4. Kognitive Immunologie - Technische Universität Chemnitz

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4.
4.1.
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Kognitive Immunologie
Kognition
Kognitive Systeme zeichnen sich gegenüber anderen Systemen dadurch aus, dass sie drei Eigenschaften in besonderer Weise kombinieren:
1. Sie haben Optionen, d.h. sie können eine Auswahl treffen.
2. Sie besitzen interne Bilder ihrer Umgebungen.
3. Sie bilden und aktualisieren ihre internen Strukturen und Bilder aufgrund von Erfahrungen, d.h.
durch Selbstorganisation.
4.1.1. Optionen
Optionen gibt es auch in einem deterministischen System, wenn dieses zwei Bedingungen erfüllt:
1. Das System kann auf unterschiedliche Eingaben in qualitativ unterschiedlicher Weise reagieren,
d.h. es hat Wahlmöglichkeiten.
2. Der interne Zustand des Systems hat wesentlichen Einfluss auf die Auswahl. Dieser Zustand
wird durch vergangene Erfahrungen, Stimmungen und Gefühle, Intelligenz, Geschicklichkeit
und andere Faktoren bestimmt.
Das Wesen einer Auswahl oder Entscheidung ist die Assoziation eines Spezialfalls mit einer Klasse.
Eine Entscheidung bezieht sich auf einzelne Instanzen und einzelne Aktionen. Entscheidungen sind
einzelne Handlungen, die Bedürfnisse erfüllen, z.B. etwas zu essen oder zu einem bestimmten Ort
zu fahren, und Bedürfnisse sind Motivationsklassen. Entscheidungen haben ein gemeinsames Merkmal: Klassen von Gefühlen werden auf einzelne Entitäten oder Aktionen angewandt. Die Gefühle
oder Bedürfnisse sind intern in uns, die Entitäten sind in der äußeren Umgebung. Eine Entscheidung
entsteht durch einen Abgleich (Match) zwischen einem Fall in der Umgebung und einem internen
Motiv. Entscheidungen sind Assoziationen, kognitive Systeme sind also Systeme, die assoziieren.
4.1.2. Kognitive Bilder
Die an einer Interaktion Beteiligten können als Bilder voneinander betrachtet werden. Das klassische physikalische Beispiel dieser Auffassung von Bild ist die Interaktion von Schlüssel und
Schloss, vgl. Abbildung 4.1.
Abbildung 4.1
Im Sinne des Schlüssel-Schloss-Paradigmas erzeugen alle interagierenden Entitäten funktionale
Bilder. Interaktionen entstehen durch wechselseitigen Informationsaustausch zwischen den interagierenden Einheiten, unabhängig von ihrer physikalischen Form oder materiellen Komplementarität. Gegenseitige Bilder interagierender Einheiten sind durch die Gegenseitigkeit der Information
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kodiert. Das gilt auch für Lebewesen. Sie überleben durch stabile Interaktionen mit ihren Umgebungen, so genannten Attraktoren. Ein in der Evolution erfolgreiches Lebewesen ist mit den physiologischen Systemen ausgestattet, die es für diese Interaktionen braucht.
Interne Bilder der Umgebung haben einen Zweck. Kognitive Systeme wie das Gehirn oder das
Immunsystem bilden sie, um dem Lebewesen das Überleben zu erleichtern oder gar erst zu
ermöglichen. Sie teilen dem Lebewesen mit, wonach es suchen soll um seine Bedürfnisse zu
befriedigen und wie es seine Umgebung ausnutzen soll. Die kognitiven Bilder sind somit Teil der
Überlebensstrategie. Die internen Bildern des Immunsystems sind chemischer Natur, d.h. die Bilder
bestehen größtenteils aus Proteinen. Einige dieser Proteine sind über den Körper verteilt und bilden
abstrakte, funktionale Bilder, die meisten Immunbilder sind aber geometrische Formen. Sie können
zweierlei Ursprung haben: die einen sind angeboren, durch die Gene gegeben, die anderen sind
erworben, sie entstehen durch Lebenserfahrung. Die angeborenen Bildern kann man nach drei
Aspekten charakterisieren: Merkmalsdetektoren, Aufmerksamkeitspräferenzen und Triebkräfte.
Merkmalsdetektoren
Die Funktionsweise des Auges, als pars pro toto des visuellen Systems betrachtet, ist die Umsetzung photonischer Energie in Erregungen der Nervenzellen auf der Netzhaut und die Weiterleitung
dieser Erregungen durch den Sehnerv ins Gehirn. Das Auge ist aber kein passives Organ, das nur
eine Energieform in eine andere umsetzt, vielmehr wählt es bestimmte Merkmale aus dem aktuellen
Bild (Reizmuster auf der Netzhaut) aus und verstärkt diese, während es andere abschwächt. In
diesem Sinn arbeitet es wie ein Detektor. Die Funktionsweise lässt sich im Schemabild Abbildung
4.2 darstellen.
Die
Welt
Photonische
Umgebung
Das
Auge
Ausgewählte
visuelle Merkmale
Das
Gehirn
Abbildung 4.2
Aufmerksamkeitspräferenzen
Das Gehirn steuert das Auge und die anderen Sinnesorgane mittels eingebauter Aufmerksamkeitspräferenzen, um bestimmte Arten von Information aus der Umgebung zu bekommen. Aufmerksamkeitspräferenzen haben die Funktion von Rückkopplungsschleifen, mittels derer ein kognitives
System die gewünschte Eingabe auswählen kann, d.h. es kann sehen, wonach es sucht. Das ist
schematisch in Abbildung 4.3 dargestellt.
Die Welt
Sinnesorgane
Das Gehirn
Aufmerksamkeitspräferenzen
Abbildung 4.3
Das Auge ist primär ein Organ zum Empfangen von Informationen, es kann aber auch Informationen übertragen. Das geschieht durch Bewegungen der Pupille und vor allem der Augenbrauen. Mit
diesen können unterschiedliche Signale gesendet werden und das geschieht vielfach unbewusst.
Dahinter steht ein Prinzip der biologischen Signalgebung, das es auch im Immunsystem gibt. Der
Grund dafür ist, dass zuverlässige Signale die besten Signale sind. Das Auge sendet gewissermaßen
eine Bestätigung für das, was es empfangen hat.
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Triebkräfte
Die Triebkräfte oder Motivationen sind Klassen interner Faktoren, die die Ausgaben des Gehirns
beeinflussen, nämlich Entscheidungen, Wahlen und Aktionen. Die internen Triebkräfte werden als
Emotionen, Gefühle oder Affekte bezeichnet. Affekte sind Liebe, Furcht, Ärger, Vorliebe, Abscheu,
Befriedigung, Schmerz, Freude, Hunger, Durst, Neugier und andere. Sie lösen einzelne Verhaltensweisen aus und spiegeln geistige Zustände wider, sie konstituieren funktionale Bilder bestimmter
Aktivitäten. Emotionen veranlassen uns zum Handeln, sie beeinflussen unser Verhalten.
Durch Affekte wird die vom Gehirn ausgewählte Information mit Bedeutung assoziiert. Bedeutung
ist das, was eine Information bewirkt, sei es eine Reaktion oder einen inneren Zustand. Eine
Wahrnehmung erzeugt eine Information. Diese hat aber nur Bedeutung für ein Individuum, wenn
eine Reaktion erfolgt oder sich ein innerer Zustand ändert. Bedeutung, erzeugt aus Information
durch Affekte, bewirkt eine Rückkopplung zur äußeren Welt. Bedeutung ist also eine Interaktion
eines Lebewesens mit einer Welt. Abbildung 4.4 stellt diesen Zusammenhang dar.
Das Gehirn
Die
Welt
Merkmale,
Präferenzen
Ausgewählte
Informationen
Affekte
Assoziationen
Bedeutung
Verhalten
Abbildung 4.4
4.1.3. Selbstorganisation
Selbstorganisation ist die Erzeugung einer neuen Ordnung aus etwas bis zu einem gewissen Grad
Unvorhersagbarem. Es ist die Erzeugung von Information aus dem Fluss der Entropie. Diese neue
Information kann nicht programmiert sein, sonst wäre sie keine neue Information sondern nur
Umsetzung von Information von einer Form in eine andere.
Selbstorganisation bedeutet auch Vermehrung von Information. Für diesen Prozess sind zwei
Voraussetzungen erforderlich: es muss Rauschen und Redundanz geben. Rauschen ist nach dem
zweiten Satz der Thermodynamik immer vorhanden. Es erzeugt Veränderung in etablierten
Ordnungen. Redundanz sorgt dafür, dass Information in mehreren Kopien vorliegt und somit bei
Veränderungen durch Rauschen nicht verschwindet.
Zur Selbstorganisation einer Art oder eines Lebewesens gehört die Fähigkeit zu lernen. Es gibt zwei
Formen des Lernens, das genetische (germ-line) Lernen und das individuelle Lernen. Man spricht
auch von genetischer Selbstorganisation und somatischer Selbstorganisation.
Angeborene Bilder werden benötigt, weil Erfahrung nur Erfahrung von etwas ist. Wahrnehmung ist
nur möglich, wenn die wahrgenommene Entität aus dem ganzen Hintergrund der Eingaben, die auf
die Sinne einströmen, herausgefiltert werden kann. Wir brauchen bestimmte Kategorien oder Ideen,
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zu denen die Wahrnehmung in Beziehung gesetzt werden kann. Ohne eine Vorstellung von dem,
was man sucht, findet man nichts. Die Wirklichkeit an sich ist ungeteilt, um etwas zu beobachten
und zu erkennen benötigt daher der Betrachter vorgefertigte Kategorien, die die Wirklichkeit in
brauchbare Portionen unterteilen. Durch die Evolution vermittelte Bilder sind deshalb die
Grundlage für das individuelle Lernen.
Die Selbstorganisation des Individuums ist die Grundlage der menschlichen Kultur; diese wiederum
ist die Selbstorganisation von Gesellschaften. Kultur ist die kumulierte Erfahrung von Individuen,
die in Raum und Zeit vermittelt wird. Sie erzeugt Informationen, indem Menschen ihre individuellen Erfahrungen durch das Medium der Sprache mitteilen. Sie ist eine „Vorrichtung“ zum Entwickeln und Erhalten von Informationen angesichts der Entropie. Kultur ist ein kollektiver Prozess,
sie ist ein Attribut von Populationen. Das Individuum ist zum einen der Träger und Übermittler der
genetischen Information der Art, die erfolgreichen Individuen tragen zur biologischen Entwicklung
der Arten bei. Zum andern helfen die Ideen der erfolgreichen Individuen dazu, die Kultur der
Gesellschaft zu verbessern.
4.1.4. Die kognitive Strategie
Kognitive Systeme, wie andere biologische Systeme, stellen einen Mechanismus zur Interaktion mit
der Welt bereit, sie tragen zu einem speziellen Attraktor bei, der die Existenz der Lebewesen
konstituiert. Deshalb kann man sie als eine Strategie für das Überleben bezeichnen. Das heißt aber
nicht, dass sie planmäßig mit einem bestimmten Ziel entstanden sind, vielmehr sind sie zufällige
Produkte der Evolution. Der Zweck dieser Attraktoren ist also derselbe wie der von der Kognition
entwickelten. Allerdings bringen die kognitiven Interaktionen neue Ebenen der Komplexität in die
Evolution, die Kognition vergrößert die Vielfalt der Existenz. Attraktoren, die gelerntes Verhalten
einschließen, erzeugen Kultur. Dadurch ist eine Fülle neuer Informationen in die Welt gekommen,
es sind neue Attraktoren entstanden. Kognition ist eine zusätzliche Möglichkeit der Erzeugung von
Ordnung aus dem allgemeinen Fluss der Entropie. Kognitive Lebewesen tragen also in doppelter
Weise zur Selbstorganisation des Lebens bei: genetisch durch die Evolution und somatisch durch
individuelles Lernen.
4.2.
Immunität
Die zeitlichen Interaktionen im Immunsystem und ihre Auswirkung sind vereinfacht in Abbildung
4.5 dargestellt.
Das Selbst
Das Immunsystem
Koreaktionen
Eingabe
Signalerkennung
Zellenauswahl
Ausgabe
Effektoraktivitäten
Erhaltung
Schutz
Abbildung 4.5
Die Immunelemente oder Immunagenten können Zellen oder Moleküle sein. Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Größe (Zellen bestehen aus Milliarden von Molekülen) können sie bezüglich ihrer
Funktion im Immunsystem als ähnlich betrachtet werden. Das Selbst besteht noch aus anderen
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Teilsystemen, z.B. den inneren Organen, dem Nervensystem und dem endokrinen System. Der
Zweck des Immunsystems ist die Erhaltung und der Schutz des Selbst. Die Effektoraktivitäten sind
an die anderen Prozesse im Immunsystem rückgekoppelt und beeinflussen sie dadurch.
Die Immunelemente werden im Körper durch zwei verschiedene Kanalsysteme transportiert. Sie
bewegen sich zwischen Körpergewebe und Lymphknoten (und anderen Lymphorganen). Das eine
Kanalsystem sind die Blutgefäße, die den Transport auf zweierlei Weise durchführen: als Verteilungssystem mit hohem Druck (Arterien) und als Sammelsystem mit niedrigem Druck (Venen). Das
andere Kanalsystem sind die Lymphgefäße. Es hat keine zentrale Pumpe wie die Blutgefäße und
funktioniert deshalb nur als Sammelsystem mit niedrigem Druck. Die afferenten Lymphgefäße
transportieren die Immunelemente aus dem Körpergewebe in die Lymphknoten, die efferenten
Lymphgefäße transportieren die Immunelemente von den Lymphknoten ins Blut. Da die Lymphgefäße keine zentrale Pumpe haben fließt die Lymphe passiv durch die Lymphgefäße, getrieben
durch die Schwerkraft und durch Muskelbewegungen.
Die Immunelemente sind in charakteristischen Gruppen auf die verschiedenen Organe des Körpers
verteilt, ihre Zahl und ihr Zustand in dem jeweiligen Organ spiegeln die unterschiedlichen lokalen
Bedürfnisse der Organe bezüglich der Reaktion auf Verletzung, der Heilung, der Regeneration und
dem Widerstand gegen Infektionen wider.
Zum Beispiel kann sich die Leber regenerieren, das Gehirn dagegen nicht; der Darm toleriert die
normale Darmflora, die Blutgefäße und die Leber dagegen nicht. Die Zusammensetzung der
Immunelemente in den einzelnen Organen bestimmt die charakteristischen Immunreaktionen,
die dort erlaubt sind.
Die Lymphknoten sind über den ganzen Körper verteilt. Durch jeden fließt Lymphe aus einem
bestimmten Segment des Körpers, auf diese Weise unterteilen die Lymphknoten den Körper
funktional in verschiedene Immunbereiche. Der Inhalt der afferenten Lymphgefäße, die zu einem
Lymphknoten führen, informiert diesen über den Gesundheitszustand seines Immunbereichs.
Gleichzeitig zirkuliert auch Blut durch den Lymphknoten und bringt andere Immunelemente. Er
kann bei Bedarf Ressourcen aus dem Blut entnehmen, die für eine lokale Immunreaktion in seinem
Zuständigkeitsbereich benötigt werden. Die Interaktion der Immunelemente in den Lymphknoten
ermöglicht die Aufnahme und Verarbeitung von Immuninformation, deshalb sind die Lymphknoten
günstige Orte für kognitive Aktivitäten.
4.2.1. Erhaltungsfunktionen
Die Immunelemente können fünf verschiedene Funktionen ausführen:
1.
2.
3.
4.
5.
Zellen wachsen und sich vermehren lassen,
Zellen sterben lassen,
Zellen sich bewegen lassen,
die Zelldifferenzierung beeinflussen,
Systeme zur Unterstützung und Belieferung von Körpergewebe modifizieren.
Es ist klar, dass das Wachstum und die Vermehrung der Zellen für den Aufbau des Körpers notwendig sind. Auch beim erwachsenen Säugetier sind sie noch notwendig zur Erhaltung des Körpers bei
Schädigungen und zum Ersetzen verbrauchter Zellen. In der Biologie wurde aber lange Zeit die
Bedeutung des Zelltods übersehen. Sie spielt sowohl in der embryonalen Entwicklung als auch bei
der Erhaltung des Körpers nach der Geburt eine wichtige Rolle. In dieser Phase wird sie wesentlich
vom Immunsystem gesteuert.
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Zellen besitzen von Natur chemische Funktionen, die notwendig sind um sich selbst zu töten, und
setzen sie auch ein. Der Zellselbstmord, genannt Apoptosis, ist natürlich. Die Zellen besitzen Gene,
die eine Kaskade von Signalmolekülen und Enzymen ausdrücken (d.h. erzeugen können), deren
Aktivierung zum Tod der Zelle führt.
Wenn der Apoptosis-Mechanismus nicht mehr funktioniert, kann das Immunsystem einspringen
und ersatzweise den Tod der Zellen herbeiführen. Es muss dafür in der Lage sein, zwischen den
gesunden und den geschädigten Zellen sorgfältig zu unterscheiden, dazu ist kognitive Aufmerksamkeit erforderlich. Die Wirkung der Immunzellen kann die Verdauung der Zellen sein (Makrophagen) oder das wieder In-Gang-Setzen der Apoptosis.
Man kann zwischen drei Typen von Genen unterscheiden:



Haushaltungs-Gene
Gewebespezifische Gene
Erhaltungs-Gene
4.2.2. Rezeptoren
Rezeptoren sind Vorrichtungen des Körpers zum Erkennen von Objekten. Erkennen im Immunsystem wird verstanden als ein Vorgang der zwei Bedingungen erfüllt: er erfordert die Fähigkeit zu
unterscheiden und die Fähigkeit zu reagieren. Unterscheidungsfähigkeit kennzeichnet die Spezifizität der Erkennung, d.h. es kann nur etwas erkannt werden, wenn es von anderen Dingen unterschieden werden kann. Die Spezifizität liefert Information. Reaktion auf Information ist Bedeutung, vgl.
Abschnitt 4.1.2. Erkennung erfordert also Information und Bedeutung.
Bindung und Reaktion
Die Reaktion ist wichtig, weil ohne sie ein Erkennungsereignis nicht wahrgenommen werden kann.
Deshalb wird sie in die Definition der Erkennung als Bestandteil integriert. Selbst bei einem mentalen Erkennungsereignis findet eine Reaktion statt, z.B. die Änderung eines mentalen Zustands, auch
wenn er sich nicht außen zeigt (meist aber doch). Ein Signal, das keine Änderung bewirkt, also
keine Reaktion hervorruft, bedeutet nichts. Erkennung ist die Assoziation eines exklusiven Signals
mit einer irgendwie gearteten Reaktion.
Biologische oder molekulare Erkennung kann man sich am besten mit dem Schlüssel-SchlossParadigma klar machen. Sie müssen in spezifischer Weise zusammenpassen, damit der Schlüssel
seine Funktion ausüben kann. Dabei wirkt Reibungskraft zwischen beiden. In ähnlicher Weise
müssen Moleküle zusammenpassen. Molekulare Spezifizität wird durch zwei Kräfte erzeugt: die
internen Kräfte, die die Form des Moleküls bewirken als Voraussetzung des Passens, und die
externen Kräfte zwischen den Molekülen, die sie aneinander binden, sozusagen die molekulare
Reibung, die ihnen die Interaktion ermöglicht. Die Bindung durch externe Kräfte ist temporär, sie
kann jederzeit wieder aufgelöst werden. Dadurch erhalten die Moleküle ihre Individualität trotz der
Interaktion.
Rezeptormoleküle besitzen eine Bindungsstelle, mit der sie ein anderes Molekül (genannt Ligand)
nach dem Schloss-Schlüssel-Prinzip binden können. Sie besitzen außerdem die Fähigkeit zu einer
Reaktion, wenn eine Bindung stattfindet, und zwar drückt sich diese in einer Veränderung der Form
aus. Proteine im Allgemeinen und insbesondere Rezeptormoleküle sind relativ stabil, können aber
in gewissem Ausmaß Formänderungen vornehmen. Die verschiedenen Formen, die ein Rezeptormolekül annehmen kann, drücken aus, ob ein Rezeptor einen Liganden gebunden hat oder nicht.
Die Veränderung im Fall eines Bindens findet an einer bestimmten Stelle statt, der Reaktionsstelle.
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Die Reaktionsstelle gibt also eine bestimmte Information wieder. Rezeptorproteine erkennen also
spezifische Liganden indem sie eine spezifische Form mit Bedeutung verknüpfen.
Die stabilen alternativen Formen eines Rezeptormoleküls können als alternative Attraktorbecken
betrachtet werden und die Rezeptor-Ligand-Interaktion als Attraktor. Die Bindung eines Liganden
an der Bindungsstelle kann die Reaktionsstelle des Rezeptors von einem Attraktorbecken in ein
anderes bewegen. Diese Sichtweise erlaubt die folgende Definition eines Liganden: ein Ligand ist
ein Molekül, das durch Bindung an die Bindungsstelle das Form-Attraktorbecken des Rezeptors
beeinflussen kann.
Proteinbildung
Die Komplexität der Möglichkeiten der Bindung und Reaktion wird durch kovalente und nichtkovalente Kräfte bewirkt. Kovalente Kräfte bestehen zwischen Atomen, wenn sie gemeinsame
Elektronen haben. Atome, die durch kovalente Bindungen zusammengebunden sind, bilden ein
Molekül. Kovalente Bindungen sind irreversibel, sie können nur durch Energiezufuhr aufgelöst
werden. Nicht-kovalente Bindungen können sich dagegen auflösen. Da bei der Formung eines
Proteins beide Kräfte eine Rolle spielen, besitzen sie eine variable Struktur auf der Basis einer
festen Grundstruktur.
Proteine bestehen aus Ketten von Aminosäuren-Untereinheiten. Es gibt zwanzig verschiedene
natürliche Aminosäuren, die in unterschiedlichen Kombinationen miteinander verknüpft werden
können um verschiedene Proteine zu bilden. Jede Aminosäure in der Kette ist durch eine AmidBindung an ihre benachbarten Aminosäuren kovalent gebunden. Die Reihenfolge der Aminosäuren
in der Kette ist in der DNA kodiert. Die Vielfalt des genetischen Codes erzeugt die initiale Vielfalt
der Proteine.
Durch die kovalenten Bindungen zwischen den Aminosäuren entsteht das „Rückgrat“ des Proteins.
Darüber hinaus besitzt jede Aminosäure eine Seitenkette. Durch ihre unterschiedlichen Seitenketten
unterscheiden sich die Aminosäuren voneinander. Die Seitenketten können sich in ihrer Größe, in
ihrer Wasserlöslichkeit oder ihrer elektrischen Ladung unterscheiden. Durch diese Eigenschaften
können die Aminosäuren der Kette auch nicht-kovalent miteinander interagieren. Vgl. Abbildung
4.6.
AminosäurenSeitenketten
A
B
C
D
AminosäurenRückgrat
Abbildung 4.6
Eine Proteinkette, die durch eine einzige DNA-Sequenz kodiert ist, kann wegen der nichtkovalenten Kräfte mehr als eine stabile Form haben und damit auch mehr als eine Funktion.
Außerdem kann sie durch Bindung von Liganden und andere Umweltfaktoren ihre Form ändern.
Die DNA-Sequenz allein reicht also nicht aus um die Form und Funktion eines Proteins zu
bestimmen, sie ergeben sich vielmehr aus den Interaktionen mit der epigenetischen Umgebung. Ein
Protein ist also durch genetische und epigenetische Einflüsse bestimmt. Lymphozyten können sogar
ihre eigenen Gene epigenetisch konstruieren.
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Spezifizität
Die Rezeptor-Ligand-Bindung ist inhärent reversibel, wie die Proteinfaltung, d.h. eine bestehende
Bindung kann sich leicht wieder auflösen. Damit sie einigermaßen stabil ist, ist eine bestimmte
Konzentration an Liganden-Molekülen erforderlich. Wie groß diese sein muss, hängt von der
Affinität zwischen Ligand und Rezeptor ab, einer Art Bindungsenergie zwischen beiden. Ist sie
hoch, dann genügt schon eine geringe Konzentration um die Bindung aufrecht zu erhalten, ist sie
niedrig, dann wird eine höhere Konzentration benötigt. Spezifizität lässt sich also nicht absolut
quantifizieren, sondern nur graduell. Man kann sich dies an Hand von Abbildung 4.7 klar machen.
1
Abstrakter Ligand
1’
2’
2
10’
9
3’
4
5
5’
6’
3
9’
4’
6
8’
10
8
7’
7
Bindungsstelle
Rezeptorprotein
Abbildung 4.7
Aus der Betrachtung der verschiedenen Möglichkeiten von Liganden für eine Bindungsstelle folgt,
dass die Spezifizität der Erkennung nicht auf dem initialen Bindungsereignis beruhen kann. Der
Rezeptor kann die Vielzahl von Liganden nicht unterscheiden. Spezifizität ist nicht durch feste
Eigenschaften der Immunelemente und der Liganden gegeben, vielmehr muss das Immunsystem sie
herstellen.
4.2.3. Degeneration, Vielseitigkeit, Redundanz, Zufall
Die „Degeneration“ oder Unspezifischkeit der Rezeptor-Ligand-Bindung hat Vorteile. Sie ermöglicht einen bestimmten Grad an Plastizität und diese erleichtert die Regulierung. Sehr spezifische
Liganden mit hoher Affinität zum Rezeptor funktionieren oft schlecht oder können sogar gefährlich
sein. Ligand-Rezeptor-Interaktionen sollten reversibel sein, deshalb sind Interaktionen mit unterschiedlichen Graden an Affinität günstig, sogar solche mit niedriger Affinität. Zum Beispiel müssen
Enzyme von einem vorhandenen Liganden frei werden um sich mit dem nächsten Liganden zu
beschäftigen zu können. Deshalb ist der Ligand mit der höchsten Affinität nicht unbedingt der
günstigste. Ein Ligand mit hoher Affinität kann ein Individuum sogar töten, indem er zu fest an
seinen Rezeptor bindet.
Immunelemente sind nicht nur degeneriert in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit, sondern auch in hohem
Maß pleiotrop (vielseitig) in ihrer Aktionsfähigkeit. Eine Immunzelle kann verschiedene, sogar
gegensätzliche Dinge bewirken. Eine T-Zelle z.B. kann eine Zelle töten und das Wachstum einer
anderen stimulieren.
Einerseits kann ein Zytokin vielfältige Wirkungen haben, andererseits haben auch zum Teil verschiedene Zytokine ähnliche Wirkungen, d.h. die Menge der Zytokine enthält Redundanzen. Auch
dieser Befund spricht gegen die Monospezifizität. Man kann zwei Typen von Redundanzen unterscheiden, einfache und degenerierte. Einfache Redundanz liegt vor, wenn es mehrere Kopien desselben Immunelements gibt. Das ist eine wichtige Voraussetzung für Selbstorganisation. Einfache
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Redundanz hat aber keinen Einfluss auf die Spezifizität, weder vergrößert sie noch verkleinert sie
diese. Degenerierte Redundanz liegt vor, wenn mehrere unterschiedliche Immunelemente dieselbe
Wirkung haben. Sie sind zwar nicht identisch, aber funktional können sie sich gegenseitig ersetzen.
Wenn also ein Immuneffekt beobachtet wird, kann man nicht sicher sein, vom wem er verursacht
wurde. Degenerierte Redundanz widerspricht also der Monospezifizität.
Die Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten bei der somatischen Konstruktion der Bindungsstellen
eines Rezeptors erzeugt ein riesiges potenzielles Repertoire von Rezeptoren. Dazu kommt noch der
Effekt der Mutation. Dabei ist zu bedenken, dass alle diese Rezeptoren degeneriert sind, also viele
verschiedene Liganden binden können. Wie kann das Immunsystem aus diesem Rauschen ein
spezifisches Signal extrahieren, zu dem viele verschiedene Immunelemente beitragen? Das ist nur
möglich durch den Prozess der fortschreitenden Selbstorganisation des Immunsystems und seines
Rezeptor-Repertoires.
Degeneration ist ein kardinales Faktum des Lebens, Leben kann als Ausdruck von LigandRezeptor-Interaktionen betrachtet werden, die von Natur aus locker sind. Funktionale biologische
Spezifizität kann nicht durch eine zugrunde liegende chemische oder physikalische Spezifizität
erklärt werden, also durch eine eins-zu-eins Ligand-Rezeptor-Bindung. Dazu kommt noch der
Einfluss der Pleiotropie, der Redundanz und des Zufalls. Die Immunelemente können eine Vielfalt
überlappender Effekte erzeugen, die Fähigkeit der Lymphozyten, Antigene aufzuspüren, ist zufällig
und praktisch unbegrenzt. Daraus folgt, dass biologische Spezifizität nur durch einen biologischen
Prozess zustande kommen kann. Spezifizität ist nicht etwas Gegebenes, sondern etwas zu
Schaffendes. Das Verhalten des Immunsystems ist spezifisch, es kann zwischen gefährlich und
ungefährlich unterscheiden. Die Frage ist, wie es diese Leistung erbringt.
4.2.4. Geometrie der immunologischen Kognition und der Ko-Reaktion
Wegen der sehr großen Zahl möglicher Ligand-Rezeptor-Bindungen muss es einen Weg geben, aus
dem Hintergrundrauschen ein Signal zu extrahieren. Das kann dadurch erreicht werden, dass die
Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge fokussiert wird, während andere außer Acht gelassen werden, d.h. die Extraktion eines Signals ist ein aktiver Vorgang. Zu diesem Zweck muss das potenziell
unbegrenzte Repertoire an Rezeptoren beschränkt werden. Dies geschieht durch Makrophagen, Tund B-Zellen.
Die Makrophagen besitzen angeborene Rezeptoren und können damit angeborene Moleküle erkennen. Sie erzeugen keine Rezeptoren somatisch, deshalb können sie keine Antigene erkennen.
Makrophagen stellen aber den Kontext fest, in dem die Lymphozyten ihre Antigene erkennen und
übermitteln ihn an die Lymphozyten. Es gibt drei Arten der Kontextwahrnehmung durch die
Makrophagen: der Zustand des Körpergewebes, das Vorhandensein und die Wirkungen infektiöser
Erreger und der Aktivierungszustand von Immunelementen in der näheren Umgebung.
Gewebe
Makrophagen, die in spezifischem Körpergewebe vorkommen, zeigen Eigenschaften, die für die
Erhaltung des betreffenden Gewebes geeignet sind. Die von den Makrophagen erzeugten Zytokine
unterscheiden sich in verschiedenen Teilen des Körpers voneinander und sind auf die Erhaltung und
den Schutz des jeweiligen Gewebes spezialisiert. Sie reagieren auf lokale Signale aus dem Gewebe.
Sie nehmen Gewebeschäden wahr mittels spezieller Rezeptoren für Liganden-Moleküle, sie
initiieren die Narbenbildung und den Heilungsprozess, ferner aktivieren sie die Zytokinrezeptoren
der Lymphozyten.
Infektion
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Makrophagen nehmen Infektionen wahr mittels Rezeptoren für Moleküle, die spezifisch für
infektiöse Erreger sind, etwa Bakterien oder Viren. Diese Moleküle aktivieren die Makrophagen
dazu, die Erreger anzugreifen, einzuschließen und zu töten und die Erregermoleküle in Antigene für
T-Zellen umzuwandeln. Als Reaktion erzeugen die Makrophagen Zell-Interaktions-Moleküle und
Zytokine, die T- und B-Zellen über den infektiösen Kontext informieren.
Immunaktivität
Makrophagen nehmen Zytokine und andere, von Lymphozyten erzeugte Signalmoleküle wahr
mittels der Fc-Rezeptoren für die Reaktionsstellen der Antikörper. Damit können sie Antikörper
feststellen, die an Antigene gebunden sind und diese dann einschließen und zerstören. Ein
Makrophage nimmt also ein Antigen nicht direkt wahr, sondern indirekt über die Reaktionsstelle
eines Antikörpers, der mit seiner Bindungsstelle das Antigen gebunden und damit markiert hat.
Immunkontext
Immunkontext ist die Kette von Hilfssignalen, die die Reaktion auf ein spezifisches Objekt beeinflussen. Die Unterscheidung zwischen Kontext und Objekt ist relativ, sie hängt vom Standpunkt des
Betrachters ab. Der Makrophage sieht das Antigen nicht als ihr Objekt, sondern nur als Signal einen
infektiösen Erreger anzugreifen, der das eigentliche Objekt ist. Die Lymphozyte sieht den
Makrophagen als Teil eines Kontexts für das Erkennen des Antigens, das ihr eigentliches Objekt ist.
B-Zellen und die von ihnen erzeugten Antikörper erkennen unmittelbar die Form von Proteinen und
anderen Antigenen, anders als die T-Zellen. Ein Antikörper besteht aus einer Bindungsstelle und
einer bestimmten Anzahl verschiedener Reaktionsstellen (etwa ein halbes Dutzend), die Idiotope
heißen. Jedes Idiotop definiert eine bestimmte immunologische Wirkung des Antikörpers, z.B.
Aktivierung der Phagozytose oder Aktivierung der Komplement-Enzyme. Eine B-Zelle kann die
Bindungsstelle ihrer Antikörper mit verschiedenen Reaktionsstellen kombinieren. Wie das
geschieht, wird von den T-Zellen beeinflusst.
Bindet eine B-Zelle ein Antigen, dann wird dieses verarbeitet, seine Peptidbruchstücke an ein
MHC-II-Molekül gebunden und den T-Zellen präsentiert. Die T-Zellen erzeugen daraufhin verschiedene Zytokine, abhängig von dem präsentierten Komplex (Kontext). Diese Zytokine veranlassen die B-Zelle, unterschiedliche Idiotope mit der Bindungsstelle der Antikörper zu kombinieren.
Fehlen die Signale der T-Zellen, dann erzeugt die B-Zelle eine Default-Reaktionsstelle (IgM). Die
T-Zellen entscheiden also letztlich darüber, wie eine B-Zelle bzw. ihre Antikörper auf ein Antigen
reagieren.
Die Reaktionen des Immunsystems erfolgen durch das Zusammenwirken von drei Arten von
Zellen, den Makrophagen, den T-Zellen und den B-Zellen. Deshalb spricht man von Ko-Reaktion.
Ein Makrophage erkennt Kontext-Merkmale, eine B-Zelle erkennt die Form eines Antigens und
eine T-Zelle eine Probe der Aminosäure-Sequenz eines Antigens (im MHC-Kontext). Die Zellen
informieren sich gegenseitig über das Erkannte und reagieren auf das Antigen oder ein anderes
Element entsprechend diesen Informationen, d.h. sie reagieren auch auf die Reaktionen der anderen
Immunagenten. Das Immunsystem reagiert gleichzeitig auf verschiedene Aspekte der Zielobjekte
und auf die eigenen Reaktionen auf die Merkmale der Zielobjekte. Die drei Zelltypen führen dann
ihre jeweils spezifischen Reaktionen aus, aber mit unterschiedlichen Intensitäten und Auswirkungen
im Einzelnen. Die Ko-Reaktion ist eine Komitee-basierte Aktion. Abbildung 4.8 stellt diesen
Zusammenhang graphisch dar.
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Gewebe
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Antigen-Proteine
Kontext
Aminosäure-Sequenz
Infektion
Form
Schädigung
Gesundheit
Peptid-MHC
Makrophagen
T-Zellen
B-Zellen
Ko-Reaktionssignale
Zytokine
Verarbeitete Peptide
Interaktions-Moleküle
Antikörper
Erhaltung
Schutz
Abbildung 4.8
Ko-Reaktion ist ein grundlegendes Konzept. Nach ihm kommt Erkennung durch Komitee-basierte
Überlegungen und Entscheidungen zustande. Die spezifische Reaktion auf eine Immunsituation ist
daher Gegenstand der Konsultation unter Immunagenten. Erkennung ist eine emergente Eigenschaft
ko-reaktiver Populationen semi-unabhängiger Agenten.
Auch die Immunspezifizität ist eine Wirkung der Ko-Reaktion. Die einzelnen Rezeptoren sind von
Natur aus degeneriert, bringen also keine spezifischen Bindungen zustande. Durch die Ko-Reaktion
entsteht aber Spezifizität. Jede der drei Zelltypen erkennt spezifische Merkmale, ist aber bis zu
einem gewissen Grad degeneriert. Die Ko-Reaktion ist eine Art Überkreuz-Prüfung, die zu einer
gemeinsamen Reaktion führt. Immunspezifizität ist eine Ansammlung interagierender Merkmale,
Spezifizität ist nicht von Anfang an gegeben, sondern das Ergebnis der Reaktion.
Die Ko-Reaktion findet an bestimmten Orten statt, den Lymphknoten. Hier tauschen die Immunagenten ihre Erkenntnisse aus, abgeschirmt von den Einflüssen des Gewebes, wie in einer abgeschlossenen Kammer. Sobald eine Entscheidung gefunden worden ist, verlassen die Immunagenten
den Lymphknoten und teilen ihre Entscheidung dem Gewebe über die Blutbahn mit. Lymphknoten
fungieren also als lokale ad-hoc-Gehirne.
Die Zytokine werden in verschiedene Gruppen unterteilt, in denen sie gemeinsame redundante
Merkmale haben. Bei den T-Zell-Zytokinen (sie werden von T-Zellen, aber auch von anderen
Zellen erzeugt) unterscheidet man zwei entgegen gesetzte Gruppen: T1 und T2. Die Zytokine der
Gruppe T1 aktivieren tendenziell, direkt oder indirekt, destruktive Immuneffekte. Zu ihnen gehören
IFN, TNF, IL-1 und IL-12. Die Zytokine der Gruppe T2 aktivieren tendenziell weniger
destruktive Immuneffekte, sie fördern sogar oft die Heilung. Zu ihnen gehören IL-4, IL-5, IL-10
und TGF. Diese Zytokine sind die wesentlichen Signalelemente bei der Ko-Reaktion. Sie zeigen
redundante pleiotropische Effekte und stimulieren gegenseitig ihre Produktion innerhalb derselben
Gruppe. Zwischen den Gruppen herrscht allerdings Konkurrenz, d.h. sie hemmen die Produktion
der Zytokine der jeweils anderen Gruppe.
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In der Ko-Reaktion gibt es auch einen Rückkopplungsmechanismus. Die Interaktionen der T1- und
T2-Zytokine und ihrer Rezeptoren haben sowohl positive als auch negative Rückwirkungen auf die
Interaktionen der Immunagenten. Positive Signale für eine Gruppe von Immunagenten können
negative Signale für eine andere Gruppe erzeugen und umgekehrt, was zu einer Kettenreaktion
führen kann.
Die immunologische Ko-Reaktion hängt von der Existenz von Immunnetzwerken ab. In einem Netz
hat eine Zustandsänderung einer Komponente Auswirkungen auf die Zustände anderer Komponenten oder ihrer Verbindungen. In einem Immunnetzwerk gibt es eine Fülle von Verstärkungen, Hemmungen und positiven und negativen Rückkopplungen, außerdem eine Vielzahl von Kontaktmöglichkeiten zwischen den Immunagenten durch die Degeneration der Erkennung und die Pleiotropie
der Reaktion. Das macht dieses Netzwerk höchst komplex. Es wird physisch durch die Lymphknoten und anderes Gewebe, das mittels Blut- und Lymphgefäßen mit ihnen verbunden ist, realisiert.
Genauer gesagt, ist das Immunnetzwerk eine Ansammlung von mehr oder weniger verbundenen
und über den Körper verteilten Netzen. Komplexe Netze sind die Grundlage für die Entstehung von
Kognition.
4.2.5. Die Dynamik der Immun-Kognition
Um das zufällig entstandene Repertoire der T-Zellen-Rezeptoren so zu strukturieren, dass es seine
Aufgabe erfüllen kann, wird es der Selektion unterworfen, genauer: es durchläuft mehrere Selektionszyklen. Die erste Selektion findet (für T-Zellen) im Thymus statt wo sie zu erwachsenen Zellen
reifen. T-Zellen, die dort nicht durch Bindung an einen Self-MHC-Peptid-Komplex aktiviert
werden, werden durch Apoptosis beseitigt. Das Peptid muss also ein körpereigenes sein, fremde
gibt es im Thymus nicht, weil dieser normalerweise von der Außenwelt abgeschirmt ist. Die
Bindung muss in ihrer Stärke in einem mittleren Bereich liegen, sie darf nicht zu stark und nicht zu
schwach sein, andernfalls wird die Zelle ebenfalls beseitigt. Das heißt, die T-Zelle darf nicht zu
spezifisch sein, sie muss mäßig degeneriert sein. Kurz gesagt, es werden degenerierte autoimmune
T-Zellen ausgewählt. Dafür gibt es drei Gründe:
1. T-Zellen, die nicht oder zu schwach binden, sind nicht in der Lage, die Kontaktpunkte des
MHC-Moleküls in einem MHC-Peptid-Komplex zu erkennen. Sie müssen deshalb eliminiert
werden.
2. Alle Formen des Lebens haben, bedingt durch die Evolution, ähnliche molekular Eigenschaften.
Das Selbst unterscheidet sich chemisch nicht wesentlich von seinen Feinden, diese sind
funktional betrachtet eine chemische Variante des Selbst. Das Immunsystem, das das Selbst mit
einem gewissen Grad an Degeneration erkennen kann, sollte deshalb auch in der Lage sein,
mindestens ein Epitop eines fremden Erregers zu erkennen, das als Bestandteil eines MHCPeptid-Komplexes präsentiert wird.
3. Die Erhaltung des Körpers erfordert ein gewisses Maß an Selbsterkennung. Die Selbst-Selektion
ist also eine wirkungsvolle Einführung in die Selbsterhaltung.
Die erste Phase der Selektion im Thymus formt also aus dem anfangs zufälligen Repertoire der TZellen-Rezeptoren eine strukturierte Population von Klonen mit einem degenerierten, aber definierten Grad an Spezifizität für das Selbst. Der Übergang von Zufälligkeit in Struktur ist Information
und der Beginn von Bedeutung.
Die zweite und dritte Phase der Selektion finden in den peripheren Lymphorganen statt, sie sind die
wirklichen Reaktionen auf die Umwelt. Kann man die erste Selektion als Anleitung, häusliche
Unterweisung betrachten, dann ist die zweite und dritte Selektion der Erwerb von Welterfahrung.
Die Selektion wird ausgelöst durch gebrochene Knochen, verbrühte Haut, abtrünnige Zellen,
eindringende Bakterien, parasitäre Viren, Nahrung, Intimität und anderes. Hier werden die T-Zellen
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stark aktiviert durch hoch affine MHC-Peptid-Liganden. Diese veranlassen die T-Zellen zur Produktion von Effektormolekülen, z.B. Zytokinen. Die erhöhte Affinität bedeutet, dass die T-Zellen in
der zweiten Selektion mit größerer Wahrscheinlichkeit auf Liganden reagieren, die sich von den
Liganden der ersten Selektion unterscheiden. Es werden also T-Zellen ausgewählt, die höhere
Affinität zu geändertem Selbst haben. Ein solcher Ligand ist ein fremder, aber dem körpereigenen
Liganden verwandter. Die zweite Selektion fokussiert also auf Abweichungen vom Selbst. Diese,
von außen kommenden, Abweichungen müssen aber dem Selbst ähnlich sein.
Die dritte Phase scheint nur die B-Zellen zu betreffen. Bei der Reaktion auf Antigenformen werden
die B-Zellen unter dem Einfluss von Signalen von den T-Zellen veranlasst, die Gensegmente zu
mutieren, die die Bindungsstelle der Antigen-Rezeptoren kodieren. B-Zellen mit hoher Affinität
werden zur Vermehrung und Produktion von Antikörpern gleichen Typs angeregt. Reagierende BZellen können also bei der Reaktion auf Antigene tendenziell ihre Spezifizität erhöhen und ihre
Degeneration vermindern. Das ist der Prozess der Affinitätsreifung. Durch diesen Prozess sehen die
B-Zellen die antigene Welt gewissermaßen schärfer, während die T-Zellen sich nicht verändern, sie
bleiben degeneriert, sozusagen kurzsichtig.
Es gibt noch eine vierte Phase der Selektion. In ihr werden die biologischen Wirkungen der
wahrgenommenen Signale festgelegt, d.h. die eigentliche Reaktion. Diese ist Erhaltung oder Schutz
des Körpers, und diese Wirkungen werden durch Moleküle ausgeübt, die fest genetisch kodiert sind,
also nicht somatisch verändert werden können wie die Kodierung der Bindungsstellen. Durch die
vierte Selektion wird bestimmt, welche Art von Reaktion (Genaktivierung, Zellwachstum, Zelltod,
Zellbewegung, Bereitstellung und Unterstützung) mit dem wahrgenommenen Signal verknüpft
werden soll. Verschiedene Situationen erfordern unterschiedliche Reaktionen und die Art der
Reaktion kann sich während des Prozesses der Reaktion ändern, z.B. kann es erforderlich sein,
zunächst einen eingedrungenen Erreger zu vernichten und später die Wunde zu heilen. Das
Immunsystem muss in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen und bei Bedarf zu revidieren oder
zu aktualisieren.
Auch die Zytokine, die durch geerbte Gene kodiert sind, haben nur relative Bedeutung, sie sind der
Selbstorganisation unterworfen. Das Immunsystem organisiert sich selbst auf allen Ebenen, es kann
unterschiedliche molekulare Hilfsmittel im mikroskopischen Maßstab benutzen um sehr ähnliche
Fähigkeiten im makroskopischen Maßstab zu bilden.
4.2.6. Bilder und Muster der Immun-Kognition
Antigen-Rezeptoren sind konkrete negative Bilder der Antigene, die sie binden. Antiidiotypische
Rezeptoren, d.h. Rezeptoren anderer Rezeptoren, konstituieren positive konkrete Bilder des Antigen-Liganden, den der idiotypische Rezeptor wahrnimmt. Konkret sind diese Bilder, weil sie auf
physikalischen Kontaktpunkten beruhen.
Interaktionen zwischen mehreren Entitäten können abstrakte Bilder der interagierenden Partner
erzeugen. Gegenseitiger Austausch von Informationen erlaubt interagierenden Partnern, sich aufeinander einzustellen. Das erzeugt einen Informationsraum, der die interagierenden Partner abbildet. In
diesem Sinn bildet eine Immunreaktion, an der verschiedene Zellen und Moleküle beteiligt sind, die
Antigene und andere Signale ab, die die Reaktion ausgelöst haben. Die Zytokin-Reaktion auf ein
Virus z.B. ist ein funktionales Bild des Virus, obwohl kein Zytokin ein Virus binden kann. Eine
hohe Konzentration von Leukozyten kann als funktionales Bild einer Infektion dienen, obwohl
keines der Leukozyten die komplementäre physikalische „Form“ der Infektion hat.
Bilder können als Muster, gebildet durch verschiedene Moleküle oder Zellen, über den Körper
verteilt existieren. Solche Bilder können verteilte Bilder genannt werden. Das zu einem Zeitpunkt
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vorhandene vollständige T-Zellen-Repertoire ist z.B. ein solches verteiltes Bild aller T-ZellenSelektionen, die bis zu diesem Zeitpunkt im Körper stattgefunden haben. Muster von T-ZellenReaktionen erzählen viel über die Immungeschichte eines Individuums. Verteilte Bilder liefern
besonders feine Muster. Sie profitieren von der Degeneration, partiellen Redundanz und Pleiotropie.
Ein Muster ist eine spezielle Anordnung von Elementen, die ein zu nutzendes oder zu imitierendes
Modell konstituieren. Muster können etwas bewirken, sie können etwas dazu veranlassen mit einer
gewissen Regelmäßigkeit vorzukommen. Muster sind Bilder im interaktionalen Sinn, wie die oben
beschriebenen abstrakten Bilder. Muster existieren auch unabhängig davon, ob sie wahrgenommen
oder akzeptiert werden. Ein Muster ist eine Anordnung, die eine reproduzierbare und Bedeutung
tragende Beziehung zwischen relativ unabhängigen Komponenten darstellt. Ein Muster ist einer
Information mit Bedeutung ähnlich. Das Muster wirkt wie ein Attraktorbecken, das die Komponenten durch ihre Interaktion zu einer bestimmten Anordnung veranlasst.
Muster sind m-zu-1-Anordnungen, deshalb können sie mehr spezifische Information über eine komplexe Situation befördern als eine 1-zu-1-Anordnung. Muster können verschachtelt vorkommen,
besonders bei biologischen Systemen ist das der Fall. Ein Aminosäuremolekül ist eine Anordnung,
ein Muster, von Atomen, Muster von Aminosäuren bilden Folgen von Proteinen, Muster von
Nukleinsäuren bilden Gene, Muster von nicht-kovalenten Kräften formen Proteine, Muster von
Proteinformen erzeugen Kognition und Muster von Kognitionen konstituieren Immunsysteme und
ihr Verhalten. Biologische Muster sind Prozesse, die ständig Energie benötigen um sich am Leben
zu erhalten. Muster sind interaktive Anordnungen, sie lösen sich auf, sie unterliegen der Entropie,
wenn an ihnen nicht gearbeitet wird.
Was für Muster für das Erkennen gilt, gilt auch für Muster für die Reaktion. Eine Vielzahl verschiedener Effektor-Agenten, die auf eine vorliegende Situation in pleiotropischer Weise regieren können, hat mehr Reaktionsmöglichkeiten als ein einzelner Effektor-Agent. Eine Menge verschiedener
Kombinationen generierter und pleiotropischer Agenten kann reichhaltige und verschiedenartige
Muster bilden, die unterschiedliche Situationen abbilden.
Die Verfügbarkeit vieler verschiedener Muster erlaubt es, jeder von einer großen Zahl nur geringfügig voneinander verschiedenen Situationen ein spezielles Muster zuzuordnen. Jedes Muster aus
degenerierten und pleiotropischen Agenten kann hoch spezifisch für je eine spezielle Situation sein.
Gerade weil die Immunagenten degeneriert und pleiotropisch sind ist die Vielfalt spezifischer
Muster möglich.
Das Konzept der Spezifizität durch Muster erklärt, warum Mäuse mit ausgeschaltetem IFN-Gen
ein funktionierendes Immunsystem ausbilden können. Es ist ähnlich wie bei farbenblinden Personen, denen einer der drei Rezeptortypen fehlt. Sie kommen ganz gut mit zwei Farben klar und oft
merkt die Umgebung ihr Defizit gar nicht. Ebenso bleiben bei den Mäusen mit ausgeschaltetem
IFN-Gen genügend Zytokine übrig um das Fehlen dieses Zytokins zu kompensieren. Die Spezifizität der Zytokine entsteht aus Mustern, nicht aus eins-zu-eins-Arrangements.
Das Entsprechende gilt für die Spezifizität der Antikörper. Gemischte Populationen von Antikörpern (polyklonale Antikörper) sind meist spezifischer als monoklonale Antikörper, d.h. solchen, die
nur von einem einzigen Klon abstammen. Auch bei ihnen liegt es an der Degeneration, wegen der
sie in der Lage sind, unterschiedliche Dinge wahrzunehmen. Gemeinsam in der Population können
sie Muster bilden, die spezifischer sind als das, was nur ein Typ wahrnehmen könnte. Auch bei den
T-Zellen (die keine Antikörper erzeugen) gilt dasselbe.
Signale, die zusammen ein Muster bilden, werden als zu einer Kategorie gehörig betrachtet. Zum
Beispiel gehören IFN, TNF, IL-1 und IL-12 zur T1-Kategorie von Zytokinen, IL-4, IL-5 und ILTechnische Universität Chemnitz
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10 zur T2-Kategorie. Die pleiotropischen Wirkungen der Zytokine einer Kategorie überlappen sich
in einer Immunreaktion. Muster definieren also Kategorien in operationaler Weise. Die Stabilität
solcher Muster hängt davon ab, wovon, wann und wie stark sie gestört werden. Manche sind sehr
stabil, aber generell kann man sie als Prozesse betrachten, die sich in einem Attraktorbecken
befinden und durch spezifische Steuerelemente in ein anderes Becken gestoßen werden können. Bei
der Behandlung einer Krankheit mit Medikamenten kommt es darauf an, die richtigen Steuerelemente zu finden, die eine Veränderung des Zustands bewirken.
4.2.7. Kognitive Entscheidungsfindung
Das Immunsystem hat Wahlmöglichkeit, weil es Optionen ausführen kann und lernfähig ist. Es hat
viele optionale Muster für das Wahrnehmen und Reagieren. Es gibt die T1- und T2-Zytokin-Muster
und die verschiedenen Antikörper-Idiotopen die verschiedene Muster für die Wahrnehmung bilden
können und es gibt verschiedene Reaktionen wie Aktivierung von Genen, Wachstum von Zellen,
Apoptosis und Bewegung von Zellen. Weil das System Optionen hat, muss es Entscheidungen
treffen für bestimmte Aktionen, die in einer Situation ausgeführt werden sollen.
Die Wirkungen des Immunsystems sind genetisch kodiert, während die Wahrnehmungen durch die
somatisch konstruierten Bindungsstellen der Rezeptoren kodiert sind. Es müssen also somatische
Wahrnehmungen von Objekten mit genetisch kodierten Effektorreaktionen assoziiert werden. Es
gibt aber auch genetisch kodierte Möglichkeiten der Wahrnehmung, nämlich durch Makrophagen.
Wird ein Makrophage aktiviert, dann muss sie die Entscheidung treffen, ob sie den Liganden töten
soll oder einen Heilungsprozess auslösen soll. Wahrnehmung und Reaktion erfolgen auf der Basis
von Mustern, die Spezifizität repräsentieren.
Die Entscheidungen des Immunsystems kommen durch Interaktionen zwischen den Immunagenten
und den Zielobjekten sowie der Immunagenten untereinander zustande. Es findet eine Art
„molekularer Dialog“ statt.
Das Gewebe aktiviert das Immunsystem mittels Mustern von Zytokinen und Zell-InteraktionsMolekülen, zusammen mit körpereigenen Antigenen. Das Immunsystem reagiert nun umgekehrt,
indem es seine eigenen Muster aus Zytokinen, Zell-Reaktions-Molekülen und Antigenrezeptoren
erzeugt. Die Körperzellen wiederum reagieren auf die Muster der Immunsignale und aktivieren
Gene, wachsen, sterben oder bewegen sich. Die Anzahlen der Moleküle und ihrer Muster, die von
den Körperzellen und den Immunzellen gebildet werden, sind unterschiedlich, aber prinzipiell
spiegeln sich die molekularen Muster des Körpers in den molekularen Mustern des Immunsystems
wider und umgekehrt. Die Interaktionen des Immunsystems mit dem Körper und mit sich selbst
drücken sich in molekularen Mustern aus, die andere molekulare Muster widerspiegeln.
Das Widerspiegeln der molekularen Muster ist ein dynamischer Prozess, die Muster verändern sich
und passen sich an. Der Prozess beginnt mit der Entwicklung des Körpers und endet mit seinem
Tod. Dazwischen ist er ständig aktiv. Das Immunsystem benötigt auch keine Auszeit um
Entscheidungen zu treffen, das Treffen von Entscheidungen ist selbst Teil des Prozesses. Die
Entscheidungsfindung ist die dynamische Selbstorganisation von Mustern der Signalmoleküle in
ständiger Interaktion mit den Signalmolekülen vom Körpergewebe. Dabei werden Muster der
Immunreaktion bevorzugt, die ein produktives Gleichgewicht in der Umgebung des Körpers
entwickeln, andere verschwinden. Die Evolution einer Immunreaktion ist die Erzeugung und
Aneignung stabiler Attraktoren.
Wenn das Immunsystem einen ständigen Austausch von Mustern betreibt, was produziert es dann?
Offenbar ist das, was herauskommt, im Prinzip dasselbe wie das, was hineingeht, nämlich Muster
aus Immunelementen verschiedener Art. Der Zweck des Immunsystems ist aber gar nicht irgendTechnische Universität Chemnitz
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etwas Neues zu produzieren, sondern im Zusammenspiel mit dem Körpergewebe die Homöostase
aufrecht zu erhalten. Dazu ist dieser ständige Austausch von Mustern notwendig. Das Leben besteht
darin, dass es einen ständigen Prozess aufrechterhält, ähnlich wie die Wirtschaft darin besteht, dass
der Produktionsprozess ständig weiterläuft.
4.3.
Autoimmunität
Mit dem Begriff Autoimmunität wird die Fähigkeit des Körpers bezeichnet, die eigenen Körpermoleküle mittels der somatisch erzeugten Antigenrezeptoren zu erkennen. Indem die körpereigenen
Moleküle von diesen Rezeptoren erkannt werden, werden sie per definitionem zu Self-Antigenen.
Man kann sich zwei Typen von Autoimmunität vorstellen: Natürliche oder physiologische Autoimmunität und Autoimmun-Krankheit.
Eine Autoimmun-Krankheit kann als pathologischer Zustand definiert werden, der durch einen
gegen Self-Antigene gerichteten Angriff des Immunsystems verursacht wird. Aber nicht jeder
Angriff auf Self-Antigene kann als Autoimmun-Krankheit bezeichnet werden. Wenn der Angriff
dazu dient, den Körper zu schützen, z.B. ein Angriff auf Tumorzellen oder Zellen, die von einem
Virus infiziert sind, dann ist das sicher kein pathologischer Zustand. Der Begriff Autoimmunität
wird deshalb durch fünf Fragen näher beschrieben.
Wesen
Ist Autoimmunität ein wesentlicher Teil des Immunsystems oder ein zufälliges Beiprodukt des
Immunsystems? Falls sie das zweite ist, ist sie dann ein unvermeidliches aber übles Beiprodukt von
etwas Gutem, oder ist sie ein unnötiges Missgeschick?
Organisation
Ist Autoimmunität geordnet oder zufällig, zeigt das Repertoire der Autoimmun-Rezeptoren eine
interne Struktur seiner Komponenten, irgendwelche Biases für spezielle Self-Atnigene? Falls es
eine Ordnung gibt, wie kommt sie zustande?
Nutzen
Hat physiologische Autoimmunität Anteil an irgendwelchen nützlichen Interaktionen, hat sie einen
„Zweck“? Hat Autoimmun-Krankheit irgendeine nützliche Funktion?
Verursachung
Was verursacht Autoimmun-Krankheit? Haben physiologische Autoimmunität und AutoimmunKrankheit etwas miteinander zu tun? Entsteht das eine aus dem anderen, und wenn ja, was ist für
den Übergang zuständig?
Therapie
Wie kann man eine Autoimmun-Krankheit verhindern? Wie kann man sie heilen, wenn sie
ausgebrochen ist? Welches sind die Kosten?
Die Immunreaktion einer Lymphozyte wird in der klonalen Selektionstheorie wie ein Reflex
betrachtet, d.h. wird ein Antigen wahrgenommen, dann wird es sofort angegriffen. Erkennung des
Selbst bedeutet einen Angriff des Immunsystems auf das Selbst, also eine Krankheit. Hat also
umgekehrt ein gesundes Individuum keine Autoimmun-Krankheit, dann kann keine AutoimmunReaktion vorliegen, folglich gibt es entweder kein Antigen oder keine Klone mit entsprechenden
Rezeptoren. Aber Self-Antigene gibt es im Körper zahlreich, er besteht aus Self-Antigenen, also
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muss man annehmen, dass es im gesunden Körper keine Klone mit Self-Rezeptoren gibt.
Tatsächlich aber müssen solche Klone entstehen, weil Antigenrezeptoren zufällig erzeugt werden.
Deshalb erfordert die Toleranz gegen das Selbst die Eliminierung der möglichen Self-reaktiven
Klone während der Lymphozyt-Entwicklung. Eine Autoimmun-Krankheit deutet dann auf die
zufällige Entstehung eines autoimmunen Klons hin. Der Standpunkt der klonalen Selektionstheorie
zur Autoimmunität lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
1. Wesen: Autoimmunität ist ein zufälliger Unfall, wie das Platzen eines Reifens auf der Autobahn.
2. Organisation: Es kann in der Autoimmunität keine Ordnung geben. Jede Autoimmun-Krankheit
ist ein zufälliger Unfall und jede Ähnlichkeit zwischen Patienten ist rein zufällig.
3. Nutzen: Autoimmunität kann keinen Nutzen haben, sie ist immer verboten.
4. Ursache: Autoimmun-Krankheiten werden dadurch verursacht, dass fälschlicherweise ein
autoimmuner Klon während seiner Entwicklung nicht zerstört wird oder durch die Mutation
eines Antigenrezeptors eines reifen Klons, so dass er jetzt des Selbst erkennt. Es gibt keine
Verbindung zwischen der Autoimmun-Krankheit und dem gesunden Immunsystem.
5. Therapie: Die einzige Therapie ist, den verbotenen autoimmunen Klon zu töten oder zu
inaktivieren.
4.3.1. Organisation der Autoimmunität
Die von Natur aus gegebene Ordnung der Autoimmun-Krankheiten drückt sich in dreierlei Weise
aus: Es gibt eine beschränkte Anzahl von Krankheiten, die verschiedenen Krankheiten sind durch
eine stereotype Autoimmunität gegen bestimmte Mengen von Self-Antigenen gekennzeichnet und
Patienten zeigen Prädispositionen, die mit ihren Genen und ihrem Geschlecht verbunden sind.
Autoimmun-Krankheiten treten in diskreten Mustern auf.
Wenige Krankheiten
Es gibt nur etwa zwei Dutzend medizinisch definierte Autoimmun-Krankheiten und die große
Mehrheit der Patienten leidet an zehn oder weniger davon.
Standard-Autoantigene und Kollektive
Die vorherrschenden Krankheiten manifestieren eine bemerkenswerte Gleichartigkeit in den SelfAntigenen gegen die einzelne Patienten erhöhte Autoimmunität zeigen. Viele Autoimmun-Krankheiten sind durch Autoimmunität gegen eine bestimmte Menge von Self-Antigenen gekennzeichnet.
Diese Gleichförmigkeit der Autoimmun-Krankheiten gilt sogar für verschiedene Arten, nicht nur
für Menschen, wie Mäuse-Versuche zeigen.
Genetische Prädispositionen
Patienten, die an einer bestimmten Autoimmun-Krankheit leiden, haben dieselben MHC-Gene. Das
heißt, man ist stärker empfänglich für eine bestimmte Autoimmun-Krankheit wenn man bestimmte
MHC-Allele geerbt hat. Zum Beispiel haben Menschen mit Diabetes 1 die MHC-II-Gene DR3,
DR4 oder DQ8, ähnlich für andere Krankheiten. Dies Gene stellen aber nur eine Prädisposition für
die Krankheit dar, d.h. sie sind eine notwendige Bedingung für das Ausbrechen der Krankheit, aber
keine hinreichende. Wer die Gene hat, muss nicht zwangsläufig krank werden. Beispiele aus der
Untersuchung von eineiigen Zwillingen belegen dies.
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Geschlechtsbedingte Prädispositionen
Die Statistiken der Autoimmun-Krankheiten zeigen, dass Frauen für eine Reihe der Krankheiten
stärker anfällig sind als Männer. Aus Tierversuchen weiß man, dass weibliche und männliche
Geschlechtshormone unterschiedliche Wirkungen auf das Immunsystem ausüben. Frauen widerstehen Infektionen tendenziell besser als Männer, sie erzeugen mehr Antikörper. Möglicherweise
haben Frauen und Männer unterschiedliche Immunsysteme, was dadurch bedingt sein könnte, dass
nur Frauen Kinder gebären können. Dagegen haben Frauen eine stärkere Prädisposition für
Autoimmun-Krankheiten.
Als griffige Bezeichnung für das Phänomen der physiologischen Autoimmunität wird die Bezeichnung „Immunologischer Homunkulus“ eingeführt. Der Begriff ist vom neuronalen Homunkulus
entlehnt und meint wie dort ein inneres Abbild des Äußeren, also ein Abbild des Körpers. Der
Anlass für die Wahl des Begriffs ist die Beobachtung, dass die physiologische Autoimmunität
bestimmten Self-Antigenen mehr Aufmerksamkeit zollt als anderen, dass also bei der Repräsentation des Körpers im Immunsystem eine ähnliche Verzerrung vorliegt wie beim neuronalen Homunkulus. Die Self-Antigene des Homunkulus werden mit relativ hoher Affinität von einer großen Zahl
der T- und B-Zellen erkannt. Das immunologische Selbstbild dient den Interaktionen des Körpers
mit der Welt.
Die durch T- und B-Zellen bewirkte physiologische Autoimmunität scheint hauptsächlich auf drei
Typen homunkularer Self-Antigene orientiert zu sein: Immunmoleküle, Erhaltungsmoleküle und
einige Gewebeantigene.
Immunmoleküle
Autoimmune Reaktionen gegen Immunmoleküle sind sinnvoll im Rahmen der Ko-Reaktion, sie
helfen dem Immunsystem, auf die Aktivitätszustände seiner eigenen Agenten zu reagieren. Die
Autoimmunität bezieht sich auf viele Immunmoleküle, vor allem auf Reaktionsstellen von Antikörpern, Antigenbindungsstellen, Zytokine, Zytokinrezeptoren und Komplement.
Erhaltungsmoleküle
Beschädigte Zellen steigern die Produktion von Erhaltungsmolekülen wenn ein Notfall vorliegt.
Solche Moleküle sind z.B. p53 und Stressmoleküle, sie dienen nicht nur der Erhaltung, sondern
signalisieren auch, dass Zellen in Notlagen sind, sie sind metaphorisch der Hilfeschrei der Zellen.
Gewebemoleküle
Bis vor kurzem wurden homunkulare Gewebeantigene nur zufällig entdeckt, ein Self-Antigen, das
bei einer Autoimmun-Krankheit angegriffen wurde, wurde später als Element der physiologischen
Autoimmunität in gesunden Individuen gefunden.
Der immunologische Homunkulus besteht aus drei verschiedenen Elementen: Einer Menge spezieller Self-Antigene, autoimmunen T-Zellen und B-Zellen, die ihrerseits die autoimmunen Zellen
erkennen (anti-autoimmune Zellen). Die Klone der anti-autoimmunen T- und B-Zellen können
dabei helfen, die physiologische Autoimmunität so einzuschränken, dass die physiologische Autoimmunität trotz Aktivierung nicht in eine Autoimmun-Krankheit ausbricht. Vermutlich werden
bereits im Thymus und Knochenmark anti-autoimmune Lymphozyten ausgewählt und expandiert,
die die Rezeptoren autoimmuner Antigene erkennen. Aktivierte T-Zellen können möglicherweise
Peptide ihres Antigenrezeptors verarbeiten und sie als Teil eines MHC-Peptid-Komplexes anderen
Zellen präsentieren. Die Ausbildung homunkularer, genetisch kodierter Antigene könnte kompleTechnische Universität Chemnitz
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mentäre autoimmune Lymphozyten induzieren, die ihrerseits anti-autoimmune Lymphozyten
induzieren. Der Homunkulus ist eine reflexive Troika.
4.3.2. Nutzen der Autoimmunität
Die physiologische Autoimmunität gegen homunkulare Self-Antigene kann die Immunität in gegensätzlicher Weise beeinflussen, d.h. sie kann sie verstärken oder abschwächen. Wegen der großen
Häufigkeit der autoimmunen Zellen kann der Homunkulus Immunreaktionen verstärken, andererseits sie aber auf Grund der eingebauten anti-autoimmunen Regulierungsmechanismen auch
abschwächen.
Die homunkulare Verstärkung kommt auf folgende Weise zustande: Die Häufigkeit der T-Zellen
(wahrscheinlich auch der B-Zellen), die auf fremde Antigene reagieren, ist von Natur aus niedrig.
Fremde Antigene müssen in Form eines MHC-Peptid-Komplexes präsentiert werden. Eine primäre
Immunreaktion auf ein fremdes Antigen beginnt deshalb langsam und schreitet langsam fort, in dem
Maß wie die seltenen T-Zellen das Antigen erkennen, sich vermehren und sich differenzieren. Die
Dynamik der primären Reaktion kann aber intensiviert werden durch eine förderliche Umgebung
von Zytokinen, und diese stimulierende Umgebung kann vom Homunkulus geliefert werden.
Die homunkulare Abschwächung kommt auf folgende Weise zustande: Eine primäre Immunreaktion auf ein fremdes Antigen besitzt keine eingebaute Regulierung, deshalb ist es schwer sie zu
beenden, bevor das Antigen vollständig zerstört und entfernt ist, was zu einem Überschießen der
Immunreaktion mit negativen Folgen für den Organismus führen kann. Die anti-autoimmunen
Regulatoren des Homunkulus scheiden entzündungshemmende Zytokine aus, die den Reaktionsprozess beenden.
Physiologische Autoimmunität dient also zur Erhaltung des Körpers. Sie benötigt dazu nicht die
Anwesenheit fremder Antigene. Jedoch hat diese Fähigkeit auch einen Preis. Er besteht darin, dass
zum Abschalten einer Autoimmun-Reaktion Anti-Autoimmun-Regulierung erforderlich ist. Diese
kann versagen, wodurch Autoimmun-Krankheiten entstehen können.
Moleküle, die zur Lösung von Problemen dienen, die für lebende Organismen universell sind,
werden tendenziell durch die Evolution beibehalten. Auch Kreaturen mit recht unterschiedlicher
Lebensweise benötigen zumindest einige gemeinsame Moleküle, denn die Evolution bringt keine
völlig neuen Geschöpfe hervor. Zum Beispiel sind Erhaltungsmoleküle für alle Zellen von
essentieller Bedeutung, deshalb kommen sie in allen möglichen Formen von Lebewesen vor.
Deshalb bereitet die physiologische Autoimmunität gegen Stressproteine und andere wesentliche
Moleküle das Individuum auf das Zusammentreffen mit wesentlichen Molekülen seiner potenziellen Parasiten vor. Die Erhaltungsmoleküle der Parasiten erscheinen als Veränderungen der eigenen
Erhaltungsmoleküle, und gegen solche ist das Immunsystem besonders sensitiv. Deshalb werden
Teile des immunologischen Homunkulus bei der Abwehr eines Erregers aktiviert. Die aktivierten
Zellen produzieren Zytokine, die Entzündungen hervorrufen, die die Sensitivität der Immunreaktion
gegen den Erreger steigern.
4.3.3. Verursachung von Autoimmun-Krankheit
Autoimmun-Krankheiten lassen sich nicht auf den einen oder anderen defekten Agenten, der isoliert
arbeitet, reduzieren, vielmehr entstehen sie durch die Interaktionen vieler Faktoren. Die eigentliche
Ursache sind nicht die Agenten, sondern ihre Interaktionen in Zeit und Raum. Die Interaktionen, die
eine Krankheit auslösen, sind denen ähnlich, die bei der Aktivierung der physiologischen
Autoimmunität vorkommen, außer dass die pathologischen Interaktionen als Attraktor dauerhaft
sind. Ein pathologischer Attraktor ist ein pathologisches Muster von Aktionen und Reaktionen. Die
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schädlichen Interaktionen können vielleicht einer Fehlfunktion des immunologischen Homunkulus
durch falsche Interpretation widersprüchlicher Signale zuzuschreiben sein.
Zur Erhaltung des Körpers muss die physiologische Autoimmunität verschiedene Aktivitäten ausüben, sie kann veränderte Zellen verwerfen, sie kann die Immunität gegen infektiöse Erreger verstärken und zerstörtes Gewebe heilen. Es wäre wünschenswert, dass sie auch Tumorzellen zerstören
kann. In jedem dieser Fälle wird die physiologische Autoimmunität aktiviert um verschiedene
Effektorreaktionen auszuführen. Solche Kräfte, die eigentlich helfen sollen, können auch verletzen.
Autoimmun-Krankheiten werden dadurch verursacht, dass die Autoimmunität nicht deaktiviert werden kann. Die Aktivierung der physiologischen Autoimmunität, die unpassend rekurrent oder chronisch wird, markiert den Übergang von der Physiologie zur Krankheit. Autoimmun-Krankheit ist
Autoimmunität, die in einen festen Trott gefallen ist, einen unerwünschten Attraktor. Ungeeignete
Zerstörung und Heilung ergeben sich aus einem falschen Dialog zwischen dem Immunsystem und
den Geweben. Autoimmun-Krankheiten entstehen aus widersprüchlichen Signalen, ungünstigen
Entscheidungen und schwacher Autoimmun-Regulierung. Homunkulare Fehlfunktionen werden
von genetischen Prädispositionen, infektiösen Erregern und Gewebe-Anfälligkeiten beeinflusst.
Um eine Autoimmun-Krankheit auszulösen, müssen mehrere Gene miteinander interagieren. Jedes
trägt einen gewissen Anteil dazu bei. Autoimmun-Krankheiten sind aber nicht genetisch in dem
Sinn wie typische genetisch bedingte Krankheiten. Diese erfordern, dass eine Person von Mutter
und Vater dieselbe genetische Information geerbt hat. Das betreffende Gen ist dann notwendig und
hinreichend für den Ausbruch der Krankheit. Das trifft für Autoimmun-Krankheiten nach dem
heutigen Kenntnisstand nicht zu. Manche Gene kodieren Empfänglichkeit für eine bestimmte
Autoimmun-Krankheit und gleichzeitig Widerstand gegen andere Autoimmun-Krankheiten.
Eine Infektion aktiviert normalerweise den Homunkulus, wodurch die Infektion bekämpft werden
kann. Sie kann aber auch die Empfänglichkeit für eine Autoimmun-Krankheit modifizieren, und
zwar kann sie, abhängig von den Umständen, eine Autoimmun-Krankheit induzieren oder verhindern. Die Autoimmun-Regulierung wird durch Selbstorganisation aufgrund der Erfahrung mit
infektiösen Erregern gestärkt.
Man kann die Befunde von verschiedenen Autoimmun-Krankheiten dahingehend zusammenfassen,
dass eine Autoimmun-Krankheit durch eine Kette gemischter Signale hervorgerufen wird, das SelfAntigen wird mit einer persistenten Infektion verwechselt. Die physiologische Autoimmunität
benötigt ständig die antiautoimmune Regulierung um auf dem richtigen Weg zu bleiben trotz
widersprüchlicher Signale von das Selbst imitierenden Infektionen.
Das Immunsystem ist in ständigem Dialog mit dem Körpergewebe durch den Austausch von
Mustern molekularer Signale. Auf diese Weise trägt das Gewebe zu den Immunentscheidungen bei
und damit auch zu Autoimmun-Krankheiten. Dasselbe Self-Antigen kann in zwei verschiedenen
Gewebeteilen erzeugt werden, aber T-Zellen, die auf dieses Self-Antigen reagieren, verursachen
möglicherweise nur in einem der verschiedenen Gewebearten eine Krankheit. Zum Beispiel kann
ein Enzym, das im Auge und in der Lunge vorkommt, bei manchen Individuen zu einer Augenkrankheit und bei anderen zu einer Lungenkrankheit führen. Autoimmun-Krankheiten hängen also
nicht nur vom Zustand des Immunsystems ab, sondern auch noch von den Reaktionen des Körpergewebes, das mit den Lymphozyten kooperieren kann oder sich ihren Aktivitäten widersetzen kann.
4.3.4. Therapie von Autoimmun-Krankheit
Die Behandlung einer Autoimmun-Krankheit muss man sich wie die Steuerung eines Systems
vorstellen. Eine Möglichkeit dazu ist, das System mit Information oder Energie zu versorgen, für
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die Attraktoren des Systems sensitiv sind. Eine wirksame Steuerung treibt das System in ein
gesundes Attraktorbecken. Bei der Behandlung von Autoimmun-Krankheiten hat sich die Verabreichung eines von zwei verschiedenen Mitteln im Tierexperiment als wirksam erwiesen um die
Zerstörung des Gewebes zu stoppen und die physiologische Autoimmunität wieder herzustellen:
Self-Antigene und Autoimmun-Rezeptoren, die die Self-Antigene erkennen.
Die physiologische Autoimmunität kann im Tierversuch durch Self-Antigene in einem Kontext von
Angriffssignalen in eine Autoimmun-Krankheit transformiert werden. Daher ist es eine Idee, dieselben Self-Antigene in einem gesunden Kontext von Prädikatsignalen zu verabreichen um sozusagen
die eigensinnigen Lymphozyten umzuerziehen. Das ist tatsächlich möglich, wie Tierexperimente
bestätigen, allerdings muss diese Art der Behandlung auf einzelne Patienten zugeschnitten werden,
es gibt keine allgemein wirksame Vorgehensweise.
Zum Kontext gehören nicht nur die begleitenden Signale, sondern auch die Dosis des Antigens, die
betroffene Stelle im Körper und der Behandlungsplan. Die Stelle im Körper ist deshalb besonders
wichtig, weil sich die Makrophagen und Lymphozyten in den verschiedenen Organen voneinander
unterscheiden und deshalb die Behandlung auf sie zugeschnitten sein muss.
Autoimmun-Regulierung kann durch eine Art „T-Zellen-Impfung“ aktiviert werden. In Versuchen
mit Ratten mit der Autoimmun-Krankheit EAE wurden zunächst bestimmte T-Zellklone isoliert.
Wurden diese gesunden Ratten injiziert, dann erkrankten diese ebenfall an EAE. Diese T-Zellklone
konnten auch im Immunsystem gesunder Individuen nachgewiesen werden, d.h. dieses enthielt
autoimmune T-Zellen – ein Befund, der nach der klonalen Selektionstheorie nicht möglich ist.
Dieser Befund führte zu der Idee des immunologischen Homunkulus. Der Beobachtung Pasteurs
folgend, dass infektiöse Erreger in abgeschwächter Form als Impfstoff verwendet werden können,
wurde die Idee entwickelt, abgeschwächte T-Zellen als einen Impfstoff gegen Autoimmun-Krankheiten zu verwenden, d.h. sozusagen das Immunsystem gegen seine eigenen Exzesse zu impfen.
Tatsächlich gelang es mit dieser Methode, Tiere gegen verschiedene experimentelle AutoimmunKrankheiten zu schützen und sie sogar zu heilen, u.a. EAE, Thyroiditis, Arthritis und Diabetes.
Allerdings erfordert jede Krankheit ihren speziellen T-Zellen-Impfstoff.
Der Erfolg einer Behandlung einer Autoimmun-Krankheit hängt entscheidend von der Dosis und
vom Therapieplan ab. Vor allem aber erfordern verschiedene Patienten eine individuelle Behandlung mit teilweise unterschiedlichen Self-Antigenen oder unterschiedlichen Dosierungen bei derselben Autoimmun-Krankheit. Dasselbe gilt für die T-Zellen-Impfung. Der Grund für die Notwendigkeit individueller Behandlung liegt in der individuellen Ausprägung des Immunsystems im
mikroskopischen Maßstab. Das Immunsystem einer Person spiegelt die individuelle Immungeschichte wider, deshalb ist der Zustand des Immunsystems nicht derselbe bei verschiedenen
Patienten mit derselben Autoimmun-Krankheit.
Das grundlegende Problem bei einer Autoimmun-Krankheit ist das kranke Immunsystem, die
Krankheit selbst ist ein Nebeneffekt. Versetzt man das Immunsystem in ein gesundes Reaktionsmuster, dann verschwindet die Krankheit von selbst. Eine spezifische Therapie läuft darauf hinaus,
den Zustand des Immunsystems zu behandeln. Die richtige Behandlung setzt die richtige Diagnose
voraus. Für die Diagnose eines krankhaften Zustands des Immunsystems benötigt man Mittel, um
die Aktivitätsmuster von Kollektiven von Immunagenten feststellen und analysieren zu können, d.h.
von Zytokinen, Antikörpern, T-Zell-Populationen, Genen usw. Durch Beobachtung dieser Muster
kann man die Behandlung evaluieren und an den Verlauf der Krankheit anpassen. Das ermöglicht
eine individuelle Therapie.
Technische Universität Chemnitz
Sommersemester 2006
Künstliche Immunsysteme
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Autoimmunität ist weder ein zufälliger Unfall noch ein notwendiges Übel, vielmehr ist sie wesentlich für das gesunde Verhalten des Immunsystems. Die Fähigkeit fremde Antigene zu erkennen ist
aus der primären Selektion degenerierter autoimmuner T-Zellklone entstanden, homunkulare Autoimmunität ist innerhalb des Systems organisiert und dient dazu, Ko-Reaktionen zu verbessern,
Erhaltungsfunktionen zu erleichtern, Infektionen zu bekämpfen, fremdes Gewebe abzustoßen und
eventuell Tumorzellen zu zerstören. Autoimmun-Krankheiten gehören zu den Kosten, die für einen
Potenten Homunkulus bezahlt werden müssen. Die Wiederherstellung der physiologischen Autoimmunität ist ein natürlicher Weg das System in Ordnung zu bringen.
Technische Universität Chemnitz
Sommersemester 2006
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