumachen. Zieh Vergleiche. Mach sie vor anderen Leuten lächerlich. Gähne. Beleidige sie. Beschuldige sie eines Vergehens. 12 Argentinien - Geschichtlicher Hintergrund N2 1946 bis 1955: Die Ära Perón Juan Perón wird im Februar 1946 zum Präsidenten gewählt. Seine Regierung leitet weitreichende Sozialreformen ein. Argentinien gewinnt an Stärke. Das Schlagwort Justicialismo wird seiner Politik der sozialen Gerechtigkeit zugeschrieben. Dies verdankt er vor allem auch seiner Frau Eva Duarta de Perón, besser bekannt unter dem Namen Evita, die sich sozial sehr engagiert. Evita stirbt im Jahr 1952. Mit ihrem Tod schwindet auch die Beliebtheit Peróns. Dazu trägt auch die leere Staatskasse bei, hervorgerufen durch rückläufige Exporte und Missernten. Perón verliert seine Glaubwürdigkeit, als er durch eine unternehmerfreundliche Politik versucht, Argentinien aus der Krise zu führen. 1955 zwingt ihn die Opposition zur Abdankung. Er lebt fortan in Madrid im Exil. 1955 bis 1973: Unruhige Zeiten In den Jahren von 1955 bis 1973 wechseln sich 3 Militärregierungen mit 2 Zivilregierungen ab. Die Arbeitslosigkeit wird immer grösser. Massenarbeitslosigkeit und galoppierende Inflation führen im Mai 1969 zu einem Aufstand der Massen. Der Aufstand wird blutig niedergeschlagen. 1973 bis 1976: Die Rückkehr Peróns 1973 kehrt Perón aus dem Exil zurück, zusammen mit seiner dritten Frau María Estela, genannt Isabelita. Er wird Präsident mit dem Ziel, die Arbeiterschaft und Unternehmerschaft wieder zu versöhnen. Dies gelingt jedoch nicht. 1974 stirbt Juan Domingo Perón. Nachfolgerin wird seine Frau Isabel. Sie steuert einen immer härteren Rechtskurs, um die finanziellen Probleme Argentiniens in den Griff zu bekommen. Argentiniens Auslandsverschuldung steigt jedoch rapide. Die Konkurrenz am Weltmarkt ist gross. Im Untergrund bildeten sich Widerstandsorganisationen der Linksperonisten, z.B. die Montoneros, eine Studentenbewegung, die kommunistischen ERP, Ejéricito Revolutionaria del Pueblo. Im März 1976 wird Isabel Perón des Präsidentenamtes enthoben. 1976 bis 1983: Die Militärregierung Das Militär ergreift 1976 die Macht in Argentinien. Die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter ihm, denn es wird als Träger der argentinischen Moral angesehen. General Jorge Rafael Videla ist Kopf der neuen Machthaber. Doch auch ihm gelingt es nicht, die wirtschaftspolitische Lage zu ändern. Die Bevölkerung lässt sich aber durch Ereignisse wie die Fussball WM 1978, deren Gastgeber Argentinien ist, ablenken. Das Militär beginnt mit einer ideologischen Säuberung: Widerständler werden bekämpft, offen und verdeckt. Spezialkommandos verschleppen Menschen, foltern und töten sie. Die Gesamtzahl dieser verschwundenen Opfer wird auf mehr als 30.000 geschätzt. General Leopoldo Galtieri folgt Videla im Amt nach. Er besetzt 1982 die Falklandinseln (Islas Malvinas). Sie werden jedoch nach 3 Monaten durch die Engländer im Falklandkrieg zurück erobert. 13 WM 1978 in Argentinien N3 Die traurigste WM der Geschichte Als Argentinien den Finalsieg über Holland feiert, dringt der Torjubel in die Kerker der politischen Häftlinge durch. Das Konzentrationslager liegt direkt neben dem WMStadion. Die verbindende Kraft des Fussballs ist selten so deutlich geworden wie am 25. Juni 1978. Vor 77 000 Zuschauern besiegt die argentinische Nationalmannschaft in Buenos Aires die Niederlande mit 3:1. Der Held im Endspielstadion Monumental heisst Mario Kempes. Der zweifache Torschütze hat den Traum von 25 Millionen Argentiniern erfüllt: Fussball-Weltmeister! Im ganzen Land stürmen die Menschen auf die Strassen, ein noch nie gesehener Freudentaumel setzt ein. „Wer nicht hüpft, der kommt aus Holland!“, lautet der Schlager des Tages. Häftlinge und Wärter jubeln gemeinsam Nur 700 Meter vom Monumental entfernt hört man den Jubel der Tore bis in die Kerker der nationalen Armeeschule. Dort sitzen die politischen Gefangenen, die sich bei jedem Aufschrei aus dem nahen Stadion mitfreuen. Bis es schliesslich heisst: „Argentinien ist Weltmeister“. Einige Häftlinge dürfen sogar mit den Gefängniswärtern das Spiel am Fernseher verfolgen. Sie jubeln gemeinsam. Fussball verbindet. Ein paar der Insassen fahren die Wächter zu den Freuden-Korsos. Sie sollen sehen, dass das Volk unter der Militärregierung glücklich ist. Die WM 1978 ist das grausigste Kapitel in der Geschichte der Fussball-Weltmeisterschaften. Gut zwei Jahre zuvor reisst das argentinische Militär in einem Putsch die Macht an sich. Für Fifa-Präsident Joao Havelange ist dies aber kein Grund, das Austragungsland in Südamerika infrage zu stellen. Im Gegenteil: „Jetzt ist Argentinien in der Lage, die Weltmeisterschaft auszurichten“, freut sich Havelange zwei Tage nach dem Staatsstreich am 26. März 1976. Morddrohungen gegen Cruyff Die Militärjunta errichtet unter General Videla ein widerwärtiges Regime: „Es müssen so viele Menschen wie nötig in Argentinien sterben, damit das Land wieder sicher ist.“ Mindestens 30 000 Oppositionelle – darunter besonders viele Studenten – kommen bis zum Ende der Diktatur 1983 ums Leben. Darunter wohl auch über 100 Deutsche. Die Militärs nennen die Morde „verschwinden lassen“. Den Grossteil der Gräueltaten verübt die Junta in ihren ersten zwei Jahren bis zur WM 1978. Über einen Boykott der WM denken aber nur Frankreich und die Niederlande ernsthaft nach. Sportlich ist das Turnier wegen der politischen Umstände wenig wert. Die beiden Superstars der Zeit nehmen aus zweifelhaften Gründen nicht teil. Der Holländer Johan Cruyff gibt familiäre Probleme an. Gut 15 Jahre später berichtet er von einem Einbruch in sein Haus in Barcelona 1977: „Mir wurde eine Pistole an den Kopf gehalten.“ Franz Beckenbauer darf vom DFB-Präsidium aus nicht mitspielen, weil er im Ausland bei Cosmos New York unter Vertrag steht. (…) 1986 verdrängt den Titel von 1978 Der Gewinn der Weltmeisterschaft löst in Argentinien tatsächlich ein nationales Hochgefühl aus. Zeitzeugen sagen heute: „Wenigstens konnten wir uns auch mal wieder über etwas freuen. Wir sind alle auf die Strasse gerannt, um unser Adrenalin herauszuschreien.“ Stolz sind in Buenos Aires aber nur noch wenige auf den Titel von 1978. Ein Grund, um zu verstehen, warum der WM-Triumph 1986 einen derart hohen Stellenwert trägt: Der Titel in Mexiko mit Diego Maradona verdrängt die Erinnerungen an 1978. Die politischen Häftlinge aus dem Konzentrationslager neben dem Monumental-Stadion haben ebenfalls ihre Erinnerung an den Glücksrausch auf den Strassen von Buenos Aires. Die inhaftierte Graciela Daleo etwa darf während des Autokorsos ihren Kopf aus dem Wagendach strecken. Aber sie weiss: „Wenn ich jetzt schreie, ,ich bin eine Verschwundene´, niemanden würde das interessieren.“ Die Fifa-Funktionäre beenden die WM gemeinsam mit der Militärjunta bei einem rauschenden Festbankett. Fussball verbindet eben. Präsident Havelange schwärmt danach: „Die Welt hat das wahre Gesicht von Argentinien gesehen“. Donnerstag, 10.06.2010, 08:38 · von FOCUS-Online-Autor Alexis Mirbach, Buenos Aires 14 Die Kinder der Verschwundenen N4 Die Militärjunta richtete geheime Haftanstalten ein. In den etwa 340 landesweit verteilten Einrichtungen wurden oft mehr oder weniger willkürlich ausgewählte „Verdächtige“ ohne Prozess monate- oder jahrelang festgehalten. Fast alle Festgehaltenen wurden systematisch gefoltert und später umgebracht, nur ein Bruchteil davon wieder freigelassen. Kinder der Verdächtigen wurden mitgenommen. Familien von Offizieren konnten diese adoptieren, teilweise gegen Geld. Die Fotos stammen aus einem Theaterprojekt aus dem Jahr 2009, das sich mit dem Leben nach der Diktatur befasst. Die Fotos sind Originale der Schauspielerin Vanina Falco, deren Vater Polizist war. Aussschnitt aus dem Theaterstück „Mein Leben danach: Vanina Blas Vanina Blas Vanina Mariano Vanina Ich wollte schon lange aussagen, aber laut Gesetz durfte ich nicht gegen den eigenen Vater aussagen, ohne selbst ein Verfahren gegen ihn anzustrengen. Vor einigen Monaten habe ich einen Sonderantrag an die Justiz gerichtet und man hat mir die Genehmigung zur Aussage erteilt. Einer der Gründe, die die Kammer für ihre Entscheidung anführte, war, dass ich meine Zeugenaussage ja schon in einem Theaterstück mache. Jetzt darf ich endlich aussagen. Es ist das erste Mal, dass in einem Verfahren wie diesem eine Tochter gegen ihren Vater als Zeugin auftritt. Wenn sie ihn schuldig sprechen, wie viele Jahre bekommt er dann dafür? Zwischen siebzehn und fünfundzwanzig. Vor zehn Jahren habe ich beschlossen, dass ich ihn nicht mehr sehen will; inzwischen müsste er sechzig sein. Das heisst, wenn sie ihn verurteilen, stirbt er wahrscheinlich im Gefängnis. Das Traurigste daran ist, dass er immer mein Vater bleiben wird, auch wenn ich ihn nicht mehr sehen will. Und dein Bruder? Heisst er Mariano oder Juan? Seine biologische Mutter hatte ihm bei der Geburt den Namen Juan gegeben, doch mein Vater taufte ihn Mariano. Aber seit er alles erfahren hat, nennt er sich wieder Juan. Aber er sagt immer noch, dass ich seine Schwester bin. 15 Widerstand – Die Mütter der Plaza de Mayo N5 Die perfideste Methode der Sicherheitskräfte der Diktatur war das so genannte Verschwinden lassen: Die Verschleppten wurden nach ihrer Ermordung an geheimen Orten in anonymen Massengräbern verscharrt oder von Flugzeugen aus in den Rio de la Plata geworfen. Laut offiziellen Angaben erlitten fast 9.000 Menschen dieses Schicksal. Menschenrechtsorganisationen setzen die Zahl der Verschwundenen mit 30.000 sogar noch höher an. Der Widerstand gegen den Terror war wegen der sehr gefährlichen Situation versteckt und zögerlich – man riskierte bei Entdeckung sein Leben. Die bedeutendste Protestbewegung waren die Madres de Plaza de Mayo, eine zunächst lockere Organisation von Müttern von „Verschwundenen“, die sich jeden Donnerstag ab 1977 auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude in Buenos Aires trafen und dort, mit weissen Kopftüchern gekennzeichnet, stillschweigend Runden um den Platz drehten. Seit dem 30. April 1977 halten sie einmal wöchentlich am Donnerstagnachmittag eine Protestkundgebung auf dem zentralen Platz in der Hauptstadt Buenos Aires ab. Da Proteste im Stehen von der Junta verboten worden waren, drehten die Mütter an jenem ersten Donnerstag eine Runde um die Pyramide vor dem Präsidentenpalast. Sie wollten zu Juntachef Jorge Videla vorgelassen werden, um von ihm Auskunft über den Verbleib ihrer vermissten Söhne und Töchter zu erhalten. Das Kennzeichen der Madres sind ihre weissen Kopftücher, mit denen sie die Friedfertigkeit ihrer Proteste signalisieren. Diese gewaltlose Protestform wurde von den Militärs aus Angst um eine Radikalisierung der Opposition geduldet. Im Jahr 1977 schlossen sich Grossmütter, die auf der Suche nach ihren verschwundenen Enkelkindern waren, zu einer Organisation zusammen. Der erste Name der Organisation war Abuelas Argentinas con Nietos Desaparecidos. Später wurde der Name in Abuelas de Plaza de Mayo in Anlehnung an die Madres de Plaza de Mayo geändert. Viele Grossmütter waren zuvor bei den Madres de Plaza de Mayo aktiv geworden. Die beiden Gruppen trafen sich zu wöchentlichen Demonstrationen auf der namensgebenden Plaza de Mayo (vor dem Regierungspalast in Buenos Aires). Dort versuchten sie mit Fotos ihrer Kinder auf deren Verschwinden aufmerksam zu machen. Das Ziel der nicht-staatlichen Organisation war und ist es, alle Kinder, die während der Militärdiktatur entführt wurden, wiederzufinden und an ihre rechtmässigen Familien zurückzuführen. Viele der Grossmütter waren, bevor sie auf diese Weise politisch aktiv wurden, Hausfrauen. Die Grossmütter forderten bei verschiedenen Gerichtshöfen die Rückgabe ihrer Enkelkinder sowie die Untersuchung der Umstände ihres Verschwindens. Sie organisierten Demonstrationen, stellten Anfragen bei Gericht und den Kirchen und wandten sich auch an internationale Organisationen, wie die UNO. Obwohl viele Mitglieder der Organisation während der Diktatur bedroht wurden, verschwand keine der Aktivistinnen. 16 Argentinische Menschenrechtsbewegungen heute N6 Madres de Plaza de Mayo Der Kampf der Mütter richtet sich bis heute gegen die Situation der impunidad, also der Straflosigkeit, welche nach der Diktatur durch Begnadigungen und Amnestien erzielt wurden. Die Madres gelten in Argentinien als nationale Institution. Sie betreiben eine eigene Zeitung, einen Radiosender und eine Universität. Finanziell unterstützt werden die Mütter von internationalen Menschenrechtsorganisationen und durch Spenden. Heute ist der Weg frei für die Wiederaufnahme von Prozessen gegen Mitglieder der Junta. Abuelas de Plaza de Mayo und H.I.J.O.S Eng verbunden mit den Madres sind die Abuelas de Plaza de Mayo, die Grossmütter der Plaza de Mayo, deren Kampf sich auf das Auffinden der geraubten Kinder der Verschwundenen richtet. Hunderte Babys wurden ihren Müttern in Gefangenschaft weggenommen und Familien von Angehörigen der Sicherheitskräfte übergeben. Die Kinder wuchsen auf, ohne ihre wahre Identität zu kennen. Mithilfe von Recherchen und dem Vergleich von DNA-Proben gelang es den Abuelas bis Juli 2007, 87 solcher Fälle aufzuklären. Die Nachfahren der Verschwundenen sind seit 1995 organisiert. Zusammen mit ExHäftlingen und Politaktivisten haben sie H.I.J.O.S., eine strikt horizontal organisierte Menschenrechtsbewegung mit mehreren regionalen Sektionen (in Córdoba, Rosario und Buenos Aires) gegründet: Die "Hijos por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio" ("Söhne und Töchter für die Identität und die Gerechtigkeit gegen das Vergessen und das Schweigen") wollen den Kampf der Elterngeneration für eine gerechtere Welt fortsetzen. In der Öffentlichkeit wurden sie vor allem durch die von ihnen entwickelte Aktionsform des „escrache“ bekannt. Um gegen die Straflosigkeit zu protestieren, halten sie vor Wohnhäusern ehemaliger Junta-Mitglieder und Menschenrechtsverbrecher lautstarke Kundgebungen ab. Mit der öffentlichen Brandmarkung wollen sie eine soziale Bestrafung der Täter erreichen. Durch Aufklärungskampagnen im Vorfeld wird den Nachbarn mitgeteilt, wer neben ihnen wohnt. Die H.I.J.O.S. sind ebenfalls sehr aktiv im Kampf gegen die Nichtahndung aktueller Menschenrechtsvergehen. Seit der Rückkehr zur Demokratie 1983 wurden allein in Buenos Aires 1.900 Fälle leichtfertiger und mutwilliger Tötungen von Jugendlichen durch die Sicherheitskräfte gezählt. Kennzeichen der argentinischen Menschenrechtsorganisationen ist, dass sie die Problematik der Menschenrechte nicht als isoliertes Phänomen betrachten, sondern sie in einen grösseren Zusammenhang von sozialem und wirtschaftlichem Wandel stellen. Nach dem Selbstverständnis der Mütter stellen die Arbeitslosen die "neuen Verschwundenen des Systems" dar. So überrascht es nicht, dass sich Madres, Abuelas und H.I.J.O.S. auch an Protesten gegen die Folgen des neoliberalen Umbaus der argentinischen Wirtschaft beteiligen. Das ökonomische Modell, das 2001 und 2002 in die bislang schwerste Krise des Landes führte, wurde, so ihre Argumentation, vom Wirtschaftsminister der Militärdiktatur, José Alfredo Martínez de Hoz, eingeführt und mit Hilfe der Sicherheitskräfte gegen den massiven Widerstand von Gewerkschaften und sozialen Organisationen durchgesetzt. 17 Schreiben gegen die Diktatur – Rodolfo Walsh N7 Offener Brief eines Schriftstellers an die Militärjunta I Die Zensur der Presse, die Verfolgung von Intellektuellen, die Hausdurchsuchungen bei mir, die Ermordung guter Freunde und der Verlust einer Tochter im Widerstandskampf – das sind einige der Gründe, die mich nach beinahe dreissig Jahren als Journalist und Schriftsteller, in denen ich stets frei und offen meine Position vertreten konnte, nun zu klandestinen (heimlichen, geheimen) Formen der Meinungsäusserung zwingen. Die erste Jahresbilanz dieser Militärjunta brachte eine Flut offizieller Reden und Schriften hervor, worin alles, was Sie als Erfolge bezeichnen, Irrtümer sind; was Sie aber als Irrtümer zugeben, sind Verbrechen, und das, was verschwiegen wird, ist das eigentlich Unheilvolle. Am 24 . März 1976 stürzten Sie eine Regierung, an der Sie selbst beteiligt und für deren Schamlosigkeit Sie als Vollstrecker der repressiven Politik mit verantwortlich waren. (…) Eine solche Politik kann freilich nicht von langer Dauer sein und nur gewaltsam durchgesetzt werden: indem man die Parteien verbietet, die Gewerkschaften gegängelt, die Presse knebelt und einen Terror verbreitet, wie ihn die argentinische Gesellschaft noch nie gesehen hat. II 15 000 Verschwundene, 10 000 Gefangene, 4000 Tote, Zehntausende, die aus dem Land vertrieben worden sind – dies sind die nackten Zahlen dieses Terrors. Als die herkömmlichen Gefängnisse überfüllt waren, verwandelten Sie die grössten militärischen Einrichtungen des Landes in regelrechte Konzentrationslager, zu denen kein Richter, kein Rechtsanwalt, kein Journalist, kein internationaler Beobachter Zugang hat. Die Anwendung des Militärgeheimnisses, für die Untersuchung all der Fälle als unumgänglich erklärt, macht die Mehrzahl der Verhaftungen de facto zu Entführungen, was Folter ohne jede Einschränkung und Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil ermöglicht.(…) Die Praktiken, die Sie anwenden, sind ein Rückschritt in jene Epochen, in denen die Gliedmassen und die Organe eines Folteropfers direkt angegriffen wurden. Heute geschieht dies mit chirurgischen und pharmazeutischen Hilfsmitteln, über welche die damaligen Schergen noch nicht verfügten. Zwar tauchen die Folterbank, die Daumenschraube, das Häuten bei lebendigem Leib, die Eisenkette der mittelalterlichen Inquisition in den Verhören allesamt wieder auf, doch ergänzt um die Picana [Elektroschockgerät], den Submarino [Waterboarding] und weitere technische Anpassungen an die Gegenwart.(…) III Das Militärregime weigert sich, die Namen der Gefangenen zu publizieren, und vertuscht so die systematischen Erschiessungen, die immer im Morgengrauen und in entlegenen Gegenden durchgeführt werden unter dem Vorwand frei erfundener »Kämpfe« und angeblicher »Fluchtversuche«. (…) Am 25. März 1977 verschickte Rodolfo Walsh den »Offenen Brief eines Schriftstellers an die Militärjunta« an die Redaktionen der argentinischen Tageszeitungen, in dem er die diktatorische Regierung ihrer zahlreichen Verbrechen anklagte. Am selben Tag wurde er von Soldaten auf der Strasse getötet. 18 Der, den ich suche N8 Welche Nummer soll ich wählen, wenn ich mit dir sprechen möchte, Gerardo? Leute, der den ich suche, spielt Gitarre, hat eine Schwäche für Kaffee, spielt Fussball und treibt noch anderen Sport, schaut gelegentlich fern und kocht besser als meine Mutter. Er geht auf Zeltlager und bleibt die ganze Nacht auf, hat Freunde in mehreren Sprachen, bereist den Kontinent und schreibt Gedichte in der Abenddämmerung und im Morgengrauen. Er ist dabei, seine Doktorarbeit über Materialwiderstand zu beenden, aber er widersteht nicht einmal dem Metall der Schere, die ich mit 4 Jahren nach ihm werfe. Er möchte mal heiraten. Er ist politisch engagiert und sagt, er sei Atheist, aber ein Vaterunser hat er doch: dass alle essen, studieren, wählen können. Der, den ich suche, hat sprechende Augen, wilde Haare, eine beeindruckende Grösse, eine volltönende Stimme und die Gesten eines Kindes. Der, den ich suche, ist nicht älter geworden, seine Stirn ist nicht gefurcht, seine Schläfen nicht ergraut. Er ist gut in Mathematik, kann aber keine Kuh zeichnen. Als Kind hat er sich im Bad eingeschlossen und als junger Mann in seinem Zimmer. Als Erwachsener hat man ihn in ein Lager gesperrt. Ich versuche, Schlüsse zu ziehen, deine Geschichte so zurechtzuzupfen, dass die Ungewissheit verfliegt, eine Version zu schaffen, die Anfang, Mitte und Ende hat. Jemand hat erzählt, man habe dich erschossen. Jemand hat dich in der ESMA gesehen. ESMA, Gerardo ist erschossen worden, die dort haben das Ende beschlossen. Aus: Nora Strejilevich, „Una sola muerte numerosa“ 19 Gustavo Germano N9 1976: Orlando René Méndez, Laura Cecilia Méndez Oliva, Leticia Margarita Oliva 2006: Laura Cecilia Méndez Oliva 1970: Maria Irma Ferreira, Maria Susana Ferreira 2006: Maria Susana Ferreira 1969: Der Fotograf Gustavo M. Germano, Guillermo A. Germano, Diego H. M. Germano, Eduardo R. Germano 2006: Gustavo M. Germano, Guillermo A. Germano, Diego H. M. Germano 20 AUfarbeitung der Geschichte N10 ARGENTINIEN Ex-Diktatoren Videla und Bignone wegen Babyraubes verurteilt In Argentinien entführten Militärs in den Jahren 1976 bis 1983 etwa 500 Babys von Regimegegnern. Mitglieder der Junta bekamen dafür nun langjährige Haftstrafen. 06. Juli 2012 - 09:31 Uhr Argentiniens ehemalige Diktatoren Jorge Rafael Videla (Mitte) und Reynaldo Bignone (Zweiter von rechts) vor Gericht Die früheren argentinischen Diktatoren Jorge Rafael Videla und Reynaldo Bignone sind am Donnerstag wegen Babyraubes zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Das Gericht machte sie dafür verantwortlich, dass während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 Kinder inhaftierter Regimegegner ihren Eltern systematisch geraubt und unter falschem Namen an regierungstreue Familien geben wurden. Gegen den 86-jährigen Ex-General Videla verhängte das Bundesgericht in Buenos Aires eine Gefängnisstrafe von 50 Jahren, berichtete die Nachrichtenagentur dyn. Der 84-jährige Bignone erhielt 15 Jahre. Vier weitere ranghohe Offiziere bekamen Strafen von 14 bis 40 Jahren Gefängnis. Zwei Angeklagte wurden freigesprochen. Menschenrechtsaktivisten zufolge starben während der Militärdiktatur rund 30.000 Menschen. Die Militärs gaben schätzungsweise 500 Neugeborene und Kleinkinder illegal an fremde und zumeist regimetreue Familien. Die leiblichen Mütter – und oft auch die Väter – wurden gefoltert und ermordet. "Eine Wiedergutmachung" In dem Prozess ging es um 35 Fälle geraubter Kinder. Bei 26 gelang es inzwischen, sie zu ermitteln und ihnen ihre wahre Identität zurückzugeben. "Dieses Urteil ist eine Wiedergutmachung nicht nur für die Opfer, deren Angehörige und Freunde, sondern für die gesamte Gesellschaft", sagte die Abgeordnete Victoria Donda nach der Urteilsverkündung. Sie selbst ist auch Betroffene: Donda wurde 1977 in der Marineschule ESMA geboren, wohin ihre Mutter von den Militärs verschleppt und dort später ermordet worden war. Erst 2003 fand sie mit Hilfe der Vereinigung der "Grossmütter des Maiplatzes" ihre wahre Identität. Ihr vermeintlicher Vater Juan Antonio Azic wurde am Donnerstag zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Die ehemaligen Diktatoren Videla (1976-1981) und Bignone (19821983) sind bereits wegen anderer Menschenrechtsverletzungen jeweils zwei Mal zu lebenslanger Haft verurteilt worden. COPYRIGHT: ZEIT ONLINE, dpa, AFP 21 Rechercheprojekt Schweiz N11 Argentinien scheint weit weg zu sein. Aber auch in der Schweiz wurden Kinder ihren leiblichen Eltern weggenommen. Recherchiere zu den untenstehenden Stichworten im Internet. Stichworte für die Recherche: Jenische, Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse, Kinderraub, Stephan Eicher. Hilfreiche Internetseiten: www.swissinfo.ch/www.beobachter.ch/www.radgenossenschaft.ch www.naschet-jenische.ch/www.jenischekultur.ch/www.gra.ch/ www.wikipedia.org Beantworte folgende Fragestellungen: Was sind Jenische? ___________________________________________________________________________ ___________________________________________________________________________ ___________________________________________________________________________ Wie und wo lebt diese Bevölkerungsgruppe in der Schweiz? ___________________________________________________________________________ ___________________________________________________________________________ Welche Sprache(n) sprechen sie? ___________________________________________________________________________ ___________________________________________________________________________ Was erfährst du über Kultur, Berufe, Religion? ___________________________________________________________________________ ___________________________________________________________________________ Was ist das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse? ___________________________________________________________________________ ___________________________________________________________________________ ___________________________________________________________________________ ___________________________________________________________________________ ___________________________________________________________________________ Und was hat Stephan Eicher (Sänger) damit zu tun? 22 Tango N12 Kalenderblatt: 20.11.1913 Kein Tango für Offiziere Offizieren in Uniform ist es ab dem 20. November 1913 verboten, Tango zu tanzen. Kaiser Wilhelm macht sich damit zum Vorreiter jener konservativen Kreise in Deutschland, die den argentinischen Salontanz als unsittlich verpönen und ablehnen. In den Hafenvierteln von Buenos Aires entstand Mitte des 19. Jahrhunderts ein neuer Tanz: der Tango. Im Lateinischen bedeutet das Wort "ich berühre". Ein treffender Name. Zu aufwühlenden Harmonien und hart stakkatierten Rhythmen tanzten die Paare zum ersten Mal auf der Welt in engstem Körperkontakt. Mit ihren Bewegungen erzählen sie Geschichten von Schmerz und Sehnsucht. In der "Encyclopedia of Latin America" ist über den Tango zu lesen: "Tango ist fordernde Leidenschaft, Zärtlichkeit, Melancholie und natürlich ein Spiel zwischen Mann und Frau. Er erzählt von gescheiterten Liebesbeziehungen, dem der Prostitution verfallenen Mädchen, Verlust der Jugend, des heimischen Stadtviertels." Seine unverwechselbare, melancholische Stimme erhält der Tango durch ein Musikinstrument, das deutsche Einwanderer nach Argentinien mitbrachten: Eine kleine Ziehharmonika aus der Werkstatt von Heinrich Band in Krefeld, dem Bandoneon. Der Tango, das Rinnsteinkind Der Tango ist kein vornehmer Tanz. Der Tango ist ein Kind der Hafenkneipen. Im Tango drücken die Vergessenen am unteren Rand der Gesellschaft ihr Leiden aus, das passte so gar nicht ins kaiserliche Kunstverständnis. Da griff der Kaiser durch. Wenigstens seine Lieblingsuntertanen, die Soldaten, sollten dem sündigen Treiben fernbleiben. Am 20. November 1913 erging ein Erlass, nach dem es Offizieren in Uniform verboten war, den Tango zu tanzen. © SPIEGEL ONLINE 2008 Bis in die fünfziger Jahre war der Tango der Gesellschaftstanz Argentiniens. Mit dem Sturz des argentinischen Präsidenten Juan Peron 1955 durch das Militär, schwindet zwangsläufig die Popularität des Tangos. Während dieser Zeit waren öffentliche Versammlungen aller Art verboten, was auch dazu führte, dass die Menschen nicht mehr tanzten. Viele Künstler gingen ins Exil. Erst mit dem Ende der Diktatur 1983 lebte der Tango wieder auf und man knüpfte dort an, wo man vor Jahrzehnten aufhören musste, nämlich am Tanzstil der vierziger Jahre. 23 Tango „Cambalache“ N13 Enrique Santos Discépolo (1935) Deutsche Übersetzung: Frank Schladitz Cambalache Que el mundo fue y será una porqueria, ya lo sé... (¡En el quinientos seis y en el dos mil también!). que siempre ha habido chorros, maquiavelos y estafaos, contentos y amargaos, valores y dublés... Pero que el siglo veinte es un despliegue de maldá insolente ya no hay quien lo niegue. Vivimos revolcaos en un merengue y en un mismo lodo todos manoseaos... ¡Hoy resulta que es lo mismo ser derecho que traidor..! ¡Ignorante, sabio, chorro, generoso o estafador! ¡ Todo es igual! Nada es mejor! ¡Lo mismo un burro que un gran profesor! No hay aplazaos ni escalafón, los inmorales nos han igualao. Si uno vive en la impostura y otro roba en su ambición, ¡da lo mismo que sea cura, colchonero, rey de bastos, caradura o polizón!... ¡Qué falta de respeto, qué atropello a la razón! ¡Cualquiera es un señor! Cualquiera es un ladrón! Mezclao con Stavisky va Don Bosco y "La Mignón", Don Chicho y Napoleón, Carnera y San Martín... Igual que en la vidriera irrespetuosa de los cambalaches se ha mezclao la vida y herida por un sable sin remache ves llorar la Biblia contra un calefón... ¡Siglo veinte, cambalache problemático y febril! ... El que no llora, no mama, y el que no afana es un gil. ¡Dale nomás! ¡Dale que va! ¡Que allá en el horno nos vamo a encontrar! ¡No pienses más, sentate a un lao que a nadie importa si naciste honrao! Es lo mismo el que labura noche y día, como un buey, que el que vive de los otros, que el que mata o el que cura o está fuera de la ley. Trödelladen Dass die Welt ein Schweinestall war und bleibt, das weiss ich schon, (im Jahr 506, und auch im Jahr 2000!) dass es immer Diebe gab, Machiavellisten und Angeschmierte, Zufriedene und Verbitterte, Wichtige und Falsche... Aber dass das 20. Jahrhundert eine unverschämte Entfaltung von Bosheit ist, kann schon niemand bestreiten. Wir leben in einem Durcheinander und mit demselben Schlamm werden alle befummelt. Heute sieht es so aus, als ob es egal wäre, aufrecht oder treulos zu sein! Unwissender, Weiser, Dieb, Grosszügiger oder Betrüger! Alles ist gleich! Nichts ist besser! Ein Esel ist dasselbe wie ein grosser Professor! Es gibt kein Vertagen noch eine Rangliste. Die Unmoralischen haben uns gleichgemacht. Der eine täuscht und verleumdet, der andere raubt ohne Skrupel... Ob Priester, Matratzenhersteller, König der Unterwelt, ein unverschämter Kerl oder ein blinder Passagier. Welche Respektlosigkeit, welche Beleidigung der Vernunft! Jeder ist ein feiner Herr! Jeder ist ein Gauner! Vermischt mit Stavisky kommt Don Bosco und "La Mignón", Don Chicho und Napoleon, Carnera und San Martin... Genauso wie in dem respektlosen Glasfenster der Trödelläden hat sich das Leben vermischt. Und verletzt mit einem Säbel ohne Niete, siehst du die Bibel weinen neben einem Wassererhitzer. 20. Jahrhundert, Trödelladen, voller Probleme und fiebernd! Wer nicht jammert, kriegt nichts, wer nicht klaut, ist ein Dummer. Geh weiter! Geh nur ! Dass wir uns dort im Ofen treffen werden! Denke nicht mehr, setze dich daneben, dass niemand sich dafür interessiert ob du ehrlich geboren bist! Derjenige, der Tag und Nacht wie ein Rind arbeitet, ist genauso wie derjenige, der von anderen lebt, und wie derjenige, der tötet, oder derjenige, der heilt oder der ein Gesetzesbrecher ist. 24 Quellen Literatur „Zweimal Überleben“, Eva Eisenstaedt ISBN 978-3-85476-345-1 „Eine kleine Geschichte Argentiniens“, Sandra Carreras, Barbara Potthast ISBN 978-3-518-46147-1 „Theaterspiele“ Keith Johnstone ISBN 978-3-89581-001-0 „Mein Leben danach“, Theaterstück von Lola Arias ISBN 978-3-88661-335-9 „Verschwunden“ - ein Fotoprojekt von Gustavo Germano mit Texten zur Diktatur in Argentinien 1976–1983 ISBN 978-3-940233-43-1 Internet Zeit online: www.zeit.de/politik/ausland/2012-07/argentinien-diktatur-babyraub Beobachter: www.beobachter.ch Spiegel online: www.spiegel.de Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de, Dossier Lateinamerika Grossmütter der Plaza de Mayo: http://www.abuelas.org.ar Sammlung von Informationen über Argentinien: www.argentina-argentinien.com Offener Brief von Rodolfo Walsh: www.rotpunktverlag.ch www.wikipedia.org Tangotexte: www.tango-rosetta.com 25