Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 VL Einführung in Sport und Gesellschaft 14.01. Was ist (Sport-)Soziologie? 15.01. Haben schon die alten Griechen "Sport" getrieben? Die Entstehung des Sports in der Perspektive verschiedener soziologischer Theorien 21.01. der Körper und die sozialen Wechselwirkungen der Körper als Medium von Handlung, Kommunikation, Ausdruck und Verstehen der Körper als soziales Gebilde: Formung, Technisierung, Zivilisierung und Disziplinierung des Körpers im Sport; der Körper als Medium der Erkenntnis (des einverleibten Sozialen) Die feinen Unterschiede: Sport und soziale Ungleichheit 29.01. Individuierung und Vergesellschaftung Gruppe und Figuration Vergemeinschaftung innerhalb und außerhalb des organisierten Sports Bodycheck: Die soziologische Bedeutung des Körpers im Sport 28.01. die figurations- und zivilisationstheoretische Perspektive die differenzierungs- und systemtheoretische Perspektive Das Individuum und die Gemeinschaft (Gruppe): Soziale Prozesse im Sport 22.01. Grundprobleme, Grundbegriffe, Paradigmen, Methoden die Hierarchie der Sportarten Distinktion und Integration sozialer Raum, Habitus und Geschmack Der soziale Raum des Sports in der Gegenwartsgesellschaft: Zwischen Vereinssport, Medienspektakel und Popkultur die Ausdifferenzierung der Sportlandschaft und die Entwicklung neuer kultureller Räume 1 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Merkmale der Sportentwicklung: De-Institutionalisierung, Spektakularisierung und Risikosuche der Wandel des Sports und der Wandel der Gesellschaft Literatur zu den Vorlesungsthemen 14.01. Was ist (Sport-)Soziologie? CACHAY, K./THIEL, A. (2000): Soziologie des Sports. Zur Ausdifferenzierung und Entwicklungsdynamik des Sports der modernen Gesellschaft. Weinheim und München. ELIAS, N. (1996): Was ist Soziologie? 8. Auflage, München. ESSER, H. (1993): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt/M. HEINEMANN, K. (1990): Einführung in die Soziologie des Sports, 3. Auflage, Schorndorf. HUININK, J. (2001): Orientierung Soziologie. Was sie kann, was sie will. Reinbek. JOAS, H. (HG.) (2001): Lehrband der Soziologie. Frankfurt/M.; New York. KORTE, H. (1993): Einführung in die Geschichte der Soziologie. 2. Auflage, Opladen 1993. KORTE, H./SCHÄFERS, B. (HG.) (1995): Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, 3. Auflage, Opladen. RIGAUER, B. (1982): Sportsoziologie. Grundlagen, Methoden, Analysen. Reinbek. SCHÄFERS, B. (HG.) (1995): Grundbegriffe der Soziologie. 4. Auflage, Opladen. TREIBEL, A. (1994): Einführung in die soziologischen Theorien der Gegenwart, 2. Auflage, Opladen. VOIGT, D. (1992): Sportsoziologie – Soziologie des Sports. Frankfurt/M. WEIß, O. (1999): Einführung in die Sportsoziologie. Wien. WINKLER, J./WEIS, K. (HG.) (1995): Soziologie des Sports. Theorieansätze, Forschungsergebnisse und Forschungsperspektiven, Opladen. 15.01. Haben schon die alten Griechen "Sport" getrieben? Die Entstehung des Sports in der Perspektive verschiedener soziologischer Theorien BETTE; K.-H. (1986): Körperspuren. Zur Paradoxie und Semantik moderner Körperlichkeit. Berlin; New York. BETTE, K.-H. (1999): Sport und Systemtheorie. Frankfurt/M. CACHAY, K. (1988): Sport und Gesellschaft. Schorndorf. DUNNING, E. (1981): Sport und Gewalt in sozialhistorischer Perspektive. In: KUTSCH, T./WISWEDE, G. (HG.): Sport und Gesellschaft. Die Kehrseite der Medaille. Königstein/Ts., S. 135 – 152. ELIAS, N. (1975): Die Genese des Sports als soziologisches Problem. In: HAMMERICH, K./HEINEMANN, K. (HG.): Texte zur Soziologie des Sports. Schorndorf, S. 81 – 109. 2 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 ELIAS, N. (1978/79): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., 6. Auflage, Frankfurt/M. ELIAS, N./DUNNING, E. (1983): Sport im Zivilisationsprozess. Münster. ELIAS, N. 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(HG.): Integrative Bewegungslehre; Teil 1: Gesellschaft, Persönlichkeit, Bewegung. Immenhausen, S. 132 – 178. GEBAUER, G. (1999): Bewegte Gemeinde. Über religiöse Gemeinschaften im Sport. In: MERKUR 605/606, S. 936 – 952. RITTNER, V. (1983): Zur Soziologie körperbetonter sozialer Systeme. In: KÖLNER ZEITSCHRIFT FÜR SOZIOLOGIE UND SOZIALPSYCHOLOGIE, Sonderheft 25, S. 233 – 255. 3 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer 28.01. WS 2001/2002 Die feinen Unterschiede: Sport und soziale Ungleichheit BOURDIEU, P. (1986): Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports. In: HORTLEDER, G./GEBAUER, G. (HG.): Sport – Eros – Tod. Frankfurt/M., S. 91 – 112. BRÖSKAMP, B. (1994): Körperliche Fremdheit. Zum Problem der interkulturellen Begegnung im Sport. St. Augustin. CACHAY, K./HARTMANN-TEWS, I. (HG.) (1998): Sport und soziale Ungleichheit. Stuttgart. GEBAUER, G (1986): Festordnung und Geschmacksdistinktionen. Die Illusion der Integration im Freizeitsport. In: HORTLEDER, G./GEBAUER, G. (HG.): Sport – Eros – Tod. Frankfurt/M., S. 113 – 143. LAMPRECHT, M./STAMM, H. (1995): Soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit im Breiten- und Freizeitsport. In: Sportwissenschaft 3, S. 265 – 284. WINKLER, J. (1995): Lebensstil und Sport. Der Sport als stilistische Möglichkeit in der Symbolisierung von Lebensführung. In: WINKLER, J./WEIS, K. (HG.) (1995): Soziologie des Sports. Theorieansätze, Forschungsergebnisse und Forschungsperspektiven. Opladen, S. 261 – 280. 29.01. Der soziale Raum des Sports in der Gegenwartsgesellschaft: Zwischen Vereinssport, Medienspektakel und Popkultur ALKEMEYER, T./GEBAUER, G./WIEDENHÖFT, A. (2001): Straßenspiele. In: FUNKE-WIENEKE, J./MOEGLING, K. (HG.): Stadt und Bewegung. Knut Diedrich zur Emeritierung gewidmet. Immenhausen, S. 45 – 67. ALKEMEYER, T./GEBAUER, G. (2001): Das Performative in Sport und neuen Spielen. In: PARAGRANA. Zeitschrift für Historische Anthropologie. Bd. 10, H. 1: Theorien des Performativen. Berlin, S. 117 – 136. BETTE, K.-H. (1997): Asphaltkultur. Zur Versportlichung und Festivalisierung urbaner Räume. In: HOHM, H.-J. (HG.): Straße und Straßenkultur in der fortgeschrittenen Moderne. Konstanz (auch in BETTE: Sport und Systemtheorie, s.o.) 4 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Einführung „Wenn man verstehen will, worum es in der Soziologie geht, dann muß man in der Lage sein, in Gedanken sich selbst gegenüberzutreten und seiner selbst als eines Menschen unter anderen gewahr zu werden.“ (N. Elias, Was ist Soziologie, S. 9) „Es soll von Verflechtungszusammenhängen die Rede sein, die Menschen produzieren und von denen Menschen produziert werden. Von der Einsicht in Verflechtungszusammenhänge ... wird abhängen, was die Menschen daraus, und damit aus sich, machen werden. Die prinzipielle Blindheit der Verflechtungs-zusammenhänge kann gebrochen werden, wenn die Menschen hellsichtiger werden. Eine sich wieder in Bewegung setzende Soziologie, soziologisches Denken, könnten dazu helfen.“ (D. Claessen im Vorwort zu N. Elias, Was ist Soziologie, S. 7) Problemfelder einer Soziologie des Sports 1. Die Genese des Sport als „relativ autonomes“ soziales Feld / System 2. Das Verhältnis von Sport und Gesellschaft bzw. anderen sozialen Systemen 3. Soziale Prozesse im Sport: Vergesellschaftung, Vergemeinschaftung, Gruppenbildung usw. 4. Institutionen und Organisationen im Sport 5. Der Körper (als soziales Gebilde) im Sport 6. Sport im Kontext sozialer Klassen und neuer Ungleichheiten (Geschlecht, Ethnizität usw.) 7. Entwicklungstendenzen des Sports: Ausdifferenzierung, Pluralisierung, EntInstitutionalisierung, Professionalisierung, Medialisierung usw. 8. Möglichkeiten einer „Soziologie vom Spiele aus“ 5 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Mikrosoziologische Ansätze Interaktionen in überschaubaren Lebenswelten; räumlich und zeitlich begrenzte, alltägliche Verhaltensweisen und direkte Interaktionen Symbolischer Interaktionismus: Georg Herbert Mead (1863-1931); Herbert Blumer (1900-1987) Ethnomethodologie: Harold Garfinkel (geb. 1917) Dramaturgischer Ansatz: Erving Goffman (1922-1982) Phänomenologische Soziologie: Alfred Schütz (1889-1959) Makrosoziologische Ansätze Größere soziale Gebilde und kollektive Vorgänge; soziale Systeme, die in Raum und Zeit relativ konstant bleiben, ihre Strukturen und langfristigen Effekte Struktur-Funktionalismus: Talcott Parsons (1902-1979) Theorie komplexer sozialer Systeme: Niklas Luhmann (1927-1998) Mikro-Makro-Theorien Wechselwirkungen zwischen Handeln und Struktur, Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft usw. Theorie des kommunikativen Handelns: Jürgen Habermas (geb. 1929) Figurations- und Prozesssoziologie von Norbert Elias (1897-1990) Die Ökonomie und Kultur vermittelnde Soziologie von Pierre Bourdieu (geb. 1927) Die Struktur- und Handlungsaspekte verknüpfende Gesellschaftstheorie von Anthony Giddens (geb. 1938) Zum Überblick: Annette Treibel: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. Opladen 1994 6 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Soziologie als Begriff Socius (lat.) = adj.: gemeinsam, verbunden, verbündet; subst.: Gefährte, Verbündeter, Mitmensch Logos (gr.) = sprachliche Darstellung, Wort, Kunde, Wissenschaft Soziologie = Wissenschaft vom Zusammenleben bzw. Miteinanderverbundensein von Menschen Auguste Comte , Mathematiker und Philosoph (1798-1857) 7 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Grundbegriffe Soziales Handeln: ein auf andere Menschen bezogenes Handeln, das von Bedingungen abhängt, die andere Menschen geschaffen haben. Soziale Handlungen werden nicht nur von Individuen ausgeführt, sondern auch von Gruppen oder Organisationen wie Unternehmen, Sportvereine oder Sportverbände. Jede Handlung schafft neue Handlungszwänge. Soziale Interaktion: Prozess, in dem sich Menschen aufeinander hin orientieren und in dem sie in wechselseitiger Reaktion auf ihr jeweiliges Verhalten handeln. Figuration: dynamischer Verflechtungszusammenhang von Menschen und ihren Handlungen. Rolle: Bündel von Verhaltenserwartungen, Einstellungen, Verpflichtungen und Privilegien, die von jedem erwartet werden, der einen bestimmten Status innehat. Sozialer Status: Position in einer Sozialstruktur, die bestimmt, wo der Platz einer Person innerhalb der sozialen Ordnung ist. Macht: ein Ungleichgewicht in menschlichen Beziehungen und damit eine Strukureigentümlichkeit menschlicher Beziehungen. Kultur: das (mehr oder weniger zusammenhängende bzw. integrierte) Muster von Weisen des Denkens, Bewertens und Kommunizierens, das die Lebensweise und den Lebensstil der Menschen prägt; Ideale, Wertvorstellungen usw., die die Wünsche und Träume der Menschen bestimmen. Sozialstruktur: ein Muster von Beziehungen und Positionen von Individuen; das ‚Grundgerüst’ der sozialen Organisation einer Population, z.B. die Klassen- oder Schichtungsstruktur einer Gesellschaft. 8 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Soziales Handeln - Soziales Handeln = sinnhaft am Verhalten des anderen orientiertes eigenes Verhalten: „Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z.B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wären ihr Versuch, dem anderen auszuweichen, und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung ‚soziales Handeln‘.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Aufl. 1921, S. 11) - „Soziales Handeln (einschließlich des Unterlassens oder Duldens) kann orientiert werden am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer … Die ‚anderen‘ können Einzelne und Bekannte oder unbestimmt Viele und ganz Unbekannte sein.“ (ebd.) - Soziale Handlungen werden nicht nur von Individuen ausgeführt, sondern auch von Gruppen oder Organisationen wie Unternehmen, Sportvereinen oder Sportverbänden. Soziale Interaktion - Soziale Interaktion ist eine Kommunikation unter Anwesenden. - Soziale Interaktion ist der Prozess, in dem sich Menschen aufeinander hin orientieren und in wechselseitiger Reaktion auf ihr jeweiliges Verhalten handeln. 9 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Macht - kein Besitz einer Person oder Gruppe - ein Ungleichgewicht in menschlichen Beziehungen - eine Strukureigentümlichkeit aller menschlichen Beziehungen 10 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias (1897-1991) - als Assistent des Soziologen Karl Mannheim Emigration 1933 nach Frankreich, 1935 weiter nach England - Hauptwerk: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (1939/1969). Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Norbert Elias: Theorie des Prozesses der Zivilisation Mikrosoziologische Ebene / Psychogenese: - Distanzierung vom Körper - zunehmende Affekt- und Gewaltkontrolle - Anheben der Scham- und Peinlichkeitsschwellen - Internalisierung äußerer Kontrollen / Transformation von Fremd- in Selbstkontrolle - Herausbildung des „Über-Ich“ - Verfeinerung der psychischen Struktur Makrosoziologische Ebene / Soziogenese: - Staatenbildung / staatliches Gewaltmonopol - arbeitsteilige Ausdifferenzierung / Verlängerung und Verdichtung der Interdependenzketten Mikro-Makro-Verbindung: - Komplexität der Gesellschaft und Komplexität des Individuums (Psyche, Emotionen etc.) bedingen einander. 11 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias – zentrale Annahmen 1. Der Prozess der Zivilisation ist ungeplant, aber nicht richtungslos. Seine Richtung ergibt sich aus einem Abstandnehmen vom Körper, zunächst vom Körper des Anderen, dann vom eigenen Körper. 2. Im Prozess der Zivilisation kommt es, ausgehend von den Oberschichten, zu langfristigen Veränderungen der menschlichen Psychostruktur und des individuellen Verhaltens. 3. Die Veränderungen des individuellen Verhaltens stehen in Zusammenhang mit Veränderungen der Gesellschaft (Beziehungen zwischen Individualstruktur und Sozialstruktur, Psychogenese und Soziogenese, Mikrosoziologie und Makrosoziologie). Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias – MikroEbene/Psychogenese - zunehmende Affektkontrolle, Trieb- und Verhaltensregulierung - Verinnerlichung äußerer Kontrollen / Transformation von Fremd- in Selbstkontrolle - Herausbildung der psychischen Instanz des „Über-Ich“ („Super-Ego“) - Anheben der Scham- und Peinlichkeitsschwellen Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias – MakroEbene/Soziogenese - Zentralisierung der Herrschaftsform / Bildung von Machtmonopolen / Staatenbildung / Gewaltmonopol - gesellschaftliche Differenzierung / Arbeitsteilung / Verlängerung und Verdichtung der Interdependenzketten - zunehmender sozialer Druck „von unten“ / Demokratisierung 12 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias – Mikro-Makro-Synthese Das Leben in komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaften setzt Verhaltenskontrolle, Triebaufschub und die Fähigkeit zu Langzeitplanung voraus. - Rationalisierung gesellschaftlicher Prozesse ↔ Rationalisierung des individuellen Verhaltens - Komplexität der Gesellschaft ↔ Komplexität der psychischen (emotionalen) Strukturen - staatliches Gewaltmonopol →befriedete Räume → Regulierung des „Leidenschaftsdrucks“ / Affektkontrolle - Problem: labiler Zustand des selbstkontrollierten Menschen - Druck der modellierten Affekte Sport im Kontext der Zivilisationstheorie Elias/Dunning: Quest for Excitement - Sport = Klasse der mimetischen Aktivitäten in der „Freizeit“ = Inseln im Meer der (Selbst-) Disziplin und (Selbst-) Kontrolle. - Ziel = kontrollierter, begrenzter und geregelter Aufbau von Spannung und Erregung in einer „langweiligen“ Gesellschaft mit kathartischer (reinigender) Wirkung - Risiko = Nichtanerkennung der Grenzen des Spiels 13 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Differenzierungs- und Systemtheorie - Hauptvertreter: Niklas Luhmann (1927-1998) - Wichtigste Publikationen u.a.: - Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie (1984) - Die Gesellschaft der Gesellschaft (1998) Differenzierungs- und Systemtheorie Grundbegriffe I - segmentäre, stratifizierte und funktional differenzierte Gesellschaften - Kommunikationsmedien: mündliche Sprache, Schrift, Buchdruck - Hauptmerkmal moderner, funktional differenzierter Gesellschaften = Komplexität (Vielschichtigkeit) Differenzierungs- und Systemtheorie Grundbegriffe II - System = autopoietischer Kommunikationszusammenhang mit eigener Leitunterscheidung (Code, z.B. wahr/unwahr in Wissenschaft; Sieg/Niederlage im Sport) - konstitutiv: System-Umwelt-Differenz - Luhmann: „Von sozialen Systemen kann man immer dann sprechen, wenn Handlungen mehrerer Personen sinnhaft aufeinander bezogen werden und dadurch in ihrem Zusammenhang abgrenzbar sind von einer nichtdazugehörigen Umwelt.“ (Soziologische Aufklärung, 1975, S. 9) 14 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Differenzierungs- und Systemtheorie Grundbegriffe III - Personen (in ihrer Gesamtheit betrachtet) = Umwelt sozialer Systeme - Inklusion der Personen (psychischen Systeme): partiell, rollenhaft, nach teilsystemspezifischen Erfordernissen Differenzierungs- und Systemtheorie Grundbegriffe IV Ebenen der Systembildung: - Interaktion (definiert durch Anwesenheit) - Organisation (definiert durch Mitgliedschaftsregeln) - Gesellschaft = „das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen“ (Soziologische Aufklärung, 1975, S. 11) Differenzierungs- und Systemtheorie Grundbegriffe V - Stabilitätsbedingung für die Teilsysteme = Leistungen für andere Teilsysteme - Funktion der Systeme = Reduktion von Komplexität durch stabile Innen / Außen – Differenz und Selektion 15 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Merkmale der Ausdifferenzierung des Sports - Ablösung körperlicher Bewegung von anderen Sinnbezügen (Umwelt) - (Rollen-) Spezialisierung - Rationalisierung - Bürokratisierung - Quantifizierung - eigene Leitunterscheidung (Sieg / Niederlage; weniger Leistung/mehr Leistung) Ebenen der Ausdifferenzierung des Sports - Ausdifferenzierung auf kultureller Ebene - Ausdifferenzierung auf sozial-struktureller Ebene - Ausdifferenzierung auf personaler Ebene Karl-Heinrich Bette: Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit (1989) - Gleichzeitigkeit von Körperverdrängung und Körperaufwertung im Prozess der Moderne - S. auch Volker Rittner: Zur Soziologie körperbetonter sozialer Systeme (1984) 16 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Das Individuum und die Gemeinschaft im Sport Gliederung 1. Der Begriff der sozialen Gruppe 2. Formelle und informelle Gruppen 3. Vergemeinschaftungen im (formellen) organisierten Sport und im (informellen), nur schwach organisierten Sport. Definitionselemente der sozialen Gruppe (nach Korte/Schäfers: Hauptbegriffe der Soziologie, 1995, S. 83) - bestimmte Anzahl von Mitgliedern (Kleingruppen 3 - 25 Personen) - ein gemeinsames Gruppenziel und ein Verhaltensmotiv für die Gruppe und jedes einzelne Mitglied - „Wir-Gefühl“ - ein System gemeinsamer Normen und Werte als Grundlage der Interaktionsprozesse - ein Geflecht aufeinander bezogener sozialer Rollen (Rollendifferential) Soziale Gruppe - „Eine soziale Gruppe umfaßt eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern (Gruppenmitgliedern), (Gruppenziel) über die zur längere Erreichung Zeit in eines einem gemeinsamen relativ Ziels kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozeß stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) entwickeln. Zur Erreichung des Gruppenziels und zur Stabilisierung der Gruppenidentität ist ein System gemeinsamer Normen und eine Verteilung der Aufgaben über ein gruppenspezifisches Rollendifferential erforderlich“ (Korte/Schäfers 1995, S. 83) 17 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Formelle Gruppe - der Zusammenschluss der einzelnen ist durch Satzungen und Kompetenzordnungen begründet - die Mitgliederbeziehungen werden tendenziell unpersönlich - die Organisation ist funktionsspezifisch, also auf fest umgrenzte Zwecke bezogen - formelle Gruppen im Sport: Vereine und Verbände mit ihren formalisierten Gruppenstrukturen Informelle Gruppen - kleine, ungeplante, auf face-to-face- Beziehungen basierende Gruppierungen ohne schriftlich fixierte Statuten - bilden sich oft spontan (ad hoc) im Rahmen formeller Organisationen (z.B. Betriebe, Vereine, Schulklassen) als Cliquen, Freundschaftsbeziehungen oder Interessengruppierungen - Informelle Gruppen im Sport: Cliquen im Rahmen von Vereinen; Gruppierungen im ‚unorganisierten` Sport (Lauftreffs, Gemeinschaften von Inlineskatern, Surfern, Mountainbikern usw.) Die Aufführung der Gesellschaft im Spiel Leithypothesen - Veränderungen im Feld des Sports und der Spiele haben Indikatorfunktion. - Neue Formen des Sporttreibens prägen neue Formen von Gruppenzugehörigkeit und Gemeinsamkeit aus, die über den Bereich des Sports hinausweisen. 18 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Formale Organisationen - rationale Zweckgebilde moderner Gesellschaften, die eindeutige Ziele festlegen und verfolgen - verfügen über eine fest gefügte Ordnung mit eindeutiger Arbeitsteilung und differenzierten Autoritätsebenen - die Aktivitäten der Mitglieder und die verfügbaren Mittel werden so koordiniert, dass die Erreichung des Ziels auf Dauer gewährleistet ist Konventioneller Sport und ‚postkonventionelle‘ Bewegungsspiele 1. Entgrenzung, Rekontextualisierung und Vermischung des Sporttreibens mit anderen kulturellen Praktiken zu Szenerien 2. Rahmungen, De-Institutionalisierung und Vergemeinschaftung über Attribute 3. Vergemeinschaftung und „leiblicher Stil“ / soziale Motorik Thesenkomplex 1 Grundlegende Merkmale der neuen Spiele sind Entdifferenzierung und Mischung. Die soziale und kulturelle Umgebung wird in das Spiel mit einbezogen; das Spiel ist umgekehrt Teil des öffentlichen Lebens. Thesenkomplex 2 Die neuen Spielgemeinschaften sind lockere, nur schwach institutionalisierte und organisierte, passagere Gemeinschaften. Ihnen ist eine prinzipielle Unschärfe eigen, die über klare (hierarchische) Ordnungen und (Sinn-) Strukturen hinausweist. Das Individuum bedarf der Gemeinschaft, aber verliert sich nicht an sie: ein „kommunitärer Individualismus“ (nach H. Keupp). 19 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Thesenkomplex 3 Über die Zugehörigkeit zu den neuen Spielgemeinschaften entscheiden weit mehr als im Verein persönliche Merkmale (Attribute). Die Gemeinschaften bilden sich als – sozial weitgehend homogene - „Code-Communities“. Codes, Bewegungsstile und Spielweisen machen gemeinsame Gefühle, Wertvorstellungen und Haltungen sinnlich fassbar. Sie signalisieren eine Abneigung gegen den etablierten Sport und mit diesem in Verbindung gebrachte gesellschaftliche Normalisierungs- und Standardisierungsansprüche. 20 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Sport und soziale Ungleichheit - Schlagenhauf, K.: Sportvereine in der Bundesrepublik Deutschland. Teil 1: Strukturelemente und Verhaltensdeterminanten im organisierten Freizeitbereich. Schorndorf 1977. - Lamprecht, M./Stamm, H.: Die soziale Ordnung der Freizeit. Soziale Unterschiede im Freizeitverhalten der Schweizer Wohnbevölkerung. Zürich 1994. - Kurz, D./Sack, H.-G./Brinkhoff, K.-P.: Kindheit, Jugend und Sport in NordrheinWestfalen. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage. Düsseldorf 1995. - Cachay, K./Hartmann-Tews, I. (Hg.): Sport und soziale Ungleichheit. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde. Stuttgart 1998. - Gebauer, G./Braun, S./ Suaud, C./ Faure, J.-M.: Die soziale Umwelt von Spitzensportlern. Eine Vergleichsstudie zwischen Deutschland und Frankreich. Schorndorf 1998. Sport und soziale Ungleichheit - Die Sport- und Vereinsneigung hängt von schichtspezifischen Sozialisationsbedingungen insbesondere in der Familie ab (Selektions- bzw. Sozialisationshypothese). - Das Freizeit- und Sportvereinsengagement unterliegt denselben sozialen Differenzierungen und Determinanten wie andere soziale Handlungsfelder. - Sportorganisationen durchbrechen die geringe Beteiligung der unteren sozialen Schichten am gesellschaftlichen Leben nicht. Sie rekrutieren sich selektiv aus den mittleren und gehobenen sozialen Schichten wie andere freiwillige Organisationen auch. - Die selektive soziale Rekrutierung der Vereinsmitglieder und die soziale Abkapselung vieler Sportarten macht eine schichtübergreifende horizontale Integration unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist eine partielle Segregation. (Schlagenhauf, a.a.O., S. 172f.) 21 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 Sport und soziale Ungleichheit Aus: Alkemeyer, Braun, Gebauer: Spitzensport, soziale Ungleichheit und soziale Reproduktion. In: Cachay/Hartmann-Tews, a.a.O., S. 189. 25,6% 78,3% 15,8% 20 bis 30 Jahre Bundesbürger Spitzensportler 25,8% 32,8% 20% Hauptschule Realschule Abitur Polytechnische Oberschule Sport und soziale Ungleichheit Aus: Alkemeyer, Braun, Gebauer: Spitzensport, soziale Ungleichheit und soziale Reproduktion. In: Cachay/Hartmann-Tews, a.a.O., S. 190. Spitzensportler Bundesbürger 31,1 9,9 5,4 14,5 12,1 18,1 30 bis 65 Jahre Vater 10,4 männlich 38,3 2,1 58,1 5,8 1,9 23,9 7,1 2,5 7,1 19,2 weiblich Mutter 59,4 Le hre Hochschule 7,2 55,9 (in Prozent) Fachhochschule Fachschule ohne Ausbildung Klassen, Lebensstile und Sportengagement: Zur (Kultur-) Soziologie Pierre Bourdieus (1930-2002) 22 Einführung in Sport und Gesellschaft Prof. Dr. Thomas Alkemeyer WS 2001/2002 - Zur (wissenschaftlichen) Biographie Bourdieus - Die Überwindung des Gegensatzes von “Objektivismus” und “Subjektivismus - Das Modell des sozialen Raumes - ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital • - Klasse und Klassifizierung - der Raum der sozialen Positionen und der Raum der Lebensstile - das Habituskonzept - die Theorie sozialer Felder und Kämpfe Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital (Bourdieu)Ökonomisches Kapital: Geld, Eigentum - Kulturelles Kapital: inkorporiert (Verhalten, Geschmack, Manieren usw.) objektiviert (Gemälde, Bücher, Schallplatten usw.)- institutionalisiert (Bildungstitel usw.) - Soziales Kapital: Sozialbeziehungen - Symbolisches Kapital = immaterielles „Kapital an Ehre und Prestige“ Das Habitus-Konzept - Vermittlungsglied zwischen Struktur und Handeln - „strukturierende Struktur“ bzw. „Erzeugungsprinzip von Strategien“ - das „Ensemble inkorporierter Schemata der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens, Bewertens, Sprechens und Handelns, das alle (expressive, verbale und praktische) Äußerungen der Mitglieder einer Gruppe oder Klasse strukturiert“ (Steinrücke 1988, S. 93) 23