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Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
In der Hauptsache sind es zwei Dinge, durch die sich Richard Dedekind als Mathematiker
unsterblich gemacht hat. Das eine ist die Theorie der (mathematischen) „Ideale“, in diesem
Bändchen in einem eigenen Abschnitt behandelt, und das andere ist die Vollendung des
modernen Zahlbegriffs, des Begriffs der „reellen Zahlen“. Dieser Leistung Dedekinds und
ihrer mehr als tausendjährigen Vorgeschichte wollen wir uns in diesem Abschnitt zuwenden.
Dabei soll beleuchtet werden, woher die Probleme kommen, die durch Dedekind gelöst
wurden, was er an Lösungsansätzen aus der Vergangenheit vorgefunden hat, wie er durch
einen entscheidenden Dreh zum endgültigen Durchbruch gelangt ist, und was seine
Konkurrenten mehr oder weniger zur gleichen Zeit gemacht haben. Schließlich soll auch
angedeutet werden, wie es nach Dedekind weitergegangen ist mit der Entwicklung des
Zahlbegriffs, denn etwas endgültiges (wie ich es eben suggeriert habe) gibt es in der
Mathematik nicht.
Bevor wir einsteigen können, ist eine Warnung unbedingt erforderlich. Sie richtet sich an
diejenigen, deren Denkwelt durch den Gebrauch von (Taschen-)rechnern geprägt ist. Um eine
reelle Zahl anzugeben, benötigt man unendlich viele Nachkommastellen. Ein Rechner kann
nur endlich viele Stellen verarbeiten. Daher kennt ein Rechner prinzipiell nicht den Begriff
der reellen Zahl, um den es hier gehen wird. Für die Mathematik ist dieser Begriff aber
unentbehrlich. Als denkender Mensch muß man sich also von der Beschränktheit der Rechner
emanzipieren! Ansonsten wird alles, was im folgenden dargestellt werden soll, komplett
unverständlich. Die Zahlenwelt des Rechners ist diskret (sie macht Sprünge), hier geht es um
eine kontinuierliche Veränderbarkeit der Zahlen.
Im Jahre 1872 erschien im Braunschweiger Verlag Friedr. Vieweg & Sohn (dessen damaliger
Sitz heute das Braunschweigische Landesmuseum beherbergt) Dedekinds Schrift
„Stetigkeit und irrationale Zahlen“,
ein schmales Bändchen von nur 24 Seiten. Im Vorwort berichtet der Autor über die
Entstehungsgeschichte und sagt:
„Die Betrachtungen, welche den Gegenstand dieser kleinen Schrift bilden, stammen
aus dem Herbst des Jahres 1858. Ich befand mich damals als Professor am
eidgenössischen Polytechnikum zu Zürich zum ersten Male in der Lage, die Elemente
der Differentialrechnung vortragen zu müssen, und fühlte dabei empfindlicher als
jemals früher den Mangel einer wirklich wissenschaftlichen Begründung der
Arithmethik1. Bei dem Begriffe der Annäherung einer veränderlichen Größe an einen
festen Grenzwerth und namentlich bei dem Beweise des Satzes, daß jede Größe,
welche beständig, aber nicht über alle Grenzen wächst, sich gewiß einem Gernzwerth
nähern muß, nahm ich meine Zuflucht zu geometrischen Evidenzen.“
1
Lehre von den Zahlen
Dabei muß man sich vor Augen halten, daß die Züricher Studenten wohl künftige Ingenieure
waren, und daß Ingenieurstudenten naturgemäß und mit Recht nicht in erster Linie an den
gedanklichen Grundlagen der Mathematik, sondern an anwendbaren Rechenverfahren
interessiert sind. Um diesem Publikum eben jene für seine Bedürfnisse gemachte „höhere
Mathematik“ befriedigend zu erklären, fehlte Dedekind und seinen Zeitgenossen, wie er
feststellte, immer wieder eine ganz bestimmte wesentliche begriffliche Grundlage, etwas,
worauf man sich hätte berufen müssen, was aber nicht da war.
Es handelt sich dabei um etwas ganz unauffälliges, dessen immense Bedeutung keineswegs
auf den ersten Blick ersichtlich ist. Wir wollen daher den knappen Hinweisen von Dedekind
an dieser Stelle etwas nachgehen und erläutern, was es auf sich hat mit dem im obigen Text
(von mir) hervorgehobenen „Satz, daß jede Größe, …. sich gewiß einem Grenzwerth nähern
muß“ und wozu man diesen Satz denn braucht.
Quadratwurzeln und das Supremumsprinzip. Dazu (und nur dazu) will ich ein etwas
handgestricktes Verfahren schildern, das die Berechnung der Quadratwurzel einer reellen
Zahl erlaubt (es ist angeregt durch ein von Isaac Newton stammendes, viel professionelleres
Verfahren). Wir denken uns eine Zahl c größer als 4 gegeben und suchen eine Quadratwurzel
dazu, also eine Zahl b mit
. Wir wollen uns dem gesuchten b schrittweise nähern und
beginnen, indem wir die ganzen Zahlen 1,2,3,… durchprobieren und die die größte nehmen,
deren Quadrat nicht größer ist als ; wir nennen sie a. Dann ist also
Die gesuchte Zahl sollte also die Form
haben mit einem x zwischen 0 und 1. Wir
wollen
haben, aber diese Gleichung ist eher schwerer zu lösen als
, deshalb vereinfachen wir
sie (zunächst noch ohne Rechtfertigung, warten Sie etwas ab!) zu
Im Gegensatz zu x läßt sich dies y leicht berechnen, aber was ist es wert? Nun, schauen wir
uns das einmal an. Die Gleichung für zusammen mit der ausmultiplizierten Ungleichung
ergibt
Subtraktion von
, woraus
folgt
(am Schluß haben wir noch
benutzt). Division durch die positive Zahl
wir
ergibt
; mit
zusammen haben
und somit
.
Nun vergleichen wir einmal
(hierdurch haben wir
nach
mit dem Quadrat von
ja eingeführt), und somit
. Wir haben
.
Das bedeutet aber, daß der Abstand von
zu
gleich
ist, und von dieser Zahl
hatten wir gesehen, daß sie zwischen 0 und
liegt, also höchstens ein Drittel des Abstandes
von
beträgt. Mit anderen Worten: das Quadrat von
und
ausmacht, welcher ja genau
ist zwar immer noch nicht gleich , aber es liegt nicht mehr so sehr daneben wie das
Quadrat von .
Wiederholen wir diese Prozedur unendlich oft, so erhalten wir eine Folge von Zahlen
,
deren Quadrate dem Ziel c immer näher kommen, sie konvergieren gegen c:
Das sieht schon sehr verführerisch aus, aber jetzt kommt Dedekinds Problem: Können wir aus
der zuletzt gemachten Feststellung den Schluß ziehen, daß die Zahlen
selbst konvergieren,
und daß ihr Grenzwert b die Eigenschaft
hat, womit sich b als Quadratwurzel
qualifizieren würde? Ist also wirklich, wie wir vermuten,
??
Die Antwort auf diese Frage ist ja, aber um so zu schließen brauchen wir den Satz von den
beständig, aber nicht über alle Grenzen wachsenden Größen, von dem Dedekind spricht:
Jedes
ist größer als sein Vorgänger in der Folge, und alle sind kleiner als c, also gibt es den
Grenzwert b; auch um die Gleichung
zu begründen, muß man allerdings noch einmal
argumentieren, dazu später mehr. Der besagte Satz heißt heute das Supremumsprinzip, und
daß dieses Prinzip für reelle Zahlen gilt und eine fundamentale Aussage über sie macht, ist die
eigentliche Erkenntnis und das Anliegen Dedekinds.
Das Unendliche im Endlichen. Nun versuchen Sie bitte einmal, sich die Folge der Zahlen
aus der obigen Überlegung bildlich vorzustellen. Dazu benutzen wir die zu Dedekinds
Zeiten längst übliche Vorstellung, daß die Zahlen auf einer Geraden angeordnet liegen, und
zwar liegt eine positive Zahl d im Abstand d rechts von einem willkürlich gewählten, mit 0
bezeichneten Bezugspunkt, und die negative Zahl
liegt im gleichen Abstand links von 0.
Wir haben unendlich viele Zahlen
. Sie werden ständig größer (sie rücken weiter nach
rechts), bleiben aber alle unterhalb einer festen Schranke c. Welche Alternative gibt es denn
zu der gewünschten Eigenschaft, daß solche Zahlen einem Grenzwert zustreben? Die
Anschauung sagt, daß sie aus Platzgründen immer enger zusammenrücken müssen, und wenn
an der Stelle, wo das passiert, keine Zahl ist, dann hat die Gerade an dieser Stelle ein Loch,
ein schwarzes Loch gewissermaßen, das unsere Zahlen
für großes n verschlingt. Woher
wissen wir also, daß das nicht passiert? Das ist Dedekinds Problem. Wohlgemerkt, es handelt
sich hier nicht um eine Frage über die wirkliche Welt, denn weder Zahlen noch die Punkte
einer Geraden finden in der wirklichen Welt statt, es sind vielmehr Abstraktionen unseres
Geistes, begriffliche Schöpfungen des Menschen. Die Antwort auf die Frage, ob die Gerade
Löcher hat oder nicht, kann also nur dadurch gegeben werden, daß man den Zahlbegriff in
einer Weise präzisiert, die zu einer definitiven Entscheidung unserer Frage führt. Mit anderen
Worten, der Mathematiker muß selbst entscheiden, ob er eine Zahlengerade mit oder ohne
Löcher haben will. Dedekind erkennt und benennt dies mit der für ihn typischen Klarheit,
wenn er sagt2:
Und wüßten wir gewiß, daß der Raum unstetig3 wäre, so könnte uns doch wieder
nichts hindern, falls es uns beliebte, ihn durch Ausfüllung seiner Lücken in Gedanken
zu einem stetigen zu machen; diese Ausfüllung würde aber in einer Schöpfung von
neuen Punct-Individuen bestehen…..
Das hört sich verführerisch einfach an, man füllt einfach die Lücken aus, wenn welche da
sind, ist es aber nicht. Zuerst ist die Frage, woran erkennt man, wo Löcher sind? Wie spricht
man einzelne von ihnen an? Womit füllt man sie aus? Wie garantiert man, daß man beim
Ausfüllen alter Löcher keine neuen reißt? Wie arbeitet man mit dem schließlich entstehenden
Zahlsystem, ist es überhaupt handhabbar, kann man damit rechnen? Fragen über Fragen! Um
weiterzukommen, müssen wir weit ausholen und die Vorgeschichte seit der Antike, die
Dedekind natürlich bestens bekannt war, in einem zwangsläufig etwas flüchtigen Durchgang
vorstellen.
Daß hier etwas unheimliches vorgeht, wenn unendlich viele Zahlen auf endlichem Raum Platz
finden, haben zuerst die Griechen der Antike bemerkt, namentlich Zenon von Elea (etwa 490
bis 430 v.u.Z, Bild siehe im Abschnitt über das Unendliche), von dem uns das Paradox von
Achill und der Schildkröte überliefert ist, das in diesem Bändchen schon einmal auftrat. Der
für seine Schnelligkeit berühmte Achill tritt gegen die Schildkröte zum Wettrennen an.
Fairerweise gibt er ihr einen Vorsprung, sagen wir 100 Meter. Nehmen wir an, Achill brauche
10 Sekunden für diese 100 Meter, aber die Schildkröte ist die schnellste unter ihren
Artgenossen und schafft in den 10 Sekunden 10 Meter. Nach einer weiteren Sekunde ist
Achill an dieser Stelle angekommen, aber auch die Schildkröte hat schon wieder 1 Meter
zurückgelegt. Achill macht das in
Sekunde wett, nur um zu sehen, daß die Schildkröte
immer noch einen Vorsprung hat, der jetzt
Meter beträgt. Wie man sieht, kann Achill die
Schildkröte nicht einholen, weil beim Zurücklegen des alten Vorsprungs immer ein neuer
entsteht.
Jede der eben betrachteten Stationen des Wettlaufs findet zu einem Zeitpunkt statt, der als
endliche Teilsumme der unendlichen Summe
2
3
a.a.O., §3
gemeint ist: daß er Löcher hat
angegeben werden kann. Dies entspricht exakt der Situation in unseren Betrachtungen zum
Wurzelziehen, wo wir die unendliche Summe
antrafen, auf deren endliche Teilsummen
das Supremumsprinzip paßt; ebenso ist es auch
hier, und aus heutiger Sicht ist es so, daß das Supremumsprinzip uns für die Folge der AchillZahlen einen endlichen Grenzwert (nämlich die Zahl 11,111111…, unendlich viele Einsen
hinter dem Komma) liefert, und genau zu diesem Zeitpunkt sind Achill und die Schildkröte
exakt gleichauf; danach gewinnt Achill einen Vorsprung.
Für die alten Griechen war dieses Auftreten des Unendlichen im Endlichen extrem
beunruhigend, aber ihre ungeheure Leistung ist, daß sie es erstens bemerkt haben und
zweitens überaus konstruktiv auf die Beunruhigung reagiert haben, nämlich indem sie eine
außerordentlich aufwendige Untersuchung über den Zahlbegriff und über die Geometrie der
Strecken auf einer Geraden angestellt haben. Davon soll im nächsten Abschnitt die Rede sein.
Euklid und die Proportionenlehre des Eudoxos. Die Erfahrung mit Zenons Paradox hatte
die griechischen Mathematiker äußerste Vorsicht gelehrt; sie wußten, daß allzu naßforsche
mathematische Argumente sehr schnell in eine Aporie, d.h. in die Ausweglosigkeit, führen
konnten. Daher bestanden sie darauf, eine strenge Trennung zwischen den Begriffen Zahl und
Länge (von Strecken) durchzuhalten; dabei waren Zahlen nur die zum Zählen geeigneten, also
2, 3, 4 und so weiter. Schon die Einbeziehung der Eins war nicht selbstverständlich, an eine
Zahl 0 war nicht zu denken, ganz zu schweigen von negativen Zahlen. Außerdem wurden
mathematische Argumente nur akzeptiert, wenn sie auf wenigen klar formulierten Grundlagen
(Axiomen) fußten und jeder kleine Gedankenschritt mit größtmöglicher Strenge durchgeführt
war.
Euklid von Alexandria (etwa 360 – 300 v.u.Z.) hat in einer in 13 „Bücher“ gegliederten
Enzyklopädie mit dem Titel Elemente das mathematische Wissen seiner Zeit festgehalten. In
Buch V, etwa aus dem Jahre 325, stellt er die Proportionenlehre seines älteren Kollegen
Eudoxos von Knidos (etwa 410 – 350 v.u.Z.) dar. Es geht dabei um eine Art von „Rechnen“
mit Streckenlängen, das ausschließlich auf geometrischen Überlegungen beruht und daher als
gut gefeit gegen unerwartete Aporien gelten konnte. Wie wir sehen werden, hat Eudoxos
diese Streckenrechnung zu solcher Reife gebracht, daß man sich schon große Mühe geben
muß, um zu erkennen, daß er Dedekinds Leistung nicht etwa vorweggenommen hat. Bei all
dem darf man nie vergessen, daß die Griechen dieses Niveau des Denkens um des Denkens
willen ohne ebenbürtige Vorläufer in sehr kurzer Zeit erreicht haben.
Zunächst muß klar gesagt werden, daß die Proportionenlehre ohne eine Definition des
Begriffs der Länge von Strecken auskommt; nur der Begriff der Strecke ist nötig. Er ist durch
die Axiome der Geometrie abgesichert. Nun ist zunächst zu klären, wann zwei Strecken als
gleichlang (oder, kurz gesprochen, als gleich) anzusehen sind --- nämlich dann, wenn man sie
durch Verschieben und nötigenfalls Drehen der einen Strecke zur völligen Deckung bringen
kann. Nun kann man Strecken addieren (d.h., längs einer Geraden aneinandersetzen), und man
kann eine kürzere von einer längeren abziehen. Das Resultat ist jeweils wieder eine Strecke.
Nun ist klar, dass man auch sinnvoll von der doppelten, dreifachen, vierfachen Strecke und so
weiter sprechen kann. Bezeichnen wir Strecken einfach indem wir die Namen ihrer
Endpunkte nebeneinander schreiben, etwa AB, und ist n eine der natürlichen Zahlen 1,2,3,…,
so wollen wir das n-fache der Strecke AB mit nAB bezeichnen.
Kommensurable Streckenpaare. Dies genügt offensichtlich noch nicht, um zwei beliebige
Strecken der Länge nach vergleichen zu können. Zum Beispiel könnte das Verhältnis der
Längen, in heutiger Ausdrucksweise gesagt, ein Bruch sein,
zum Beispiel. Diese Situation
wird bei Eudoxos durch den Begriff der kommensurablen Streckenpaare erfaßt. Zwei
Strecken AB und CD heißen kommensurabel, wenn sie ein gemeinsames Vielfaches haben,
wenn es also Zahlen m und n gibt, derart, daß
ist. Die folgende Figur zeigt das Beispiel
:
Die Figur zeigt außerdem, daß es eine dritte Strecke UV gibt, von der beide gegebenen
Strecken Vielfache sind; es ist nämlich
und
. Dies ist der Grund,
warum die gegebenen Strecken kommensurabel heißen: sie haben das gemeinsame Maß UV.
Wählt man dieses Maß als Grundeinheit, so kann man beide Strecken durch ganze Zahlen
(hier 2 und 3) beschreiben. Das ist nicht nur bei diesem Beispiel so. Um zunächst ein weiteres
Beispiel zu betrachten, nehmen wir an es sei
; dann kann man die Strecke CD
verdoppeln und davon die Strecke AB abziehen, um ein gemeinsames Maß UV zu erhalten
(probieren Sie es aus!). Allgemein gilt für ein Streckenpaar mit
, daß es ein
gemeinsames Maß UV gibt, und daß
sowie
ist. Um das so allgemein
einzusehen, benutzt Euklid das Verfahren der Wechselwegnahme, das heute noch jeder
Mathematikstudent im ersten Semester in algebraischem Gewand und unter der Bezeichnung
Euklidischer Algorithmus kennenlernt.
Wir neigen dazu, den Sachverhalt
sofort mit unserer heutigen Interpretation zu
versehen. Wir bleiben nicht wie Eudoxos und Euklid dabei stehen, zu sagen, dass die Strecke
AB sich zur Strecke CD verhält wie die Zahl m zur Zahl n; wir wollen gleich den weiteren
Schritt machen und sagen, daß dies Verhältnis wieder durch eine Zahl ausgedrückt wird,
nämlich durch den Bruch . Es ist ganz wichtig, sich klarzumachen, das Euklid aus
Sicherheitsgründen nicht wagen kann und darf einen solchen Schritt zu tun. Proportionen sind
für ihn keine Zahlen, sondern Verhältnisse zwischen zwei Strecken oder allenfalls zwischen
zwei Zahlen. So etwas wie unsere Brüche hatte er einfach nicht!
Stattdessen betrachten Eudoxos und Euklid die Proportionen als selbständige neue Objekte
ihres Denkens. Ein kommensurables Streckenpaar mit
hat die Proportion
,
und ein anderes Streckenpaar
hat dieselbe Proportion wie das Paar
mit denselben Zahlen m und n die Gleichung
, falls
gültig ist.
Bis jetzt ist die Welt in Ordnung. Die Beschreibung der Längenverhältnisse von
Streckenpaaren durch Zahlen funktioniert so gut, und sie hat obendrein, wenn man an Längen
von Saiten eines Musikinstruments denkt, einen unmittelbaren Bezug zur Harmonie der Töne,
daß aus diesen Erkenntnissen ein großartiger Traum wurde, der Traum, alle Verhältnisse
zwischen beliebigen Dingen, die es in der Welt gibt, irgendwann einmal durch
Zahlenverhältnisse beschreiben zu können. Daß das zumindest bei Streckenpaaren immer
geht, hielt man für ausgemacht. Diesen Traum nährte die Schule der Pythagoreer, benannt
nach Pythagoras, dessen Satz über die Seitenlängen in rechtwinkligen Dreiecken wir alle in
der Schule gelernt haben und auch heute auf Schritt und Tritt brauchen (seine Ursprünge sind
aber älter als Pythagoras). Aber der Traum der Pythagoreer hatte ein jähes Ende:
Der Schock der Inkommensurabilität. Ausgerechnet an ihrem eigenen Logo, einem
sternförmig gezeichneten regelmäßigen Fünfeck, mußten die Pythagoreer feststellen, daß
nicht einmal alle Streckenpaare sich durch Zahlenverhältnisse vergleichen lassen. Die
Diagonale eines regelmäßigen Fünfecks ist nicht kommensurabel zur Seite desselben
Fünfecks. Die Pythagoreer würde man heute als Geheimbund bezeichnen, und man weiß nicht
sicher, wer der Unglückliche war, der das heilige System zum Einsturz brachte indem er dies
bewies und die peinliche Kunde aus dem Geheimbund nach außen schleuste; man vermutet es
sei Hippasos von Metapont gewesen. Verschiedene Legenden besagen, daß er geächtet und
schließlich ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurde, oder aber von den Göttern
bestraft wurde, die ihn durch Schiffbruch umkommen ließen.
Man merkte dann, daß es einfachere Beispiele von inkommensurablen Streckenpaaren gibt,
zum Beispiel Seite und Diagonale eines Quadrats. Nehmen wir an, daß die Quadratseite die
Länge 1 hat (in moderner Denkweise, für Euklid ist die Länge keine Zahl!), dann sagt der
Satz des Pythagoras, daß die Diagonale die Länge
hat. Wären die Strecken
kommensurabel, so müßte diese Zahl sich als Bruch
und q. Wenn
schreiben lassen, mit ganzen Zahlen p
das geht, dann gibt es auch einen gekürzten Bruch mit demselben Wert und wir können
annehmen, daß unser Bruch schon gekürzt ist. Dann kann höchstens eine der beiden Zahlen p
und q eine gerade Zahl sein. Andererseits ergibt sich aus unserer Annahme sofort, daß
ist, also muß p gerade sein und q ist dann ungerade. Aber wenn man
in obige
Gleichung einsetzt und durch 2 kürzt, sieht man, daß q doch auch gerade sein muß, ein
Widerspruch zu dem was wir wissen. Also kann es solche Zahlen p und q nicht geben.
Irrationale Proportionen. Man würde es gut verstehen, wenn die Griechen nach dieser
niederschmetternden Erkenntnis ihre kühnen Träume einfach aufgegeben hätten. Das haben
sie aber nicht getan, sondern jetzt kommt die eigentliche Leistung des Eudoxos: Er zeigte, wie
man über die Proportionen inkommensurabler Streckenpaare nicht nur sprechen und (das ist
das erste Grundbedürfnis) erklären kann, wann zwei solche Proportionen gleich sind, sondern
wie man mit diesen Proportionen im erweiterten Sinne all das machen kann, was man bis
dahin für die Proportionen der kommensurablen Paare schon konnte. Man konnte sie bereits
der Größe nach ordnen, und man konnte mit ihnen rechnen ― also all das, was wir mit
Brüchen gewohnt sind zu tun. Im Grunde handelt es sich ja auch nur um eine andere
Betrachtungsweise der Brüche.
Nun mache man sich das erste Problem, vor dem Eudoxos stand, zunächst einmal klar. Ein
kommensurables Streckenpaar ist vergleichbar, man kann seine innere Beziehung durch die
eines Zahlenpaares ausdrücken. Ein inkommensurables Paar ist eben nicht vergleichbar (in
sich selbst), wie kann man da hoffen, zwei in sich unvergleichbare Paare miteinander zu
vergleichen? Aber Eudoxos schafft genau das! Seine Definition der Gleichheit lautet wie
folgt:
Zwei beliebige (eventuell inkommensurable) Streckenpaare definieren dieselbe Proportion,
geschrieben
,
wenn diejenigen Zahlenpaare m,n, für die
die Beziehung
ausfällt, genau dieselben sind, für die
gilt.
Dabei bedeutet das Zeichen < einfach, daß die links stehende Strecke kürzer ist als die rechts
stehende, was ebenso wie bei der Gleichheit von Streckenlängen durch Verschieben der
Strecken festgestellt wird.
Die obige Definition ist einleuchtend: wenn man kein Zahlenpaar findet, das genau paßt, um
die Proportion zu beschreiben, dann verlegt man sich darauf, zu prüfen, bei welchen
Zahlenpaaren die linke Strecke
zu kurz bzw. zu lang wird. Aber sie ist kompliziert und
entsprechend schwierig in der Handhabung. Es ist eine wirkliche Meisterleistung, daß
Eudoxos und Euklid es schaffen, auf der Grundlage dieser Definition ein komplettes
Lehrgebäude zu errichten, in dem unter anderem gezeigt wird, wie man diese erweiterten
Proportionen der Größe nach vergleichen und mit ihnen rechnen kann.
Erweiterungen des Zahlbegriffs. In gewisser Weise ist das System der Proportionen
ebenbürtig dem System der reellen Zahlen, wie es Dedekind viel später geschaffen hat, und es
beruht auf demselben Grundgedanken. Der Hauptnachteil des Systems von Eudoxos besteht
in der kompletten Abhängigkeit von der Geometrie. Um zu zeigen, daß es eine bestimmte
Proportion gibt, muß man ein Streckenpaar mit dieser Proportion geometrisch konstruieren.
Man weiß heute, daß das nicht immer geht; zum Beispiel ist es nicht möglich, den Umfang
eines Kreises auf diese Weise zu erfassen.
Aber es fehlen noch viele andere Dinge, die wir heute für selbstverständliche Aspekte eines
funktionierenden Zahlensystems halten: es fehlte die Null, es fehlten die negativen Zahlen,
vor allem gab es keine Division. Man lasse sich nicht täuschen, die Proportionen erscheinen
uns zwar so, als würde Bruchrechnung getrieben, aber dabei wurde nicht ans Teilen gedacht!
In diesem Abschnitt wollen wir daher kurz skizzieren, wie in kleinen Schritten über die
Jahrhunderte der Begriff der Zahl immer mehr erweitert wurde.
Typisch für diese Entwicklung ist, daß jeder neue Erweiterungsschritt mit großem Mißtrauen
aufgenommen wurde, Mißtrauen, von dem wir heute oft nichts mehr spüren, außer bei den
jüngsten Schritten wie etwa der Einführung der komplexen Zahlen. Aber die Namen der
jeweils neuen Zahlentypen sind geblieben, und sie drücken dieses Mißtrauen manchmal sehr
unverblümt aus: irrationale Zahlen, transzendente Zahlen, imaginäre Zahlen, surreale Zahlen,
Nichtstandard-Zahlen ― aber jetzt gehe ich schon über Dedekind hinaus, also zurück zur
historischen Reihenfolge!
Brüche in unserem Sinne kannten schon die Babylonier vor viertausend Jahren. Ein Bruch
soll ausdrücken, daß ein ganzes in m gleiche Teile gebrochen wird und daß wir n solche Teile
zusammen in die Hand nehmen. Sie konnten damit auch rechnen, sogar quadratische
Gleichungen lösen. Zu uns gekommen ist diese Kunst auf dem Umweg über die Araber,
zuerst wohl in dem 1202 erschienenen Liber Abbaci von Leonardo von Pisa, genannt
Fibonacci, der uns hauptsächlich durch seinen Versuch bekannt ist, die Vermehrung von
Kaninchen mathematisch zu beschreiben, was sich allerdings mehr für die Mathematiker als
für die Kaninchenzüchter segensreich ausgewirkt hat. Gleichzeitig brachte Fibonacci die
heute übliche Zahlenschreibweise (die Dezimalzahlen) zu uns, womit das Elend der
schwerfälligen römischen Zahlen endlich ausgestanden war. Im gleichen Buch hat er auch
dritte Wurzeln eingeführt und näherungsweise berechnet, während Quadratwurzeln schon den
Babyloniern und auch den Griechen bekannt waren.
1 Eine Seite aus dem Liber Abbaci
2 Simon Stevin
Gedanklich scheint besonders die Einführung der Null schwierig gewesen zu sein. Sie ist
ebenfalls durch Fibonacci zu uns gelangt, aber es gibt eine lange Vorgeschichte, auf die wir
hier nicht eingehen können. Jedenfalls muß man unterscheiden zwischen der Rolle der Null in
der Dezimalschreibweise von Zahlen und ihrer Rolle als gleichberechtigte Zahl, mit der man
rechnen kann wie mit jeder anderen. Beides kostete langwierige Kämpfe.
Noch länger dauerte es, bis negative Zahlen voll akzeptiert waren. Negative Zahlen als
Lösungen von Gleichungen wollte erst der französische Mathematiker Albert Girard 1629
erlauben.
Schon wesentlich früher, nämlich 1585, hatte sich der Belgier Simon Stevin dafür stark
gemacht, Lösungen von Polynomgleichungen als richtige Zahlen anzusehen (wenn sie positiv
sind). Dabei handelt es sich um die Lösungen von Gleichungen wie
,
oder, in der allgemeinsten möglichen Form,
,
mit ganzzahligen Koeffizienten
. Um die Berechnung der Lösungen dieser Art von
Gleichungen wurde jahrhundertelang gerungen, und dies hat sehr erheblich zur Entwicklung
der Mathematik beigetragen. Am Anfang steht die allgemein bekannten Formel für
quadratische Gleichungen (das ist der Fall
), die schon die Babylonier kannten: die
Gleichung
hat die beiden Lösungen
.
3 Girolamo Cardano
4 Carl Friedrich Gauß
Danach gab es rasche Fortschritte erst im 16. Jahrhundert. Zunächst entwickelte Girolamo
Cardano 1545 eine entsprechende Formel für kubische Gleichungen (
), danach leistete
sein Schüler Lodovico Ferrari (1522 – 1565) dasselbe für die Gleichungen vierten Grades
(
). Das nährte bei den Mathematikern die Überzeugung, nun müsse es für größere Grade
n genauso weitergehen, mit einer passenden Formel für jeden Grad, die allenfalls vielleicht
etwas schwieriger zu finden und zu gebrauchen sein würde, wenn der Grad groß wird. Hier
gab es jedoch eine herbe Enttäuschung. Nachdem viele Mathematiker sich vergeblich bemüht
hatten, war wohl der in Braunschweig geborene Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855) der erste,
der den Verdacht äußerte, daß es eine solche Formel vielleicht nicht geben könne, daß sie also
nicht nur schwer zu finden, sondern eine Unmöglichkeit sei. Im Jahre 1824 hat das dann für
den Grad 5 ein sehr junger norwegischer Mathematiker bewiesen, der bald darauf infolge
seiner Mittellosigkeit an Schwindsucht starb, Nils Henrik Abel (1802 – 1829). Noch etwas
weitergehend zeigte der Franzose Evariste Galois (1811 – 1832, also ebenfalls sehr jung
verstorben, und zwar in einem Duell), daß es oft genug auch nicht möglich ist, für eine
einzelne Lösung einer einzelnen Polynomgleichung irgendeine Beschreibung zu finden, in der
nur die gegebenen ganzzahligen Koeffizienten
der Gleichung sowie die
Rechenoperationen Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division sowie Wurzeln (vom
Grad zwei oder höher, auch ineinandergeschachtelt) verwendet werden.
5 Nils Henrik Abel
6 Evariste Galois
Und was gibt es noch für Krankheiten? Diese Frage stellte meine Tochter mir als kleines
Kind immer wieder. Offenbar wollte sie endlich einen Überblick über alle denkbaren
Bedrohungen erhalten. Ähnlich ist es mit den Mathematikern (wahrscheinlich sollte man hier
die ganze Menschheit einbeziehen), die wissen wollen, ob all diese Bemühungen um den
ultimativen Zahlbegriff denn jemals von einem abschließenden Erfolg gekrönt sein können,
ob es eine Erweiterung des Zahlenreiches gibt, nach der keine weitere Erweiterung mehr nötig
ist.
Blicken wir noch einmal zurück auf die Hierarchie der Zahlen, wie sie sich uns jetzt darstellt.
Am Anfang stehen die natürlichen Zahlen 1,2,3,…, die zum Zählen verwendet werden.
Ergänzt durch Null und die negativen Zahlen -1,-2,-3,… bilden sie die ganzen Zahlen, im
Gegensatz zu den gebrochenen oder rationalen Zahlen. Dann kommen als wiederum
umfassenderer Bereich die algebraischen Zahlen, darunter die Wurzeln, aber auch andere
Zahlen, die sich durch keinen noch so komplizierten Wurzelausdruck darstellen lassen. Ist
nun endlich Schluß?
Leider nein! Oder, je nach Standpunkt,
glücklicherweise nicht. Um es zunächst
einmal vom heutigen Wissensstand aus zu
betrachten: Im Abschnitt über die Bändigung
des Unendlichen können Sie nachlesen, daß
es überabzählbar viele reelle Zahlen gibt. Die
Anzahl der algebraischen Zahlen ist aber
noch abzählbar, denn für die Koeffizienten
eines Polynoms gibt es abzählbar viele
Möglichkeiten (die ganzen Zahlen), und ein
einzelnes Polynom hat nur endlich endlich
viele Nullstellen; daher kann man eine
Abzählung ähnlich einrichten wie Cantor es
für die rationalen Zahlen getan hat. Die
Hauptmasse der Zahlen ist unseren
Bemühungen also immer noch entgangen!
7 Sir Isaac Newton
8 Leonhard Euler
Der erste, der gesehen hat, daß offenbar noch
etwas fehlt, war der Brite Sir Isaac Newton
(1643 – 1727). In Buch I seiner Principia
Mathematica untersucht er Kurven in der
Ebene. In Lemma 28 stellt er fest, daß der
Inhalt der von einer ovalen Kurve
umschlossenen
Fläche
niemals
eine
4
algebraische Zahl sein kann . Unter diese
Feststellung fällt insbesondere die Fläche
eines Kreises, womit also die Kreiszahl als
nicht algebraische Zahl erkannt ist. Für
solche nicht
algebraischen Zahlen prägte der schweizerische Mathematiker Leonhard Euler (1707 – 1783)
später den Begriff transzendent.
Die Argumente von Newton mögen noch etwas lückenhaft sein. Besser begründete
Nachweise für die Existenz transzendenter Zahlen lieferte der Franzose Joseph Liouville
(1809 – 1992). Er konstruierte transzendente Zahlen zuerst 1844 durch sogenannte unendliche
Kettenbrüche, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen, sodann 1851 durch unendliche
Summen, wie wir sie schon bei Achill und der Schildkröte, und davor bei der
Quadratwurzelberechnung kennengelernt haben. Er zeigt beispielsweise, daß der Grenzwert
der folgenden Summe transzendent ist:
4
Zitiert nach P. Pesic: Abels Beweis, Springer 2005, Seite 61
Dabei bedeutet zum Beispiel 4! (lies: 4 Fakultät) die Zahl
allgemein ist
, und
das Produkt der ersten n natürlichen Zahlen. Die obige Summe kann man sich
gut
9 Joseph Liouville
10 Carl Louis Ferdinand von Lindemann
in Dezimalschreibweise vorstellen. Sie hat eine Null vor dem Komma und überall hinter dem
Komma außer an den wenigen Stellen, deren laufende Nummer eine Fakultät ist; an diesen
Stellen steht immer eine 1. Weitere konkrete und prominente Beispiele transzendenter Zahlen
sind die Kreiszahl , wie schon erwähnt und unabhängig von Newton bewiesen durch
Ferdinand von Lindemann (1852 – 1939), sowie die Euler-Zahl e, die Basis des naürlichen
Logarithmus. Auch diese Zahl ist der Grenzwert einer unendlichen Summe, nämlich
.
Dedekind-Schnitte. Noch immer konnte man den Eindruck haben, es würde immer so
weitergehen mit der uferlosen Entdeckung neuer Zahlentypen und man würde nie einen
Überblick gewinnen. Aber nun kommt die Leistung Dedekinds. Er zeigt, wie man in einem
einzigen Schritt, ausgehend von den rationalen Zahlen, also den Brüchen, das System der
Zahlen zum Abschluß bringen kann, wobei dann alle algebraischen und transzendenten
Zahlen auf einmal erfaßt sind. Er geht dabei von der alten Idee des Eudoxos aus; lesen Sie
vielleicht an dieser Stelle noch einmal dessen Definition der Gleichheit von Proportionen im
nicht kommensurablen Fall nach.
Er kombiniert diese Idee nun aber mit der radikal neuen Denkweise, die er in die Mathematik
hineingebracht hat und die auch seiner Idealtheorie zugrundeliegt. Er wagt es, nicht nur
bekannte Objekte, zum Beispiel Zahlen, zu Mengen zusammenzufassen, nein, er geht noch
einen Schritt weiter und bildet auf noch höherer Stufe Mengen, deren Elemente selbst
Mengen (z.B. von Zahlen) sind. Anders gesagt, er betrachtet Mengen von bekannten Zahlen
als neue Zahlen und fügt sie den alten hinzu. Wie geht das? Nun, ganz einfach:
Um das Vorgehen mit dem von Eudoxos vergleichen zu können, stellen wir uns
vorübergehend die Zahlen als Längen von Strecken vor. Ist d die Länge von A und hat CD die
Länge Eins, so können wir außerdem die Zahl d mit der Proportion
gleichsetzen
(Eudoxos hört uns nicht, es würde ihn grausen). Um diese Proportion mit anderen zu
vergleichen, bildet Eudoxos bereits eine Menge von Zahlenpaaren, auch wenn er diesen
Begriff gar nicht kennt ― nämlich die Menge derjenigen Zahlenpaare m,n, für die
gilt (Sie erinnern sich?). In heutiger Lesart heißt das
.
Für Eudoxos ist die Proportion (Zahl) d also bestimmt durch die Menge aller
Brüche, die größer sind, die Obermenge von d. Ebenso bilden wir jetzt die Untermenge
aller
;
sie besteht aus allen Brüchen, die kleiner sind als d oder gleich d. Nun können wir die
Geometrie und Eudoxos wieder vergessen, wir halten einfach fest, daß jede bisher bekannte
Zahl d auf diese Weise eine Unter- und eine Obermenge definiert, die folgende Eigenschaften
haben: Jeder Bruch aus
ist kleiner als jeder Bruch aus
, und jede rationale Zahl
gehört genau einer dieser beiden Mengen an. Man nennt ein solches Paar von zwei Mengen
rationaler Zahlen, das diese beiden Eigenschaften hat, heute einen Dedekind-Schnitt. Der
Dedekind-Schnitt, der zur Zahl d gehört, beschreibt genau deren Position, sie paßt in die
Lücke zwischen
und
, und sie ist die einzige, die dort hineinpaßt.
Soweit ist noch alles wie bei Eudoxos. Jetzt kommt die genial einfache und doch unerhörte
Idee: Wenn ein Dedekind-Schnitt nicht von einer schon bekannten Zahl herrührt (in der
beschriebenen Weise), dann nimmt Dedekind ihn einfach als neue Zahl zu den bestehenden
hinzu! Da die alten Zahlen ja ebenfalls durch Dedekind-Schnitte beschrieben waren, läuft das
einfach darauf hinaus, daß man alle alten Zahlen vergessen kann und als neue Zahlen
sämtliche Dedekind-Schnitte der Menge der rationalen Zahlen erklärt. Man muß dann
allerdings auch noch sagen, wie man solche neuen Kunst-Zahlen der Größe nach ordnen und
wie man mit ihnen rechnen will, aber das hat im Grunde alles Eudoxos schon vorgemacht.
Man nennt die neugewonnenen Zahlen in ihrer Gesamtheit (einschließlich aller zuvor
bekannten) die reellen Zahlen.
Was ist nun gewonnen? Der Anspruch dieser Erweiterung des Zahlsystems lautet, daß
danach keine weitere Erweiterung mehr nötig ist. Alle algebraischen und transzententen
Zahlen und sonstigen Gespenster sind ein für allemal eingefangen. Wie kann man da so sicher
sein? Nun, dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die Dedekind alle aufführt:
Das Supremumsprinzip gilt, das heißt, alle Lücken auf der Zahlengeraden sind nun
geschlossen. Das liegt unmittelbar daran, daß eine eventuell vorhandene Lücke einen
Dedekind-Schnitt definieren würde (
ist alles links von der Lücke,
ist alles rechts
von ihr), und dieser würde die Lücke ausfüllen. Hieraus folgt, daß man das ganze
Lehrgebäude der Differential- und Integralrechnung nunmehr bestens absichern kann und es
den Ingenieurstudenten in Zürich erklären kann.
Eine Wiederholung der Prozedur würde nichts neues mehr bringen. Ja, denn wenn alle
Lücken schon geschlossen sind, findet man auch keine Dedekind-Schnitte mehr, in die keine
bereits bekannte Zahl hineinpaßt.
Die Rechenoperationen Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division sind stetig. Hören
wir hierzu Dedekinds eigene Worte:
Noch viel größere Weitläufigkeiten scheinen in Aussicht zu stehen, wenn man dazu
übergehen will, die unzähligen Sätze der Arithmetik der rationalen Zahlen … auf
beliebige reelle Zahlen zu übertragen. Dem ist jedoch nicht so; man überzeugt sich
bald, daß hier alles darauf ankommt, nachzuweisen, daß die arithmetischen
Operationen selbst eine gewisse Stetigkeit besitzen.
Hiermit ist gemeint, daß die Summe (das Produkt, der Quotient) zweier Zahlen sich nur
geringfügig ändern, wenn man die beteiligten Zahlen selbst geringfügig ändert. Diese
Tatsache (die leicht einzusehen ist), reicht aus um jedes Gesetz, das im Bereich der rationalen
Zahlen gültig ist, auf die reellen Zahlen zu übertragen. Dabei spielt es eine wesentliche Rolle,
daß die rationalen Zahlen in der Menge aller reellen Zahlen dicht liegen, das heißt, beliebig
nah bei jeder reellen Zahl findet man rationale Zahlen; auch dies eine unmittelbare Folge der
Definition der reellen Zahlen mit Hilfe der Dedekind-Schnitte.
An dieser Stelle können wir die letzte offene Frage über unser eingangs beschriebenes
Verfahren zur Quadratwurzelberechnung klären. Die Zahlenfolge
konvergiert gegen b,
also konvergiert wegen der Stetigkeit der Multiplikation die Folge
gezeigt haben, daß sie auch gegen c konvergiert, muß
gegen
. Da wir früher
sein, denn eine Folge kann nicht
zwei verschiedene Grenzwerte haben.
Cauchy-Folgen konvergieren. Was mit dieser in moderner Terminologie formulierten
Aussage gemeint ist, lassen wir am besten wieder Dedekind selbst sagen:
Läßt sich in dem Änderungsprocesse einer Größe x für jede positive Größe δ auch eine
entsprechende Stelle angeben, von welcher ab x sich um Weniger als δ ändert, so
nähert sich x einem Grenzwerth.
Heute sagen wir so: um zu zeigen, daß eine Folge konvergiert, muß man den Gernzwert nicht
im Voraus kennen; dann kann man zwar nicht nachweisen, daß sich die Glieder der Folge
diesem Grenzwert beliebig stark annähern, aber das muß man auch gar nicht, es reicht, zu
zeigen, daß sich die Glieder untereinander beliebig stark annähern. Folgen mit der zuletzt
genannten Eigenschaft heißen heute Cauchy-Folgen nach Augustin Louis Cauchy, 1789 –
1857.
Die oben formulierte Aussage ist für sich allein schon wichtig, aber uns interessiert sie hier
besonders deshalb, weil sie die Brücke zwischen Dedekind und seiner Konkurrenz schlägt,
wovon im nächsten Abschnitt die Rede sein soll. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt,
daß außer der Konvergenz der Cauchy-Folgen auch das Supremumsprinzip und die Stetigkeit
der Rechenoperationen in Cauchys Werken schon auftauchen, wenn auch ohne befriedigende
Begründung und ohne die Einsicht, welche Bedeutung diese Eigenschaften haben.
11 Augustin Louis Cauchy
12 Georg Cantor
Wege anderer Mathematiker zu den reellen Zahlen. Hier ist in erster Linie Georg Cantor
zu nennen, von dem im Abschnitt über die Bändigung des Unendlichen schon ausführlich die
Rede war. Er war mit Dedekind befreundet und schickte ihm 1872, gerade als Dedekind das
Vorwort zu „Stetigkeit und Irrationalzahlen“ schrieb, eine Arbeit zu, in der er einen
unabhängigen eigenen Zugang zu den reellen Zahlen beschreibt. Lassen wir Dedekind mit
seiner Reaktion selbst zu Wort kommen:
Und während ich an diesem Vorwort schreibe (20. März 1872), erhalte ich die
interessante Abhandlung „Über die Ausdehnung eines Satzes aus der Theorie der
trigonometrischen Reihen“, von G. Cantor (Math. Annalen von Clebsch und
Neumann, Bd. 5), für welche ich dem scharfsinnigen Verfasser meinen besten Dank
sage. Wie ich bei raschem Durchlesen finde, so stimmt das Axiom in §.2 derselben,
abgesehen von der äußeren Form der Einkleidung, vollständig mit dem überein, was
ich unten in §.3 als das Wesen der Stetigkeit bezeichne5. Welchen Nutzen aber die
5
Gemeint ist die Eigenschaft, daß jeder Dedekind-Schnitt durch eine reelle Zahl ausgefüllt ist
wenn auch nur begriffliche Unterscheidung von reellen Zahlgrößen noch höherer Art
gewähren wird, vermag ich gerade nach meiner Auffassung des in sich vollkommenen
reellen Zahlgebietes noch nicht zu erkennen.
Die Bemerkung am Schluß dieses Zitats legt den Finger in eine Wunde: Dedekind hat sofort
eine Unausgegorenheit in Cantors Artikel erkannt und benennt sie, ohne im mindesten
verletzend zu sein, auf sehr vornehme Weise. Dazu unten mehr.
Zunächst halten wir fest, daß auch Cantor die reellen Zahlen konstruiert und daß sein Produkt
dem von Dedekind mathematisch völlig gleichwertig ist. Jedoch wählt er eine völlig andere
Konstruktionsmethode: Er geht aus von den Cauchy-Folgen rationaler Zahlen, von denen sehr
viele im Bereich der rationalen Zahlen keinen Grenzwert haben. Seine Idee ist nun, die
Cauchy-Folgen von rationalen Zahlen selbst als die neuen Zahlen zu nehmen. Nur gibt es
dabei ein technisches Problem, denn mehrere Cauchy-Folgen können z.B. gegen dieselbe
rationale Zahl konvergieren, und es ist zu erwarten, daß auch dann, wenn der Grenzwert eine
Zahl ist, die erst neu erschaffen werden muß, dasselbe passiert. Das heißt, man muß stets
(unendlich) viele Cauchy-Folgen zu einer neuen Zahl bündeln. Wann zwei Folgen
zusammengehören, ist klar: genau dann, wenn aus ihnen durch Zusammenfügen nach dem
Reißverschluß-Prinzip wieder eine Cauchy-Folge entsteht. Somit ist bei Cantor jede reelle
Zahl eine Menge von unendlich vielen Cauchy-Folgen rationaler Zahlen, ein nicht minder
kühner Gebrauch des Mengenbegriffs als bei den Dedekind-Schnitten.
Die Technik läuft nach dieser Idee dann wieder geradlinig ab; man muß zeigen, daß sich alle
wesentlichen Eigenschaften der rationalen Zahlen auf die reellen Zahlen übertragen, daß aber
eine neue Eigenschaft hinzukommt, die besagt, daß man nunmehr alle wünschenswerten
Zahlen erreicht hat. In diesem Fall ist das die Eigenschaft, daß in den reellen Zahlen jede
Cauchy-Folge bereits konvergent ist. Wir erinnern uns, daß Dedekind die entsprechende
Eigenschaft für seine reellen Zahlen bewiesen hat. Umso verblüffter muß er gewesen sein,
daß Cantor in seinem Artikel zumindest den Eindruck macht, als glaubte er, man müsse seine
Prozedur mehrfach, vielleicht unendlich oft, wiederholen. Darum geht es in der oben schon
kommentierten Bemerkung aus Dedekinds Vorwort.
In Wirklichkeit ist es so, daß auch Cantors Verfahren nach einmaliger Anwendung endgültig
abgeschlossen ist. Aus manchen Gründen wird es heute gegenüber dem Dedekindschen oft
bevorzugt. Einer der Gründe ist, daß Dedekind eine Ordnung (die Begriffe größer und kleiner)
unter den rationalen Zahlen braucht um seine Schnitte zu definieren. Cantors Verfahren
bewährt sich auch dann, wenn eine solche Ordnung nicht gegeben ist, was in vielen für die
Mathematik interessanten Situationen der Fall ist (aber natürlich nicht bei den rationalen
Zahlen).
Um zu verstehen, warum Cantor glaubt, seine Konstruktion müsse mehrfach angewendet
werden, muß man sich anschauen, was eigentlich sein Anliegen war. Der Titel seiner Arbeit
(in obigem Dedekind-Zitat erwähnt) sagt es deutlich: seine Arbeit handelt von einem sehr
konkreten Problem der Analysis, das mit dem Konvergenzverhalten sogenannter
trigonometrischer Reihen zu tun hat (wie man sie bei der Frequenzanalyse von
Schwingungsvorgängen antrifft). Um sein Ergebnis formulieren zu können, mußte er eine
Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen von Zahlenmengen einführen, und eigentlich
war die Hinzunahme von Grenzwerten aller Cauchyfolgen nur dazu gedacht, zu zeigen, daß
alle die von ihm unterschiedenen Mengentypen tatsächlich auftreten. In diesem
Zusammenhang spielte dann die Anzahl der Wiederholungen dieser Konstruktion eine Rolle.
Cantor hat aber dann bemerkt, daß seine Konstruktion nebenbei auch das alte Problem löst,
das System der Zahlen zu einem endgültigen Abschluß zu bringen, und er hat das ebenso
nebenbei und etwas hastig in dieselbe Arbeit eingebaut, ohne sich darüber klar zu sein, oder
zumindest ohne dem Leser deutlich zu sagen, daß er an einigen Stellen der Arbeit an
Teilmengen des Systems der reellen Zahlen denkt und an anderen Stellen an das System aller
reellen Zahlen.
Man spürt einen gewaltigen Kontrast zwischen diesen beiden Mathematikercharakteren.
Dedekind hat nach jahrelangem Nachdenken eine abgeklärte und in jedem Detail perfekte und
ausgereifte Lösung eines klar umrissenen Problems vorgelegt. Cantor dagegen steht mitten in
einem Kampfgetümmel, bei dem es um etwas ganz anderes geht, man spürt, wie er von den
neuen Ideen und Feststellungen hingerissen ist, und ohne sich Zeit nehmen zu können um die
Dinge sich setzen zu lassen, schreibt er eine Arbeit, in der alles heraus muß, was er gefunden
hat.
13 Karl Weierstraß
14 Bernard Bolzano
Zumindest erwähnen wollen wir, daß auch der Berliner Mathematiker Karl Weierstraß (1815
- 1897) in seinen unveröffentlichten Vorlesungen 1865 eine gleichwertige, aber im Weg
abweichende Konstruktion der reellen Zahlen durchgeführt hat. Dieser Zugang wurde 1867
von seinem Schüler Hermann Hankel (1839 – 1873) veröffentlicht und ist damit die erste im
Druck erschienene Konstruktion der reellen Zahlen. Zwei weitere, ungefähr gleichzeitige
Veröffentlichungen mit ähnlichem Inhalt stammen von Heinrich Eduard Heine (1821 -1881)
und Charles Méray (1835 – 1911).
Der früheste bekannte Versuch, die reellen Zahlen zu konstruieren, wurde in den Jahren nach
1817 von dem Prager Bernard Bolzano (1781 – 1848) unternommen, aber nicht veröffentlicht.
Er erkannte seine Arbeit später selber als fehlerhaft, soll allerdings dann auch eine
erfolgreiche Korrektur gefunden haben. Heutige Mathematikstudenten lernen übrigens
Bolzano und Weierstraß in ihrem ersten Semester als Gespann kennen, weil ein
fundamentaler Satz der Analysis, der eng mit dem Supremumsprinzip zusammenhängt, von
ihnen stammt und nach ihnen benannt ist.
Diese Häufung von mehr oder weniger erfolgreichen Angriffen auf das Problem, die reellen
Zahlen auf eine solide Grundlage zu stellen, zeigt offenkundig, daß das Problem „sturmreif“
war. Die Mathematiker hatten es lange genug umkreist und von allen Seiten betrachtet, und
die Begriffe der Mengenlehre, die in der Luft lagen, gaben genügend Hilfsmittel her, um die
Festung zu besiegen. Dennoch bleibt es das Verdienst Dedekinds, als erster einen
erfolgreichen Zugang gefunden zu haben; außerdem ist seine gedankliche Durchdringung des
ganzen Komplexes wohl die ausgereifteste und tiefschürfendste unter den Konkurrenten.
15 René Descartes
Jedes Ende ist zugleich ein Anfang. Auf
den vorangegangenen Seiten haben wir
mehrmals das Wort „endgültig“ für die
angestrebte und schließlich durch Dedekind
erreichte Erweiterung des Zahlbegriffes
gebraucht, aber wir haben von Anfang an
darauf hingewiesen, daß das nicht ganz
ernstgemeint ist. In der Mathematik ist nie
etwas endgültig in dem Sinne, daß danach
nichts mehr kommen kann (wohl in dem
anderen
Sinn,
daß
mathematische
Wahrheiten nicht „verfallen“ können).
Tatsächlich war lange vor Dedekind klar, daß
nach den reellen Zahlen noch mehr kommen
muß.
Beim Lösen quadratischer Gleichungen stößt man bereits auf den Fall, daß man nach der
Quadratwurzel einer negativen Zahl zu suchen hat, etwa bei der Gleichung
. Eine
reelle Lösung kann es dafür nicht geben, denn das Quadrat einer reellen Zahl ist nie negativ.
Hier war es noch möglich, zu sagen, daß diese Gleichung eben keine Lösung besitzt, aber bei
Gleichungen dritten Grades kann es vorkommen, daß die Gleichung drei reelle Lösungen hat
(mehr kann es nicht geben), und dennoch in den Lösungsformeln von Cardano als Zwischenstadium der Berechnung Wurzeln aus negativen Zahlen gebildet werden müssen. Man fing
also irgendwann an, auch mit Wurzeln aus negativen Zahlen zu rechnen, allerdings mit
großem Unbehagen, das sich in dem von René Descartes (1596– 1650) geprägten Namen
imaginäre Zahlen (d.h. soviel wie scheinbare, bloß vorgestellte Zahlen) ausdrückt. Carl
Friedrich Gauß prägte viel später den Ausdruck komplexe Zahlen für Zahlen, die aus einem
reellen und einem imaginären Bestandteil als Summe zusammengesetzt sind, und er stellte
diese Zahlen als Punkte einer Ebene, der komplexen Zahlenebene, dar. Noch wichtiger war,
daß Gauß in seiner Doktorarbeit 1799 (also mit etwa 22 Jahren) den Fundamentalsatz der
Algebra bewies, der besagt, daß jede Polynomgleichung mindestens eine komplexe Lösung
besitzt. (Natürlich sind dabei Gleichungen der Form
ausgenommen, in denen gar keine
Unbekannte x auftritt). Dies hatten bereits Descartes und der ebenfalls schon einmal erwähnte
Albert Girard ohne Beweis behauptet. Durch Dedekinds Absicherung des Begriffs der reellen
Zahlen standen auch die komplexen Zahlen auf solidem Grund, denn man kann sie leicht aus
den reellen Zahlen entwickeln (etwa als Paare reeller Zahlen mit bestimmten einfachen
Rechenregeln).
16 Sir William Rowan Hamilton
17 Arthur Cayley
Nun könnte man wieder meinen, daß damit endlich allen moralisch gerechtfertigten
Bedürfnissen abgeholfen wäre, aber weit gefehlt. Schon früh entwickelte der Ire Sir William
Rowan Hamilton (1805 – 1865) den Traum, auch mit Tripeln reeller Zahlen so rechnen zu
können wie Gauß mit Paaren. Das verlockte ihn deshalb, weil man die Drehungen der Ebene
mit den komplexen Zahlen (aufgefaßt als Gaußsche Zahlenebene) wunderschön beschreiben
kann, und er hoffte, daß ihm etwas ähnliches mit den viel schwierigeren Drehungen des
Raumes gelingen könnte. Darum hat er viele Jahre gekämpft, bis er einsah, daß es nicht ging
(und man weiß heute, daß es nicht gehen konnte), aber daß es mit Quadrupeln (aus 4 reellen
Zahlen bestehend) möglich ist. Statt der komplexen Zahlen mit der imaginären Einheit i und
dem Rechengesetz
schuf er nun 1843 die Quaternionen mit gleich drei imaginären
Einheiten i,j,k und den Gesetzen
sowie
,
,
. Man sieht, daß es bei dieser Multiplikation auf die Reihenfolge der Faktoren
ankommt, eine für „Zahlen“ höchst merkwürdige Eigenschaft. Dennoch, oder gerade deshalb,
erwiesen sich die Quaternionen als äußerst nützlich, wenn auch vielleicht nicht ganz so
nützlich wie Hamilton es meinte. Aber es stimmt, daß sie hervorragend für die Berechnung
von Drehungen geeignet sind. Ein Fachmann für Raketensteuerung hat mir erzählt, daß der
winzige Computer an Bord der Apollo-Mondfähre niemals in der Lage gewesen wäre, die
Raketenmanöver zu berechnen, wenn nicht bei seiner Programmierung diese Vorteile der
Quaternionen ausgenutzt worden wären. Nachzutragen ist hier, daß Hamilton sich auch eine
zeitlang vergeblich um die Konstruktion der reellen Zahlen bemüht hatte.
Nun wundert es nicht mehr, daß es
danach eine weitere Station gibt:
Arthur Cayley (1821 – 1895)
entwickelte 1845 die Oktaven mit
nunmehr
sieben
imaginären
Einheiten, mit deren Hilfe man die
Drehungen
eines
siebendimensionalen
Raumes
beschreiben kann. Eher ist es jetzt
überraschend, daß nun doch einmal
ein Satz bewiesen wird, der besagt,
daß es auf diesem Wege nicht mehr
weitergeht.
Ferdinand
Georg
Frobenius (1849 – 1917) zeigt
nämlich im Jahre 1878, daß eine
nochmalige
Verdopplung
der
Oktaven nichts sinnvolles mehr
bringen kann, ja, daß in gewissem
Sinne nun mit diesen vier Systemen
(reelle und komplexe Zahlen,
Quaterionen und Oktaven) alle
denkbaren
Möglichkeiten
ausgeschöpft sind.
18 Ferdinand Georg Frobenius
Es ist dennoch keineswegs so, daß mit dem Satz von Frobenius Grabesruhe eingekehrt wäre;
die wird es in der Mathematik nie geben, und der Satz besagt ja auch nur, daß es auf diesem
Wege nicht mehr weitergeht.
Eine durchschlagende Neuerung gab es zum Beispiel in den 1960er Jahren, als Abraham
Robinson (1918 – 1974) die sogenannten Nichtstandard-Zahlen (heute auch als hyperreelle
Zahlen bezeichnet) entwickelte. Dieses Zahlsystem hat auch Platz für unendlich kleine Zahlen
(näher bei Null als jede reelle Zahl) und für unendlich große Zahlen (größer als jede reelle
Zahl). Damit läßt sich der Begriff der infinitesimalen Größe, den Leibnitz und Newton bei
ihrer Einführung der Differential- und Intergalrechnung sehr intuitiv verwendet haben, recht-
fertigen, und man hat klare Regeln, welche Schlüsse damit erlaubt sind und welche nicht.
Dies ist eine große Leistung; sie war zunächst nur deshalb möglich, weil in den Jahren zuvor
die mathematische Logik entscheidende Fortschritte gemacht hatte. Allerdings gibt es
inzwischen auch einfachere Zugänge zu diesem neuen Zahlenreich.
Wie um die Behauptung zu beweisen, daß es in der Mathematik nie einen endgültigen Schluß
gibt, stellte John Conway dann nochmals eine Erweiterung vor, die über die hyperreellen
Zahlen hinausgeht und mit einer Konstruktion ähnlich den Dedekindschen Schnitten erreicht
wird. Donald E. Knuth, der Schöpfer des wunderbaren (hier leider nicht verwendeten)
Textverarbeitungssystems TEX, hat diese surrealen Zahlen 1974 in einem Roman ausführlich
beschrieben. Erst danach erschien (1976) ein Fachbuch von Conway mit dem Titel „On
Numbers and Games“, in dem diese Zahlen mathematisch präsentiert werden. Sie haben
engen Bezug zu Spielen und den darin verwendeten Strategien.
Wer wüßte jetzt nicht gerne, was in tausend Jahren der Stand der „Zahlenfrage“ sein wird?
Und wer würde nicht gern etwas zu dieser unendlich spannenden Geschichte beitragen?
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