Osterpredigt Johannes 20,16 „Die Magdalenen-Sekunde – in Jesus Gott sehen“ Gehalten von Pfr. Markus Unholz am 4. Apri 2010 in St. Gallen St. Georgen Mail: [email protected] Liebe Gemeinde Mit dem Titel des heutigen Gottesdienstes „Die Magdalenen-Sekunde“ habe ich – hoffentlich – einige gespannt gemacht, andere vielleicht auch etwas verwirrt. Worum geht es? Den Ausdruck „Magdalenen-Sekunde“ prägte der deutsche Regisseur und Dichter Patrick Roth. In seiner wunderbaren kleinen Erzählung „Magdalena am Grab“ (1) schildert er, wie er in einem einsamen Haus in der Hügellandschaft in der Nähe von Hollywood mit einer jungen italienischen Schauspielerin, Monica heisst sie, die Osterszene aus dem Johannes-Evangelium probt. Sie spielen und sprechen sie nach. In dem berührenden Augenblick als Maria Magdalena und der Auferstandene zusammentreffen – eben der Magdalenen-Sekunde, wie Roth diesen Augenblick nennt – ereignet sich Ostern ganz konkret für die Schauspielerin und den Regisseur, unsagbar und doch anrührend. Zeichen dafür, dass Ostern auch in unseren Lebensszenen stattfinden kann – in Hollywood – und bei uns. Doch folgen wir zunächst einfach der biblischen Maria Magdalena. In ihr kann unser eigenes Suchen nach Gott Ausdruck und Gestalt gewinnen. Ist Gott tot? Oder verschwunden? Oder begegnet er auch uns in österlicher Lebendigkeit? Maria beugt sich ins Felsengrab hinein. Das ist eine Höhle, und sie sucht dort vergeblich den toten Jesus. Dass ihr da in der Grabhöhle drin zwei Engel erscheinen und sie nach dem Grund ihres Weinens fragen, kann sie nicht trösten. Warum sollte sie denn nicht weinen? Ihr, die sie wohl Jesus ganz besonders nahe gestanden und ihm tief und umfassend verbunden gewesen war, mit ihrer ganzen Seele und vielleicht – warum auch nicht – auch leiblich, ihr war der lebende und nun auch noch der tote Jesus genommen worden. Dass die Frage der Engel „Was weinst du?“ keine dumme und keine zynische Frage war, konnte sie da, am leeren Grab, noch nicht erkennen. Und so wendet Maria sich um, dem Ausgang des Grabes zu. Es hält sie nichts mehr zurück. Im Gegenteil, getrieben von der unruhigen Frage, wo der Leichnam nun sei, will sie ihn anderswo suchen. Da erscheint ihr eine Gestalt, nur umrisshaft und undeutlich erkennbar im Gegenlicht der aufgehenden Sonne. Die Öffnungen der Gräber waren ja nach Osten hin ausgerichtet. Und schon wieder diese Frage „Was weinst du?“, die ihr noch immer sinnlos erscheint. Diese Schattengestalt vor der aufgehenden Sonne, sie kann nur der Gärtner sein, der den toten Jesus doch bitte herausrücken solle. Stellen wir uns vor, wie Maria an dieser Gestalt vorbeiging, weil sie keine Zeit verlieren wollte, um danach zu suchen, wo denn der scheinbar entwendete Leichnam hingekommen sein möge. Die beiden Hauptfiguren bewegen sich auf zwei Ebenen, die sich hier noch nicht berühren: Maria geht einerseits ihren menschlichen Weg, verstört und suchend. Sie verhält sich aber andererseits, wie sich Menschen in jüdischer Tradition bei einer Gottesbegegnung verhalten, freilich ohne dass sie realisieren würde, dass sie gerade eine solche Gottesbegegnung erlebt: Indem sie am vermeintlichen Gärtner vorbeigeht, in welchem ihr aber, wie sich gleich zeigen wird, Gott erscheint, tut sie das, was Mose, Elija und Jesaja getan haben, als ihnen Gott erschien. Sie verhüllten ihr Angesicht oder wandten den Blick ab. Gott oder der Mensch, der Gott sieht – einer von beiden muss weiter gehen. Wer Gott sieht, wer ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen bleibt, muss sterben, waren sie überzeugt. Dass Maria im Vorbeigehen und am Davonlaufen ist, das zeigt die Fortsetzung. Es ist eine der schönsten, innigsten und zartesten biblischen Szenen, die sich nun abspielt. Jesus dreht sich nach Maria um und ruft ihr – sie ist ja am Davongehen – ihren Namen zu: „Maria!“ Dieses eine Wort, die Nennung ihres Namens, genügt. Da wendet sie sich um. Seine Stimme und dass er sie, sie ganz persönlich, anspricht, lässt sie erkennen: Da erscheint mir Jesus. „Rabbuni – Meister!“ spricht sie ihn an, wie sie es immer getan hat. Eine tiefe Vertrautheit stellt sich ein in dieser gegenseitigen Anrede. Wunderschön. Eine neue, vielleicht noch umfassendere Vertrautheit als vorher. Ja, eine andere Vertrautheit als zuvor. Als Jesus noch als Mensch unter den Menschen lebte, haben sie sich wohl, wie man das unter guten Freunden manchmal tut, herzlich in die Arme genommen, wenn sie sich wieder begegneten. Jetzt aber sagt Jesus zu ihr: „Fass mich nicht an!“ Der Auferstandene erscheint Maria also in anderer, in neuer, in nicht mehr wie vorhin körperlich berührbarer Gestalt. Umarmen lässt er sich jetzt nicht mehr. Und doch ist er, wie sich im innigen Zwiegespräch zeigt, ganz präsent, ganz da. Das ist für mich das Geheimnis von Ostern. Ja, auch jetzt ist Gott, als der er sich Maria zeigt, nicht zu fassen. Aber er wendet sich in der Erscheinung des auferstandenen Jesus ihr zu, kennt sie und nennt sie beim Namen. Jetzt braucht sie sich und jetzt brauchen wir uns nicht mehr wie ehedem abzuwenden von Gott. Patrick Roth beschreibt es in seiner besonderen, dichterischen Sprache so: „Gott und Mensch (...) sehen einander nicht mehr. Stehen auseinander-gestellt. Aber jetzt: jetzt wendet sich etwas. Denn das Vorbeilaufen erst der Maria lässt Jesus sich wenden. Er dreht sich um nach ihr. Er muss sich gewandt haben, als er ihren Namen aussprach: Maria! (...) Erst bei dieser Namensnennung (einer Taufe) setzt die Bibel wieder ein und sagt, dass Magdalena sich wandte. Es ist das (...) entscheidende Mal, dass sie sich wendet, und in diesem SichWenden: verwandelt wird (...) Hier, in den Augen dieser leibhaftig sehenden Frau, kommt er zur Welt, als Auferstandener jetzt. Und damit wird Maria selbst zu einer Auferstandenen. Aber auch er hat sich in diesem Moment des Wiedererkennens verwandelt: Er ist nicht mehr der dunkle Gott, der sich nicht zu erkennen gibt, der fremd vor ihr, dann abgewandt von ihr stand, sondern jetzt ist er der Erkannte. Und Magdalena ist er darin – durch diesen Moment des Erkanntseins – auch auferstanden. (...) Jesus selbst ist ein „Sichgewandthabender“. Er wendet sich – noch bevor Maria von Magdala sich wandte. Sie zwingt (2) ihn dazu, so könnte man sagen. Wodurch? Durch ihr „Fehlen“, das heisst: durch ihr Am-Ziel-Vorbeigehen, zwingt sie ihn – oder er lässt sich zwingen zur Wendung. (...) Fühlend suchend geht sie. Und ist darin mit dem Ziel der Suche immer verbunden, auch im Fehler noch, im Fehlgehen selbst. Gott wandelt sich, sagt dieses Bild, durch unser Suchen nach Ihm, ja selbst durch unser An-Ihm-Vorbeigehen noch: wandelt er sich, um sich nach uns zu wenden nämlich, in seinem Verlangen zu sehen, das heisst: bewusst gesehen zu werden. (...) Die Magdalenen-Sekunde: das ist die Sekunde der Wiedererkennung: Mensch und Gott werden einander wieder bewusst. (...) Magdalena sieht und wird gesehen und er ebenso: Er sieht und wird gesehen.“ (aaO, 47-50) Maria mit ihrer Erfahrung der Magdalenen-Sekunde kann uns helfen, in der Erscheinung des Auferstandenen Gott zu sehen – Gott, der unfassbar, der geheimnisvoll bleibt und uns doch nahe ist, dem wir ohne Angst gegenüber stehen können, der unseren Namen kennt, der um unsere Not und unser Sehnen weiss. In der Magdalenen-Sekunde geschieht eine Umwälzung von unvorstellbarem Ausmass. Die Liebe einer Frau erweitert sich vom Menschlichen ins Göttliche, vom Endlichen ins Universale. Und das passiert ganz lautlos. Sie ahnte schon das Göttliche im Menschen Jesus. Und jetzt erkennt sie den Menschen Jesus im göttlichen Auferstandenen. Sie dreht sich um zu ihm und erlebt, dass sie dabei nicht stirbt. So wird Gott, ohne dass er fassbar, greifbar werden könnte oder müsste, ganz nah und ganz lebendig. Solche österlich befreiende, unser Leben wendende Magdalenen-Sekunden können sich auch bei uns ereignen. Jemand erkennt: Ich wandte meinen Blick, meine Aufmerksamkeit, meine Energie Totem zu, das ich damit auch nicht wieder lebendig machen kann, das mich aber derart gefangen hält, dass ich das Leben nicht sehe. Die Frage der Engel und dann auch des erscheinenden Auferstandenen „Was weinst du?“ gewinnt nun Sinn. Gewiss: Totem, Vergangenem, nicht mehr Zurückholbarem nachzuweinen, hat seine Zeit. Trauer hat ihre Zeit. Aber wer darin stecken bleibt, verpasst es, sich österlich neuem Leben zu öffnen, wenn es da ist. Ich bin überzeugt: Dieses begegnet auch uns immer wieder, richtet seinen Ruf an uns – und zwar gerade in dumpfe Karfreitagsstimmungen hinein. Ostern macht den Karfreitag, macht schmerzvolle Erfahrungen nicht ungeschehen und auch nicht wieder rückgängig. Aber Gott schenkt uns durch sie hindurch auf zarte und behutsame Weise neues Leben. So wie er es Maria Magdalena am Ostermorgen schenkt. Vielleicht haben Sie schon eine solche „Magdalenen-Sekunde“ erlebt. Es trat Ihnen in einem bestimmten Moment, an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Situation eine Vision von neuem Leben vor Augen. Es wurde Ihnen klar: Da will ich hin. Diese oder jene grössere Veränderung, menschlich, beruflich, persönlich, steht an. Der innere Lebenskompass findet eine neue Ausrichtung. Es wird nicht einfach werden. Ein langer, strenger, vielleicht auch steiniger Weg liegt vor mir. Aber innere Gewissheit über das neue Leben ist gewonnen. Warum soll ein solcher Moment nicht eine Begegnung in irdischen Umständen mit dem österlichen Christus sein, der mitten in unser Leben hinein auferstehen und uns aufstehen lassen kann? Aber auch, wo keine umwälzenden Veränderungen anstehen, kann sich eine Magdalenen-Sekunde ereignen: Wo das Leben kontinuierlich verläuft, sich äusserlich gesehen nicht gross verändert, vielleicht auch schwierig ist, bekomme ich von Gott unversehens einen neuen Blick geschenkt, der mich mit den gleichen Menschen und ihrer und meiner Geschichte neues, anderes, gutes Leben erfahren lässt. Auch so kann sich Ostern unter uns zeigen. Unspektakulär. Die österliche Magdalenen-Sekunde kann sich da ereignen, wo jemand sich davon lösen kann, selbst Regie zu führen. Patrick Roth beschreibt es so: Die Situation zwang mich, „meine persönlichen Vorstellungen und Phantasien, die ich von jenem Abend – und sicherlich auch in Hinsicht auf Monica – hatte, fallenzulassen und mich ganz eng (...) auf die nächsten Schritte, auf das wesentlich Neue, zu konzentrieren. In dieser Hinsicht war es nicht ich, sondern der Unbekannte, der hier inszenierte. Oder Monica war es, (...) die mich auf diesen Anderen und das Andere aufmerksam gemacht hatte. Ich jedenfalls war hier nicht Regisseur, ich war Teil der Szene, Teil des Geschehens: mit mir geschah etwas.“ (aaO, 45f.) Mit mir geschieht etwas. Eine „Magdalenen-Sekunde“: Leben kommt in Bewegung. Ostern. Amen. (1) Patrick Roth, Magdalena am Grab, Frankfurt am Main und Leipzig, 2003 (2) Die Vorstellung von Patrick Roth, Gott lasse sich zu etwas zwingen, finde ich problematisch. Ich vertraue aber darauf, dass sich Gott von der Not und vom Fehlgehen von Menschen bewegen lässt. So würde lieber sagen: „Sie bewegt ihn dazu...“