Effekte des biologischen Geschlechts

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IMPLEMENTIERUNG
GESCHLECHTERSPEZIFISCHER INHALTE IN DAS
CURRICULUM DES MODELLSTUDIENGANGS
HANNIBAL AN DER MHH
Resümeesammlung der Workshopreihe „Implementierung
geschlechterspezifischer Inhalte in das Curriculum des Modellstudiengangs HannibaL an der MHH“. Ein Projekt gefördert aus
Mitteln des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und
Kultur im Rahmen des Maria-Goeppert-Mayer-Programms. Eine
Kooperation des Studiendekans und der Gleichstellungsbeauftragten der MHH.
Herausgegeben von Dr. phil. Bärbel Miemietz
Redaktion: Dr. phil. Bärbel Miemietz, Nina-Catherin Richter
Ausgabe vom 22. Juli 2010
Medizin und Geschlecht
INHALT
I Workshop (Nephrologie)
11. April 2008
Warum haben Frauen rote Wangen?
VON PROFESSORIN DR. MARION HAUBITZ
Geschlechterspezifische Aspekte des akuten Nierenversagens
VON PROFESSORIN DR. FAIKAH GÜLER
II Workshop (Rechtsmedizin)
19. September 2008
Häusliche Gewalt - ein Thema für die universitäre Medizin?
VON PROFESSORIN DR. BRIGITTE LOHFF
Diagnostik und Intervention bei Gewaltopfern – eine interdisziplinäre
Herausforderung
VON PD DR. ANETTE SOLVEIG DEBERTIN
Geschlecht, Gewalt und Gesundheit – Rechtsmedizinische Aspekte in Praxis
und Forschung
VON PD DR. HILDEGARD GRAß UND PROFESSORIN DR. STEFANIE RITZ-TIMME
III Workshop (Anästhesiologie und Intensivmedizin)
30. Oktober 2008
GESCHLECHTERUNTERSCHIEDE UND LEBENSWISSENSCHAFTEN - HISTORISCH
BETRACHTET
VON PROFESSORIN DR. BETTINA WAHRIG
Geschlechterspezifische Aspekte in der Schmerzmedizin
VON PROFESSOR DR. MATTHIAS KARST
Geschlechterspezifische Unterschiede bei einem schweren
Verbrennungstrauma
VON PROFESSOR DR. HANS-OLIVER RENNEKAMPFF
Geschlechterspezifische Aspekte in der Katastrophenmedizin
VON PROFESSOR DR. HANS ANTON ADAMS
5
Medizin und Geschlecht
IV Workshop (Gastroenterologie und Hepatologie)
16. Januar 2009
Geschlechtsunterschiede bei Lebererkrankungen
VON PD DR. KINAN RIFAI
Geschlechterspezifische Aspekte Gastrointestinaler Tumoren
Am Beispiel von Ösophaguskarzinom, Hepatozellulärem Karzinom,
Pankreaskarzinom und Kolonkarzinom
VON PROFESSOR DR. MICHAEL P. MANNS, DR. BENITA WOLF,
PROFESSOR DR. NISAR P. MALEK
V Workshop (Kardiologie)
13. Februar 2009
Geschlechterspezifische Aspekte in der Intensivmedizin
VON PROFESSORIN DR. URSULA MÜLLER-WERDAN
Geschlechterspezifische Aspekte kardiovaskulärer Erkrankungen jenseits
von Arteriosklerose und Herzinsuffizienz: Vitien und Rhythmusstörungen
VON DR. MECHTHILD WESTHOFF-BLECK
Die peripartale Kardiomyopathie
VON PROFESSORIN DR. DENISE HILFIKER-KLEINER
VI Workshop (Humangenetik)
13. März 2009
Väterlich und mütterlich geprägte Gene
VON DR. BRIGITTE PABST
Erblicher Brustkrebs - auch Männer haben es in sich
VON DR. DOROTHEA GADZICKI
VII Workshop (Neurologie)
Geschlecht im Hirnbild - K(l)eine Unterschiede
VON PROFESSORIN DR. BRITTA SCHINZEL
Geschlechterspezifische Aspekte bei Neuro-AIDS
VON PROFESSORIN DR. GABRIELE ARENDT
Geschlechterspezifische Aspekte bei neuromuskulären Erkrankungen
VON PROFESSORIN DR. SUSANNE PETRI
Epilepsie bei Frauen – eine besondere Situation
VON DR. CLAUDIA WENZEL
6
24. April 2009
Medizin und Geschlecht
VIII Workshop (Hämatologie)
25. September 2009
„Geschlechterspezifische Aspekte bei Gerinnungserkrankungen“Auswirkungen von Gerinnungsstörungen bei Frauen
VON DR. ROSWITH EISERT
Geschlechterspezifische Unterschiede in hämatologischer Toxizität und
Gesamtüberleben bei Patienten mit Hodgkin Lymphom und anderen
Neoplasien
VON DR. BEATE KLIMM
IX Workshop (Pharmakologie und Toxikologie)
23. Oktober 2009
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE UNTERSCHIEDE IN DER TOXIZITÄT VON
ARZNEIMITTELN AM BEISPIEL VON PSYCHOPHARMAKA
VON DR. KATHARINA WENZEL-SEIFERT
Geschlechterspezifische Unterschiede in der Wirkung von PDE5 Inhibitoren
bei “Male Erectile Dysfunktion (ED) & Female Sexual Dysfunction (FSD)”
VON DR. PETER SANDNER
Geschlechterspezifische Unterschiede in der Pharmakologie kardiovaskulärer
Erkrankungen
VON DR. SABINE OERTELT-PRIGIONE
Geschlechtsunterschiede in der Kreislaufregulation
VON DR. KARSTEN HEUSSER
X Workshop (Jugendmedizin)
20. November 2009
BIOLOGIE + KULTUR = GESCHLECHTERROLLENVERTEILUNG ODER WIE
WERDEN WIR ZU MÄDCHEN/JUNGEN?
VON PROFESSORIN DR. UTE THYEN
BEWÄLTIGUNG CHRONISCHER KRANKHEIT IM KINDES- UND JUGENDALTER:
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE RISIKEN UND BERATUNGSANGEBOTE
VON PROFESSORIN DR. KARIN LANGE
7
Medizin und Geschlecht
XI Workshop (Pneumologie)
30. April 2010
GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE IN DER (PULMONALEN) LEISTUNGSDIAGNOSTIK
VON PROFESSOR DR. RALF EWERT
LUNGENKREBS – GIBT ES UNTERSCHIEDE ZWISCHEN MÄNNERN UND FRAUEN?
VON DR. NICOLAS DICKGREBER
ZUGESAGT BIS ZUM 22. JULI 2010
COPD – GESCHLECHTERSPEZIFISCHE BESONDERHEITEN –
EFFEKTIVE PNEUMOLOGISCHE REHABILITATION
VON DR. KARIN TAUBE
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE ASPEKTE BEI DER RAUCHPRÄVENTION
VON DR. RICHARD LUX
SCHLAF UND NÄCHTLICHE ATEMSTÖRUNGEN – GESCHLECHERSPEZIFISCHE
UNTERSCHIEDE
VON DR. BIRGIT HOFFMANN-CASTENDIECK
XII Workshop (Arbeitsmedizin)
WHY ADAM IS NOT EVE AT WORK – GRUNDLAGEN UND BEISPIELE EINER
GESCHLECHTERSPEZIFISCHEN ARBEITSMEDIZIN
VON DR. CHRISTINE KALLENBERG
MÄNNER SIND ANDERS – FRAUEN NICHT! – PRÄVENTION UND
GESUNDHEITSFÖRDERUNG GESCHLECHTERGERECHT GESTALTEN
VON THOMAS ALTGELD
ZUR GESUNDHEIT WEIBLICHER FÜHRUNGSKRÄFTE
DR. BETTINA BEGEROW
8
28. Mai 2010
Medizin und Geschlecht
NEPHROLOGIE
11. APRIL 2008
9
Medizin und Geschlecht
10
Medizin und Geschlecht
WARUM HABEN FRAUEN ROTE WANGEN?
VON PROFESSORIN DR. MARION HAUBITZ
Unter
geschlechterspezifischer
Medizin
versteht
„Mann“
meist
gesundheitsspezifische Bereiche für Frauen (wie gynäkologische Erkrankungen,
Schwangerschaft und Menopause, allenfalls noch Osteoporose und
Venenleiden).
Diese
Sicht
ist
allerdings
etwas
einseitig,
da
geschlechterspezifische Unterschiede sich nicht nur auf diese Bereiche, ja nicht
nur auf Frauen beziehen, wie am Beispiel des systemischen Lupus
Erythematosus (SLE) deutlich werden soll.
Der
SLE
ist
eine
Autoimmunerkrankung.
Wie
die
meisten
Autoimmunerkrankungen tritt er bei Frauen häufiger auf. Das Übergewicht für
die Frauen ist bei dieser Erkrankung besonders ausgeprägt, es liegt bei 9:1 (bei
der multiplen Sklerose beispielsweise 3:1, bei der Myasthenia gravis 2:1).
Der SLE ist eine durch komplexe Störungen der zellulären und humoralen
Immunantwort charakterisierte Systemerkrankung, bei der unterschiedliche
Organe befallen sein können und bei der Autoantikörper gegen unterschiedliche
Zellantigene nachgewiesen werden. Das klinische Bild ist sehr variabel. Erste
Symptome sind häufig Hautveränderungen (wie die roten Wangen, das
Schmetterlingserythem) und Arthralgien. Die Nieren sind klinisch bei bis zu 80
% der Patientinnen und Patienten im Krankheitsverlauf betroffen. Das Spektrum
der Nierensymptomatik reicht von geringen Auffälligkeiten im Urinstatus bis
zum akuten Nierenversagen. Für die Langzeitprognose der Patientinnen und
Patienten ist die Nierenbeteiligung entscheidend. Als pulmonale Manifestation
können sich eine Pleuritis, eine Alveolitis und später eine Lungenfibrose
und/oder eine pulmonale Hypertonie entwickeln. Die häufigste Herzbeteiligung
ist eine Perikarditis, aber auch eine Myokarditis bzw. Endokarditis wird
beobachtet. Eine Lupusmanifestation des zentralen Nervensystems kann sich in
Wesensveränderungen, Anfällen, Hirninfarkten oder Kopfschmerzen äußern.
Eine hämatologische Manifestation kann alle drei Zellreihen betreffen. Als
Allgemeinsymptome werden Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust und Fieber
sowie Übelkeit beobachtet. Lymphknotenvergrößerungen und Splenomegalie
finden sich bei einem Viertel der Patientinnen und Patienten. Der SLE führt zu
einer Verkürzung der Lebenserwartung mit einem 10-Jahres-Überleben von ca.
80
%.
Hierfür
ist
nicht
nur
die
Krankheitsaktivität
und
Therapienebenwirkungen, sondern auch eine akzelerierte Atherosklerose
verantwortlich. So erhöht sich bei Frauen im Alter zwischen 35 und 44 Jahren
das Risiko für eine koronare Herzerkrankung bis um das 50fache.
11
Medizin und Geschlecht
Bei der Ätiologie des SLE scheinen die weiblichen Sexualhormone, genetische
und Umweltfaktoren eine Rolle zu spielen. So liegt der Erkrankungsgipfel
zwischen 15 und 40 Jahren (gebärfähiges Alter). Eine Hormontherapie und
Schwangerschaften können einen Schub auslösen. Für die Bedeutung des
genetischen Hintergrundes spricht die familiäre Häufung, die Konkordanz (bei
monozygoten Zwillingen ist der zweite zu 25-30 % erkrankt, bei dizygoten nur
zu 5 %), ethnische Unterschiede (dreimal so viele Erkrankte bei
Afroamerikanerinnen und -amerikanern) und eine Assoziation zu bestimmten
HLA-Antigenen und zu Polymorphismen in der Pathogenese relevanter
Proteine. Außerdem finden sich bei einem Teil der Patientinnen und Patienten
Komplementdefekte und Veränderungen, die zu einer reduzierten Elimination
von Immunkomplexen führen. Umweltfaktoren sind vor allem UV-Licht, aber
auch Medikamente und Infektionen kommen als Auslöser der Erkrankung in
Betracht.
Faktoren der Pathogenese scheinen eine polyklonale Hyperaktivität der B-Zellen
und/oder Defekte der T-Zell-Autoregulation zu sein, so dass autoreaktive TZellen die Deletion im Thymus überleben. Von pathogenetischer Relevanz
scheint außerdem eine Störung in der Apoptose bzw. der Elimination
apoptotischer Zellen zu sein, die zu einer Vermehrung von Kernantigenen bzw.
Nukleosomen in der Zirkulation führen und damit zur Aktivierung von THelfer-Zellen mit der Folge einer Stimulation von autoreaktiven B-Zellen, was
zur Produktion von Autoantikörpern führt. Diese Autoantikörper bestimmen den
weiteren Krankheitsverlauf, indem sie zu histiozytotoxischen bzw.
Immunkomplexreaktionen führen. So können Autoantikörper gegen Blutzellen
zu einer Zytopenie führen, solche gegen Plasmaprotein zu einer
Blutungsneigung, anti-Phospholipid-Antikörper zu vermehrten Thrombosen,
Antikörper gegen Gewebeantigene zur Immunkomplexbildung. Für die
Pathogenese der Lupusnephritis ist die Immunkomplexbildung entscheidend.
Diese induzieren die Freisetzung bzw. Hochregulation von Mediatoren und
führen zur vermehrten Expression von Adhäsionsmolekülen und zu einer
Chemotaxis und Aktivierung myelomonozytärer Zellen mit der Folge eines
Entzündungsprozesses.
In Bezug auf die Thematik der Workshopreihe stellt sich die Frage, worin die
unterschiedliche Geschlechterprävalenz des SLE ätiologisch und pathogenetisch
begründet liegt. Hierzu gibt es einige Annahmen (Frauen haben ein
„kraftvolleres“ Immunsystem, Östrogene stimulieren das Immunsystem, Frauen
sind resistenter gegenüber einer stressbedingten Hemmung des Immunsystems),
aber nur wenige Daten. So wurden Störungen im Östrogenmetabolismus bei
einer Gruppe von SLE-Patientinnen beobachtet. Außerdem verändern Östrogene
12
Medizin und Geschlecht
die B-Zellreifung und führen im Mausmodell zu einer Akzeleration der
Erkrankung. Das Hypophysenvorderlappen-Hormon Prolaktin (hauptsächlich
für Brustwachstum und Milchsekretion verantwortlich) hat einen
immunstimulatorischen Effekt und begünstigt Autoimmunität. So stört Prolaktin
die negative Selektion autoreaktiver B-Zellen; es erhöht den proliferativen
Response auf spezifische Antigene und die Entwicklung antigen-präsentierender
Zellen und die Expression kostimulatorischer Moleküle. So haben Patientinnen
mit einer Hyperprolaktinämie eine Vielzahl von Autoantikörpern, auch solche,
die beim SLE nachgewiesen werden. Umgekehrt können allerdings nur bei 15
bis 33 % der SLE-Patientinnen erhöhte Prolaktinspiegel nachgewiesen werden.
Im Tiermodell korrelieren die Prolakatinspiegel mit der Krankheitsaktivität, eine
Prolaktinhemmung verbessert das Überleben. Allerdings sind die Ergebnisse bei
Patientinnen widersprüchlich. Letztendlich ist die Ursache der erhöhten
Prävalenz des SLE bei Frauen nicht geklärt, wäre jedoch von großer Bedeutung.
Es würden auch die betroffenen Männer profitieren. Interessanterweise ist die
Prognose bei an SLE erkrankten Männern deutlich schlechter. Die Diagnose
wird oft später gestellt, da angesichts der Geschlechtsdominanz bei Männern
nicht an die Erkrankung gedacht wird. Erschwerend kommt eine gegenüber
Frauen veränderte Symptomatik (andere Hautmanifestationen, weniger Muskelund
Gelenkmanifestationen,
jedoch
häufiger
Serositis)
hinzu.
Nierenbeteiligungen sind häufiger, und trotz vergleichbarer Therapie ist der
Verlauf aggressiver, und Männer entwickeln häufiger eine terminale
Niereninsuffizienz. Die Folge sind eine deutlich erhöhte Mortalität und
Morbidität. Es ist wichtig, auf diese Unterschiede hinzuweisen, um die
Erkrankung in der Zukunft auch bei Männern frühzeitig zu diagnostizieren. Ob
eine aggressivere oder auch nur andere immunsuppressive Therapie notwendig
ist, müssen Studien zeigen.
Aufgrund des Umfangs der Thematik soll hier auf die Therapie des SLEs nicht
weiter eingegangen werden. Es sei nur darauf hingewiesen, dass vor allem die
Gonadentoxizität der Frauen mit der Folge einer möglicherweise permanenten
Infertilität bzw. vorzeitigen Menopause als wichtige Nebenwirkung einer
Standardtherapie (mit Cyclophosphamid) einer der Auslöser für die Suche nach
Therapiealternativen war. So haben Erkenntnisse in Bezug auf die Entstehung
der Autoantikörper zur Entwicklung neuer Therapieansätze für die Zukunft
geführt, die zurzeit in Studien erprobt werden.
Kontakt
Prof’in Dr. Marion Haubitz
Klinik für Nieren- und Hochdruckerkrankungen
Medizinische Hochschule Hannover
13
Medizin und Geschlecht
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 24 29
E-Mail: [email protected]
14
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE ASPEKTE DES AKUTEN
NIERENVERSAGENS
VON PROFESSORIN DR. FAIKAH GÜLER
Das akute Nierenversagen (ANV) stellt ein wichtiges internistisches
Krankheitsbild dar. Es ist durch einen plötzlich auftretenden Verlust der
Nierenfunktion mit deutlicher Einschränkung oder gänzlichem Verlust der
Urinausscheidung gekennzeichnet. Der Verlust der Nierenfunktion führt zu
einem Anstieg von Kreatinin und Harnstoff, sowie zu einer Akkumulation
harnpflichtiger Substanzen, was zu akut lebensbedrohlichen Situationen führen
kann. Verschiedene Faktoren können ein ANV auslösen, dazu gehören:
Einschränkung der Nierendurchblutung (ischämisches ANV), Einfluss toxischer
Substanzen auf die Niere (z.B. Aminoglykosid Antibiotika oder
Kontrastmittelgabe), Druckschädigung der Niere (z.B. bei Abschlussstörungen
durch beidseitige Nierensteine, Vergrößerung der Prostata bei älteren Männern
oder Rückstau bei Fehlbildungen der Harnwege - Refluxnephropathie).
Bestimmte Situationen erhöhen das Risiko, ein ANV zu entwickeln, so können
nach Herzoperationen 5-20 % der Patientinnen und Patienten meist durch
mangelhafte Durchblutung der Niere bedingt ein ANV entwickeln. Etwa 15-50
% der Patientinnen und Patienten mit einer Sepsis und 5-20 % der Patientinnen
und Patienten, die eine Therapie mit Aminoglykosidhaltige Antibiotika erhalten,
entwickeln ein ANV (Schrier et al. 2004).
Durch eine zunehmende Zahl an präklinischen und klinischen Studien weiß man
inzwischen, dass Männer und Frauen unterschiedlich auf die verschiedenen
Schädigungsmechanismen reagieren, die zu einem ANV führen. Erst kürzlich
wurde eine Studie veröffentlicht, die zeigte, dass von 1600 Patientinnen und
Patienten nach einer Bypassoperation 3 % ein schweres ANV erlitten und dass
ein wesentlicher Risikofaktor dafür hohes Alter und weibliches Geschlecht war.
In einer anderen Studie an über 1200 Patientinnen und Patienten konnte gezeigt
werden, dass nach schweren Unfällen Männer ein doppelt so hohes Risiko wie
Frauen haben eine Sepsis (31 versus 17 %) oder ein Multiorganversagen (30
versus 16 %) zu entwickeln (Oberholzer et al. 2000). In dieser Studie wie auch
in weiteren Studien (Spery et al. 2008) wurde herausgefunden, dass Männer mit
einem deutlich höheren Anstieg von pro-inflammatorischen Zytokinen
(Interleukin-6) auf einen Unfall reagierten als Frauen. Bei dem Krankheitsbild
der obstruktiven Uropathie führt die Abflussstörung des Urins zu einem
Rückstau in die Nieren und dementsprechend zu druckbedingten Schäden. Auch
für dieses Krankheitsbild konnte gezeigt werden, dass männliche
15
Medizin und Geschlecht
Geschlechtshormone einen Einfluss auf die Krankheitsausprägung haben.
Testosteron fördert die Freisetzung von pro-inflammatorischem TNF-alpha
(Tumor Nekrose Faktor-alpha) und dem profibrotischen TGF-beta
(Transforming growth factor-beta), was zu stärkeren Entzündungsreaktionen
und Bindegewebsneubildung (Fibrosierung) der Niere und somit zu einer
stärkeren Schädigung führt (Metcalf et al. 2008).
Genaue molekulare Untersuchungen zu Signalwegen, die durch männliche bzw.
weibliche Geschlechtshormone unterschiedlich beeinflusst werden, wurden
mittels tierexperimenteller Studien durchgeführt. Bei Untersuchungen an
Mäusen, die ein Cisplatin induziertes toxisches ANV entwickelten, konnte
festgestellt werden, dass weibliche Tiere deutlich anfälliger für die Krankheit
waren als männliche Tiere (Wei et al. 2005). Die größere Anfälligkeit des
weiblichen Geschlechtes auf toxische Substanzen scheint sich in klinischen
Studien zu bestätigen. So konnte an einem Kollektiv von 5200 Patientinnen und
Patienten gezeigt werden, dass doppelt so viele Frauen wie Männer allergische
Reaktionen nach Kontrastmittelgabe zeigten (Lang et al. 1995). Wie sich die
Kontrastmittelgabe auf die Entwicklung eines ANV in Hinblick auf
geschlechterspezifische Unterschiede auswirkt, ist jedoch noch nicht hinlänglich
untersucht. Viele Untersuchungen sind noch erforderlich, um genauer die
Mechanismen zu verstehen, die zu der unterschiedlichen Empfänglichkeit für
bestimmte Arten des ANV führen, um ggf. später daraus sinnvolle Therapien
ableiten zu können.
Es ist wichtig, die geschlechterspezifischen Aspekte bereits frühzeitig in die
Lehre zu implementieren, um eine Sensibilität der Lernenden gegenüber der
unterschiedlichen Anfälligkeit von Männern und Frauen für die Ausbildung
bestimmter Krankheitsbilder zu wecken. Dies kann später im klinischen Alltag
helfen, Risikopatienten und -patientinnen frühzeitig zu erkennen, um präventive
Maßnahmen zu ergreifen.
Literatur
Doddakula K et al. Predictors of acute renal failure requiring renal replacement
therapy post cardiac surgery in patients with preoperatively normal renal
function. Interact Cardiovasc Thorac Surg. 2007 Jun;6(3):314-18
Lang DM et al. Gender risk for anaphylactoid reaction to radiographic contrast
media. J Allergy Clin Immunol. 1995 Apr;95(4):813-17
Oberholzer A et al. Incidence of septic complications and multiple organ failure
in severely injured patients is sex specific. J Trauma. 2000 May;48(5):932-37
Schrier RW et al. Acute renal failure and sepsis. N Engl J Med. 2004
Jul;351(2):159-69
16
Medizin und Geschlecht
Sperry JL et al. Inflammation and the Host Response to Injury Investigators.
Male gender is associated with excessive IL-6 expression following severe
injury. J Trauma. 2008 Mar;64(3):572-78
Wei Q et al. Differential gender differences in ischemic and nephrotoxic acute
renal failure. Am J Nephrol. 2005 Sep-Oct;25(5):491-99
Kontakt
Prof’in Dr. Faikah Güler
Klinik für Nieren- und Hochdruckerkrankungen
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str.1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 47 08
E-Mail: [email protected]
17
Medizin und Geschlecht
RECHTSMEDIZIN
19. SEPTEMBER 2008
18
Medizin und Geschlecht
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Medizin und Geschlecht
HÄUSLICHE GEWALT - EIN THEMA FÜR DIE
UNIVERSITÄRE MEDIZIN?
VON PROFESSORIN DR. BRIGITTE LOHFF
Grundlagen des Handelns
1. Januar 2002 Gewaltschutzgesetz (GewSchG): Gewalt von Männern gegen
(Ehe-)Frauen ist grundsätzlich gesetzeswidrig und z.B. als (schwere oder
gefährliche) Körperverletzung, Vergewaltigung, Nötigung oder Bedrohung
strafbar. Jede/r, die/der von den Straftaten eines Mannes weiß, kann diese
anzeigen. Die von Gewalt betroffenen Frauen haben auch das Recht, den Täter
durch die Polizei der Wohnung verweisen zu lassen.
1. Aufforderung zum Handeln für medizinische Berufe im Jahr 2000:
Erfahrungen
und
die
Erkenntnis
aus
internationalen
Frauengesundheitsberichten führten zu der Forderung der WHO, dass neben
juristischen und polizeilichen Stellen auch die medizinischen Berufsgruppen
in diesem Thema aus- und weitergebildet werden müssen.
2. Aufforderung zum Handeln für medizinische Berufe: Recommendation
CM/Rec(2008)1 of the Committee of Ministers to member states on the
inclusion of gender differences in health policy.
Definition von Gewalt
Körperliche Gewalt wie Ohrfeigen, Faustschläge, Stöße, Fußtritte, Würgen,
Fesseln, Angriffe mit Gegenständen, Schlag-, Stich-, Schusswaffen,
Mordversuche bis zu Tötungsdelikten;
Sexualisierte Gewalt von Nötigungen bis zu Vergewaltigungen oder zum Zwang
zur Prostitution;
Psychische Gewalt wie Drohungen, der Frau/ihren Kindern etwas anzutun,
Beleidigungen, Demütigungen, Erzeugen von Schuldgefühlen, Essensentzug
und Einschüchterungen;
Ökonomische Gewalt wie Arbeitsverbot oder Zwang zur Arbeit, die alleinige
Verfügungsmacht über finanzielle Ressourcen durch den Partner; kurz die
Herstellung und Aufrechterhaltung einer ökonomischen Abhängigkeit;
Soziale Gewalt das Bestreben des Partners, die Frau sozial zu isolieren, indem
ihre Kontakte kontrolliert, unterbunden oder verboten werden.
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Medizin und Geschlecht
Somatische Beschwerden
- Thoraxschmerz
- Herzrasen, Arrhythmie
- Verdauungsbeschwerden
- Asthma bronchiale
-
Zervical-, Schulter-Arm-Syndrom
Kopfschmerz, Migräneattacken
Atemstörungen
Menstruationsbeschwerden
akute psychosoziale Symptomatik oder Verhaltensauffälligkeiten
- Angstzustände/Panikattacken
- Schlafstörungen/Alpträume
- Essstörungen
- Alkohol-/Tablettenabusus
- Isolation
- Depression
- Ekel gegenüber dem eigenen Körper - Autoaggression
Strategien zur Thematisierung von häuslicher Gewalt im medizinischen Umfeld
Studien zeigen, dass häusliche Gewalt ein häufiges Problem bei Patientinnen
einer Kriseninterventionsstation darstellt. Aus der Literatur ist zu vermuten, dass
dies auch in anderen medizinischen Settings wie etwa auf allgemeinen
Notfallstationen zutrifft.
Die Erfassung dieser Problematik scheint also dringend notwendig. In der
Hektik des Klinikalltags wird die Befragung hierzu aber häufig „vergessen” oder
– sei es aus Zeitgründen, sei es aus falscher Scham – unterlassen. Wenn
Ärzten/Ärztinnen und Pflegern/Schwestern ein Instrument im Sinne eines
Screenings an die Hand geben wird, ließe sich die Problematik möglicherweise
zuverlässig und schnell erfassen.
Zusätzlich ist es notwendig, Lehrprogramme zur Diagnose von häuslicher
Gewalt zu entwickeln, welche nicht exklusive einzelne Veranstaltungen sind,
sondern integraler Bestandteil im gesamten Curriculum der medizinischen
Ausbildung. Ferner sollten konkrete Modellprojekte initiiert werden, in die
Ärzte und Ärztinnen, Schwestern, Pfleger und Studierende integriert sind.
Modellprojekt, um das Thema häusliche Gewalt an der MHH zu implementieren
und wissenschaftlich zu begleiten
1. Bildung eines internen Arbeitskreises an der MHH bestehend aus zukünftig
dafür verantwortlichen Vertreterinnen und Vertretern aus folgenden Kliniken
und Bereichen: Sozialpsychiatrie, Trauma-Ambulanz, Gynäkologie
Unfallchirurgie, Pädiatrie, Pflegedienst, Gerichtsmedizin, Sozialdienst
2. Aufgaben des MHH-internen Arbeitskreises
- Erstellen eines Aufgabenprofils der Schnittstelle
- Suche nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für das Team
- Interne Fort- und Weiterbildung zum Thema für die Mitglieder des
Arbeitskreises
- Kontaktaufnahme und Beratung
21
Medizin und Geschlecht
- externe Beratungsstellen: Frauenhäuser Polizei etc.
- Berechnung der Personalkosten und des Zeitbudgets
- Klärung eventueller rechtlicher Fragen
- Formulierung von Anträgen für die finanzielle Unterstützung der
Schnittstelle
- Formulierung von Anträgen für die wissenschaftliche Begleitung und
Evaluierung
Literatur
Adopted by the Committee of Ministers on 30 January 2008 at the 1016th
meeting of the Ministers' Deputies
Brzank P et al. Häusliche Gewalt gegen Frauen: Gesundheitsfolgen und
Versorgungsbedarf – Ergebnisse einer Befragung von Erste-Hilfe-Patientinnen
im Rahmen der S.I.G.N.A.L. – Begleitforschung. Gesundheitswesen
2004;66:164-69
Nyberg E et al. Screening domestic violence. A Germanlanguage screening
instrument for domestic violence against women. Screening Partnergewalt. Ein
deutschsprachiges Screeninginstrument für häusliche Gewalt gegen Frauen.
Fortschr Neurol Psychiatr 2008;76(1):28-36
Kontakt
Prof’in Dr. Brigitte Lohff
Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 42 78
E-Mail: [email protected]
22
Medizin und Geschlecht
DIAGNOSTIK UND INTERVENTION BEI GEWALTOPFERN
– EINE INTERDISZIPLINÄRE HERAUSFORDERUNG
VON PD DR. ANETTE SOLVEIG DEBERTIN
Die Untersuchung von Gewaltopfern zählt seit langem zu den Kernaufgaben der
klinischen Rechtsmedizin. Im Jahr 2007 haben wir in der Rechtsmedizin
Hannover insgesamt 279 Opfer (häusliche Gewalt, Kindesmisshandlung,
sexueller Missbrauch, Körperverletzungsdelikte, Sexualdelikte etc.) und 87
Beschuldigte untersucht. Mit diesen Untersuchungen haben die
Ermittlungsbehörden uns beauftragt.
Dieser arbeitsintensive und wachsende Tätigkeitsschwerpunkt der
Rechtsmedizin ist leider selbst in Medizinerkreisen noch nicht ausreichend
bekannt. In langjähriger erprobter Zusammenarbeit mit Ermittlungsbehörden
haben wir einen wissenschaftlich fundierten Erfahrungsschatz bei der Abklärung
nichtakzidenteller Verletzungen in der Abgrenzung zu echten Unfällen und
weiteren Differentialdiagnosen erworben. Die klinische Rechtsmedizin verfügt
insofern über spezifische forensische Kenntnisse bei der Beurteilung und
Interpretation von Verletzungsmustern, der Rekonstruktion von Tathergängen
und der Zuordnung von Tatwerkzeugen zu Verletzungen. Hierzu haben sich
innerhalb
der
rechtsmedizinischen
Fachgesellschaft
u.
a.
die
Arbeitsgemeinschaft „Klinische Rechtsmedizin“ und der Arbeitskreis
„forensisch-pädiatrische Diagnostik“ gebildet.
Die Erfahrung aus der interdisziplinären Zusammenarbeit zeigt, dass mithilfe
dieser Spezialkenntnisse der Rechtsmedizin bei der Untersuchung von
Gewaltopfern eine wichtige Lücke geschlossen werden kann: Hängt doch die
Diagnostik und Befunderhebung entscheidend davon ab, ob klinischtherapeutische Fragen oder kriminalistisch-juristische Aspekte im Vordergrund
stehen. So zeigt sich, dass einigen kurativ tätigen Kollegen teilweise die
Bereitschaft, aber auch spezielle Kenntnisse fehlen, die Zeichen von Gewalt an
Opfern zu diagnostizieren.
Die Ergebnisse verschiedener Prävalenzstudien zur „häuslichen Gewalt“ zeigen
erschreckend hohe Zahlen – bei vermutlich hoher Dunkelziffer. Schätzungen
zufolge soll etwa jede dritte bis fünfte Frau körperliche oder sexuelle Übergriffe
durch Beziehungspartner erlebt haben – mit teilweise ernstzunehmenden
gesundheitlichen Folgen.
23
Medizin und Geschlecht
Im Hinblick auf Geschlechterdifferenzierung fällt auf, dass sich
interessanterweise viele Informationen, Arbeitshilfen und Anlaufstellen
überwiegend an Frauen als Opfer richten. Und so wird suggeriert: Gewalt ist
männlich! Insofern scheint sich die „häusliche Gewalt“ an sich schon
geschlechterspezifisch darzustellen. Andere Studien und vergleichende
Analysen gehen dagegen von einer Gleichverteilung der Geschlechter aus.
Viele Opfer von Gewalt wenden sich an Ärztinnen und Ärzte aller Fachgebiete,
ohne ihnen die Ursache ihres Leidens zu nennen. Nur ein kleiner Prozentsatz der
dabei festgestellten Verletzungen soll auf häusliche Gewalt zurückgeführt
werden. Deswegen gelangen viele Opfer mit akuten Verletzungen mehrfach in
notfallmedizinische Behandlung, ehe die eigentliche Verletzungsursache
herausgefunden
wird.
Insbesondere
das
Erkennen
von
Kindesmisshandlungsverletzungen erweist sich für viele kurativ tätige
Kolleginnen und Kollegen oft als schwierig und heikel: man könnte Eltern
Unrecht tun oder Kinder durch Nicht-Erkennen möglicherweise weiterer
Gewalttätigkeit aussetzen. Darüber hinaus stellen medizinische Besonderheiten
beim sexuellen Missbrauch und die Kenntnis von Verletzungsfolgen und deren
Heilungsverlauf noch eine junge Wissenschaft dar; d.h. viele Kenntnisse sind
neu und haben bisher noch keine Verbreitung gefunden. Gerade in diesem
sensiblen Bereich können falsche Diagnosen zu verheerenden Folgen für die
Kinder und die Familien führen.
Der klinischen Rechtsmedizin kommt so aufgrund der besonderen
kriminalistischen Arbeitsweise und Spezialisierung auf Untersuchungen von
Gewaltopfern – unter Abwägung zahlreicher differentialdiagnostischer Aspekte
– eine herausragende, aktuelle und immer bedeutendere Rolle zu.
Das stetig wachsende Arbeitsfeld der klinischen Rechtsmedizin, die
Implementierung diesbezüglicher Inhalte in die rechtsmedizinische Vorlesung
und Pflichtseminare und Inhalte einer erstmalig wissenschaftlich evaluierten
Präventionskampagne zum Schütteltrauma werden im Workshop dargestellt.
Kontakt
PD Dr. Anette Solveig Debertin
Institut für Rechtsmedizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 45 89
E-Mail: [email protected]
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Medizin und Geschlecht
GESCHLECHT, GEWALT UND GESUNDHEIT –
RECHTSMEDIZINISCHE ASPEKTE IN PRAXIS UND
FORSCHUNG
VON PD DR. HILDEGARD GRAß UND PROFESSORIN DR. STEFANIE RITZ-TIMME
Im medizinischen Fächerkanon befasst sich die Rechtsmedizin regelhaft mit der
Untersuchung und Begutachtung von Gewaltspuren am menschlichen Körper.
Wurde in der Rechtsmedizin zunächst vorrangig zu den damit unmittelbar
zusammenhängenden Fragestellungen, z.B. Korrelation einer definierten
energetischen Einwirkung und deren traumatischer Auswirkung, auch
wissenschaftlich gearbeitet, so hat sich nicht nur das gesamte Aufgabenspektrum
im Fach Rechtsmedizin deutlich erweitert, auch die Forschungsansätze sind
entsprechend weiter gefasst. Dies trifft insbesondere für die Themenfelder
„Gewalt und Geschlecht“ zu, ist doch dieses Begriffspaar nicht von einander zu
trennen und wirft es gleichzeitig so vielfältige Fragen auf:
-
-
-
-
-
Wie kann Geschlecht definiert werden? Dies kann schon rechtsmedizinischmolekularbiologisch,
rein
naturwissenschaftlich-humangenetisch
Schwierigkeiten bereiten.
Wie soll Gewalt definiert werden? Die Spanne von der körperlichen
Dimension bis in die psychische Ebene ist groß.
In welchem Kontext stehen Gewalt, Geschlecht und Gesellschaft? Vielfältige
Probleme der sozialen, ethischen, ökonomischen [....] Ebene sind zu bedenken.
Welche Dimensionen aus dem Themenkreis „Gewalt und/oder Geschlecht“
haben direkte oder indirekte Auswirkungen auf die Gesundheit? Hier wird es
zukünftig bedeutsam sein, auf diese Einflussfaktoren in der körperlichen und
seelischen Folge/Traumatisierung in den verschiedenen Stufen und
Fachbereichen der medizinischen Aus- und Weiterbildung hinzuweisen. Die
Versorgung von Menschen, die durch Gewalteinwirkung welcher Art auch
immer traumatisiert wurden, deren besondere Bedürfnisse in der Ansprache,
Befundsicherung, Befundinterpretation und die möglichen weiteren
Betreuungsangebote und Begleitoptionen, all das sind Aspekte, die in einer
guten Aus- und Weiterbildung enthalten sein sollten.
Wie kann der „Gender“-Gedanke in die medizinische Aus- und Weiterbildung
implementiert werden? Sowohl Patientinnen als auch Patienten sind mit ihren
25
Medizin und Geschlecht
Bedürfnissen in gleicher Weise wahr- und ernst zu nehmen, wie auch
Ärztinnen und Ärzte in ihren Geschlechterrollen. Auch dieser generelle Aspekt
der geschlechterdifferenzierten oder -sensiblen Betrachtung von Gesundheit
und gesundheitsbezogenen Diagnose- und Therapiestrategien ist als integraler
Bestandteil einer guten Medizin zu verankern.
Am Düsseldorfer Institut für Rechtsmedizin wurde mit der Berufung der neuen
Leitung, Professorin Stefanie Ritz-Timme, ein neuer Schwerpunkt der (Frauenund) Geschlechterforschung initiiert. Konkret wurden bis dato folgende Punkte
umgesetzt:
-
-
-
Implementierung einer Gewaltopferambulanz und eines interdisziplinären
Versorgungsnetzes am Universitätsklinikum,
Begleitende Forschung mit verschiedenen Schwerpunkten zum Themenfeld
„Gewalt, Geschlecht und Gesundheit“,
Aus- und Weiterbildungsangebote zum Schwerpunkt „Gewalt und Gender“.
Diese Beispiele zeigen die vielfältigen Ansätze von rechtsmedizinischen
Tätigkeiten zum Themenkreis „Gewalt und Geschlecht“ in enger Anbindung an
den Begriff der „Gesundheit“, wobei wir den Begriff „Geschlecht“ sowohl im
Sinne von „Gender“ (sozial definiertes Geschlecht) als auch von „Sex“
(biologisches Geschlecht) verstanden wissen möchten.
Literatur
Graß H et al. Frauen- und Geschlechterforschung, Gewaltopfer und
Rechtsmedizin, Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität. Düsseldorf
2005/06:107-18
Kontakt
PD Dr. Hildegard Graß
Institut für Rechtsmedizin
Universitätsklinikum Düsseldorf
Moorenstraße 5
40225 Düsseldorf
Telefon: 0211 / 8 10 40 58
Email: [email protected]
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Medizin und Geschlecht
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Medizin und Geschlecht
ANÄSTHESIOLOGIE
UND
INTENSIVMEDIZIN
30. OKTOBER 2008
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Medizin und Geschlecht
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Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERUNTERSCHIEDE UND
LEBENSWISSENSCHAFTEN - HISTORISCH BETRACHTET
VON PROFESSORIN DR. BETTINA WAHRIG
Die überwiegende Mehrzahl der Menschen in der westlichen Welt ordnet sich
selbstverständlich einem von zwei Geschlechtern zu. Gleichzeitig ist
Gleichstellung im Zuge der Deklaration von Peking und der in den Gesetzen der
Europäischen Union verankerten Gender-Mainstreaming-Politik ein anerkanntes
Ziel von Politik geworden, selbst wenn die praktischen Konsequenzen aus
diesen Grundsätzen –
das heißt Anstrengungen für eine tatsächliche
Gleichstellung – noch immer wieder eingeklagt werden müssen. Danach scheint
die Aufgabenstellung klar zu sein: Es gibt zwei und genau zwei menschliche
Geschlechter, die sich biologisch voneinander unterscheiden, und nun kommt es
darauf an, diesem Unterschied so gerecht zu werden, dass keine Benachteiligung
aus diesen Unterschieden geschieht und dass gleichzeitig den unterschiedlichen
Bedürfnissen der beiden Geschlechter Gerechtigkeit widerfährt.
Die Sache ist jedoch nicht so einfach: Was biologische Unterschiede genau sind,
wie sie festgestellt werden können und welche kulturellen und sozialen
Auswirkungen sie haben, ist im Laufe der Geschichte auf die verschiedenste
Weise be- und verhandelt worden. Und die Diskussionen hierüber halten an.
Schien es in den 1950er Jahren nun festzustehen, dass der wesentliche
Unterschied zwischen Männern und Frauen in ihren verschiedenen
Chromosomensätzen liegt, so ist heute bekannt, dass für die
Erscheinungsformen des männlichen und des weiblichen Geschlechts längst
nicht nur die Geschlechtschromosomen verantwortlich sind und dass Gene das
Individuum nicht ein- für allemal festlegen, sondern während der verschiedenen
Entwicklungsphasen in einem komplizierten Wechselspiel mit dem zellulären
Stoffwechsel stehen.
Die Grundthese dieses Abstracts ist, dass sich – historisch gesehen –
Vorstellungen über die Natur der Geschlechter und Vorstellungen über die
Ordnung der Geschlechter gegenseitig bedingt und unterstützt haben, dass sich
die Konstellation dieser beiden Vorstellungsarten aber im Laufe der Geschichte
erheblich verändert hat. Vorstellungen über die Natur der Geschlechter
beinhalteten z.B. Fragen der Reproduktion, aber auch der körperlichen und
geistigen Fähigkeiten, und sie wurden häufig mobilisiert, um soziale
Differenzen, besonders zwischen Männern und Frauen, zu rechtfertigen.
Dominanzverhältnisse zwischen den Geschlechtern haben wiederum im Laufe
30
Medizin und Geschlecht
der Geschichte andere Dominanzverhältnisse (z.B. zwischen Klassen)
gerechtfertigt und fundiert. So war die Gebärfähigkeit der Frau zumindest bis
vor wenigen Jahren häufig ein Argument, um ihren Anteil am Erwerbsleben
quantitativ und qualitativ zu beschränken, während andererseits in vielen
Gesellschaften die Entscheidung über die Nachkommenproduktion dem
(männlichen) Familienoberhaupt zugeschrieben wurde. In jüngster Zeit haben
besonders Diskussionen über unterschiedliche kognitive Fähigkeiten von Frauen
und Männern für Streit gesorgt: Haben Frauen aufgrund eines von weiblichen
Geschlechtshormonen beeinflussten Gehirns eine geringere Fähigkeit zum
mathematischen, mindestens aber zum räumlichen Denken? Oder sind junge
Männer im Lernen benachteiligt, weil Testosteron ihr Gehirn überflutet und vom
Denken abhält? So zumindest kamen wissenschaftliche Studien in den
öffentlichen Debatten an. Aber auch hochrangige Akademiker, die es besser
wissen müssten, vertreten bis auf den heutigen Tag solche Thesen.
Als Historikerin kann ich zur Debatte über die Validität und
Verallgemeinerbarkeit solcher Studien nichts beitragen (außer der Aufforderung,
den gesunden Menschenverstand niemals auf dem Journal-Cover oder im
Gestrüpp der Suchmaschinen zu vergessen). Aber ich kann zeigen, wie sich die
Vorstellungen über die Natur der Geschlechter und – damit zusammenhängend –
über die sozialen Rollen von Männern und Frauen in der Geschichte verändert
haben.
In der historischen Gender-Forschung ist gelegentlich die These vertreten
worden, dass das vorherrschende Modell von Geschlecht von der Antike bis
etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts das sogenannte "Ein-Geschlechter-Modell"
gewesen sei (Thomas Laqueur 1992). Demnach habe man sich männliche und
weibliche Körper als Varianten eines einzigen Körpers gedacht. Die
Unterschiede zwischen Männern und Frauen seien nur gradweise gewesen. Dies
bezog sich einerseits auf die Geschlechtsorgane, welche auch z.T. dieselben
Namen hatten: Etwa hießen Hoden und Ovarien bei antiken Autoren wie Galen,
aber auch noch bei dem bedeutenden frühneuzeitlichen Anatomen Andreas
Vesalius (1542) gleichermaßen "testes"; die Ovarien erschienen als im
Körperinnern verbliebene Testes, und die Vagina wurde als nach innen
gekehrter Penis verstanden. Dem entsprach die Idee, dass nach der
Viersäftelehre (Humoralpathologie) der menschliche Körper grundsätzlich aus
vier verschiedenen Säften (Blut, Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle)
bestand, wobei der Unterschied zwischen Männern und Frauen vor allem im
unterschiedlichen relativen Anteilen dieser Säfte bestand. Männliche Körper
sollten sich vor allem durch das Überwiegen der warmen Säfte gelbe Galle und
Blut auszeichnen, weibliche durch das von Schleim und schwarzer Galle, die als
kalt galten. Dass die weiblichen Genitalien 'nach innen gekehrt' waren, konnte
31
Medizin und Geschlecht
dann als Resultat einer unzureichenden Wärme gedeutet werden. Wärme
verweist auf das Element des Feuers, welches metaphorisch mit dem Konzept
der Vernunft verbunden war, so dass dem Mann auch eine größere
Vernunftfähigkeit zugeschrieben werden konnte. Insgesamt ermöglichte dieses
Modell zu erklären, warum sich Männer und Frauen in ihren Tätigkeiten und
Fähigkeiten recht ähnlich sind, während es gleichzeitig eine implizite
Hierarchisierung erlaubte: Der Körper der Frau erschien sozusagen als
Minusvariate des männlichen Körpers.
Dieses hier skizzierte Modell ist natürlich sehr stark vereinfacht: Kaum ein
einzelner Autor der Frühen Neuzeit hat es in dieser Radikalität vertreten.
Wissenschaftliche Erklärungen haben sich auch in der Vergangenheit nicht auf
einfache, einheitliche, von allen akzeptierte Prinzipien reduzieren lassen,
sondern gerade in der Vielfalt und im Streit lag auch schon damals die
Produktivität.
Nichstdestotrotz ergab sich Mitte des 18. Jahrhundert eine neue Art, auf die
Geschlechterdifferenz zu schauen: Nunmehr interessierten besonders zwei
Fragen: War das Gehirn von Frauen dem der Männer gleichwertig oder
unterlegen? Ließen sich hieraus Schlüsse auf ihre Fähigkeit und Berechtigung zu
wissenschaftlicher Tätigkeit ziehen? Verwies umgekehrt der Körperbau von
Frauen besonders auf ihre Gebärfunktion? Im 18. Jahrhundert setzte sich
allmählich in den bürgerlichen Schichten die bis ins 20. Jahrhundert verbreitete
bürgerliche Arbeitsteilung durch: Die soziale Rolle von Frauen wurde vorrangig
im Kindergebären und der Kinderaufzucht gesehen, die der Männer in der
Teilhabe an der Öffentlichkeit und im Broterwerb (dieses Rollenverständnis
herrschte in den kulturellen Eliten vor, nicht in der gesamten Gesellschaft).
Solche veränderten Zuschreibungen waren nicht unumstritten: Viele Frauen und
eine Minderheit von Männern fochten mit der Feder gegen diese seit Rousseau
häufig für natürlich erklärte Arbeitsteilung, aber viele verteidigten sie auch – mit
Feder und Skalpell. In der Anatomie führten diese Debatten dazu, dass Skelette
von Frauen und Männern unterschiedlich dargestellt wurden. Nunmehr wurde
besonders auf komplementäre Geschlechterunterschiede abgestellt: Der
weibliche Körper wurde nicht als 'minderwertiger' männlicher sondern als dem
männlichen entgegengesetzter gesehen, der dessen Funktion ergänzte, etwa
durch ein breit ausladendes Becken und einen relativ kleinen Kopf (Schiebinger
1993). Weibliche reproduktive Funktionen wurden aufgewertet. Dennoch
bedeuteten diese biologischen Zuschreibungen für die Frauen, dass sie mit
Verweis auf ihre biologischen Besonderheiten in den häuslichen Bereich
verwiesen wurden. Die Bedeutung der historischen Studien, von denen hier nur
Schiebinger genannt werden kann, liegt darin, dass sie eines bewusst gemacht
32
Medizin und Geschlecht
haben: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen wirken mit bei der Suche nach
Differenzen und bei deren Interpretation.
Im 19. Jahrhundert ist es nicht bei diesem 'komplementären' Geschlechtermodell
geblieben: Mit der Entdeckung der inneren Sekretion und der Sexualhormone,
aber auch mit der zunehmenden Erforschung der Embryonalentwicklung fanden
sich viele Argumente, die doch dafür sprachen, dass es in biologischer Hinsicht
Übergänge zwischen 'männlichen' und 'weiblichen' Körpern gibt. Für die
psychosexuelle Entwicklung postulierte etwa Sigmund Freud, dass der Mensch
ursprünglich bisexuell ist und dass die sexuelle Differenzierung und
Identitätsentwicklung im Wechselspiel zwischen dem Kind mit seinen
emotionalen und biologischen Bedürfnissen auf der einen und seiner Umwelt
auf der anderen Seite erfolgt. Dennoch kann man auch für jene Zeit immer
wieder feststellen, dass stereotype, dichotome Zuordnungen zwischen
biologischen Faktoren auf der einen und den Eigenschaften 'männlich' bzw.
'weiblich' auf der anderen Seite vorgenommen wurden.
Folgende Thesen sollen zum Abschluss das Gesagte zusammenfassen:
1. Die Vorstellungen über die 'biologischen' Bedingungen von 'männlich' und
'weiblich' veränderten und verändern sich
- im Wechselspiel mit der jeweiligen Kultur
- zwischen den Extremen eines dipolaren Geschlechtermodells und eines
„Einheitskörpers“ mit allmählichen Übergängen.
2. Methodische Probleme entstehen durch implizite Vorannahmen:
- so werden konstante Differenzen zwischen den Geschlechtern leicht für
biologische Differenzen gehalten
- biologische Differenzen werden für biologisch verursacht gehalten, während
man besser (und hier war die Vorstellungswelt zwischen Antike und Früher
Neuzeit häufig offener als etwa das 19. Jahrhundert) von eine
Wechselwirkung zwischen biologischen und sozialen Faktoren sprechen
sollte.
3. Gesellschaftliche Probleme im Wechselspiel von Person und Geschlecht
entstehen durch
- Pathologisierung von Verhalten, welches für das jeweilige Geschlecht als
untypisch gilt, denn
- in unserer Kultur bedeutet 'Diagnose', ob wir das wollen oder nicht, immer
auch eine Wertung
- den unsicheren Umgang mit 'uneindeutigem' Geschlecht, mit den Personen,
die sich nicht oder anders zuordnen als dies die Mehrheitsgesellschaft
33
Medizin und Geschlecht
erwartet.
Literatur
Laqueur, Thomas (1992): Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der
Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt/M.: Campus
Schiebinger, Londa (1993): Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der
modernen Wissenschaft. 2. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta
Kontakt
Prof’in Dr. Bettina Wahrig
Technische Universität Braunschweig
Institut Geschichte der Naturwissenschaften, Pharmaziegeschichte
Beethovenstr. 55
38106 Braunschweig
Tel: 0531/ 391- 5990
E-Mail: [email protected]
34
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE ASPEKTE IN DER
SCHMERZMEDIZIN
VON PROFESSOR DR. MATTHIAS KARST
Bei Frauen werden mit größerer Häufigkeit und längerer Dauer höhere
Schmerzintensitäten beobachtet. Es sind mehr Körperregionen betroffen, der
Leidensdruck ist größer und es werden mehr Analgetika eingesetzt. Bei Frauen
treten häufiger Erkrankungen oder Symptomkomplexe auf, die mit chronischen
Schmerzen assoziiert sind, wie z.B. Migräne, Colon irritabile,
craniomandibuläre Dysfunktion, Fibromyalgie und Autoimmunerkrankungen
(Hurley & Adams 2008). Im Vergleich zu Männern ist die Prävalenz bei den
meisten Schmerzarten etwa um das 2-fache erhöht (Greenspan et al. 2007).
Hierzu kontrastiert der Mythos, dass Frauen mehr Schmerzen aushalten oder
sich Schmerzen einbilden, eine Vorstellung, die dazu führen kann, dass
Therapeutinnen und Therapeuten nicht zuhören, wenn Frauen über Schmerzen
klagen.
Die epidemiologischen und klinischen Befunde lassen sich auch experimentell
bestätigen. Frauen sind vor allem empfindlicher bei den thermischen
Schmerzschwellen und der mechanischen Druckschmerzschwelle (Rolke et al.
2006; Coghill et al. 2003) und zeigen dabei auch mehr Gehirnaktivität in
spezifischen der „Schmerzmatrix“ zugeordneten Gehirnregionen und eine
stärkere kognitiv-sprachliche Verarbeitung (Coghill et al. 2003; Henderson et al.
2008).
Ursachen hierfür dürften einerseits in genetischen und hormonellen Faktoren
und andererseits in Umwelteinflüssen zu suchen sein. So ist bekannt, dass die
Aktivität der Katechol-O-Methyltransferase (COMT), welche im Zentralen
Nervensystem (ZNS) u. a. die endogene Opioidproduktion reguliert, unter
Östrogen-Einfluss inhibiert wird (Xie et al. 1999). Weitere die
Schmerzmechanismen verstärkende Effekte von Östrogenen sind u. a. die
Erhöhung der Konzentration von Nervenwachstumsfaktoren in den
Ganglienzellen der afferenten Spinalnerven, die c-Fos Expression im
Hippocampus, die Aktivierung der Mitogen-aktivierten-Protein-Kinase und die
verstärkte Bindung von Glutamat an N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptoren (IASP
Fact Sheets 2007-2008). Dabei scheinen Östrogene eine duale Beeinflussung der
Schmerzverarbeitung aufzuweisen. Hohe Dosen haben antinozizeptive Effekte,
indem sie die Funktion des endogenen Opioidsystems verstärken können.
Testosteron dagegen reduziert Halswirbelsäulen- und Schulterbeschwerden bei
35
Medizin und Geschlecht
Fabrikarbeiterinnen und reduziert die Schmerzschwelle bei stabiler Angina
pectoris (IASP Fact Sheets 2007-2008).
Hinweise für Umwelteinflüsse auf die Schmerzverarbeitung konnten in
experimentellen Studien gezeigt werden. Unter der Simulation sozialer
Ausgrenzung in virtueller Realität kam es zu einer Aktivierung der
„Schmerzmatrix“ vergleichbar mit der Gehirnaktivität als Antwort auf einen
physikalischen Reiz (Eisenberger et al. 2003). Bei gleichzeitiger Applikation
eines physikalischen Schmerzreizes wurde das Gefühl des Zurückgewiesenseins
stärker empfunden und umgekehrt (Eisenberger et al. 2006).
Schmerz verstärkende kulturelle und psychosoziale Faktoren sind eher mit dem
weiblichen Geschlecht verbunden. Dazu gehören das Stereotyp der Frauenrolle,
das Versorgungskonzept, Hypervigilanz gegenüber potenziell bedrohlichen
Situationen, größere Körperwahrnehmung und die größere Prävalenz von
Depressionen und Angststörungen (Wiesenfeld-Hallin 2005).
Im
Zusammenhang
mit
Schmerzerleben
lassen
sich
auch
Geschlechtsunterschiede im Empathieverhalten finden: Männer sind weniger
empathisch, wenn sie sich hintergangen fühlen. Die dabei auftretenden
Rachegefühle korrelieren mit einer verstärkten Aktivität des Nucleus
accumbens, welche bei Frauen ausbleibt (Singer et al. 2006).
Studien zum Melanocortin-1-Rezeptorgen (MC1R)-Polymorphismus haben
gezeigt, dass bei Frauen mit zwei varianten Allelen des MC1R unter dem kAgonisten Pentazocin mehr Schmerzreduktion erreicht wird als bei Männern mit
der gleichen Genvariation (Mogil et al. 2003). Dieses Ergebnis zeigt, dass
Geschlechtsunterschiede auch eine Auswirkung auf die Therapie von Schmerzen
haben. Dazu kontrastiert, dass in Tierversuchen männliche Tiere die Norm
darstellen und bis 1993 Frauen von pharmakologischen Studien gänzlich
ausgeschlossen waren (Greenspan et al. 2007; Lund & Lundeberg 2008).
Es kann geschlussfolgert werden, dass Schmerzen in Abhängigkeit vom
Geschlecht unterschiedlich verarbeitet werden, was zu einer unterschiedlichen
Schmerzausprägung führt. Hierfür sind biologische und psychosozial-kulturelle
Faktoren verantwortlich. Diese Erkenntnisse sollten bei der Diagnostik und
Therapie von Schmerzen Berücksichtigung finden.
Literatur
Coghill RC et al. Neural correlates of interindividual differences in the
subjective experience of pain. PNAS 2003;100:8538-42
36
Medizin und Geschlecht
Eisenberger NI et al. Does rejection hurt? An fMRI study of social exclusion.
Science 2003;302:290-92
Eisenberger NI et al. An experimental study of shared sensitivity to physical
pain and social rejection. Pain 2006;126:132-38
Greenspan JD et al. Studying sex and gender differences in pain and analgesia: a
consensus report. Pain 2007;132:26-45
Henderson LA et al. Gender differences in brain activity evoked by muscle and
cutaneous pain: a retrospective study of single-trial fMRI data. Neuroimage
2008;39:1867-76
Hurley RW et al. Sex, gender, and pain: an overview of a complex field. Anesth
Analg 2008;107:309-17
IASP Fact Sheets: sex hormones and pain. www.iasp-IASP, 2007-08
Lund I et al. Is it all about sex? Acupuncture for the treatment of pain from a
biological and gender perspective. Acupunct Med 2008;26:33-45
Mogil JS et al. The melanocortin-1 receptor gene mediates female-specific
mechanisms of analgesia in mice and humans. PNAS 2003;100:4867-72
Rolke R et al. Quantitative sensory testing in the German Research Network on
Neuropathic Pain (DFNS): standardized protocol and reference values. Pain
2006;123:231-34
Singer T et al. Empathic neural responses are modulated by the perceived
fairness of others. Nature 2006;439:466-69
Wiesenfeld-Hallin Z. Sex differences in pain perception. Gender Med
2005;2:137-45
Xie T et al. Characterization and implications of estrogenic down-regulation of
human catechol-o-methyltransferase gene transcription. Mol Pharmacol
1999;56:31-38
Kontakt
Prof. Dr. Matthias Karst
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 31 08
E-Mail: [email protected]
37
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE UNTERSCHIEDE BEI DEM
SCHWEREN VERBRENNUNGSTRAUMA
VON PROFESSOR DR. HANS-OLIVER RENNEKAMPFF
Das Verbrennungstrauma stellt ein schwerwiegendes Krankheitsbild dar. Das
Verbrennungstrauma ist im Wesentlichen durch das Ausmaß (betroffene
Körperoberfläche oder KOF) und die Verbrennungstiefe gekennzeichnet.
Während bis zu einer Verbrennungsfläche von 15-20 % lokale Veränderungen
und der Verlust der Haut die Therapie bestimmen, sind bei Verbrennungen über
20 % KOF erhebliche systemische Mitreaktionen (die sogenannte
Verbrennungskrankheit) zu erwarten und machen eine intensivmedizinische
Behandlung notwendig. Die Prognose der Patientin/des Patienten verschlechtert
sich mit zunehmender Fläche und zunehmenden Alter. Aber auch das
Inhalationstrauma, also die Schädigung der Lunge durch Inhalation von
toxischen Gasen, erhöht die Letalität. Weiterhin konnte nachgewiesen werden,
dass Alkoholismus und die COPD die Prognose ebenfalls verschlechtern
(Germann et al.).
Im Rahmen von empirischen Beobachtungen wurde bereits in den 1980er Jahren
festgestellt, dass Frauen nach schwerer Verbrennung eine schlechtere Prognose
haben als Männer. Dieser Beobachtung wird seit der Einführung des
Abbreviated Burn Severity Index (ABSI) als Score zur Prognoseabschätzung
mit einem zusätzlichen Punkt Rechnung getragen. So kann bereits das
Geschlecht ’weiblich’ zu einer Zuordnung in eine Kategorie mit erheblich
schlechterer Überlebenswahrscheinlichkeit führen.
Auch die Aufarbeitung eigener Daten des Schwerbrandverletztenzentrums der
Klinik für Plastische, Hand- und Wiederherstellungschirurgie bei
Gasexplosionsverletzungen (Busche et al.) belegt, dass Frauen bei gleicher
Verbrennungsfläche und gleichem Alter eine höhere Sterblichkeitsrate haben als
Männer. Im eigenen Krankengut wurde für Männer eine Sterblichkeit von 19 %
bei einem ABSI von 6, für Frauen eine Sterblichkeit von 33 % bei einem ABSI
von 7 (6 + 1 für weiblich) festgestellt.
Mehrere retrospektive Arbeiten (Germann et al., Gomez et al., Kerby et al.)
konnten den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Überleben nach einem
schwereren Verbrennungstrauma nachweisen. Das weibliche Geschlecht hat
einen signifikant negativen Einfluss auf das Überleben. Pathophysiologisch sind
die Östrogen- und Testosteronspiegel der entscheidende Faktor. Nach einer
38
Medizin und Geschlecht
schweren Verbrennung ist der Östrogenspiegel um das 10- bis 15-fache erhöht,
während der Testosteronspiegel erniedrigt ist. Weiterhin wurde berichtet, dass
auch das Priming von Neutrophilen geschlechterabhängig ist, ebenso wie die
Interleukin -8- und Prostaglandin -E- Spiegel.
Bei Kindern (1-16 Jahre) fand sich kein Zusammenhang zwischen Geschlecht
und Überleben; allerdings konnten andere geschlechterabhängige
Veränderungen
(Cytokinprofile,
Muskelproteinverlust,
Energiebedarf)
festgestellt werden (Jeschke et al.).
In tierexperimentellen Untersuchungen (Bird et al.) wurde der Einfluss des
Geschlechts beim Verbrennungstrauma im Vergleich zum hämorrhagischen
Schock auf den outcome untersucht. In diesen tierexperimentellen
Untersuchungen
konnte
der
Zusammenhang
zwischen
erhöhtem
Östrogenspiegel und Letalität nach einer Verbrennung eindrücklich gezeigt
werden.
Auch Genderaspekte wie soziale Herkunft und Lebensgewohnheiten spielen in
der Behandlung und Prognose beim Verbrennungspatientinnen und -patienten
eine große Rolle. Nachweislich erleiden Männer in wesentlich höherem Maße
Verbrennungen.
Auch
die
Wahrnehmung
von
Narben
und
Funktionseinschränkungen scheint geschlechterspezifisch und genderabhängig
zu sein.
Zusammenfassend zeigt sich, dass die schwere Verbrennung eine eigene
Traumaentität darstellt und sich grundsätzlich vom hämorrhagischen Trauma
unterscheidet. Erhöhte Östrogenspiegel nach einer Verbrennung haben einen
negativen Einfluss auf den Cytokinspiegel und die Immunitätslage. Frauen
haben damit bei gleichem Verbrennungsausmaß ein 1,3-fach erhöhtes Risiko an
einer Verbrennung zu sterben. Derzeit haben diese Erkenntnisse noch keinen
Eingang in die Therapie gefunden. Der Pathophysiologie dieser
geschlechterspezifischen Unterschiede muss auch in Forschung und Lehre
Rechnung getragen werden.
Literatur
Bird MD et al. Sex differences and estrogen modulation of the cellular immune
response after injury. Cell Immunol 2008;252,57-67
Busche, K. et al. Die unsichtbare Gefahr-Analyse von 71 intensivpflichtigen
Verbrennungen durch Gasexplosionen. Vortrag Jahrestagung der Deutschen
Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen, Stuttgart 2008
39
Medizin und Geschlecht
Germann et al. The impact of risk factors and pre existing conditions on the
mortality of burn patients and the precision of predictive admission scoring
systems. Burns 1997;23,195-203
Gomez M et al. The FLAMES score accurately predicts mortality risk in burn
patients. J Trauma 2008;65,636-45
Jeschke et al. Gender differences in pediatric burn patients: Does it make a
difference? Ann Surg 2008;248,126-36
Kerby et al. Sex differences in mortality after burn injury. J Burn Care Rehabil
2006;27,452-56
O’Keefe et al. An evaluation of risk factors for mortality after burn trauma and
the identification of gender-dependent differences in outcomes. J Am Coll
Surg 2001;192,153-60
Kontakt
Prof. Dr. Hans-Oliver Rennekampff
Klinik für Plastische, Hand- und Wiederherstellungschirurgie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 27 10
E-Mail: [email protected]
40
Medizin und Geschlecht
GENDER-ASPEKTE IN DER KATASTROPHENMEDIZIN
VON PROFESSOR DR. HANS ANTON ADAMS
Einführung
Die geschlechterspezifische Medizin befasst sich mit dem sozialen und damit
auch dem kulturellen Geschlecht bzw. der Geschlechterrolle von Mann und
Frau. Sie geht über den rein biologischen Ansatz hinaus und findet zunehmendes
Interesse auch in der klinischen Medizin. In diesem Beitrag werden einige
Effekte des biologischen Geschlechts im Hinblick auf die Bewältigung
bestimmter
Krankheitsbilder,
Geschlechteraspekte
der
allgemeinen
Notfallmedizin sowie wichtige Gender-Aspekte der Katastrophenmedizin
dargestellt.
Effekte des biologischen Geschlechts
Frink et al. 2007 untersuchten 106 Männer und 37 Frauen mit
Mehrfachverletzungen. Frauen unter dem 50. Lebensjahr wiesen geringere
Zytokin-Spiegel sowie eine geringere Inzidenz von Multiorgandysfunktion und
Sepsis auf, was die Autoren einen protektiven Effekt weiblicher Sexualhormone
vermuten ließ. Dagegen fanden Sperry et al. 2008 bei Patientinnen und Patienten
mit hämorrhagischem Schock in einer Subgruppenanalyse von 680 Männern
und 356 Frauen bei den Frauen sowohl prä- wie postmenopausal weniger
Infekte und Multiorganversagen. Bezüglich des Zentralen Nervensystems sind
bei Patientinnen und Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma keine
geschlechtsbedingten Unterschiede evident; es wird aber ein antiödematöser
Effekt von Progesteron postuliert. Bei Patientinnen mit Epilepsie ist die
Anfallsrate in Zyklusphasen mit vermindertem Östrogen- und ProgesteronSpiegel erhöht und bei Männern scheint sinkendes Testosteron in der
Andropause die Folgen einer zerebralen Ischämie zu verschlimmern. Eine renale
Ischämie führt bei Frauen – zumindest außerhalb kardiochirurgischer Eingriffe –
seltener zum akuten Nierenversagen, und auch die Transplantatfunktion ist nach
einer Nierentransplantation bei Frauen besser als bei Männern. Die koronare
Herzkrankheit geht bei Frauen mit einer von Männern abweichenden Klinik –
häufig ohne „typischen“ Brustschmerz – einher. Weiter fanden sich bei Frauen
engere Koronarien, mehr diastolische Dysfunktionen und eine schlechtere
Erholung nach Revaskularisation; als Hauptursache werden Koronarspasmen
vermutet.
Notfallund
katastrophenmedizinisch
sind
insbesondere
die
Geschlechtsunterschiede im Bereich von Schmerz und Analgesie relevant.
Schmerzempfinden und Schmerzäußerung hängen jedoch von vielen Faktoren
41
Medizin und Geschlecht
ab, und die bislang vorliegenden Befunde sind nicht ohne weiteres in die Klinik
zu übertragen. Insgesamt werden die geschlechterspezifischen Opioid-Effekte
offensichtlich von der interindividuellen Streuung überdeckt und erfordern ein
individuelles Vorgehen.
Gender-Aspekte der allgemeinen Notfallmedizin
Einige Gender-Aspekte der allgemeinen Notfallmedizin sind auch für die
Bewertung katastrophenmedizinischer Szenarien relevant. Dazu zählen:
- Die „männliche“ Risiko-Bereitschaft,
- das Mitmachen, Mitleiden und wohl auch Mitverursachen von Frauen,
- der Leidensdruck und die Leidensfähigkeit der „Frau und Mutter“,
- das spezifische, jeweils kulturell geprägte Familienbild,
- Täter und Opfer von häuslicher Gewalt und Suizid usw., wo fast immer
Verzweiflung im Spiel ist und das Elend nicht auf Frauen und Kinder
begrenzt bleibt.
Allgemeine Aspekte
Die Katastrophenmedizin ist gegenüber der allgemeinen Notfallmedizin
insbesondere durch den quantitativen Aspekt mit der Vervielfachung von Not
und Leid gekennzeichnet. Großschadensereignisse und Katastrophen jeder Art
sind jederzeit und überall möglich. Mögliche Szenarien sind Verkehrsunfälle mit
Bus, Zug, Flugzeug und Schiff, Gefahrgutunfälle, allgemeingefährliche
Infektionskrankheiten sowie terroristische Anschläge. Naturkatastrophen sind in
hiesigen Breiten selten, können aber nicht völlig ausgeschlossen werden.
Bei allen Szenarien muss mit Paniksituationen gerechnet werden. Die
Panikreaktion eines bzw. einer Einzelnen entsteht aus unbeherrschter
überwältigender Angst - ob begründet oder unbegründet. Die Panikreaktion
einer Menschenmasse ist eine Primitivreaktion auf eine vermeintliche oder echte
Bedrohung mit Herdentrieb.
Studien
World Trade Center – 11. September 2001
Stuber et al. 2006 führten bei 2.752 New Yorker Einwohnerinnen und
Einwohnern 6-9 Monate nach dem Ereignis eine telefonische Befragung durch.
In dieser Untersuchung wiesen Frauen eine höhere geschätzte LebenszeitPrävalenz für eine anhaltende Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auf
als Männer. Kofaktoren waren ein vorheriger sexueller Übergriff, eine
psychische Vorerkrankung, die ethnische Zugehörigkeit („Black“, „Hispanic“)
und der Familienstand mit dem Schutzfaktor „verheiratet“. Frauen waren
während des Ereignisses anfälliger für eine Panikreaktion als die befragten
Männer.
42
Medizin und Geschlecht
Weissmann et al. 2001 befragten 7-16 Monate nach dem Ereignis Patientinnen
und Patienten eines allgemeinen Krankenhauses und konnten 982 komplette
Datensätze auswerten. Eine PTBS fand sich besonders bei weiblichen
„Hispanics“; Kofaktoren waren insbesondere „alleinlebend ohne festen Partner“,
geringe Bildung und geringes Einkommen. Depressive Störungen waren bei
Frauen häufiger als bei Männern; hier wurde der Drogenabusus als Kofaktor
identifiziert.
Marmara-Erdbeben 1999
Aksaray et al. 2006 untersuchten 184 Patienten (79 Männer, 105 Frauen) eines
psychiatrischen Dienstes 6-10 Wochen nach dem Ereignis. Frauen wiesen
gegenüber Männern signifikant häufiger eine PTBS, depressive Störungen,
Hoffnungslosigkeit und Somatisierungen auf.
Livanou et al. 2002 untersuchten 1.027 Betroffene, davon 77 % Frauen, die im
Mittel 14 Monate nach dem Ereignis spontan Hilfe suchten. Es fanden sich
insgesamt 63 % PTBS und 42 % depressive Störungen. Die PTBS korrelierte u.
a. mit Angst, weiblichem Geschlecht, geringer Bildung sowie Verlust von
Angehörigen und Besitz. Depressive Störungen korrelierten mit weiblichem
Geschlecht, geringer Bildung, Verlust von Angehörigen und psychischer
Vorerkrankung.
Alcio lu et al. 2003 untersuchten 20 Monate nach dem Ereignis 586 Betroffene,
die nicht aus eigenem Antrieb Hilfe gesucht hatten und noch in einer
Behelfsunterkunft lebten. 39 % der Untersuchten wiesen eine PTBS und 18 %
eine depressive Störung auf. Die PTBS korrelierte mit Angst, weiblichem
Geschlecht, höherem Alter, persönlichem Einsatz bei Rettungsarbeiten,
Verschüttung und psychischer Vorerkrankung; die depressiven Störungen mit
höherem Alter, Verlust von Angehörigen, dem Status „alleinlebend“, einer
psychischen Vorerkrankung und dem weiblichem Geschlecht.
Erdbeben in Taiwan September 1999
Lai et al. 2004 untersuchten 252 Betroffene 10 Monate nach dem Ereignis und
berichteten über eine Rate von 10,3 % PTBS und 19,0 % unterschwelliger
PTBS. Eine höhere Inzidenz fand sich bei Frauen, längerer Traumaexposition,
psychischer Vorerkrankung und Behinderung.
Chen al. 2007 untersuchten 6.412 Betroffene, die ihre Häuser verloren hatten,
zwei Jahre nach dem Ereignis und fanden bei 20,9 % eine PTBS und bei 39,8 %
eine allgemeine psychiatrische Morbidität. Eine PTBS wiesen vor allem Frauen
sowie Menschen in einer Behelfsunterkunft, mit geringer Bildung und
43
Medizin und Geschlecht
komplettem Eigentumsverlust auf. Psychiatrische Erkrankungen lagen
hauptsächlich bei Frauen sowie bei Älteren und Menschen mit geringer Bildung
und Leben in einer Behelfsunterkunft vor.
Wu et al. 2006 untersuchten 405 Betroffene drei Jahre nach dem Ereignis und
berichteten über eine Rate von noch 4,4 % PTBS und 6,4 % depressiven
Störungen. Die Lebensqualität wurde (wie zu erwarten) in den Gruppen mit
PTBS und depressiver Störung geringer bewertet als im Vergleichskollektiv.
Prädiktoren für verminderte Lebensqualität waren höheres Alter, weibliches
Geschlecht, wirtschaftliche Probleme, somatische Erkrankung und sozialer
Abstieg.
Sonstige Naturkatastrophen
Armagan et al. 2006 untersuchten 33 türkische Helferinnen und Helfer einen
Monat nach ihrer Rückkehr vom Tsunami-Hilfseinsatz 2004/05 und berichteten
über eine Rate von 24,2 % PTBS (8 von 33 Helfern). Die Inzidenz war bei
Frauen und Männern insgesamt vergleichbar, aber die Symptomatik war bei
Frauen, Pflegepersonal und bei Teilnahme an mehr als drei vorherigen Einsätzen
stärker ausgeprägt.
Kar et al. 2006 untersuchten 108 Jugendliche, die 14 Monate zuvor in Indien
einem Wirbelsturm ausgesetzt gewesen waren und fanden insgesamt 37,7 %
PTBS, depressive oder Angststörungen mit gleicher Prävalenz bei Frauen und
Männern, aber mit unterschiedlicher Symptomatik.
Golfkrieg 1990/91
Vogt et al. 2005 untersuchten 10 Jahre nach dem Einsatz 495 US-Teilnehmer
und -Teilnehmerinnen am Golfkrieg 1990/91. Frauen berichteten über häufigere
sexuelle Belästigung und geringe soziale Unterstützung in der Gruppe, Männer
über mehr Kampfeinsätze. Die Inzidenz von PTBS und depressiver Störung war
bei Männern und Frauen vergleichbar; bei Frauen war die Inzidenz von
Ängstlichkeit erhöht. Sexuelle Belästigung und geringe soziale Unterstützung in
der Gruppe hatten bei Frauen einen stärkeren Einfluss auf die psychische
Gesundheit als bei Männern.
Fakten, Fragen und zusammenfassende Wertung
Es liegen zahlreiche weitere Untersuchungen zu den Folgen individueller
psychischer
und
physischer
Traumatisierung
außerhalb
von
Katastrophenszenarien vor, auf die hier nicht näher eingegangen wird. Eine
vorsichtige Bewertung der oben vorgestellten Daten ergibt folgendes Bild:
- Die Inzidenz von PTBS und depressiven Störungen ist bei Frauen höher als
bei Männern.
44
Medizin und Geschlecht
- Die Symptomatik ist uneinheitlich und zeigt geschlechterspezifische
Unterschiede.
- Die Inzidenz von Panikreaktionen ist bei Frauen höher als bei Männern.
- Die direkte Noxe hat einen hohen, aber keinen absoluten Stellenwert. Es
gehen zahlreiche starke Kofaktoren wie Alter, Sozialstatus, Vorereignisse,
Ethnie und kulturelles Umfeld ein.
Geschlechteraspekte werden im Katastrophenschutz noch nicht oder nur wenig
beachtet. Das ist bei akuter Lebensgefahr erforderlich und richtig. Weiter sind
Männer in Grenzsituationen traditionell geneigt, Frauen zu schützen. Es besteht
aber Anlass zum Nachdenken über viele offene Fragen. Bedeutet die
unterschiedliche Stressresistenz bei Frauen a priori auch unterschiedliche
Panikbereitschaft? Wer versorgt vornehmlich die Kinder und den Haushalt? Wie
unterscheiden sich vorübergehende von lang anhaltenden Notsituationen usw.?
Zusammenfassend scheinen Frauen biologisch bevorzugt und sozial
benachteiligt zu sein. Sie erscheinen weniger stress- und panikresistent, sind
aber wohl auch höher belastet. Die Beachtung von Geschlechteraspekten ist
wichtig, aber stets gehen viele und starke Kovariablen ein. In
Katastrophensituationen sind nicht die Frauen, sondern die Schwachen
allgemein besonders betroffen. Solange es nichts Besseres gibt, gilt wohl weiter
der androzentrische Zugang: Frauen und Kinder zuerst. Dafür gibt es eine Fülle
guter Vorbilder und Beispiele - aber auch Männer wissen Schutz und Hilfe zu
schätzen.
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Kontakt
Prof. Dr. Hans Anton Adams
Interdisziplinäre Notfall- und Katastrophenmedizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 34 95 -34 96
E-Mail: [email protected]
47
Medizin und Geschlecht
GASTROENTEROLOGIE
UND
HEPATOLOGIE
16. JANUAR 2009
48
Medizin und Geschlecht
49
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE BEI
LEBERERKRANKUNGEN
VON PD DR. KINAN RIFAI
Die mittlere Lebenserwartung von Frauen in Deutschland ist über fünf Jahre
höher als die der Männer. Die Ursachen sind vielfältig, aber auch in einer
unterschiedlichen Disposition für bestimmte Erkrankungen und deren Verläufe
begründet. So findet sich bei Frauen eine deutlich höhere Rate an
Autoimmunerkrankungen, während infektiöse Erkrankungen bei Männern oft
einen schwereren Verlauf aufweisen. Dies gilt auch für Erkrankungen der Leber,
die insgesamt weit verbreitet sind (ca. 15 Millionen Patientinnen und Patienten
in Europa). Die beiden wichtigsten infektiösen Lebererkrankungen, die Hepatitis
B und die Hepatitis C, weisen beide bei Männern einen schwereren Verlauf und
konsekutiv eine höhere Sterblichkeit auf: Dabei ist die Rate an spontaner
Viruselimination bei Männern geringer, während sie eine höhere
Fibroseprogression und Zirrhoserate bei chronischen Verläufen aufweisen. Auch
das Risiko für die Entwicklung eines Hepatozellulären Karzinoms im Rahmen
einer chronischen Hepatitis ist bei Männern deutlich höher als bei Frauen. Es
gibt Hinweise, dass all diese Unterschiede auch auf Hormonwirkungen v. a. der
Östrogene
zurückzuführen
sind.
Im
Gegenzug
führen
die
Geschlechtsunterschiede bei Frauen zu einer sehr viel höheren Rate an
Autoimmunerkrankungen der Leber in Form der Autoimmunhepatitis und der
Primär Biliären Zirrhose. Interessanterweise ist der Verlauf beider
Erkrankungen jedoch bei Männern und Frauen weitgehend gleich. Die dritte
autoimmune Lebererkrankung, die Primär Sklerosierende Cholangitis, ist
insofern atypisch, als sie bei Männern gehäuft auftritt. Die häufigsten
Lebererkrankungen sind toxisch-metabolischer Art, nämlich die alkoholische
Lebererkrankung und die Fettleber bzw. nicht-alkoholische Steatohepatitis.
Obwohl gut belegt ist, dass Alkohol bei Frauen mengenbezogen einen größeren
Leberschaden bewirkt, ist die alkoholische Lebererkrankung ebenso wie die
Fettleber bei Männern (noch) wesentlich häufiger zu finden. Eine fast nur bei
Männern auftretende Lebererkrankung ist die genetisch bedingte
Hämochromatose (Eisenspeicherkrankheit). Entscheidend ist hier der
Eisenverlust durch die Menstruationsblutung bei Frauen. Zusammengefasst
finden
sich
viele
hochsignifikante
Geschlechtsunterschiede
bei
Lebererkrankungen, die nicht nur die Prävalenz, sondern häufig auch den
Verlauf der Erkrankung wesentlich beeinflussen und somit von besonderem
Interesse sind.
50
Medizin und Geschlecht
Kontakt
PD Dr. Kinan Rifai
Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 34 15
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51
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE ASPEKTE
GASTROINTESTINALER TUMOREN
AM BEISPIEL VON ÖSOPHAGUSKARZINOM, HEPATOZELLULÄREM KARZINOM,
PANKREASKARZINOM UND KOLONKARZINOM
VON PROFESSOR DR. MICHAEL P. MANNS, DR. BENITA WOLF, PROFESSOR DR.
NISAR P. MALEK
Gastrointestinale Tumoren sind so heterogen und zahlreich, dass über deren
Entstehung, Verlauf und Therapie nur wenige einheitliche Aussagen getroffen
werden können. Geschlechterspezifische Unterschiede in der Epidemiologie,
Pathogenese, Schwere der Erkrankung und Mortalität Gastrointestinaler
Tumoren finden bisher weder in der klinischen Betreuung, noch in der
„Literatur“ ausreichend Beachtung. Am Beispiel der Tumore des Ösophagus,
der Leber, der Bauchspeicheldrüse und des Dickdarms sollen nachfolgend
wesentliche Konzepte und neue Erkenntnisse geschlechterspezifischer
Unterschiede erläutert werden.
Zunächst bestehen für die meisten Gastrointestinalen Tumoren bemerkenswerte
epidemiologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Gründe dafür
wurden in der Vergangenheit am häufigsten im Risikoprofil der einzelnen
Malignome gesucht, welches von Männern deutlich häufiger bedient wird als
von Frauen. So stellen Unterschiede in Ernährung, Bewegung, Gewohnheiten im
Tagesablauf sowie der Konsum von Alkohol und Tabak eine wesentliche
Ursache
für
geschlechterspezifische
Unterschiede
bezüglich
der
Erkrankungshäufigkeit und Mortalität bei Gastrointestinalen Tumoren dar.
Gesunde Lebensweise, Ernährung und Bewegung scheinen Frauen (noch) vor
bestimmten Tumorentitäten zu schützen.
Damit lässt sich aber nicht erklären, warum postmenopausale Frauen zum
Beispiel ebenso häufig an einem Kolonkarzinom erkranken, wie die
gleichaltrige männliche Bevölkerung. Der Einfluss der Geschlechtshormone auf
die Entstehung Gastrointestinaler Tumoren ist in der Vergangenheit nur wenig
erforscht worden. Ergebnisse neuerer Studien deuten vor allem auf einen
Schutzeffekt der Östrogene vor der Entstehung der meisten GI-Tumoren hin.
Allerdings gibt es auch vermehrt Daten, die das karzinogene Potenzial der
Östrogene belegen.
52
Medizin und Geschlecht
Männer in Deutschland erkrankten 2004 dreimal häufiger und im Mittel 4,5
Jahre früher am Ösophaguskarzinom als Frauen. Zu den wichtigsten
Risikofaktoren für die Entstehung des Plattenepithelkarzinoms des Ösophagus
zählen Alkohol und Tabakkonsum. Dabei wirkt die Kombination verstärkend.
Adenokarzinome entstehen auf der Basis des Barrett-Ösophagus. Die Inzidenz
des Adenokarzinoms des Ösophagus steigt seit 1975 kontinuierlich an, sowohl
bei Männern, als auch unter Frauen, wobei letzteres nicht genügend Beachtung
in der Fachwelt erfährt. Dabei ist das Überleben nach Diagnosestellung für
Männer deutlich eingeschränkter als für Frauen, Ursachen dafür sind bisher
nicht ausreichend untersucht. In einer britischen Studie wurde lediglich
festgestellt, dass Männer vor allem in Karzinomen des intestinalen
histologischer Subtypen Prädominanz zeigen, die vor allem dadurch bedingt ist,
dass Frauen wesentlich später im Leben, aber ebenso häufig, an diesem Tumor
erkranken.
Das primäre Leberzellkarzinom gilt als der fünfhäufigste Tumor weltweit und
als die dritthäufigste Ursache von Tumorsterblichkeit. In allen bisher
untersuchten Populationen hatten Männer höhere Erkrankungsraten als Frauen,
die zwischen 2:1 und 5:1 liegen. Die höhere Inzidenz bei Männern könnte allein
durch das durch die Lebensführung bedingte höhere Risiko für
Lebererkrankungen zu erklären sein. Männer rauchen mehr, trinken mehr
Alkohol, stecken sich häufiger mit Hepatitis B und C an und haben erhöhte
Eisenspeicher.
Dem widerspricht das 2-8fach höhere Auftreten von Hepatozellurären
Karzinomen (HCC) bei männlichen Mäusen. Diese Daten unterstützen die
Hypothese, dass Androgene die HCC Progression mehr beeinflussen als
geschlechterspezifische Exposition zu Risikofaktoren.
In allen untersuchten Populationen lag die Spitzenaltersgruppe für HCC
Erkrankung bei Frauen fünf Jahre später als bei Männern.
Zahlreiche Arbeiten deuten weiterhin auf eine Rolle von oralen Kontrazeptiva in
der Entstehung von Leberneubildungen hin. Hepatozyten besitzen nukleare
Östrogenrezeptoren. Ihre Expression ist in HCC Tumorzellen erhöht, was auf
eine mögliche Hormonsensitivität dieser Tumoren hinweist. Östrogen und
Progesteronkomponenten der oralen Kontrazeptiva können, wie im Tiermodell
gezeigt wurde, Lebertumoren induzieren und unterhalten. Einen klaren
epidemiologischen Zusammenhang zwischen der Einnahme von oralen
Kontrazeptiva und der Entstehung des HCC gibt es bisher jedoch nicht. Bisher
existieren darüber nur widersprüchliche Studiendaten.
53
Medizin und Geschlecht
In Deutschland erkranken mit ca. 6300 vs. 6600 jährlich etwa gleich viele
Männer und Frauen am Adenokarzinom der Bauchspeicheldrüse, der häufigsten
bösartigen Neubildung des Organs. Das mittlere Erkrankungsalter jedoch liegt
für Männer bei etwa 69, für Frauen bei etwa 76 Jahren. Tabak und Alkohol
werden ebenso wie eine an tierischen Fetten reiche Ernährung als Risikofaktoren
diskutiert. Übergewicht wirkt sich ebenfalls nachteilig aus. Risiko mindernd
kann eine Ernährungsweise sein, die durch einen hohen Anteil an Gemüse und
Obst gekennzeichnet ist. Die geschätzten Neuerkrankungsraten wie auch die
Sterblichkeit an Bauchspeicheldrüsenkrebs bleiben in Deutschland bei Männern
seit Ende der 1980er Jahre konstant. Bei den Frauen steigen Inzidenz und
Mortalität leicht an.
Viele Studien befassen sich mit der Expression von Östrogenrezeptoren in
Pankreastumoren, mit divergierenden Ergebnissen. Ursache dafür ist
vorwiegend, dass in den meisten veröffentlichten Studien ausschließlich die
Östrogenrezeptor-Isoform α und selten bis nie die Isoform β Beachtung fand. In
einer Studie am soliden pseudopapillären Pankreaskarzinom konnte der
Östrogenrezeptor β erhöhter Expression nachgewiesen werden. Dies wäre eine
mögliche Erklärung, warum an diesem Tumor vorwiegend junge Frauen
erkranken. Ebenso stellen papilläre zystische Tumoren eine Entität dar, an der
vorwiegend junge Frauen erkranken. In einer Studie von Morales et al. wurden
2003 dabei in 7 von 8 Fällen erhöhte Level des Östrogenrezeptors β gefunden.
Trotz vermehrter Hinweise auf eine Beteiligung der Östrogene an der Genese
des Pankreaskarzinoms bleibt deren Rolle zunächst ungewiss. So existieren
einerseits einzelne klinische Studien, in denen die Substanz Tamoxifen, ein
Anti-Östrogen, für Pankreaskarzinompatienten bzw. -patientinnen eine
Überlebensverlängerung von 3 auf 7 Monate bewirkte, andererseits existieren
Studien, die keinerlei Therapieeffekt nachweisen konnten.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das Adenokarzinom, als häufigster
Pankreaskarzinomtyp betrifft nur selten junge Frauen. Postmenopausal nimmt
die Inzidenz jedoch deutlich zu, was einen schützenden Effekt der Östrogene
vermuten lässt. Seltene Pankreaskarzinomtypen betreffen jedoch vorwiegend
junge Frauen, dort scheint Östrogen und seine Rezeptoren entscheidend zur
Karzinogenese beizutragen.
Darmkrebs ist bei beiden Geschlechtern die zweithäufigste Krebserkrankung.
Die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen in Deutschland wird für Männer auf
über 37.000 und Frauen auf etwa 36.000 geschätzt. Männer erkranken im Mittel
mit 69, Frauen mit 75 Jahren. Obwohl Inzidenz und Mortalität nur geringe
Unterschiede zwischen Männern und Frauen aufweisen, bestehen
unterschiedliche Einstellung zu Prävention und Screeningprogrammen. So
54
Medizin und Geschlecht
scheint die Koloskopie bei Frauen als Screeninguntersuchung weniger akzeptiert
als unter Männern. Bei Männern besteht weiterhin ein stärkerer Zusammenhang
zwischen Inzidenz des Kolonkarzionoms und Fettleibigkeit. Weiterhin findet
sich bei Frauen ein stärkerer Zusammenhang zwischen Tabakkonsum und
Inzidenz des Kolonkarzinoms: Unter Raucherinnen ist die Inzidenz wesentlich
höher.
Wie schon bei Pankreas- und Leberzellkarzinom scheint die prämenopausale
orale Kontrazeption sowie die postmenopausale Hormonersatztherapie auch
gegen das kolorektale Karzinom einen Schutzfaktor darzustellen. Frauen und
Männer scheinen unterschiedlich auf Umweltfaktoren zu reagieren, was sich
einerseits in einer Verminderung des Risikos, andererseits in einer besseren
Verträglichkeit von Therapien äußert. Auf zellulärer Ebene korrelieren diese
Entdeckungen
v.
a.
mit
Polymorphismen
der
5,10Methylenetetrahydrofolatreduktase, die bei Frauen deutlich protektivere
Wirkung zeigten, als bei Männern. Weitere Polymorphismen wurden für das
Apolipoprotein E gefunden. Träger des Genotyps epsilon2/3 tragen ein deutlich
erhöhtes Darmkrebsrisiko, was ebenfalls bei Männern stärker zum Tragen
kommt. Jüngere Frauen scheinen weiterhin deutlich häufiger an Karzinomen des
proximalen
Kolon
zu
erkranken,
wobei
dabei
vermehrt
Mikrosatelliteninstabilitäten
gefunden
wurden,
während
Chromosomeninstabilitäten für die Karzinogenese distaler Kolonkarzinome
pathognomisch sind. Mit zunehmendem Alter erkranken auch Frauen vermehrt
an Karzinomen des distalen Kolons, wobei mit zunehmendem Alter auch die
Expression des Östrogenzeptors in der Darmschleimhaut abnimmt.
Das weibliche Geschlecht scheint außerdem ein positiver prognostischer Faktor
für das Ansprechen auf Chemotherapie zu sein. Eine Ursache hierfür kann eine
deutlich verminderte Expression von Dihydropyrimidin Dehydrogenase (DPD),
ein für den 5-Fluorouracil-Metabolismus entscheidendes Enzym bei Frauen im
Vergleich zu Männern, sein. Eine verminderte Expression von DPD im Tumor
würde demnach mit einer verbesserten Wirkung von 5-FU korrelieren.
Zusammenfassend betrachtet erkranken Frauen deutlich seltener an
Gastrointerenalen-Tumoren. Östrogene haben vielfach einen Tumor-supressiven
Effekt, wobei Hormone auch einen positiven Einfluss auf das Überleben zu
haben scheinen. Unterschiede in der Metabolisierung von Zytostatika (z.B. 5FU) können ein besseres Therapieansprechen erklären.
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Medizin und Geschlecht
Kontakt
Prof. Dr. Nisar P. Malek
Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 45 85 -59 63
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57
Medizin und Geschlecht
KARDIOLOGIE
13. FEBRUAR 2009
58
Medizin und Geschlecht
59
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE ASPEKTE IN DER
INTENSIVMEDIZIN
VON PROFESSORIN DR. URSULA MÜLLER-WERDAN
Östrogenrezeptoren und kardiovaskuläre Östrogenwirkungen
Die unterschiedliche Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen zwischen
Männern und Frauen wurde bislang überwiegend dem günstigen Einfluss der
Östrogene auf die Serumkonzentrationen von Lipoproteinen zugeschrieben.
Jedoch ist mittlerweile erkannt, dass zahlreiche Organe direkte Effektoren der
Östrogene sind, zum Beispiel auch Gefäße, Herz, Knochen und das Gehirn.
Schätzungsweise sind nur etwa ein Drittel der klinisch beobachteten protektiven
Östrogenwirkungen
unmittelbar
der
günstigen
Beeinflussung
der
Serumlipidprofile zuzuschreiben; direkte Wirkungen am Gefäßsystem tragen
offenbar wesentlich zur geringeren kardiovaskulären Morbidität bei Frauen bei.
Östrogene entfalten an zahlreichen Zellspezies genomische Effekte durch
Aktivierung der beiden bekannten Östrogenrezeptoren α und ß, die beide zur
Superfamilie der Steroidrezeptoren gehören und als Ligand-aktivierte
Transkriptionsfaktoren die Expression Östrogen-responsiver Elemente des
Genoms induzieren. Daneben zeitigen Östrogene noch wenig verstandene
rasche, nicht-genomische Effekte, etwa eine NO-abhängige Vasodilatation 5-20
Minuten nach Gabe von Östrogen, die nicht durch eine Veränderung der
Genexpression zustande kommt, sondern durch eine direkte Einflussnahme auf
zytosolische Signalkaskaden. Die beiden Östrogenrezeptoren können sowohl als
Homo- als auch als Heterodimere biologische Wirkungen entfalten, die darüber
hinaus durch Koaktivatoren oder Korepressoren moduliert werden. Die
Erforschung der Komplexität und Pleiotropie von Östrogenwirkungen ist ein
„evolving field“ mit einem hohen Wissenszuwachs seit der Klonierung des
Östrogen-ß-Rezeptors vor erst wenigen Jahren.
Sexueller Dimorphismus der Immunantwort
Frauen haben im Vergleich zu Männern zwar einen Vorteil hinsichtlich der
Entwicklung atherosklerotischer Herz-Kreislauf-Erkrankungen, jedoch treten
Autoimmunerkrankungen bei Frauen deutlich häufiger auf (z.B. systemischer
Lupus erythematodes, Hashimoto Thyreoditis, rheumatoide Arthritis).
Experimentelle und klinische Untersuchungen belegen geschlechterspezifische
Unterschiede in der humoralen und zellulären Immunantwort. So haben Frauen
im Mittel höhere Plasmaantikörperspiegel als Männer, und die zelluläre
Immunantwort ist bei weiblichen Säugetieren verstärkt. Rezeptoren für
Sexualhormone wurden auf verschiedenen Zellen des Immunsystems
60
Medizin und Geschlecht
nachgewiesen und bilden die Basis für diesen sexuellen Dimorphismus der
Immunantwort.
Der Krankheitsverlauf bei Sepsis, Schock und Trauma wird wesentlich von der
akut eskalierenden Entzündungsreaktion des Organismus determiniert, zu der
sowohl die angeborene als auch die erworbene Immunität beitragen. Im
Tiermodell werden sowohl eine bakterielle Sepsis als auch ein hämorrhagisches
Trauma von weiblichen Mäusen deutlich besser toleriert. Die Arbeitsgruppe von
Chaudry konnte so nachweisen, dass männliche Mäuse nach hämorrhagischem
Trauma eine deutlich schlechtere Herzfunktion haben als weibliche und dass
sich die Herzfunktion dieser männlichen Tiere durch Kastration oder
Testosteronantagonisten verbessern ließ. Barrow et al berichteten 1990 über
einen erstaunlichen Unterschied bei der Letalität von Mädchen (n = 67) und
Jungen (n = 118), die im Mittel 5,1 bzw. 5,8 Jahre alt waren, nach schweren
Brandverletzungen: trotz ähnlichem Schweregrad der erlittenen Verbrennungen
war die Sterblichkeit der Knaben (15 von 118) signifikant größer als die der
Mädchen (3 von 67). Diese Beobachtung wirft die Frage auf, inwieweit bereits
bei Kindern vor der Pubertät Unterschiede im Immunsystem bestehen.
Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede bei Intensivpatientinnen und
-patienten?
Zwei große, prospektiv angelegte Beobachtungsstudien fanden keinen
geschlechterspezifischen Sterblichkeitsunterschied – in Relation zum
Krankheitsschweregrad, insgesamt war jedoch die Zahl der Intensivpatientinnen
geringer als die der Intensivpatienten. In einer der Studien wurden Männern
häufiger
invasive
Prozeduren
zuteil,
trotz
etwas
niedrigeren
Krankheitsschweregrads.
Geschlechtsunterschiede bei der menschlichen Sepsis - Beobachtungsstudien
Mehrere Beobachtungsstudien weisen auf einen Überlebensvorteil von Frauen
bei schwerer Sepsis bzw. eine verminderte Inzidenz septischer Komplikationen
nach Trauma hin. Dem könnte der sexuelle Dimorphismus der humoralen und
zellulären Immunantwort zugrunde liegen, die bei Frauen und weiblichen
Säugetieren verstärkt ist. Interessante neue Studien zeigen darüber hinaus, dass
bestimmte Polymorphismen des TNF- und LBP-Genlocus nur bei Männern mit
einer schlechteren Prognose der Sepsis assoziiert sind. Derzeit wird diskutiert,
ob sich daraus die Notwendigkeit einer geschlechterspezifischen Behandlung
der Sepsis ableiten lässt.
Genotyp und Sepsis – gibt es Geschlechtsunterschiede?
TNF-α ist ein zentraler Mediator der natürlichen Immunabwehr und gilt als
wesentlicher Trigger der eskalierenden systemischen Entzündungsreaktion in
61
Medizin und Geschlecht
der Sepsis. Der TNF Genlocus (Gene für TNF-α und TNF-ß) des Menschen ist
innerhalb des major histocompatibility complex (MHC) auf dem kurzen Arm
des Chromosoms 6 angesiedelt. Es sind mehrere Polymorphismen des TNFLocus identifiziert worden. Homozygotie für das Allel TNFB2 des TNFn
Polymorphismus (NcoI), der innerhalb des ersten Introns des TNF-ß-Gens liegt,
ist bei septischen Patientinnen/Patienten assoziiert mit einer verstärkten
Freisetzung von TNF-α und einer erhöhten Letalität. Eine weitere Studie fand
überraschend, dass nur bei Männern – nicht bei Frauen – der Genotyp
TNFB2/TNFB2 mit einer erhöhten Letalität der schweren Sepsis assoziiert ist.
Der Mann als Intensivpatient
Aufgrund der aktuellen experimentellen und klinischen Datenlage kann davon
ausgegangen werden, dass für Männer eine stärkere Gefährdung besteht, auf
infektiöse und nicht-infektiöse Stimuli mit einer schweren Sepsis zu reagieren.
Insbesondere die Arbeitsgruppe von Chaudry hat sich der Frage angenommen,
ob eine geschlechterspezifische Behandlung der Sepsis erforderlich und möglich
ist. Im Tiermodell konnten Kastration, Testosteronrezeptorantagonisten oder
Östrogenbehandlung die Organdysfunktionen bei hämorrhagischem Schock
bessern.
Literatur
Fowler RA et al. Sex- and age-based differences in the delivery and outcomes of
critical care CMAJ 2007;177:1513-1519
Müller-Werdan U Die Frau als Intensivpatientin als Intensivpatientin: Sepsis,
Beatmung, Sedierung. Intensivmed 2004;41:203-206
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Valentin A et al. Gender-related differences in intensive care: a multiple-center
cohort study of therapeutic interventions and outcome in critically ill
patients. Crit Care Med 2003 Jul;31(7):1901-1907.
Kontakt
Prof’in Dr. Ursula Müller-Werdan
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62
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE ASPEKTE
KARDIOVASKULÄRER ERKRANKUNGEN JENSEITS VON
ARTERIOSKLEROSE UND HERZINSUFFIZIENZ:
VITIEN UND RHYTHMUSSTÖRUNGEN
VON DR. MECHTHILD WESTHOFF-BLECK
Kongenitale Vitien
Durch verbesserte chirurgische und interventionelle Techniken erreichen immer
mehr Patientinnen und Patienten auch mit komplexen Vitien das
Erwachsenenalter. Dies führt zu der Frage, ob ähnlich wie bei der koronaren
Herzerkrankung unterschiedliche geschlechterspezifische Aspekte bestehen, die
im Kindesalter eine untergeordnete Rolle spielen, im Erwachsenenalter aber
evident werden.
Die Prognose bei kongenitalen Vitien hängt wesentlich von der Komplexität der
zugrunde liegenden Erkrankung ab. Die Inzidenz komplexer Vitien unter
Beteilung der großen Gefäße ist beim männlichen Geschlecht häufiger zu
finden, bei Frauen besteht eine erhöhte Inzidenz von Vitien, die die AVKlappenebene betreffen, Mitralklappenanomalien und Vorhofseptumdefekte.
Dieses legt die Vermutung nahe, dass auf den Gonosomen die kardivaskuläre
Entwicklung zumindest partiell kodiert ist. Hierfür sprechen die
kardiovaskulären Anomalien, die beim XO-Syndrom, dem Turner-Syndrom, zu
finden sind. Da beim männlichen Geschlecht ebenfalls nur ein X-Chromosom
vorhanden ist, erhöht dies die Auftretenswahrscheinlichkeit rezessiver xchromosomal abhängiger Vererbungsgänge.
Beim Turner-Syndrom bestehen als häufigste Gefäßanomalie Aortenanomalien
mit resultierenden Aortenaneurysmen, die ein hohes Dissektionsrisiko
aufweisen. Die unterschiedliche Inzidenz von Vitien legt die Vermutung nahe,
dass bei angeborenen Herzfehlern geschlechtsabhängig nicht nur
unterschiedliche Vitien sondern auch eine andere Prognose zu erwarten ist.
Daten aus dem nationalen Register für angeborene Herzfehler in den
Niederlanden belegen, dass Frauen eine signifikant schlechtere Prognose
bezüglich des Auftretens einer pulmonalarteriellen Hypertonie haben.
Ursächlich wird dies auf eine erhöhte Inzidenz von Vitien mit dem Risiko einer
resultierenden pulmonalen Hypertonie aber auch auf hormonelle Effekte
(vasokonstriktorische Spaltprodukte des Estradiols) und hämodynamische
Belastungen während der Schwangerschaft zurückgeführt. Junge Männer hatten
einen schlechteren aortalen outcome (definiert als Aneurysma, Dissektion und
63
Medizin und Geschlecht
Operation wegen einer aortalen Erkrankung) und häufiger eine Defibrillator
Implantation. Neben einer erhöhten Inzidenz von Vitien mit aortaler Beteiligung
spielt beim aortalen outcome wahrscheinlich auch die Tatsache eine Rolle, dass
Männer aufgrund der Körpergröße größere Aortendiameter aufweisen und somit
eher, sofern der Aortendiameter nicht auf die Körperoberfläche bezogen wird,
die Indikation zur Operation gestellt wird. Obwohl eine vergleichbare Inzidenz
von ventrikulären Tachykardien bei Männern und Frauen bestand, erfolgte bei
Männern häufiger die Implantation eines Defibrillators. Es ist wahrscheinlich,
dass bei der Indikationsstellung zur Implantation eines Defibrillators die
Tatsache, dass der plötzliche Herztod dreimal häufiger bei Männern als bei
Frauen auftritt, zu einer großzügigen Indikationsstellung zur Implantation bei
Männern geführt hat. Somit bestehen im Verlauf auch bei kongenitalen Vitien
neben unterschiedlichen anatomischen Aspekten, die die Prognose beeinflussen,
ebenfalls Unterschiede in der Behandlung.
Geschlechterspezifische Aspekte von Rhythmusstörungen
Bei Männern und Frauen bestehen unterschiedliche, hormonell abhängige
elektrophysiologische Gegebenheiten. Männer haben einen erhöhten
Sympathikotonus. Bei Frauen besteht vor der Menopause eine überwiegende
Parasympathikusaktivität. Während der Sympathikus direkt das gesamte
Erregungsleitungssystem und das Myokard innerviert, beeinflusst der
Parasympathikus lediglich das supraventrikuläre Erregungsleitungssystem. Dies
beeinflusst die Inzidenz von Rhythmusstörungen und plötzlichem Herztod.
Beim plötzlichen Herztod besteht bedingt durch den erhöhten Sympathikotonus
bei Männern häufiger ein Kammerflimmern und eine Assoziation mit
physischen Belastungen. Bei Frauen tritt häufiger eine Asystolie auf, ferner
besteht eine Assoziation des plötzlichen Herztodes mit psychischen
Belastungen. Insgesamt haben Männer eine dreifach höhere Wahrscheinlichkeit
an einem plötzlichen Herztod zu versterben. Die erhöhte Inzidenz bei Männern
beruht in erster Linie auf der in früherem Lebensalter auftretenden koronaren
Herzerkrankung, die in 80 % bei Männern und in nur 45 % bei Frauen die
zugrunde liegende kardiale Erkrankung darstellt. Hingegen haben Männer eine
höhere Wahrscheinlichkeit einen plötzlichen Herztod zu überleben, da Männer
häufiger Kammerflimmern (durch eine Defibrillation gut behandelbar) und eine
bekannte Herzerkrankung haben. Frauen sind in der Regel älter, haben häufiger
eine Asystolie und erleiden häufiger unbeobachtet einen plötzlichen Herztod.
Das Risiko eines Medikamenten induzierten langen QT-Syndroms mit
resultierenden Torsade de pointes Tachykardien (Antidepressiva, Neuroleptika,
Antibiotika, Antihistaminika etc.) ist bei Frauen höher als bei Männern, da zum
einen pharmakokinetische Unterschiede aber auch eine hormonabhängige
Beeinflussung von die Depolarisation beeinflussenden Kaliumkanälen bestehen.
64
Medizin und Geschlecht
Vorhofflimmern gehört zu den häufigsten Therapie bedürftigen
Rhythmusstörungen. Männer weisen eine höhere Inzidenz auf. Als zugrunde
liegende Erkrankung besteht am häufigsten eine koronare Herzerkrankung. Mit
zunehmendem Alter ist eine erhöhte Inzidenz bei Frauen zu beobachten, wobei
als ursächliche Erkrankung am häufigsten eine Hypertonie und eine
Hyperthyreose vorliegen. Frauen sind in der Regel symptomatischer und haben
eine höhere Rezidivneigung nach Kardioversionen. Dabei spielen unter anderem
die unterschiedlichen strukturellen Herzerkrankungen mit diastolischer
Dysfunktion aber auch der postmenopausal fehlende protektive Östrogeneffekt
mit unter anderem bestehendem höheren Sympathikotonus eine Rolle. Männer
und Frauen profitieren gleichermaßen von einer Antikoagulation zur Prävention
thrombembolischer Komplikationen, allerdings haben Frauen eine erhöhte
Blutungsneigung, was eine sorgfältige Kontrolle der Antikoagulation erfordert.
Insgesamt bestehen grundlegende rhythmologische geschlechterspezifische
Unterschiede, die im klinischen Alltag relevant sind.
Literatur
Fang MC et al. Gender difference in the risk of ischemic stroke and peripheral
embolism in atrial fibrillation. Circulation 2005 Sep 20;112(12):1687-91
Hara M et al. Effects of gonadal steroids on ventricular repolarization and on the
response to E4031. J. Pharmacol. Exp. Ther. 1998;285:1068-72
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evidence and remaining gaps. Gender Medicine 2008 Jun;5(2):124-35
Kim C et al. Out-of-hospital cardiac arrest in men and women. Circulation 2001
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Verheugt CL et al. Gender and outcome in adult congenital heart disease.
Circulation. 2008 Jul 1;118(1):26-32
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Medizin und Geschlecht
DIE PERIPARTALE KARDIOMYOPATHIE
VON PROFESSORIN DR. DENISE HILFIKER-KLEINER
Die peripartale Kardiomyopathie (PPCM) ist eine schwere Erkrankung unklarer
Genese. Die Inzidenz wird in Europa auf 1:2300 bis 1:4000 Schwangerschaften
geschätzt. Die PPCM entspricht in ihrem klinischen Erscheinungsbild einer
dilatativen Kardiomyopathie (DCM), unterscheidet sich aber von anderen DCMFormen in Bezug auf ihre Assoziation mit einer Schwangerschaft, ihre schnelle
Progression (bei vielen diagnostizierten Fällen liegt eine schwere
Herzinsuffizienz bis hin zur Indikation für eine Herztransplantation vor) und
einer möglichen Heilung.
Epidemiologie
Bis anhin gibt es kein definiertes Risikoprofil für eine PPCM. Diskutierte
Risikofaktoren für PPCM sind Präeklampsie, Bluthochdruck, die Einnahme
tokolytischer Medikamente, Rauchen, Kaiserschnitt, Substanzmissbrauch,
Zwillingsschwangerschaften,
Teenagerschwangerschaften
und
Schwangerschaften bei älteren Frauen. Trotz dieser bekannten Risikofaktoren
sind ein Viertel bis ein Drittel aller PPCM-Patientinnen junge, offensichtlich
gesunde, erstgebärende Frauen. Der genetische Hintergrund scheint mit eine
Rolle zu spielen, da es z.B. unter der schwarzen Bevölkerung Haitis (1:299) und
Afrikas (1:100 bis 1:1000) eine sehr hohe Inzidenz für PPCM gibt. Zu beachten
ist, dass das Risiko und die Schwere einer PPCM bei einer erneuten
Schwangerschaft nach einer PPCM sehr viel höher ist; eine besondere
Gefährdung liegt vor, wenn die Patientin zuvor keine Normalisierung der
Pumpfunktion erreicht hatte. Es ist deshalb besonders wichtig, dass PPCMPatientinnen diagnostiziert werden. Eine kleine Pilotstudie in Südafrika mit
Patientinnen in einer Folgeschwangerschaft nach einer PPCM sowie wenige
Heilversuche in Deutschland zeigten, dass eine Therapie mit Bromocriptin
zusammen mit adäquater Herzinsuffizienztherapie unmittelbar nach der
Niederkunft einen Rückfall verhindern könnte. Die Anzahl der beschriebenen
Fälle ist aber zu klein, um hier auf ein effizientes Therapiekonzept schließen zu
können, deshalb gilt nach wie vor, dass PPCM-Patientinnen von einer weiteren
Schwangerschaft abgeraten werden sollte.
Diagnose und Therapie der PPCM
Die klinischen Beschwerden der betroffenen Frauen sind sehr unterschiedlich
und ähneln häufig normalen physiologischen Adaptationsvorgängen während
der Schwangerschaft und Geburt oder Infektionskrankheiten. Dazu kommt, dass
bei jungen Frauen ohne bekannte kardiovaskuläre Vorerkrankung nicht primär
66
Medizin und Geschlecht
an ein kardiologisches Problem gedacht wird, insbesondere, da das EKG auch
bei schwerer PPCM normal erscheinen kann. Dies führt dazu, dass, obwohl die
Diagnosekriterien klar definiert sind, eine PPCM häufig erst spät diagnostiziert
wird. Zur sicheren Diagnose muss eine Echokardiographie oder/und eine
Magnetresonanztomographie herangezogen werden.
Die Klinik der PPCM entspricht einer DCM. Somit besteht die Indikation für
eine Herzinsuffizienztherapie nach den Leitlinien der deutschen Gesellschaft für
Kardiologie mit ACE-Hemmern, Diuretika, Aldosteron-Antagonisten und,
soweit die Patientinnen hämodynamisch stabil sind, mit β-Blockern. Die
Prognose zeigt bei 9-23 % der Patientinnen terminale Herzinsuffizienz,
Stabilisierung und Verbesserung bei 50 %, komplette Erholung nur bei ca. 30 %
der Fälle. Diese Zahlen sind bei allen internationalen prospektiven Studien
vergleichbar und reflektieren auch die Befunde des deutschen PPCM-Registers
(Hilfiker-Kleiner D, unveröffentlicht).
Neue Forschungsergebnisse eröffnen jetzt einen spezifischeren Therapieansatz.
Experimentelle und erste klinische Studien haben einen pathophysiologischen
Zusammenhang zwischen der PPCM, erhöhtem peripartalem oxidativem Stress
und einer proteolytischen Spaltung des Stillhormons Prolaktin in ein
angiostatisches Subfragment aufzeigt. In einer kleinen Pilotstudie und einer
Anzahl Heilversuche hat sich gezeigt, dass eine systemische Prolaktinblockade
mit Bromocriptine, einem häufig zum Abstillen eingesetzten Dopamin Rezeptor
Antagonisten, der Entstehung und der Progression der PPCM entgegen wirken
könnte. Die Wirkung von Bromocriptin in der akuten PPCM wird gegenwärtig
in zwei laufenden randomisierten Studien in Deutschland und Südafrika getestet.
Schlussfolgerung
Die PPCM ist eine seltene, aber potenziell lebensgefährliche Erkrankung, die
durch das Auftreten unspezifischer Zeichen der Herzinsuffizienz in Assoziation
mit einer Geburt charakterisiert ist. Bei früher Diagnosestellung und
entsprechender Behandlung mit der Standardtherapie der Herzinsuffizienz ist die
Prognose der Patientinnen deutlich besser. Neuere Erkenntnisse zeigen, dass
gespaltenes Prolaktin ein wichtiger Faktor der Pathophysiologie der PPCM ist.
Da mit Beginn der klassischen Herzinsuffizienztherapie mit ACE-Hemmern auf
das Stillen verzichtet werden sollte, ist die Prolaktinblockade mit Bromocriptin
nicht nur für unkompliziertes Abstillen zu erwägen, vielmehr sprechen erste
Beobachtungen dafür, dass eine prolongierte Therapie mit Bromocriptin sich
günstig auf den klinischen Verlauf auswirkt. Zu beachten ist, dass bei
Bromocriptin Gabe eine Kombination mit niedrig dosiertem Heparin angezeigt
ist.
67
Medizin und Geschlecht
Literatur
Habedank D et al. Recovery from peripartum cardiomyopathy after treatment
with bromocriptine. Eur J Heart Fail. 2008 Nov;10(11):1149-51
Hilfiker-Kleiner D et al. A Cathepsin D-Cleaved 16 kDa Form of Prolactin
Mediates Postpartum Cardiomyopathy. Cell 2007;128:589-600
Hilfiker-Kleiner D et al. Die postpartale Kardiomyopathie. Deutsches Ärzteblatt
2008;105:751-56
Hilfiker-Kleiner D et al. Peripartum cardiomyopathy: recent insights in its
pathophysiology. Trends Cardiovasc Med 2008;18:173-79
Hilfiker-Kleiner D et al. Recovery from postpartum cardiomyopathy in 2
patients by blocking prolactin release with bromocriptine. J Am Coll Cardiol
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Pearson GD et al. Peripartum cardiomyopathy: National Heart, Lung, and Blood
Institute and Office of Rare Diseases (National Institutes of Health)
workshop recommendations and review. Jama 2000;283:1183-88
Sliwa K et al. Peripartum cardiomyopathy. Lancet 2006;368:687-93
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Medizin und Geschlecht
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Medizin und Geschlecht
HUMANGENETIK
13. MÄRZ 2009
70
Medizin und Geschlecht
71
Medizin und Geschlecht
VÄTERLICH UND MÜTTERLICH GEPRÄGTE GENE
VON DR. BRIGITTE PABST
Aus genetischer Sicht ist der offensichtlichste Unterschied zwischen Männern
und Frauen die Chromosomenkonstitution. Der diploide Chromosomensatz
eines Menschen besteht aus 46 Chromosomen, davon zählen 22
Chromosomenpaare zu den Autosomen (Nicht-Geschlechtschromosomen) und 1
Chromosomenpaar zu den Gonosomen (Geschlechtschromosomen). Frauen
tragen zwei X-Chromosomen und Männer ein X- und ein Y-Chromosom als
Gonosomen. Der Karyotyp lautet entsprechend 46,XX bzw. 46,XY. Das
väterliche und das mütterliche Genom unterscheiden sich allerdings nicht nur
durch die Gonosomenkonstitution. So entwickelt sich eine parthenogenetisch
aktivierte Eizelle zu einem Ovarialteratom, das unorganisiert Gewebsstrukturen
aller drei Keimblätter enthalten kann, aber keine extraembryonalen
Trophoblastzellen. Im Gegensatz dazu ist die Blasenmole das Resultat einer
befruchteten Eizelle mit einem rein diploiden männlichen Chromosomensatz.
Der weibliche Chromosomensatz ist verloren gegangen. Hier finden sich nur
molig aufgetriebene Trophoblastzellen ohne embryonale Strukturen. Auch
Triploidien, dies sind Chromosomenstörungen mit einem dreifachen
Chromosomensatz (meist 69,XXX), unterscheiden sich im klinischen
Erscheinungsbild in Abhängigkeit von der Herkunft des überzähligen haploiden
Chromosomensatzes. Die diandrische Triploidie ist charakterisiert durch eine
große, zystische Plazenta und einen mikrozephalen Feten. Bei digynischen
Triploidien hingegen weist der Fetus eine Entwicklungsretardierung und
Makrozephalie auf. – Diese Beobachtungen und tierexperimentelle
Untersuchungen belegen, dass das väterliche und das mütterliche Genom sich
funktionell unterscheiden und für eine regelrechte Embryonalentwicklung das
Genom beider Eltern nötig ist (McGrath J 1984 und Surani MA et al. 1984).
Gründe für die funktionellen Unterschiede finden sich in Genen, deren
Expression abhängig ist von der elterlichen Herkunft. Diesen Mechanismus der
Genregulation nennt man elterliche Prägung bzw. genomisches Imprinting. Die
genomische Prägung bewirkt, dass nur eine Genkopie (monoallelisch)
exprimiert wird und die andere durch Methylierung inaktiviert ist. Es wird heute
angenommen, dass etwa 100 der ca. 25.000 menschlichen Gene in Clustern
angeordnet eine elterliche Prägung zeigen. Im Verlauf der Entwicklung der
Keimzellen (Gameten) erhalten die betroffenen Chromosomenregionen ihre
geschlechterspezifische Prägung. In der Samenzelle die väterliche und in der
Eizelle die mütterliche. Die befruchtete Eizelle (Zygote) trägt von jedem
Chromosomenpaar eine väterliche und eine mütterliche Kopie. Die Prägung
72
Medizin und Geschlecht
wird an alle somatischen Zellen weitergegeben. In den primordialen Keimzellen
werden die elternspezifischen Prägungen gelöscht, und in den sich
entwickelnden Keimzellen kommt es dann zur Umschaltung der Prägung in
Abhängigkeit des Geschlechts des Feten auf rein paternal bzw. rein maternal.
Der zeitliche Ablauf der Prägung ist geschlechts- und genspezifisch (Bourc'his
D et al. 2001, Haaf T 2001, Sasaki H et al. 2008).
Das genomische Imprinting hat sich möglicherweise zusammen mit der Plazenta
entwickelt. Bei Metatheria und Eutheria wachsen die Nachkommen auf Kosten
der Mutter heran. Bei Protheria zum Beispiel befinden sich alle notwendigen
Ressourcen im Dotter des Eies (Hore TA et al. 2007). Der Nährstofftransfer
zwischen Fetus und Mutter wird auch durch einige geprägte Gene gesteuert,
wobei die paternal exprimierten Gene eher wachstumsfördernd und die maternal
exprimierten Gene wachstumshemmend wirken. Darauf gründet sich die
Hypothese des Geschlechterkonflikts, die davon ausgeht, dass der Mann daran
interessiert ist, dass seine Nachkommen und damit seine Gene eine optimale
Versorgung in utero erhalten. Die Frau allerdings muss auf ihr eigenes
Überleben achten, um auch in weiteren Schwangerschaften den Nachkommen
Ressourcen zur Verfügung stellen zu können (Moore T 1991).
Abgesehen von den parental spezifischen Methylierungsmustern (s. o.) kommt
es in der Zygote zu umfangreichen De- und Remethylierungsprozessen, um die
Totipotenz der embryonalen Zellen zu erreichen. Hierbei erfolgt die aktive
Demethylierung des paternalen Genoms unter maternaler Kontrolle. Das
maternale Genom wird passiv im Verlauf der frühen Zellteilungen demethyliert
(Haaf T 2001).
Fehler im Imprintingmuster zeigen sich bei bekannten Syndromen, wie z.B.
Angelman Syndrom, Prader-Willi Syndrom, Beckwith-Wiedemann Syndrom,
Silver-Russell Syndrom und Transientem Neonatalem Diabetes mellitus.
Mechanismen, die zu einer gestörten Prägung und damit zum Verlust der
einzigen aktiven Genkopie führen können, sind z.B. Mikrodeletionen des nicht
geprägten Allels. Mikrodeletionen stellen die häufigste Ursache für ein PraderWilli oder Angelmann Syndrom dar. Störungen der Etablierung bzw.
Weitergabe des Imprintings findet man unter anderem bei dem BeckwithWiedemann Syndrom, das zu den Großwuchs Syndromen zählt und bei dem
Silver-Russell Syndrom, das durch einen ausgeprägten prä- und postnatalen
Kleinwuchs charakterisiert ist (Horsthemke et al. 2008, Eggermann T et al.
2008). Des Weiteren können maternale bzw. paternale uniparentale Disomien
(UPD) mit klinischen Auffälligkeiten einhergehen. Der Transiente Neonatale
Diabetes Mellitus ist bedingt durch eine paternale UPD 6 (Mackay DJ et al.
2005). Unter einer UPD versteht man das Vorkommen zweier mütterlicher bzw.
73
Medizin und Geschlecht
väterlicher Kopien eines Chromosoms. Aufgrund des mit steigendem
mütterlichen Alter assoziierten erhöhten Fehlverteilungsrisikos in Eizellen
erhöht sich das Risiko für maternale UPDs (Engel E 1980, Kotzot D 2008).
Schätzungsweise sind 10-15 % aller Paare ungewollt kinderlos. Mit Einführung
der assistierten Reproduktionstechniken (ART), der in vitro Fertilisation (IVF)
und der intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI), stehen Paaren zwei
Methoden zur Behandlung der Sub- bzw. Infertilität zur Verfügung. In den
letzten Jahren wurden Fallbeschreibungen über Patientinnen und Patienten mit
Angelman Syndrom bzw. Beckwith-Wiedemann Syndrom publiziert, die durch
ART gezeugt wurden und Imprintingfehler aufweisen (Cox GF et al. 2002,
Halliday J et al. 2004). Nach derzeitigem Kenntnisstand geht man davon aus,
dass mehrere Faktoren Einfluss auf ein fehlerhaftes Imprinting nehmen könnten.
Neben den mit der Methode der künstlichen Befruchtung verbundenen Faktoren,
wie Hormonstimulation der Frau, Zellkultivierung der Gameten und der Zygote
und Manipulation der Gameten, scheint auch die Infertilität bzw. Subfertilität
per se einen Risikofaktor darzustellen. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten
eines Angelmann Syndroms bzw. Beckwith-Wiedemann Syndroms nach ART
bleibt nach heutigem Kenntnisstand dennoch gering (<1 %). Weitere
Untersuchungen werden in Zukunft zeigen, inwieweit Störungen der Fertilität
assoziiert sind mit Veränderungen des Imprintingmusters (Ludwig M et al.
2005, Bertelsmann H et al. 2008, Manipalviratn S et al. 2009).
Literatur
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Links
Informationen zu den genannten Erkrankungen finden sich unter:
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/sites/entrez?db=OMIM
http://www.orpha.net/consor/cgi-bin/index.php
Kontakt
Dr. Brigitte Pabst
Institut für Humangenetik
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 85 50
E-Mail: [email protected]
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Medizin und Geschlecht
ERBLICHER BRUSTKREBS –
AUCH MÄNNER HABEN ES IN SICH
VON DR. DOROTHEA GADZICKI
Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Etwa eine von zehn
Frauen erkrankt irgendwann in ihrem Leben an Brustkrebs. Diese Erkrankung
kann zufällig, das heißt, sporadisch auftreten, ist aber in wenigen Fällen auch
erblich bedingt. Man geht heute davon aus, dass etwa 5 bis 10 % aller
Brustkrebserkrankungen erblich bedingt sind. Daneben sind auch etwa 10 % der
Eierstockkrebserkrankungen genetisch bedingt. Dies bedeutet nicht, dass man
die Krebserkrankung selbst erbt, sondern lediglich eine Veranlagung hierfür; das
heißt man erbt Erbinformationen, die mit einem im Vergleich zur
Normalbevölkerung erhöhten Erkrankungsrisiko für Brust- und/oder
Eierstockkrebs einhergehen.
Bislang sind zwei Gene bekannt, die für die Entstehung von erblichem Brustund/oder Eierstockkrebs verantwortlich sind: BRCA1 und BRCA2. Falls eine
Frau eine Veränderung (Mutation) im BRCA1- oder BRCA2-Gen geerbt hat, hat
sie nach jetzigem Wissen ein Risiko von bis zu 85 % irgendwann im Laufe ihres
Leben an Brustkrebs zu erkranken. Dies bedeutet, dass nicht wie in der übrigen
Bevölkerung von 100 Frauen bis zu 10 Frauen, sondern von 100 Frauen mit
einer BRCA1- oder BRCA2-Mutation bis zu 85 Frauen im Laufe ihres Lebens an
Brustkrebs erkranken. Im Gegensatz zu dem Bevölkerungsrisiko von 1 bis 2 %
an Eierstockkrebs zu erkranken, ist das Risiko für Eierstockkrebs bei
Trägerinnen einer BRCA-Mutation deutlich erhöht. Bei BRCA1-Mutationen wird
es mit bis zu 60 % und bei BRCA2-Mutationsträgerinnen mit bis zu 40 %
angegeben. Zudem ist zu beachten, dass auch bereits an Brust- und/oder
Eierstockkrebs erkrankte Trägerinnen von Genmutationen in BRCA1 oder
BRCA2, ein erhöhtes Risiko haben, eine zweite Krebserkrankung zu bekommen.
Neben den aktuell bekannten, mit erblichem Brust- und Eierstockkrebs
assoziierten Genen kann in etwa 50 % der offenbar erblichen Fälle kein
verantwortliches Gen identifiziert werden. Möglicherweise handelt es sich
hierbei um Veränderungen in bislang nicht bekannten Genen oder um komplexe
Mechanismen, an denen andere Gene beteiligt sind.
In Familien mit der erblichen Form des Brust- oder Eierstockkrebses treten
gehäuft auch andere so genannte assoziierte Tumoren auf. Das Risiko für
Magen- und Darmkrebs, Gallenwegs- und Bauchspeicheldrüsenkrebs sowie
76
Medizin und Geschlecht
Hautkrebs scheint im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung etwas erhöht zu
sein. Für Frauen besteht darüber hinaus ein leicht erhöhtes Risiko für
Gebärmutter- und Gebärmutterhalskrebs. Männer haben zudem ein erhöhtes
Erkrankungsrisiko für früh auftretenden Prostatakrebs und können ebenfalls an
Brustkrebs erkranken. Das Risiko für Männer, die eine BRCA2-Mutation tragen,
im Laufe des Lebens an Brustkrebs zu erkranken, ist vergleichbar mit dem
Brustkrebserkrankungsrisiko von Frauen aus der Normalbevölkerung: etwa 10
%. Männer mit einer BRCA1-Mutation erkranken im Vergleich seltener.
Weibliche und männliche Träger einer Mutation, egal ob sie selbst erkrankt sind
oder nicht, können die Mutation an ihre Nachkommen weitergeben. Träger einer
Mutation haben jeweils eine veränderte und eine normale Erbanlage. Sie geben
nach dem Zufallsprinzip entweder die veränderte oder die normale Erbanlage an
ihre Kinder weiter. Somit hat jedes Kind jeweils ein Risiko von 50 %, die
veränderte Anlage zu erben. Die Mutation kann somit sowohl von der Mutter als
auch vom Vater ererbt werden.
Es ist davon auszugehen, dass zukünftig zielgerichtete Therapien zur
Behandlung BRCA-assoziierter Tumoren verfügbar sein werden. Erste klinische
Studien hierzu, z.B. mit PARP-Inhibitoren laufen derzeit. Daher ist es
zunehmend wichtiger, bereits zum Zeitpunkt der Brustkrebs-Diagnosestellung
den BRCA-Mutationsstatus zu kennen. Bei auffälliger Familiengeschichte
hinsichtlich Brust- und Eierstockkrebs wird Frauen eine molekulargenetische
Analyse der Gene BRCA1 und BRCA2 angeboten. Es wird angenommen, dass
50 % der aufgrund einer BRCA-Mutation erkrankten Frauen mit diesem
Vorgehen nicht als Mutationsträgerinnen identifiziert werden. Der Grund hierfür
sind scheinbar unauffällige Stammbäume aufgrund kleiner Familien oder
aufgrund der Vererbung über die väterliche Linie.
Es bleibt daher die Herausforderung der Zukunft, a) Männer aus Familien mit
erblichen Brustkrebs über ihr eigenes Erkrankungsrisiko zu informieren und b)
auf scheinbar unauffällige Stammbäume von Familien, in welchen die
Erkrankung über die väterliche Linie vererbt wird, zu achten.
Literatur
Bryant H et al. Specific killing of BRCA2-deficient tumours with inhibitors of
poly(ADP-ribose) polymerase. Nature 2005;434:913-17
Farmer H et al. Targeting the DNA repair defect in BRCA mutant cells as a
therapeutic strategy. Nature 2005;434:917-21
Foulkes WD. Inherited susceptibility to common cancers. N Engl J Med
2008;359:2143-53
77
Medizin und Geschlecht
King MC et al. Breast and ovarian cancer risks due to inherited mutations in
BRCA1 and BRCA2. Science 2003;302:643-46
Liede A et al. Cancer risk for male carriers of germline mutations in BRCA1 or
BRCA2: a review of the literature. J Clin Oncol 2004;22:735-42
Narod SA et al. BRCA1 and BRCA2: 1994 and beyond. Nature Rev Cancer
2004;4:665-76
Tai YC et al. Breast cancer risk among male BRCA1 and BRCA2 mutation
carriers. J Natl Cancer Inst 2007;99:1811-14
Venkitaraman AR. A growing network of cancer-susceptibility genes. N Engl J
Med 2003;348:1917-19
Kontakt
Dr. Dorothea Gadzicki
Institut für Zell- und Molekularpathologie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 94 32
E-Mail: [email protected]
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Medizin und Geschlecht
79
Medizin und Geschlecht
NEUROLOGIE
24. APRIL 2009
80
Medizin und Geschlecht
81
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHT IM HIRNBILD –
K(L)EINE UNTERSCHIEDE
VON PROFESSORIN DR. BRITTA SCHINZEL
Während im Kontext der Krankenversorgung, also etwa der Klinik und der
Pharmakologie die bisher meist zugunsten männlicher Probanden und Kranken
vernachlässigte Unterscheidung nach Geschlecht ein wichtiges Desiderat ist,
stellt sich die Frage nach der Geschlechterdifferenz für Fragen des Verhaltens,
der Intelligenz oder der Emotionen deutlich anders dar. Hier sind die Einflüsse
der Sozialisation und der individuellen Erfahrungen, auch auf die physischen
Erscheinungsformen im Gehirn, erheblich größer, weshalb eine feste Zuordnung
von Geist oder Gefühlen nach Geschlecht äußerst problematisch wird.
Tatsächlich sollten Sozialisationsdaten für klinische und pharmakologische
Forschung ebenfalls viel mehr Berücksichtigung finden als diese in der Regel in
den medizinischen Standardfragebögen erhoben werden, denn ihr Körper lässt
sich nicht so sauber von den soziokulturellen Einflüssen auf eine Person trennen.
In der naturwissenschaftlichen medizinischen Forschung geht die Richtung von
Forschung und Interpretationen der Ergebnisse vom Körper zum Geist, vom
Gen zum Verhalten. Die geschlechterspezifischen Untersuchungen in Medizin,
Naturwissenschaften (und Technik) hingegen integriert auch geistes- und
sozialwissenschaftliche Ansätze in ihre Forschungen, und sie verhilft so auch
der anderen Richtung mit zu ihrem Recht. Dies entspringt der Beobachtung,
dass auch „objektive“ naturwissenschaftliche Forschung kontingente Ziele
verfolgt
und
in
sie
kontingente
epistemologische
Annahmen,
Forschungsprozesse und Interpretationen der Ergebnisse einfließen, die
aktuellen Epistemen und Schulen folgen und den Forschenden oft nicht bewusst
sind. Insbesondere versuchen sie auch Annahmen über dichotome Geschlechter
und Geschlechterdifferenzen zu „dekonstruieren“, u. a. um Hierarchien
zwischen den Geschlechtern zu vermeiden. Dies geschieht, indem
beispielsweise historische, philosophische oder soziokulturelle Kategorien in die
Forschung mit einbezogen werden und indem die Konstruktionsprozesse
wissenschaftlicher Ergebnisse, auch der ihnen verhelfenden technischen Geräte,
genauer beobachtet werden. Hier hat das – heute technisch konstruierte – Bild
als Wissen vermittelndes Medium gerade auch in der Medizin eine große
Bedeutung. Die Bereitstellung von suggestiven Bildern und „Visiotypen“ wie
Histogrammen, Diagrammen, Grafiken und Bildern erlaubt eine raschere
Detektion und erzeugt Evidenz mit einem Blick („ein Bild sagt mehr als tausend
Worte“). Sie hat auch eine epistemische Wende in der Diagnose von der
82
Medizin und Geschlecht
Labormedizin zur Bild-Medizin nach sich gezogen, die nicht nur
wissenstheoretisch relevant ist, sondern auch ganz reale Auswirkungen auf die
medizinische Praxis und die Patientenversorgung hat.
Von besonderer Bedeutung sind seit Erfindung der Röntgenfotografie die Bilder
des Körperinneren, denen sich gerade in jüngster Zeit eine Reihe von komplexen
Verfahren hinzugesellt hat, von Sonografie über CT (Computertomographie) zu
MRT (Magnetresonanztomographie) und für die funktionelle Bildgebung des
Gehirns MEG (Magnetoencephalographie) und EEG, PET (positron emission
tomography) und SPECT (single photon emission CT), TMS (transcranial
magnetic stimulation), MRS (MRI Spektroskopie), NIRS (near infrared
spectroscopy) und fMRT (functional magnetic resonance imaging).
Diese Bilder sind jedoch nicht bloße Abbilder des – dieses ist und bleibt
unsichtbar, sondern durch komplizierte Visualisierungsmethoden konstruierte
Artefakte. Visuelle Evidenz wird absichtsvoll erzeugt, indem an die menschliche
Kognition und unsere kulturellen Seherfahrungen angeschlossen wird. Bildliche
Darstellungen können dann bestimmte wissenschaftliche Theorien herausstellen,
andere können nur schlecht ins Bild gesetzt werden. Besonders problematisch
werden die Verbildlichungen, wenn situativ bedingte Ergebnisse als objektiv
und unverrückbar erscheinen und so als Normen missverstanden werden, die
den „gesunden Standardkörper“ oder auch die Abweichung oder Krankheit
darstellen. Insonderheit befassen sich die geschlechterspezifischen
Untersuchungen mit Darstellungen, die den Mann als Norm und die Frau als
Abweichung von der Norm zeigen, aber auch mit solchen, die
Geschlechterdifferenzen herausstellen und so Vorstellungen von „natürlichen“
Kompetenzunterschieden begünstigen.
Gerade mit durch BOLD fMRT gewonnenen Hirnbildern werden wir
inzwischen mit Aktivierungsbildern des Gehirns überflutet, und es gibt neben
den Kognitionswissenschaften kaum einen Wissenschaftszweig, der sich nicht
dem Präfix Neuro- schmückt, um mit solchen Bildern Argumente zu führen.
Neuropädagogik, Neuroökonomie, Neurotheologie, Neuroforensik sind nur
einige solcher Neubildungen. Dabei werden auch oft Geschlechtsunterschiede
ins Bild gesetzt, wobei jene Untersuchungen, die keine signifikanten
Unterschiede zeitigen, erheblich geringere Veröffentlichungschancen haben als
solche, die diese feststellen. Es gibt einen publication bias mit Bezug auf die
Detektion von Unterschieden ganz allgemein – sie werden für interessanter
gehalten ohne Rücksicht darauf, dass für Nichtpublikation die
Wiederholungsgefahr derselben Untersuchungen besteht – aber nochmals
verstärkt in Bezug auf Geschlechtsunterschiede.
83
Medizin und Geschlecht
Insbesondere sind auch in populären Medien Untersuchungen über
Geschlechtsunterschiede für Sprachkompetenz und Raumkognition bekannt
geworden, wobei Frauen bessere Sprachfähigkeiten und Männern bessere
Raumorientierung zugesprochen wurden. Tatsächlich sind auch in den dazu
immer wieder zitierten psychologischen Arbeiten die Gesamteffekte sehr gering,
die Unterschiede sind in der 30-40jährigen Geschichte solcher Findungen immer
kleiner geworden und bezüglich der Sprachkompetenzen ganz verschwunden.
Ziel der neurowissenschaftlichen Analyse war es mithin, anatomische und
funktionelle Grundlagen im Gehirn zu finden, die zur Erklärung von
Sprachleistungen und als Ursache von Geschlechterunterschieden dienen sollten.
Das derzeitige Paradigma zur Sprache ist die Lateralitätshypothese, welche
anatomisch eine strukturelle kortikale Asymmetrie feststellt, d.h. die beiden
Hirnhälften und Kortexareale können unterschiedlich groß sein. Andererseits
zeigt sich eine funktionale Lateralität, d.h. die Verarbeitung ist unterschiedlich
auf die Hirnhälften aufgeteilt. Folgende Geschlechtsunterschiede werden
bezüglich der Lateralität behauptet: bei Mädchen und Frauen sei die Aktivierung
im Gehirn gleichmäßiger auf beide Hirnhälften verteilt (Bilateralität), während
bei Jungen und Männern die Aktivierung im Gehirn stärker auf die Hirnhälften
aufgetrennt erscheine (Lateralität). Gestützt werde die geschlechtsdifferente
Lateralitätshypothese durch anatomische Unterschiede, die sich vor allem in
dem größeren Corpus Callosum von Frauen zeige. Doch haben sich diese Daten
als wenig signifikant herausgestellt. Neuere Paradigmen, insbesondere zur
Plastizität des Gehirns, konnten diese Unterschiedsbehauptungen auch als nicht
essentiell relativieren, etwa indem die Händigkeit bei der Ausformung der
Verbindungswege zwischen den Gehirnhälften (des Corpus Callosum) eine
starke Rolle spielt.
Zur Stützung der Differenzannahme jedoch wird vor allem in den populären
Medien eine Arbeit mittels Hirnaktivierungsbildern von Shaywitz et al. 1995
herangezogen, welche eine fragwürdige Selektion ihrer Findungen für die
sprachliche Reimerkennung vornimmt. Bei 19 männlichen Probanden wurde
eine stärkere linksseitige Aktivierung im vorderen Hirnlappen vorgefunden, bei
11 von 19 Probandinnen eine ausgeprägte beidseitige Aktivierung, bei 8 von
ihnen jedoch nicht. Es wurde aber kein Unterschied in Kompetenz in der
gleichen Studie vorgefunden! Trotzdem ziehen Shaywitz et al. 1995 diesen
sowohl hinsichtlich der Geschlechterdifferenz als auch der Sprachkompetenzen
stark verallgemeinernden Schluss. Hinfort wird diese Studie falsch zitiert,
nämlich als Beleg für Beidseitigkeit bei Frauen.
84
Medizin und Geschlecht
Eine spätere fMRT-Studie von Julie Frost et al. 1999 stellte keine signifikanten
Geschlechtsunterschiede fest. Sie wird aber außerhalb der Genderforschung
kaum zitiert.
Dabei wurden 50 Männer und 50 Frauen für die semantische Erkennung von
Wortkategorien untersucht. Männer und Frauen zeigten sehr ähnliche, stark
linksseitige Aktivierungsmuster, jedoch keine signifikanten Unterschiede
bezüglich Asymmetrie in keiner der untersuchten Hirnregionen. Um die
statistische (In-)Signifikanz zu untermauern, wählten sie überdies zwei zufällig
ausgewählte Gruppen von je 50 Personen (die oberen beiden Zeilen) aus und
verglichen die Hirnbilder. Die Unterschiede entsprechen denen zwischen
Männern und Frauen und sind wieder insignifikant. Sie ziehen den Schluss:
„These data argue against substantive differences between men and women in
the large-scale neural organization of language processes.“ und “…differences
are likely to be small in comparison with the degree of similarity…”
Schließlich verglich jüngst Annelis Kaiser zusammen mit der Basler
Neuroanatomin Cordula Nitsch die fMRT-Bilder von 50 Probandinnen und
Probanden bezüglich ausgewählter Sprachkompetenzen, und sie visualisierten
die Aktivierung unter drei verschiedenen medizinisch anerkannten
Schwellwerten. Beim größten Schwellwert wurde bei beiden Geschlechtern
linksseitige Aktivierung im Broca-Zentrum gefunden, beim mittleren zeigten die
Brocazentren der Männer bilaterale Aktivierung, aber nicht die der Frauen, beim
schwächsten zeigte sich bei Frauen eine rechtsseitige Aktivierung, bei Männern
eine linksseitige.
All diese widersprüchlichen Befundlagen zeigen, dass es wohl kaum essentielle
Geschlechtsunterschiede im Kontext der Sprachkompetenzen gibt, und
Ähnliches wäre auch für die Raumorientierung festzustellen. Vielmehr ist das
Gehirn so plastisch, dass die Variationen in Abhängigkeit von Erfahrungen,
Beruf, Alter, Kultur etc. nicht nur interindividuell enorm sind, sondern auch
intraindividuell. Hier weiß man nicht nur von Altersabhängigkeit, sondern auch
von solcher der Hormonexposition etc..
Literatur
Frost JA et al. Language processing is strongly left lateralized in both sexes.
Evidence from functional MRI. Brain. 1999 Feb;122 (Pt 2):199-208
Shaywitz BA et al. Sex differences in the functional organization of the brain for
language. Nature. 1995 Feb 16;373(6515):607-09
85
Medizin und Geschlecht
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Prof’in Dr. Britta Schinzel
Institut für Informatik und Gesellschaft
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Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE ASPEKTE
BEI NEURO-AIDS
VON PROFESSORIN DR. GABRIELE ARENDT
Einleitung
Die HIV-Infektion ist eine Pandemie; weltweit sind knapp über 50 % aller
Infizierten Frauen, in Deutschland ca. 22 %. Studien beschreiben, dass HIVpositive Frauen bei niedrigerer Plasmaviruslast und höheren CD4+-Zellzahlen
sterben als HIV-positive Männer, außerdem mehr unter den Nebenwirkungen
der hochaktiven, antiretroviralen Therapie (HAART) leiden. Es gibt also
geschlechterspezifische Unterschiede im Verlauf der systemischen HIVInfektion.
Methode
Es wurde in einer Auswertung prospektiv erhobener Daten der Düsseldorfer
Neuro-AIDS-Datenbank der Frage nachgegangen, ob es solche
geschlechterspezifischen
Unterschiede
auch
bei
neurologischen
Systemmanifestationen der HIV-Infektion gibt. Es wurden die HIV-assoziierte
Demenz und ihre Vorstufen, die asymptomatische, HIV-assoziierte,
neurokognitive Einschränkung und das milde, HIV-assoziierte, neurokognitive
Defizit, denen genaue Definitionen zugrunde liegen, fokussiert und die Daten
von 1693 Männern und 253 Frauen ausgewertet, die sich auf die üblichen
Hauptbetroffenengruppen, homo- und bisexuelle Männer, heterosexuelle
Männer und Frauen, intravenöse Drogen gebrauchende Menschen und
Migrantinnen und Migranten verteilten.
Ergebnisse
Frauen sind bei der Diagnose „HIV-Positivität“ signifikant jünger als Männer,
was für Menschen kaukasischen und nicht kaukasischen Ursprungs gilt und mit
den obligatorischen HIV-Tests bei Schwangerschaften zusammenhängt. Frauen
kaukasischer und nicht-kaukasischer Herkunft entwickeln signifikant häufiger
dementive Symptome als Männer, insbesondere bei langer Infektionsdauer. Dies
gilt auch in der HAART-Ära, obwohl einigen Studien zufolge Frauen höhere
Plasmaspiegel der antiretroviralen Therapie erreichen als Männer.
Schlussfolgerung
Wie die systemische HIV-Infektion scheint auch Neuro-AIDS bei Frauen anders
in Erscheinung zu treten als bei Männern. Die Gründe hierfür müssen erforscht
werden.
87
Medizin und Geschlecht
Literatur
Arendt G et al. Women and Neuro-AIDS Conditions in the Era of HAART. In:
The Spectrum of neuro-AIDS Disorders, Pathophysiology, Diagnosis and
Treatment, Karl Goodkin, Paul Shapshak, Ashok Verma Eds., ASM Press,
2008
Clark R. Considerations for the antiretroviral management of women in 2008.
Womens Health (Lond. Engl.). 2008;4(5):465-77
Kontakt
Prof’in Dr. Gabriele Arendt
Neurologische Klinik
Universitätsklinikum Düsseldorf
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88
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE ASPEKTE BEI
NEUROMUSKULÄREN ERKRANKUNGEN
VON PROFESSORIN DR. SUSANNE PETRI
Das neuromuskuläre System des Menschen lässt sich unterteilen in zentrale und
periphere Anteile. Die sog. ersten oder oberen Motoneurone liegen im
primärmotorischen Kortex des Gehirnes und sind über die Pyramidenbahn mit
den zweiten/unteren Motoneuronen im Vorderhorn des Rückenmarks
verbunden. Die Fortsätze der zweiten Motoneurone entspringen als
Nervenwurzeln aus dem Rückenmark und werden schließlich zum peripheren
Nerven, der über die Synapse (neuromuskuläre Endplatte) mit dem
Skelettmuskel verbunden ist. Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist die
häufigste Motoneuronerkrankung des Erwachsenenalters und zeichnet sich
durch einen Befall sowohl des ersten als auch des zweiten Motoneurons aus. Sie
tritt zu 90 % sporadisch, zu 10% familiär auf, mit einer Inzidenz von 1-3 /
100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern und einem Altersgipfel zwischen 50
und 65 Jahren. Die mittlere Überlebenszeit beträgt 3-5 Jahre, es existieren keine
spezifischen diagnostischen Marker. Die wichtigste Zusatzdiagnostik der ALS
liegt in der elektromyographischen Untersuchung. Bisher existiert nur ein
einziges Medikament, der Glutamat-Antagonist Riluzol, mit geringfügig
krankheitsverzögernder Wirkung.
Einige Faktoren sprechen für eine Rolle von Geschlechtshormonen bei der
Amyotrophen Lateralsklerose: Männer sind im Verhältnis 1,5:1 häufiger von
ALS betroffen, Frauen erkranken seltener und in höherem Lebensalter, in der
Regel postmenopausal. Zudem konnte gezeigt werden, dass bei ALSPatientinnen, die Menarche später eintrat und die Menopause früher, d.h., dass
die reproduktive Periode signifikant verkürzt war. Aus diesen
epidemiologischen Beobachtungen ergab sich die Fragestellung nach der Rolle
von Sexualhormonen in der Pathogenese der Erkrankung. Dies wurde in
transgenen ALS-Tiermodellen weiter untersucht. In einer Arbeit von Suzuki et
al. aus dem Jahre 2007 konnte gezeigt werden, dass weibliche ALS-Ratten
einen späteren Krankheitsbeginn und eine verlängerte Überlebenszeit aufweisen.
In einem ALS-Mausmodell wurde nachgewiesen, dass die Ovarektomie in
weiblichen ALS-Mäusen zu einer signifikanten Akzeleration des
Krankheitsverlaufs führt, die Behandlung mit 17-beta Estradiol zu einer
Krankheitsverzögerung. Neuroprotektive Effekte von Östrogenen konnten auch
in anderen Tiermodellen gezeigt werden, so z.B. in einem Schlaganfall-Modell.
Eine auf diesen tierexperimentellen Daten basierende retrospektive Analyse von
89
Medizin und Geschlecht
ALS-Patientinnen mit oder ohne postmenopausale Hormonsubstitution zeigte
allerdings einen früheren Krankheitsbeginn und höheren Prozentsatz von ALSPatientinnen in der Gruppe mit Östrogensubstitution, hieraus ließ sich also keine
Evidenz für neuroprotektive Effekte der Hormontherapie gewinnen.
Eine weitere Motoneuronerkrankung, die ausschließlich das zweite/untere
Motoneuron betrifft, ist die spinobulbäre Muskelatrophie (Kennedy-Syndrom).
Sie ist mit einer Inzidenz von 1-2/100.000 Einwohnerinnen und Einwohner
etwas seltener als die ALS und tritt aufgrund des x-chromosomal-rezessiven
Erbgangs ausschließlich bei männlichen Patienten auf. Ursache ist eine CAGrepeat expansion im Exon 1 des Androgenrezeptor-Gens. Klinisch äußert sich
die Erkrankung in Muskelschwund und Lähmungen sowie einer Vergrößerung
der Brust (Gynäkomastie), typischerweise zeigen sich zusätzlich auch Schluckund Sprechstörungen aufgrund einer Degeneration der im Hirnstamm
lokalisierten motorischen Kerngebiete. Die repeat-Länge des CAG-repeats
korreliert invers mit dem Manifestationsalter der Erkrankung, der Vielfalt und
Ausprägung der klinischen Symptome sowie mit dem Ausmaß regionaler
Atrophien des Gehirns; die Zusammenhänge sind allerdings noch nicht
hinreichend bekannt. Die CAG-repeat Mutation beim Kennedy-Syndrom führt
zu einem partiellen Funktionsverlust des Androgenrezeptors und damit zu
endokrinologischen Auffälligkeiten (Gynäkomastie, Infertilität mit Oligo-/AzooSpermie). Zusätzlich entsteht ein sog. „Gain of function“, d.h. ein toxischer
Funktionsgewinn des mutierten Gens, was zu zellschädigenden Effekten durch
intrazelluläre Akkumulation des mutierten Androgenrezeptors und damit zu der
für die Erkrankung typischen neurologischen Symptomatik führt.
Während man initial dachte, dass die Gabe von Androgenen beim KennedySyndrom therapeutisch wirksam sein könnte, konnte in der Zwischenzeit gezeigt
werden, dass Patientinnen und Patienten mit einer kompletten
Androgeninsensivität keine neurologische
Symptomatik
entwickeln,
dementsprechend ist die Androgen-Gabe beim Kennedy-Syndrom nicht klinisch
wirksam. Weibliche Trägerinnen der Mutation zeigen allenfalls subklinische
Manifestationen; als Ursache hierfür wird ein Schutz durch das Fehlen
zirkulierender Androgene angenommen. Daraus leitet sich die Evidenz für eine
Anti-Testosterontherapie ab. Diese Fragestellung wurde zunächst
tierexperimentell bearbeitet. In einem Mausmodell, in dem das humane
Androgenrezeptor-Gen mit der entsprechenden Mutation exprimiert wird, und
das eine progressive Muskelatrophie entwickelt, führte eine AntiTestosterontherapie mit Leuprorelin (einem Gonatotropin-releasing HormonAntagonisten) zu einer deutlichen klinischen Besserung. In einer daraufhin
initiierten klinischen Phase II-Studie kam es innerhalb eines ersten 48 Wochen
andauernden Beobachtungszeitraumes nicht zu einer Besserung des
90
Medizin und Geschlecht
Gesamtbefundes, jedoch zeigte sich eine Abnahme der Schluckstörungen. Über
einen längeren Beobachtungszeitraum von 96 Wochen kam es dann auch zu
einer Verbesserung weiterer funktioneller Parameter.
Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass Sexualhormone eine Rolle bei
Motoneuronerkrankungen spielen. Die neuroprotektive Wirkung von
Östrogenen wurde bei der ALS nur im Tiermodell hinreichend belegt. Bei der
spinobulbären Muskelatrophie scheint eine androgene Therapie wirksam und
verträglich zu sein, Langzeitbeobachtungen hierzu stehen jedoch noch aus.
Literatur
Suzuki M et al. Amyotroph Lateral Scler. 2007 Feb;8(1):20-25
Kontakt
Prof’in Dr. Susanne Petri
Klinik für Neurologie
Medizinische Hochschule Hannover
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91
Medizin und Geschlecht
EPILEPSIE BEI FRAUEN – EINE BESONDERE SITUATION
VON DR. CLAUDIA WENZEL
Die Betreuung und medikamentöse Behandlung an Epilepsie erkrankter Frauen
umfasst zahlreiche relevante geschlechterspezifische Aspekte wie beispielsweise
die hormonelle Beeinflussung der Anfallsfrequenz, Interaktionen zwischen
antiepileptisch wirksamen Medikamenten (AED) und oralen Kontrazeptiva,
Effekte der AED auf den Knochenstoffwechsel, endokrine Regulationsstörungen
sowie besondere Aspekte der Schwangerschaft und Stillzeit.
Die Modifikation der Anfallshäufigkeit durch die zyklusabhängig sezernierten
Östrogene und Gestagene ist gut untersucht. Diese beeinflussen die neuronale
Erregbarkeit in unterschiedlicher Weise: Während Östradiol zu einer Zunahme
der neuronalen Erregbarkeit in epileptogenen Herden führt und somit
prokonvulsive Effekte hat, bewirkt Progesteron eine Reduktion der neuronalen
Entladungsrate in epileptischen Arealen, woraus eine antikonvulsive Wirkung
resultiert. Ein relatives Überwiegen der Östradiolwirkung fördert somit die
Manifestation epileptischer Anfälle periovulatorisch oder perimenstruell.
Vermittelt werden diese gegensätzlichen Effekte über die Beeinflussung der
Aktivität relevanter inhibitorischer (GABA) und exzitatorischer (Glutamat)
Neurotransmitter. Phasen wesentlicher hormoneller Umstellung wie Menarche,
Schwangerschaft und Menopause können die Anfallshäufigkeit entscheidend
beeinflussen,
auch
physiologische
Schwankungen
der
ovariellen
Steroidhormone während des Menstruationszyklus haben in allen
experimentellen
Epilepsie-Modellen
zu
einer
Beeinflussung
der
Anfallsbereitschaft geführt.
Die Wirkung oral eingenommener Kontrazeptiva kann in Kombination mit
AED, die auf das hepatische Cytochrom P450-System Enzym induzierend
wirken, unter Umständen vermindert sein. Der Pearl-Index wird in dieser
Situation mit bis zu 6 % angegeben.
AED, die eine Induktion des Cytochrom P450-System und somit einen erhöhten
Metabolismus von Vitamin D bewirken, können zudem eine Abnahme der
Knochendichte und Störung des Knochenstoffwechsels bewirken, was häufig
die Entwicklung einer Osteoporose mit erhöhtem Frakturrisiko zur Folge hat.
Eine besondere Gefährdung besteht dabei aufgrund eines ohnehin erhöhten
Osteoporoserisikos für Frauen in der Postmenopause.
92
Medizin und Geschlecht
Frauen, die an Epilepsie erkrankt sind, haben eine gegenüber gesunden Frauen
um 1-2:3 reduzierte Geburtenrate. Dazu tragen zum einen soziale Faktoren
(fehlende Partnerschaft, Angst vor Risikoschwangerschaft) bei, zum anderen
aber auch endokrine Störungen, die mit dem Auftreten von Anfällen und AED
assoziiert sind. So beeinflussen AED, die auf das Cytochrom P450-System
modifizierend wirken, gleichzeitig auch den Metabolismus der Sexualhormone.
Zudem werden anovulatorische Zyklen, die bei Chronifizierung zu Infertilität
führen können, bei mehr als 30 % der Frauen mit Epilepsie beschrieben.
Auch das polyzystische Ovariensyndrom (PCOS), das Infertilität zur Folge
haben kann, betrifft etwa 10-25 % der Epilepsiepatientinnen7, hingegen liegt die
allgemeine Prävalenz bei Frauen im gebärfähigen Alter bei 7-10 %.
Klinisch bedeutsam kann die während einer Schwangerschaft veränderte
Anfallshäufigkeit, bedingt durch hormonelle Umstellungen, veränderten
Metabolismus der AED, veränderte Schlafgewohnheiten und reduzierte
Einnahme-Compliance aus Furcht vor teratogenen Effekten, sein. Zahlreiche
physiologische Veränderungen während der Schwangerschaft können die
Pharmakokinetik und damit die messbare Konzentration von AED beeinflussen.
Viele der älteren AED, insbesondere Benzodiazepine, Phenytoin, Carbamazepin
und Valproat, besitzen teratogene Effekte. Hinsichtlich der neueren, seit 1993
eingeführten AED liegen noch wenige Erkenntnisse zur Teratogenität vor, die
ausführlichsten Daten finden sich zum Einsatz von Lamotrigin. Das Risiko von
Malformationen steigt mit der Verwendung mehrerer AED und höherer
Dosierungen.
Während einer Schwangerschaft sollte eine antiepileptische Monotherapie in der
kleinsten wirksamen Dosierung angestrebt werden, die verwendete Substanz
sollte dabei die für den jeweiligen Anfallstyp am besten geeignete und
verträgliche sein. Derzeit existieren keine allgemeingültigen Empfehlungen zum
bevorzugten Einsatz eines bestimmten AED in der Schwangerschaft. AED treten
in variablem Ausmaß – u. a. abhängig von der Eiweißbindung und Lipophilie
der jeweiligen Substanz – in die Muttermilch über. Epilepsiekranke Frauen
sollten die Frage des Stillens ihres Neugeborenen daher sorgfältig überdenken.
Allgemein wird jedoch davon ausgegangen, dass die Vorteile des Stillens das
relativ kleine Risiko unerwünschter Wirkungen durch AED überwiegen.
Fazit
Die Berücksichtigung endokriner Störungen sollte Teil einer über die
Anfallsbehandlung
hinausgehenden
modernen
antiepileptischen
Pharmakotherapie sein; von besonderer Bedeutung ist dabei, die Dokumentation
endokriner Funktionen überhaupt in die Beratung und Betreuung der Patientin
93
Medizin und Geschlecht
zu integrieren. Eine kooperative Zusammenarbeit zwischen Neurologen,
Gynäkologen und Endokrinologen trägt dazu bei, Epilepsien in ihrer komplexen
Gesamtheit wahrzunehmen und die Behandlung nicht allein antikonvulsiv
auszurichten.
Literatur
Finn DA et al. The estrous cycle, sensitivity to convulsants and the anticonvulsant effect of a neuroactive steroid. J Pharmacol Exp Ther
1994;271:164-70
Herzog AG et al. Reproductive endocrine disorders in women with partial
seizures of temporal lobe origin. Arch Neurol 1986;43:341-46
Knochenhauer ES et al. Prevalence of the polycystic syndrome in unselected
black and white women of the southeastern United States: a prospective
study. J Clin Endocrinol Metab 1998;83:3078-82
Morrell MJ et al. Predictors of ovulatory failure in women with epilepsy. Ann
Neurol 2002;52:704-11
Pack AM et al. Treatment of women with epilepsy. Sem Neurol 2002;22(3):28997
Perucca E. Clinical implications of hepatic microsomal enzyme induction by
antiepileptic drugs. Pharmacol Ther 1987;33:139-44
Pschirrer E et al. Seizure disorders in pregnancy. Obstet Gynecol Clin
2001;28:601-11
Schmitz B. Lamotrigin bei Frauen mit Epilepsie – Ein Überblick über die
Datenlage. Der Nervenarzt 2003; online publiziert 23.07.03
Schupf N et al. Likelihood of pregnancy in individuals with
idiopathic/cryptogenic epilepsy: social and biological influence. Epilepsia
1994;35:750-56
Woolley CS et al. Hormonal effects on the brain. Epilepsia 1998;39(Suppl.8):28
Kontakt
Dr. Claudia Wenzel
Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str.1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 35 15
E-Mail: [email protected]
94
Medizin und Geschlecht
95
Medizin und Geschlecht
HÄMATOLOGIE
25. SEPTEMBER 2009
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Medizin und Geschlecht
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Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE ASPEKTE BEI
GERINNUNGSERKRANKUNGENAUSWIRKUNGEN VON GERINNUNGSSTÖRUNGEN BEI
FRAUEN
VON DR. ROSWITH EISERT
Aufgrund ihrer sich monatlich wiederholenden physiologischen (Perioden-)
Blutung können Gerinnungsstörungen bei Frauen häufig mit Beginn der
Geschlechtsreife erkannt und nachgewiesen werden. Trotzdem wird die
Diagnose immer wieder spät oder gar nicht gestellt. Eines der ältesten Beispiele
einer hämorrhagischen Diathese bei Frauen findet sich im Neuen Testament,
Markus 4:25-29. Die häufigsten Ursachen einer hämorrhagischen Diathese
stellen dabei die unterschiedlichen Arten und Schweregrade des vonWillebrand-Syndroms dar neben deutlich selteneren Thrombopathien und
anderen plasmatischen Mangelzuständen. Die Therapiemöglichkeiten sind
vielfältig und oft erfolgreich durch Gabe von Kontrazeptiva,
Fibrinolysehemmer, Vasopressin-Analoga in Form von Nasenspray und
seltenste Gabe von Faktorenpräparaten. Da eine Anämie eine Blutungsneigung
unterhält, ist eine Eisensubstitution meist intermittierend oder dauerhaft
notwendig.
Auf der anderen Seite stellt eine (hereditäre) Thromboseneigung eine potenzielle
z. T. lebensbedrohliche Gefährdung dar. Sie entwickelt sich meist aus einer
Kombination aus u. a. Übergewicht, Bewegungsmangel, Nikotinkonsum,
Exsikkose und Einnahme eines Kontrazeptivums. In diesem Zusammenhang
stellt die Schwangerschaft und hier insbesondere die 6-wöchige postpartale
Zeitspanne ein besonders hohes Risiko für Thrombosen und Lungenembolien
dar. Hier gilt es zusätzliche exoge Risiken zu vermeiden und durch
physikalische Maßnahmen wie Bewegung, Kompressionsstrümpfe, Hydratation,
ausgewogene Ernährung mit ggfs. Einnahme von Vitaminpräparaten die Gefäßund Gefäßwandsituation zu stabilisieren und in Abhängigkeit aller Risiken auch
eine gerinnungshemmende Medikation mit niedermolekularen Heparinen
einzusetzen.
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Medizin und Geschlecht
Kontakt
Dr. Roswith Eisert
Klinik
für
Hämatologie,
Hämostaseologie,
Stammzelltransplantation
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Onkologie
und
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Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE UNTERSCHIEDE IN
HÄMATOLOGISCHER TOXIZITÄT UND
GESAMTÜBERLEBEN BEI PATIENTINNEN UND
PATIENTEN MIT HODGKIN LYMPHOM UND ANDEREN
NEOPLASIEN
VON DR. BEATE KLIMM
Aufgrund neuer Therapiestrategien und zunehmend besserer Prognose bei
Patientinnen und Patienten mit Hodgkin Lymphomen, fokussiert sich das
wissenschaftliche Interesse insbesondere auf Hochrisikogruppen. Trotz
beachtlicher Forschungserfolge, moderner stadienangepasster Chemotherapie
und besserer Strahlentherapietechniken bleibt eine kleine Gruppe von
Patientinnen und Patienten, die auch unter aktuellen Therapiestandards eine
rezidivierende oder eine primär therapierefraktäre Erkrankung aufweisen. Bis
heute gibt es trotz intensiver Forschung keine verlässlichen biologischen
Parameter, die entweder Therapieversager oder aber eine erhöhte Toxizität unter
Chemotherapie vorhersagen können, um auf diese Weise eine an das
individuelle Risikoprofil angepasste Therapieintensivierung oder -reduktion zu
ermöglichen. Des Weiteren sind Einfluss und Bedeutung individueller
patientenbezogener Faktoren wie Geschlecht, Polymorphismen in CytochromEnzymen der Leber, Metabolismus und Substanzeliminierung nur unzureichend
charakterisiert.
Das Spektrum maligner Erkrankungen von Männern und Frauen ist
unterschiedlich. Jedoch weisen auch männliche und weibliche Patienten mit der
gleichen Erkrankung oftmals ein unterschiedliches Gesamtüberleben auf.
Studienergebnisse bei Patientinnen und Patienten mit Hodgkin Lymphom und
mit anderen Malignomen beschreiben ein besseres Gesamtüberleben weiblicher
im Vergleich zu männlichen Krebspatienten. Eine retrospektive Analyse der
Deutschen Hodgkin Studiengruppe (GHSG), die 4626 Patientinnen und
Patienten mit Hodgkin Lymphom einschloss, war die erste größere Analyse, die
systematisch geschlechterspezifische Unterschiede und deren Einfluss auf die
Therapie und das Überleben untersuchte. Nach fünf Jahren zeigten weibliche im
Vergleich zu männlichen Patienten ein signifikant besseres ereignisfreies
Überleben (81 % vs. 74 %, P<.0001) und Gesamtüberleben (90 % vs. 86 %;
P<.0001). Bei Frauen wurde mehr Chemotherapie assoziierte hämatologische
Toxizität beobachtet, insbesondere eine hochgradige Leukopenie (WHO Grad 3
und 4). Dies korrelierte mit besserem Überleben. Die hochgradige Leukopenie
100
Medizin und Geschlecht
ging nicht mit einer erhöhten Rate an schweren Infektionen einher. Des
Weiteren zeigte sich geschlechtsunabhängig, dass alle Patientinnen und
Patienten, die zu Beginn oder zu irgendeinem Zeitpunkt der Therapie eine
hochgradige Leukopenie aufweisen hatten, ein besseres outcome hatten. Auch
bei fortgeschrittenen soliden Tumoren wie nichtkleinzelliges und kleinzelliges
Bronchialkarzinom wurden inzwischen ähnliche Ergebnisse berichtet.
Bis vor kurzem gab es kaum Daten über die geschlechterspezifische
Pharmakokinetik und Pharmakodynamik der Zytostatika, da deutlich mehr
Männer als Frauen in klinische Studien eingeschlossen wurden und da die
Ergebnisse oftmals nicht nach Geschlechtern getrennt veröffentlicht wurden.
Diese Art der Veröffentlichung ändert sich jedoch allmählich, so dass
geschlechterspezifische Überlebensdaten zunehmen. Dies könnte dabei helfen,
in Zukunft adäquatere Methoden für die Dosierung von Zytostatika zu
entwickeln, als die derzeit übliche Praxis, die sich rein auf die Schätzung der
Körperoberfläche bezieht.
Ein unterschiedlicher Enzymstatus mit einem langsameren SubstanzEliminationsweg bei Frauen kann also nicht nur zu einer erhöhten systemischen
Toxizität sondern auch zu einer besseren Effektivität der Chemotherapie führen.
Cytochrom (CYP)-P450-Enzyme der Leber sind an der Metabolisierung vieler
Substanzen beteiligt. Bei diesen CYP-Enzymen existieren genetische
Polymorphismen, die signifikante Veränderungen der metabolischen Aktivität
verursachen und bedeutenden Einfluss auf die Variabilität der menschlichen
Pharmakokinetik haben. Dies bedingt zum Teil die intra-individuellen
Unterschiede in der Toxizität, in der Substanzinteraktion und im
Therapieansprechen.
Die
Expression
und
die
Aktivität
dieser
Enzympolymorphismen wird durch Faktoren wie Geschlecht, Rauchen,
Steroidhormone und parallele Applikation anderer Substanzen beeinflusst. Die
komplexen Mechanismen dieser CYP Enzyme sind bislang noch unzureichend
untersucht; allerdings werden oftmals alters- und geschlechtsbezogene
Unterschiede der Enzymexpression gefunden.
Die Implementierung geschlechterspezifischer und an die hämatologische
Toxizität angepasster Therapiestrategien, die auf der individuellen
Pharmakokinetik basieren, könnte sowohl zu besser vorhersehbarer Toxizität als
auch zu besserem Gesamtüberleben in zukünftigen klinischen Studien beitragen.
101
Medizin und Geschlecht
Kontakt
Dr. Beate Klimm
Klinik für Innere Medizin I Hämatologie / Onkologie
Universitätsklinikum Köln
Kerpener Str. 62
50924 Köln
Telefon: 0221 / 4 78 35 57
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Medizin und Geschlecht
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Medizin und Geschlecht
PHARMAKOLOGIE
UND
TOXIKOLOGIE
23. OKTOBER 2009
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Medizin und Geschlecht
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Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE UNTERSCHIEDE IN DER
TOXIZITÄT VON ARZNEIMITTELN AM BEISPIEL VON
PSYCHOPHARMAKA
VON DR. KATHARINA WENZEL-SEIFERT
Obwohl die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) 1993 in einer
neuen Richtlinie zur Durchführung klinischer Arzneimittelzulassungsstudien
„Guideline for the Study and Evaluation of Gender Differences in Clinical
Evaluation of Drugs“ forderte, dass Frauen und Männer in allen Phasen der
klinischen Prüfung neuer Arzneistoffe in gleicher Häufigkeit repräsentiert sein
sollten, betrug der Anteil von Frauen in der frühen Phase I, die für die
Ermittlung pharmakokinetischer Daten wichtig ist, in den Jahren 1995 bis 2007
nur ca. 25 %. Erst in den Phasen II und III lassen sich adäquate Anteile beider
Geschlechter nachweisen. Studiert man die Ergebnisse geschlechtssensibler
klinischer Zulassungsstudien, so wurden in den letzten Jahren zwar zunehmend
geschlechtsabhängige pharmakokinetische Unterschiede beschrieben. Diese
Erkenntnisse schlugen sich jedoch kaum in geschlechtsdifferenzierenden
Dosierungsempfehlungen in den Fachinformationen zu den Arzneimitteln
wieder.
Am Beispiel der Psychopharmaka soll untersucht werden, ob
geschlechtsabhängige pharmakokinetische Unterschiede bestehen und inwieweit
diese klinische Konsequenzen haben. In der Datenbank der Arbeitsgemeinschaft
Arzneimitteltherapie bei psychiatrischen Erkrankungen (AGATE), einem
freiwilligen
Pharmakovigilanzverbund
aller
psychiatrischen
Versorgungskrankenhäuser in Bayern, betrafen im Zeitraum 1995-2009 ca. 60
% aller gemeldeten schweren unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen
(UAW) unter Psychopharmakotherapie Frauen. Bei genauerer Aufschlüsselung
typischer antipsychotikainduzierter UAW wie extrapyramidal-motorischen
Störungen, kardialen Rhythmusstörungen, Hemmung der Hämatopoese und
allergische Hauterscheinungen sind Frauen ebenfalls deutlich überrepräsentiert.
Lediglich epileptische Krampfanfälle und Leberfunktionsstörungen werden für
beide Geschlechter gleich häufig gemeldet. Diese Daten stimmen mit der
Literatur überein, in der darüber hinaus berichtet wird, dass die für einige der
neueren Antipsychotika typische erhebliche Gewichtszunahme Frauen ebenfalls
häufiger betrifft als Männer.
Da unerwünschte Nebenwirkungen häufig dosisabhängig sind, liegt es nahe zu
untersuchen, ob Frauen häufiger überdosiert werden als Männer. Zur Klärung
106
Medizin und Geschlecht
dieser Frage wurde die Datenbank von Plasmakonzentrationsbestimmungen im
Rahmen therapeutischen Drug Monitorings (TDM) des Institutes für Klinische
Pharmakologie der Universität Regensburg ausgewertet. Hierbei fand sich, dass
Frauen bei Therapie mit einer Vielzahl von Antipsychotika und Antidepressiva
häufiger als Männer Wirkstoffkonzentrationen oberhalb des therapeutischen
Referenzbereiches aufweisen. Bezieht man diese Werte auf die
Plasmakonzentrationen, die rechnerisch unter Berücksichtigung der ClearanceKonstanten dieser Arzneistoffe und der verabreichten Dosierung ermittelt
werden können, ergibt sich, dass insbesondere diese dosisabhängigen Werte bei
Frauen häufiger überschritten werden. Das heißt, die Dosierungsempfehlungen
der Fachinformationen, die auf diesen aus den frühen pharmakokinetrischen
Untersuchungen der klinischen Zulassungsstudien stammenden ClearanceKonstanten basieren, sind für häufig schwer kranke und multimorbide
Patientinnen nicht gültig und müssten in Nachzulassungsstudien überarbeitet
werden.
Was führt zur unterschiedlichen Pharmakokinetik vieler Arzneistoffe bei
Männern und Frauen? Die Pharmakokinetik eines Arzneistoffes hängt vor allem
von der Resorption aus dem Magen-Darm-Trakt, über die Haut oder die Lunge,
der Verteilung im Körper und vom Metabolismus in der Leber sowie der renalen
Elimination ab. Im Durchschnitt haben Frauen ein niedrigeres Körpergewicht,
ein geringeres Plasmavolumen und einen höheren Fettanteil als Männer. Auf
Grund dieser Unterschiede sollte insbesondere die Dosierung von Pharmaka mit
enger therapeutischer Breite an das Körpergewicht angepasst werden. Auch
beim hepatischen Metabolismus gibt es geschlechtsabhängige Unterschiede. Die
Aktivität der für den Metabolismus vieler Pharmaka wichtigen CytochromP450-Isoformen CYP1A2 und CYP2D6 ist bei Frauen moderat niedriger als bei
Männern. Die Aktivität von CYP2C19 wird deutlich durch Ethinylestradiol,
einem Bestandteil oraler Antikonzeptiva, gehemmt. Daraus können überhöhte
Plasmakonzentrationen der betroffenen Arzneistoffe resultieren. Auch die
glomeruläre Filtrationsrate ist bei Frauen durchschnittlich um 10 % niedriger als
bei Männern. Hinzu kommt eine bei beiden Geschlechtern zu berücksichtigende
Altersabhängigkeit der Nierenfunktion.
Schlussfolgerungen
1. Die pharmakokinetischen Daten und Dosierungsempfehlungen von
Arzneimitteln sollten in Nachzulassungsstudien Phase IV überprüft werden.
2. Für die Untersuchung geschlechtsabhängiger UAW und Pharmakokinetik
stellen effektiv arbeitende Pharmakovigilanzsysteme sowie die Auswertung
von TDM-Daten wertvolle Hilfsmittel dar und sollten daher weiter ausgebaut
werden.
107
Medizin und Geschlecht
3. Bei der Pharmakotherapie mit Substanzen mit hohem Risiko für das
Auftreten schwerwiegender Nebenwirkungen, wie den Antipsychotika, sollte
geschlechtsabhängig
dosiert
werden.
Solange
keine
geschlechtsdifferenzierenden
Dosierungsempfehlungen der Hersteller
vorliegen, sollte die Plasmakonzentration mit Hilfe von TDM überwacht
werden. Bei der Dosierung vorwiegend renal eliminierter Pharmaka, sollte
die Kreatininclearance mit Hilfe der Schätzformel von Cockroft und Gault
berechnet und berücksichtigt werden.
Literatur
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Nebenwirkungsprofil bei Männern und Frauen. Nervenarzt 2007;78:45-52
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108
Medizin und Geschlecht
Kontakt
Dr. Katharina Wenzel-Seifert
Klinische Pharmakologie
Medizinische Hochschule Hannover
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Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE UNTERSCHIEDE IN DER
WIRKUNG VON PDE5 INHIBITOREN BEI “MALE
ERECTILE DYSFUNKTION (ED) & FEMALE SEXUAL
DYSFUNCTION (FSD)”
VON DR. PETER SANDNER
Der NO/cGMP/PKG Signaltransduktionsweg stellt einen sehr wichtigen
Signalweg dar, der über Zellen, Gewebe und Organe hinweg konserviert ist.
Diese Signaltransduktionskaskade beginnt mit der Bildung und Freisetzung von
extrazellulärem Stickstoffmonoxid (NO), verläuft weiter über die NO-induzierte
Aktivierung der löslichen Guanylatcyclase (sGC) und der Bildung von
cyclischem Guanosin-Monophosphat (cGMP). Intrazelluläres cGMP reguliert
die Aktivität der Proteinkinase G (PKG), welche verschiedene Zielmoleküle
durch Phosphorylierung beeinflusst. Dieser Signalweg wird über die Spaltung
von aktivem cGMP in inaktives GMP durch die Phosphodiesterase 5 (PDE5)
abgeschaltet. Inhibitoren der PDE5 stellen daher eine effektive
pharmakologische Intervention zur Verstärkung des NO/cGMP Weges dar. Dies
führte zur Zulassung von PDE5 Inhibitoren (PDE5i) für die Behandlung von
Erektiler Dysfunktion (ED) und Pulmonal-Arterieller Hypertonie (PAH).
PDE5 wird in männlichen Genitalorganen exprimiert, und PDE5i zeigten sich in
isolierten Organbadassays in männlichem Schwellkörpergewebe wie auch in
Tiermodellen in verschiedenen Spezies als funktionell wirksam. Diese
Ergebnisse konnten in den klinischen Studien in Patienten mit ED bestätigt und
erweitert werden, was zur Zulassung der PDE5i Sildenafil (Viagra®),
Vardenafil (Levitra®) und Tadalafil (Cialis®) zur Behandlung von männlicher
ED führte.
PDE5 wird ebenfalls in weiblichen Sexualorganen exprimiert und PDE5i
relaxieren in isolierten Organbadassays weibliches Vaginal- und Clitoralgewebe.
Da zudem in weiblichen Tieren eine Erhöhung des genitalen Blutflusses gezeigt
wurde, sollten klinische Studien eine Wirksamkeit von PDE5i bei weiblicher
sexueller Dysfunktion (FSD) belegen. Diese Studien waren z. T. bei objektivmessbaren Parametern (z.B. Dopplermessungen des genitalen Blutflusses)
positiv, zeigten aber kaum Effekte auf subjektive Parameter von FSD.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass PDE5 in männlichen und
weiblichen Genitalorganen exprimiert wird, dass cGMP Erhöhung durch PDE5i
zu einer geschlechterunabhängigen genitalen Gefäßrelaxation und
110
Medizin und Geschlecht
Durchblutungssteigerung führt, dass allerdings eine Wirksamkeit bei weiblichen
FSD Patienten – im Gegensatz zu männlichen ED Patienten – nicht gefunden
werden konnte.
Diese Ergebnisse zeigen die Notwendigkeit einer geschlechterspezifischen
Pharmakotherapie für ED und FSD sowie einer interdisziplinären
Vorgehensweise bei Therapieansätzen für FSD.
Kontakt
Dr. Peter Sandner
Pharmaforschungszentrum Wuppertal
Bayer Schering Pharma AG
Aprather Weg 18a
42096 Wuppertal
Telefon: 0202 / 36 55 27
E-Mail: [email protected]
111
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE UNTERSCHIEDE IN DER
PHARMAKOLOGIE
KARDIOVASKULÄRER ERKRANKUNGEN
VON DR. SABINE OERTELT-PRIGIONE
Frauen und Männern unterscheiden sich im Bedarf und Stoffwechsel von
Arzneimitteln. Unterschiede betreffen sowohl Körpergröße, als auch
Körperfettanteil
und
Nierenfunktion.
Der
Arzneimittelstoffwechsel
unterscheidet sich in der Verdauung im Magentrakt, im Lebermetabolismus
durch wesentliche Unterschiede der Aktivität der Enzyme der Cytochrom-P450Familie und schließlich in der Nierenexkretion.
Im kardiovaskulären Bereich, finden sich Geschlechterunterschiede nach Gabe
von Digitalis, das bei Frauen leichter überdosiert wird, Beta-Blockern, bei denen
bei Frauen leichter höhere Plasmaspiegel auftreten, und ACE-Hemmern, die bei
Frauen zu mehr Nebenwirkungen führen. Acetylsalicylsäure wirkt bei Frauen in
der Primärphrophylaxe des Schlaganfalls, aber nicht in der des Myokardinfarkts,
bei Männern ist es umgekehrt. Antikoagulanzien und Gerinnungshemmer führen
bei Frauen häufiger zu Blutungskomplikationen, QT-Zeit verlängernde
Pharmaka häufiger zu Arrhythmien.
All diese Unterschiede müssen bei der Wahl der adäquaten Therapie
berücksichtigt werden und sollten die Basis für die Erstellung
geschlechterspezifischer kardiologischer Leitlinien darstellen.
Literatur
Anderson GD. Gender differences in pharmacological response. Int Rev
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Lehmkuhl E et al. Implications of gender-specific aspects in the therapy of
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Review
Schwartz JB. Gender-specific implications for cardiovascular medication use in
the elderly optimizing therapy for older women. Cardiol Rev. 2003 SepOct;11(5):275-98. Review
112
Medizin und Geschlecht
Kontakt
Dr. Sabine Oertelt-Prigione
Institut für Geschlechterforschung in der Medizin
Charité Universitätsmedizin Berlin
Luisenstraße 65
10117 Berlin
Telefon: 030 / 4 50 53 91 09
E-Mail: [email protected]
113
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE IN DER
KREISLAUFREGULATION
VON PD DR. KARSTEN HEUSSER
Mit zunehmendem Alter steigt das kardiovaskuläre Risiko bei beiden
Geschlechtern. Eine zentrale Rolle hierbei spielen Hypertonie, Dyslipidämie,
Rauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht und Diabetes mellitus. Obwohl
Frauen in jüngeren und mittleren Jahren weniger gefährdet sind als Männer,
verschiebt sich diese Relation in höherem Alter
Nach den Mechanismen für diese Entwicklung wurde und wird geforscht. Es
bestand die Hoffnung, dass sich eine Hormonersatztherapie bei Frauen in der
Menopause günstig auf die Herz-Kreislauf-Gesundheit auswirkt. Leider hat sich
diese Hypothese als falsch herausgestellt. Andere Faktoren, wie die Funktion
des sympathischen Nervensystems, sind in der Diskussion. Die ursprüngliche
Auffassung, dass das sympathische Nervensystem lediglich eine Rolle in der
Kurzzeit-Regulation des Kreislaufs spielt, ist revidiert worden. Nicht zuletzt die
verbesserten Methoden der Quantifizierung sympathischer Aktivität trugen zu
dieser neuen Sicht bei. Eine dieser Methoden, die sog. Mikroneurografie,
ermöglicht es, sympathische vasokonstriktorische Aktivität zum Skelettmuskel
(MSNA) am wachen Menschen direkt zu messen. Dazu wird eine spezielle
Nadelelektrode in einen peripheren Nerven eingestochen und in einem Bündel
sympathischer Nervenfasern platziert.
Die Geschlechtsspezifität der sympathischen Kreislaufsteuerung ist Gegenstand
aktueller Forschung. Es konnte gezeigt werden, dass der Zusammenhang
zwischen Blutdruck und MSNA bei Frauen stärker ist als bei Männern und dass
beide Parameter mit zunehmendem Alter bei Frauen stärker ansteigen. Ferner
hat sich herausgestellt, dass einige Annahmen zur autonomen
Kreislaufsteuerung, die für Männer gelten, auf Frauen nicht zutreffen. So sind
beispielsweise die MSNA und die Auswurfleistung des Herzens bei Frauen nicht
assoziiert, darüber hinaus scheint keine Beziehung zwischen MSNA und
zentraler Adipositas bei Frauen zu bestehen.
Der wichtigste Transmitter, der bei einer Aktivierung des Sympathikus in der
Peripherie ausgeschüttet wird, ist Noradrenalin. Seine Wirkung an den Organen
wird u. a. dadurch zeitlich begrenzt, dass er von den sympathischen
Nervenenden wieder aufgenommen wird. Der hierfür verantwortliche
Noradrenalin-Transporter wird von verschiedenen Medikamenten, z.B. einigen
114
Medizin und Geschlecht
Psychopharmaka und Medikamenten zur Gewichtsreduktion, gehemmt. Die
daraus resultierende Wirkung auf den Blutdruck hängt von der
Ausgangsaktivität des Sympathikus ab. Da bei jüngeren Frauen die
sympathische Aktivität geringer ist als bei Männern gleichen Alters,
unterscheiden sich die Kreislaufwirkungen der Noradrenalin-WiederaufnahmeHemmer zwischen den Geschlechtern.
Ein erhöhter Tonus des sympathischen Nervensystems spielt auch bei der
Präeklampsie eine Rolle, einer gefährlichen Komplikation in der
Schwangerschaft. Basierend auf diesem Befund stellten wir uns die Frage, ob
der Anstieg der Sympathikusaktivität einer Präeklampsie vorausgeht, oder diese
als Sekundärphänomen lediglich begleitet. In die entsprechende Studie wurden
nur Frauen eingeschlossen, die in einer vorangegangenen Schwangerschaft eine
Präeklampsie entwickelt hatten. Bei ausnahmslos allen Frauen stieg die MSNA
während der aktuellen Schwangerschaft an, doch nur ein Drittel wurde letztlich
präeklamptisch. Eine Zunahme der Sympathikusaktivität während der
Schwangerschaft führt also nicht zwangsläufig zu einer Präeklampsie.
Wahrscheinlich gibt es vasodilatatorische Mechanismen, die in den meisten
Fällen einen Blutdruckanstieg verhindern können, sofern sie ausreichend potent
sind.
Eine englische Arbeitsgruppe hat auch bei gesunden Schwangeren eine
sympathische Aktivierung gefunden, die jedoch deutlich geringer ausfällt als bei
Frauen, die einen Schwangerschaftshochdruck entwickeln. Die momentane
Datenlage lässt offen, ob ein Anstieg der MSNA zu einer normalen
Schwangerschaft gehört oder ein Indiz für eine Risiko-Schwangerschaft
darstellt. Diese Frage kann nur in einer größeren, prospektiven Studie geklärt
werden. Wenn es künftig gelingt, die pathophysiologischen Zusammenhänge
zwischen Immunsystem,
Wachstumsfaktoren, Endothelfunktion und
Sympathikus zu verstehen, könnten sich daraus pharmakologische TherapieAnsätze ableiten lassen.
Trainierte Apnoe-Taucher sind in der Lage, über mehrere Minuten ihre Luft
anzuhalten. Dabei tritt eine enorme Aktivierung vasokonstriktorischer Aktivität
auf, und der Blutdruck steigt an. Unsere vorläufigen Befunde deuten darauf hin,
dass die sympathische Aktivierung bei weiblichen Tauchern stärker ist als bei
Männern. Messungen unter Extrembedingungen wie bei dieser willkürlichen
Form der Asphyxie könnten künftig dazu beitragen, die Geschlechtsunterschiede
in der autonomen Kreislaufregulation detaillierter zu verstehen.
115
Medizin und Geschlecht
Literatur
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Kontakt
Dr. Karsten Heusser
Institut für Klinische Pharmakologie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
116
Medizin und Geschlecht
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 27 23
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Medizin und Geschlecht
118
Medizin und Geschlecht
JUGENDMEDIZIN
20. NOVEMBER 2009
119
Medizin und Geschlecht
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Medizin und Geschlecht
BIOLOGIE + KULTUR =
GESCHLECHTERROLLENVERTEILUNG
ODER WIE WERDEN WIR ZU MÄDCHEN/JUNGEN?
VON PROFESSORIN DR. UTE THYEN
Das genetische Geschlecht wird durch den Chromosomensatz bestimmt. Ein
46,XY oder 46,XX-Karyotyp legt das chromosomale Muster fest und markiert
den Beginn einer komplexen Kaskade von genetischen Ereignissen, die zur
Entwicklung der männlichen oder weiblichen Gonade, also Hoden oder Ovar,
führen. Die Gonade ist einzigartig unter allen Organanlagen. Sie entwickelt sich
zwischen dem 10. und 12. Tag post-conzeptionem aus den Primordialzellen, ist
bipotent angelegt, kann sich also in zwei Richtungen, die weibliche und die
männliche, entwickeln. Die Entwicklung zum weiblichen Geschlecht erfolgt
ohne die Mitwirkung spezifischer Entwicklungsgene und ist weitgehend
unabhängig von hormonellen Einflüssen. Für die Entwicklung zum männlichen
Geschlecht werden Gene auf dem Y Chromosom sowie weitere autosomale
Gene benötigt, um den Prozess der Vermännlichung der bipotenten Gonade zu
veranlassen. Diese Festlegung wird als Sexualdeterminierung bezeichnet, die
spätere hormonell beeinflusste Entwicklung der inneren und äußeren
Geschlechtsorgane als Sexualdifferenzierung.
Entwicklung der Gonaden
121
Medizin und Geschlecht
Abb. 1: Elektronenmikrospoische Darstellung der Primordialfalte im Alter von 10-12 Tagen
post-conceptionem. Gekennzeichnet sind die Strukturen der bipotenten Gonade. Zur
Entwicklung dieser Anlage sind die Funktion der Gene WT1, LIM1, SF1 erforderlich. Für die
weitere Entwicklung zum Hoden insbesondere das auf dem Y Chromosom gelegene SRY,
aber auch SOX9 und DMRT. Die Entwicklung des funktionsfähigen Ovars wird durch WNT4
und DAX1 unterstützt.
Geschlechtsentwicklung
Abb 2: Die peripheren Geschlechtshormone werden im Hoden von Leydig-Zellen und im
Ovar von Thecazellen gebildet. Die in den Thecazellen gebildeten Androgene werden fast
vollständig
zu
Östrogenen
aromatisiert.
Der
Regulationsmechanismus
die
Hypophysenvorderlappenhormone LH und FSH als negative feed-back Schleife erfolgt durch
die peripheren Geschlechtshormone und das in Sertolizellen und Granulosazellen gebildete
Inhibin.
122
Medizin und Geschlecht
Biosynthese der Steroidhormone
Eine weitere gemeinsame Quelle von Geschlechtshormonen ist die
Nebennierenrinde, die aus dem gemeinsamen Vorläufer Cholesterin
Glucocorticoide, Mineralokortikoide und Androgene produziert. Bei Mädchen
wie bei Jungen ist der Beginn der Menarche und der Adrenarche mit
Entwicklung der sekundären Körperbehaarung von der Aktivität der
Nebennierenrinde abhängig.
Einflüsse auf die Entwicklung der Geschlechtsrolle und Identität
Neben der Sexualdeterminierung (unter dem Einfluss der chromosomalen
Ausstattung) und Sexualdifferenzierung (unter dem Einfluss der peripheren
Geschlechtshormone) spielen bei der Ausprägung der Geschlechtsidentität, der
Geschlechtsrolle und der sexuellen Orientierung auch psychologische, soziale
und kulturelle Einflüsse eine Rolle. Eine direkte Hormonwirkung, insbesondere
der Androgene auf die Hirnentwicklung und Reifung wird ebenfalls
angenommen sowie ein positiver feed-back Mechanismus zwischen eigener
körperlicher Entwicklung, Körperbild und Körperwahrnehmung.
123
Medizin und Geschlecht
Abb. 3: Geschlechtsrollenverhalten, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung sind
voneinander unabhängige Konstrukte, die jeweils einzeln von jedem Individuum erfragt
werden müssen. Auch wenn eine klare weibliche Geschlechtsidentität meistens mit einem
überwiegend weiblichen Geschlechtsrollenverhalten und in der Regel mit einer sexuellen
Orientierung zu Männern einhergeht, kann die Konstellation jedoch auch untypische
Entwicklung zeigen, die keinen Störungscharakakter haben. Untypische Entwicklungen
bergen allenfalls das Risiko, die betroffenen Individuen durch soziale Stigmatisierung und
Isolation zu belasten.
Geschlechtsrollenverhalten (gender role)
Alles was eine Person sagt und macht, um anderen oder sich selbst zu zeigen, in
welchem Ausmaß sie männlich, weiblich oder androgyn ist. Es handelt sich um
die öffentlich präsentierte soziale Rolle.
Geschlechtsidentität (gender identity)
Das Fortdauern, die Einheit der eigenen Identität als männlich, weiblich oder
androgyn in mehr oder minder starkem Ausmaß. Die Geschlechtsidentität wird
im Selbstbewusstsein erlebt und im Verhalten erfahren.
Sexuelle Orientierung
Bezeichnet die Präferenz des Geschlechts eines Sexualpartners.
Typisches Geschlechtsrollenverhalten
Wenige Verhaltensunterschiede von Männern und Frauen sind eindeutig
biologischen, d. h. genetischen Ursachen zuzuordnen. Dies ist der Fall, wenn
bestimmte Verhaltensmuster kulturunabhängig und über die Zeiten konstant
signifikant unterschiedliche Ausprägungen bei den Geschlechtern zeigen. Das
124
Medizin und Geschlecht
Merkmal, z.B. prosoziales Verhalten, kann zwar bei beiden Geschlechtern
gleichermaßen beobachtet werden, ist aber bei Mädchen und Frauen häufiger zu
beobachten. Vermutlich handelt es sich um anthropologische über lange Zeit
herausgebildete funktionelle, epigenetische Muster, die in gewissem Umfang
auch durch äußere Einflüsse veränderbar sind. Forschungsergebnisse belegen
eine Reihe solcher kulturübergreifender, geschlechtstypischer Eigenschaften und
Fähigkeiten:
- visuell-räumliche Fähigkeiten (in einigen Aspekten bei Männern ↑)
- Aggression (Männer ↑)
- prosoziales Verhalten (Frauen ↑)
- sprachliche Fähigkeiten (in einigen Aspekten bei Frauen ↑)
- Interesse an okkassionellen Sexualkontakten (Männer ↑)
- Neigung zu homosexuellen Kontakten (Männer ↑)
Altersbedingte Erfahrung mit Sexualität
Die psychosexuelle Entwicklung des Kindes beginnt nicht erst mit den
dramatischen Veränderungen während der Pubertät, sondern bereits im ersten
Lebensjahr. Die Festlegung auf eine Geschlechtsrolle ist meist im Alter von 2
Jahren erfolgt, spätestens im Alter von 4 Jahren ist die Geschlechtsidentität im
Selbstbild verankert. Diese Entwicklungen haben immer eine interpersonelle,
soziale Dimension und sind abhängig auch von den Erfahrungen und der
Lebensumwelt des Kindes.
Alter
Säuglingsalter
Kleinkind- und
Vorschulalter
Schulalter
Pubertät
Erwachsenenalter
Erfahrungen
elterliches Wickelverhalten
elterlicher Umgang mit Genitalentdeckung,
Doktorspiele, Körperscham
Klassenfahrten, Sportunterricht, Peer-Group
Körperliche Veränderungen, sexuelle
Erfahrungen, „anders sein“
Partnerschaft, Kinder
Menschen mit Störungen der Geschlechtsentwicklung berichten
Angeborene Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung wurden unter dem
Oberbegriff „Störungen der Geschlechtsentwicklung (“Disorders of sex
development“ -DSD) gefasst. Ihre Ursache liegt in den oben beschriebenen
Störungen der frühen –intrauterinen– sexuellen Determinierung und
Differenzierung. Von vielen erwachsenen Betroffenen, aber auch von Eltern und
Fachkollegen wurden die bisher benutzten Begriffe wie „testikuläre
Feminisierung“, „Pseudohermaphroditismus“, oder auch Sammelbegriffe wie
„Zwitter“ und „Intersexualität“ als wenig medizinisch informativ und häufig
125
Medizin und Geschlecht
eher als diskriminierend kritisiert. DSD betrifft insgesamt etwa 2:10.000
Neugeborene, einige dieser Störungen treten sehr viel seltener auf (1:100.000).
DSD liegt also vor, wenn chromosomales, gonadales und phänotypisches
Geschlecht nicht übereinstimmen.
Abb. 4
Richtlinien zur „optimalen Geschlechtszuweisung nach John Money et al.
(1955)
Abb. 5: Der Fall Joan-John erreichte internationale Publizität. Ein kleiner Junge
wurde im Säuglingsalter aufgrund einer Penisverstümmelung zum Mädchen
„umoperiert“ und schien sich in den Augen der Ärzte und Eltern zunächst
unproblematisch in dieser Rolle zu entwickeln. Später trat große
126
Medizin und Geschlecht
Unzufriedenheit und Zeichen einer scheinbaren Geschlechtsidentitätsstörung bei
dem Mädchen auf, es erfolgte im Jugendalter ein Geschlechtsrollenwechsel in
die männliche Rolle. Die traurige Lebensgeschichte endete im mittleren
Erwachsenenalter mit einem Suizid.
Die Empfehlung zur Geschlechtszuweisung bei einem Kind mit uneindeutigem
Genital basierten zunächst auf der „otimal gender policy“, die für eine frühzeitig
eindeutige Geschlechtszuweisung und operative Angleichung plädierte und auf
eine so unbeeinträchtigte psychosexuelle Entwicklung der Kinder hoffte. Die
Kinder wurden häufig nicht oder nur in geringem Umfang aufgeklärt.
Empfehlungen zur Geschlechtszuweisung heute
Folgende Fragen werden von der Fachwelt diskutiert:
- Gilt die optimal gender policy nach Money noch? Was muss verändert
werden?
- Sollen/können operative Maßnahmen bis zur Einwilligungsfähigkeit des
Kindes zurückgestellt werden?
- Kann es eine Erziehung in einem „dritten“ Geschlecht geben?
- Wie können Eltern unterstützt werden, eine Entscheidung im besten Interesse
des Kindes zu treffen?
- Wie können irreversible Eingriffe weitgehend vermieden/aufgeschoben
werden, ohne dass es zu einer Stigmatisierung und Isolierung des Kindes
kommt?
- Wie können Kinder altersangemessen aufgeklärt werden?
- Was bedeutet die Forderung nach einer „full consent policy“?
Aspekte der medizinsch-psychologischen Betreuung
Menschen mit Störungen der Geschlechtsentwicklung sollten interdissziplinär
betreut werden und Zugang zu Zentren mit notwendiger Expertise und
entsprechenden Teamstrukturen haben.
127
Medizin und Geschlecht
Aufgaben der
medizinischen
Betreuung
-
Biologisches Geschlecht
Ursache für Diagnose
Vererbung
Medikamenteneinnahme
Körperliche Entwicklung
Interdisziplinäre
Aufgaben
- Erstgespräche bzw.
Erstkontakte
- Elternbetreuung
- Übergangsangebote für
Jugendliche
- Reproduktion
Kontakt
Prof’in Dr. Ute Thyen
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Universität zu Lübeck
Ratzeburger Allee 160
23538 Lübeck
Tel: 0451 / 5 00 26 05
E-Mail: [email protected]
128
Psychosoziale
Angebote
- Unsicherheiten bzgl.
Geschlechtszuweisung
- Geschlechtsidentität
- Schuldgefühle
- Außenstehende
einweihen
- Kontaktwunsch
- Informationswunsch
- Krisensituation
Medizin und Geschlecht
BEWÄLTIGUNG CHRONISCHER KRANKHEIT IM
KINDES- UND JUGENDALTER:
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE RISIKEN UND
BERATUNGSANGEBOTE
VON PROFESSORIN DR. KARIN LANGE
Aktuelle Studien zur Prävalenz chronischer Krankheiten im Kindes- und
Jugendalter in der Bundesrepublik zeigen, dass weit über 10 % der unter 19jährigen von einer oder mehreren langfristig zu behandelnden gesundheitlichen
Störungen betroffen sind (KiGGS, Kamtsiuris et al. 2007). An erster Stelle
stehen bei den primär somatischen Erkrankungen das Asthma bronchiale und
Allergien, gefolgt von Neurodermitis, angeborenen Herzfehlern, Epilepsie, Typ
1 Diabetes und diversen seltenen oft aufwändig zu behandelnden Krankheiten
wie Mukoviszidose, juvenile chronische Arthritis, seltene genetische Syndrome,
PKU und weitere Stoffwechselstörungen. Geschlechterunterschiede in der
Lebenszeitprävalenz finden sich hier abgesehen von der Hämophilie nur bei
wenigen Krankheitsbildern. Obstruktive Bronchitis und Asthma werden bei
männlichen Jugendlichen häufiger beobachtet, bei weiblichen Jugendlichen sind
es Schilddrüsenkrankheiten und Migräne.
Bei den primär psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters finden sich
dagegen deutliche Geschlechterunterschiede: Jungen sind zwei- bis dreifach
häufiger von einer ADHS betroffen, die Zahl männlicher Jugendlicher mit einer
Substanzabhängigkeit übersteigt die Zahl der weiblichen Jugendlichen bei
weitem. Dagegen werden bei jugendlichen Mädchen mehrfach häufiger
affektive Störungen (Angst und/oder Depression) oder eine Essstörung
diagnostiziert (Hölling H et al. 2008).
Mit Blick auf die Langzeitprognose bei primär somatischen Krankheitsbildern
deuten sich unvorteilhaftere Daten für weibliche Jugendlichen, vor allem bei der
Mukoviszidose und beim Typ 1 Diabetes an (Hoey et al. 2001; Gerstl et al.
2008). Diesen in westlichen Industriestaaten erhobenen Daten stehen diejenigen
aus Schwellenländern mit dramatischen Unterschieden zwischen den
Geschlechtern gegenüber. So zeigen Kaira et al. (2009) in einer repräsentativen
Studie in Nordindien, dass das Verhältnis der Prävalenz von Typ 1 Diabetes bei
den 15-30jährigen 1:0,46 zu Ungunsten der Patientinnen beträgt, obwohl die
Inzidenz für beide Geschlechter identisch ist. Eine große Zahl der Familien ist
demnach nicht in der Lage oder Willens die lebensnotwendige Therapie für die
Mädchen zu finanzieren. Die Autoren schließen ihre Publikation wie folgt: „Di129
Medizin und Geschlecht
abetes workers mention the reasons for this as social gender bias, which lead to
less medical care and less nutrition for girls with diabetes. The data highlight
the social and medical factors which contribute to discrimination against girls
with diabetes.”
Am Beispiel es Diabetes mellitus Typ 1 als eine Stoffwechselstörung mit hohem
täglichen Therapieaufwand werden im Folgenden geschlechterspezifische
Risiken und Beratungsangebote vorgestellt. Das Krankheitsbild erfordert eine
kontinuierliche Anpassung der medikamentösen Therapie (Insulingaben) an die
Ernährung, körperliche Aktivität, psychische Belastungen und diverse andere
Faktoren des Alltags. Durch regelmäßige Bestimmung des Blutglukosespiegels
(sechs- bis achtmal täglich) wird der Erfolg der Therapie überprüft und diese
ggf. angepasst, um akuten Krisen und langfristigen Komplikationen
vorzubeugen. Kinder bis weit in das Schulalter hinein sind mit dieser Aufgabe
überfordert und auf die kontinuierliche kompetente Überwachung durch
Erwachsene angewiesen. Da es bis dato in Deutschland keine gesetzliche
Regelung oder Verpflichtung für Kindertagesstätten und Schulen zur
Versorgung chronisch kranker Kinder gibt (Lange et al. 2009), betrifft die
Diabetesmanifestation bei einem Kind eine Vielzahl von Müttern. Um eine
adäquate Versorgung der Kinder zu gewährleisten, sehen sich derzeit die
Mehrheit der Mütter und auch einige wenige Väter zur Aufgabe der eigenen
Berufstätigkeit gezwungen (Lange et al. 2004). Eine Anerkennung dieser
Betreuungsleistung, z.B. im Rahmen der Pflegeversicherung, findet jedoch in
der Regel nicht statt.
Im Kindesalter finden sich beim Diabetes, wie auch bei den anderen chronischen
somatischen Krankheiten keine nennenswerten geschlechterabhängigen
Unterschiede im Behandlungs- und Betreuungsbedarf. Beratungs- und
Schulungskonzepte setzen auf die Vermittlung von Wissen und den Aufbau
funktionaler Erwartungen zu Krankheit und Behandlung. Weiterhin wird das
Symptommanagement im Falle einer akuten Exazerbation sowie das Krankheitsund Selbstmanagement während der symptomaren Intervalle trainiert.
Schließlich kommt der Krankheitsbewältigung individuell und in
Familiensystem und Peergruppe eine zentrale Stellung zu (Lange et al. 2007;
Noeker 2008). Damit soll das Selbstbewusstsein und die Fertigkeit zum
eigenverantwortlichen Handeln gefördert werden.
Mit dem Einsetzen der Pubertät und dem Übertritt in das Jugendalter ergeben
sich geschlechterspezifische Unterschiede im Beratungs- und Schulungsbedarf
der jungen Patienten. Sie stehen in engem Zusammenhang mit den
alterstypischen
Entwicklungsaufgaben,
der
Identitätsund
Autonomieentwicklung und krankheitsunabhängigen Risiken (Sawyer et al.
130
Medizin und Geschlecht
2007). Jugendliche Mädchen und auch Jungen stellen sich Fragen ob und in
welcher Weise ihre körperliche Entwicklung, Sexualität, ihre Fertilität und die
Gesundheit möglicher eigener Kinder durch die chronische Krankheit
beeinflusst werden kann. Mädchen benötigen weiterhin spezifische
Informationen darüber, welche Methoden der Kontrazeption mit ihrer Krankheit
und deren Therapie vereinbar sind. Besonders dann, wenn es besondere Risiken
und Funktionsbeeinträchtigungen gibt, sind sensible und geschlechterspezifische
Beratungen bereits bei jüngeren Jugendlichen erforderlich, um deren
Identitätsentwicklung zu unterstützen (Lange 2010). Damit eng verbunden ist
die Integration in die gleichaltrigen Peergruppen und die Förderung sozialer
Kompetenz, damit Jugendliche ihre Therapie trotz gegenläufiger Aktivitäten
anderer Jugendlicher aufrechterhalten. Speziell für männliche Jugendliche geht
es in der Beratung und Schulung durch das pädiatrische Behandlungsteam um
das alterstypische „sensation seeking“ mit hoher körperlicher Belastung und
Risiken, ggf. Leistungssport, aber auch den Konsum von Alkohol und anderen
Drogen. Die Abstimmung mit der medikamentösen Therapie spielt hier ebenso
eine Rolle, wie die Prävention von akuten, vital bedrohlichen Risiken und
notwendige Sicherheitsvorkehrungen. Jugendliche Mädchen mit Diabetes sind
häufiger als Jungen und häufiger als andere Gleichaltrige von subklinischen
psychischen Störungen betroffen. Dies gilt vor allem für Depression, Angst und
Essstörungen. Alle diese Störungen wirken sich negativ auf die
Stoffwechselsituation und damit die langfristige Prognose aus. In
evidenzbasierten Leitlinien wird daher heute empfohlen, regelmäßig nicht nur
das körperliche, sondern auch das seelische Befinden der Jugendlichen zu
überprüfen, um ggf. frühzeitig therapeutisch zu intervenieren. Spezielle
Schulungsangebote für ältere Mädchen haben daher das Essverhalten, die
Auseinandersetzung mit körperlichen Idealen und dem Schlankheitsdruck,
sinnvolle und riskante Maßnahmen zur Gewichtskontrolle und vor allem die
Förderung von Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein zum Ziel. Letzteres
gilt auch für den selbstverantwortlichen Umgang mit der erforderlichen
Diabetestherapie im Alltag, deren Integration in Schule und Ausbildung (Lange
et al. 2009). Fragen der Partnerschaft und die Akzeptanz der Krankheit durch
den Partner, vor allem aber durch dessen Familie stellt ältere Jugendliche und
junge Erwachsene mit verschiedensten körperlichen Beeinträchtigungen vor
weitere psychische Belastungen, die einer geschlechtersensiblen Beratung durch
das Behandlungsteam bedürfen.
Literatur
Gerstl E et al. (2008) Metabolic control as reflected by HbA1c in children, adolescents and young adults with type 1 diabetes mellitus. Eur J Pediatr
167:447-53
131
Medizin und Geschlecht
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with type 1 diabetes. Diabetes Care 24:1923-28
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Kaira S et al. (2009) The case of the missing girls: low female vs. male ratio in
youth with diabetes in North India. Pediatric Diabetes 10:13
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Lange K (2010) Umgang mit chronisch kranken Kindern. In: O. Hiort, T.
Danne, M. Wabitsch (Hrsg.): Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie.
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Lange K et al. (2009) Diabetes bei Jugendlichen: ein Schulungsprogramm. 2.
überarbeitete und aktualisierte Auflage. Kirchheim, Mainz Reader 1:
Diabetes Basics p 1-167; Reader 2: Insulintherapie für Profis p 1-91; Reader
3: Diabetes Specials p 1-135; Reader 4: Pumpentherapie p 1-95.
Lange K et al. (2004) Diabetesmanifestation im Kindesalter: Alltagsbelastungen
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Lange K et al. (2009) Diabetes care in schools – the disturbing facts. Pediatric
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Paediatric Diabetes (2007) 8 (Suppl. 6): 63-71
Noeker M (2008) Das Gemeinsame im Speziellen: Krankheitsübergreifende
Module und Lernziele der Patientenschulung. Präv Rehab 20:2-11
Sawyer SM et al. (2007) Adolescents with a chronic condition: challenges
living, challenges treating. Lancet 369: 1481-89
Kontakt
Prof’in Dr. Karin Lange
Medizinische Psychologie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 / 5 32 44 37
E-Mail: [email protected]
132
Medizin und Geschlecht
PNEUMOLOGIE
30. APRIL 2010
133
Medizin und Geschlecht
134
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE IN DER (PULMONALEN)
LEISTUNGSDIAGNOSTIK
PROFESSOR DR. RALF EWERT
Es steht außer Frage, dass eine Vielzahl von Leistungs- (besser)
Funktionswerten eine Abhängigkeit von physiologischen, anthropometrischen
und geschlechterspezifischen Parametern aufweist. Eine Reihe dieser Werte
zeigen zudem im Altersverlauf eine Veränderung. Zusätzlich existieren
soziokulturelle, geografische und ethnische Einflussfaktoren, welche
insbesondere bei der Erarbeitung von Normwerte einen teilweise schwer zu
kalkulierenden Einfluss aufweisen. Es sollte daher angestrebt werden, die in der
pneumologischen Diagnostik verwendeten Normwerte aus regionalen
Kollektiven zu erheben und diese auch in gewissen Abständen auf ihre
Gültigkeit (bzw. Veränderungen) zu überprüfen.
Unter besonderer Berücksichtigung geschlechterspezifischer Fragen soll in dem
vorliegenden
Beitrag
ein
kleiner
Überblick
über
ausgewählte
Funktionsuntersuchungen und deren Normalwerte gegeben werden. Die dafür
verwendeten Daten stammen überwiegend aus der „Study of Health in
Pommerania“
(SHIP),
welche
eine
Längsschnittuntersuchung
in
Nordvorpommern darstellt. In diese Studie wurden anhand einer repräsentativen
Stichprobe (auf der Basis der Melderegister) Probandinnen und Probanden ab
dem 25. Lebensjahr eingeschlossen. Eine erste Untersuchung erfolgte im
Zeitraum 1997-2001 mit 4310 Probandinnen und Probanden (SHIP 0) und eine
zweite im Zeitraum 2002-2006 mit 3300 Probandinnen und Probanden (SHIP
1). Aktuell werden die Probandinnen und Probanden in einem zweiten Followup untersucht (SHIP 2, Zeitraum 2008-2011). Die methodischen Grundlagen
sowie konzeptionelle Informationen wurden kürzlich publiziert.
Für die Bewertung der gewonnenen Daten ist es unverzichtbar darauf
hinzuweisen, dass die Bevölkerung Vorpommern eine gewisse Sonderstellung
im gesamtdeutschen Rahmen einnimmt. Dieses wird u. a. dadurch deutlich, dass
die mittlere Lebenserwartung der lebendgeborenen Mädchen und Jungen immer
noch unter dem Durchschnitt anderer Regionen liegt. Zudem ist im 3. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung (2008) ausgewiesen, dass die
sozialökonomischen Bedingungen vergleichsweise schlechter als in anderen
Regionen sind. Bei Betrachtung der kardiovaskulären Risikofaktoren (u. a.
Prävalenz der arteriellen Hypertonie, Übergewicht in der Bevölkerung als auch
Anteil der Raucher) in allen Altersklassen vergleichsweise hoch ist.
135
Medizin und Geschlecht
In diesem „Risikokollektiv“ von Probandinnen und Probanden haben wir für
ausgewählte pneumologische Funktionsuntersuchungen Normwerte erhoben.
1. Spirometrische Befunde
Von den initial 1.809 untersuchten Probandinnen und Probanden konnten
letztlich nach Ausschluss aller Personen mit kardialen und pulmonalen
Erkrankungen 904 Gesunde ausgewertet werden. Bei der statistischen
Verwendung von 5. und 95. Konfidenzintervall (CI) wurde deutlich, dass die
erhobenen Werte teilweise deutlich über den international empfohlenen
Normwerten liegen. Dieser Sachverhalt trifft für beide Geschlechter in gleicher
Weise zu. Dieses ist kein isoliertes Ergebnis aus SHIP, sondern zeigt sich auch
bei anderen deutschen Erhebungen. Somit sind die in Deutschland gewonnenen
Daten gut vergleichbar. Es muss jedoch darauf verwiesen werden, dass
methodische Fragen der Datenerhebung einen großen Einfluss auf die
Ergebnisse haben. Besonders deutlich wird dies bei den Prävalenzstudien zur
Häufigkeit von Patientinnen und Patienten mit COPD. Wenn man die Daten aus
Hannover mit denen aus SHIP vergleicht, zeigt sich in den untersuchten
Altersgruppen eine unterschiedliche Prävalenz der COPD.
2. Werte für den muskulären Atemantrieb
Für diese Werte liegen gute Daten aus Deutschland vor, die bei 504 Gesunden
zwischen 18 und 82 Jahren einen mittleren PIMAX von 9,95 kPa bei Männern
und einen Wert von 7,43 kPa bei Frauen ausweisen. Aus klinischer Sicht sind
jedoch die niedrigsten normalen Werte (LLN), welche bei Frauen 59 % und für
Männer 60 % der vorausgesagten maximalen Werte darstellten. In unserer
Analyse aus den SHIP Daten lagen die LLN-Werte für beide Geschlechter unter
denen der Untersuchung aus München.
3. Werte der Spiroergometrie
Für ausgewählte Werte der Spiroergometrie liegen seit Jahrzehnten etablierte
Normwerte vor, wobei hierbei zwischen ergometrischen Parametern
(Pulsfrequenz, Leistung, Belastungsdauer und Blutdruck unter Belastung) sowie
den eigentlichen spiroergometrischen Befunden (Sauerstoffaufnahme an
bestimmten Punkten, Werte der Atemeffizienz, Sauerstoffpuls) unterschieden
werden sollte. Es ist seit langem bekannt, dass die ergometrischen Werte
wesentlich von dem gewählten Protokoll der Belastung abhängig sind. Dagegen
sind die eigentlichen spiroergometrischen Werte nicht protokollabhängig, was
mittlerweile für verschiedene Patientinnen- und Patientengruppen gezeigt
wurde. Wir haben für die Belastung auf dem Fahrradergometer nach einem
Jones-Protokoll 1.708 Probandinnen und Probanden untersucht. Nach
Ausschluss aller Patientinnen und Patienten mit Charakteristika, welche die
136
Medizin und Geschlecht
Belastbarkeit beeinflussen (Confounder), wurden letztlich 534 Personen (253
Frauen) zwischen 25-80 Jahren ausgewertet. Vergleicht man die gewonnen
Daten mit etablierten Normwerten, fällt erstens die breite Streuung der
Normalwerte und zweitens eine ausreichende Vergleichbarkeit der mittleren
Werte im mittleren Lebensalter auf. Bei den älteren Probandinnen und
Probanden liegen die von uns erhobenen Werte jedoch im Mittel deutlich über
den Werten anderer Autorinnen und Autoren.
Aus klinischer Erfahrung haben wir es aber in der täglichen Praxis nicht mit
„normalen“ Personen zu tun, sondern es sind die Patientinnen und Patienten mit
ihren vielfältigen Risikofaktoren (Übergewicht, Raucher und Raucherinnen) und
Besonderheiten (Einnahme von Betablockern). Wir haben daher an unseren
Probanden untersucht, welchen Einfluss diese Faktoren auf ausgewählte
Ergebnisse der Spiroergometrie haben. Dabei wird u. a. deutlich, dass
geschlechterspezifische Unterschiede vorliegen. So wird die Atemeffizienz
durch das Rauchen bei beiden Geschlechtern signifikant beeinflusst, die
Sauerstoffaufnahme unterschiedet sich bei jedoch nur bei Rauchern und
Nichtrauchern und nicht bei Raucherinnen und Nichtraucherinnen signifikant.
Fazit
Bei Betrachtung kardiopulmonaler Funktionsuntersuchungen wird deutlich, dass
neben geschlechterspezifischen eine Reihe weiterer Faktoren einen Einfluss auf
die gewonnenen Werte besitzen. Aus pragmatischen Erwägungen werden daher
„Normwerte“ häufig (neben dem Geschlecht) auf das Alter und Körpergewicht
bezogen, um eine Standardisierung zu ermöglichen. Es ist jedoch seit Jahren
hinreichend bekannt, dass insbesondere soziokulturelle und ethnische Faktoren
einen wichtigen Einfluss auf die Parameter der kardiopulmonalen Funktion
besitzen. Vor diesem Hintergrund sollte überdacht werden, ob die Erstellung
von internationalen Normwerten wirklich gerechtfertigt ist. Für die
spirometrischen Funktionsgrößen konnten wir zeigen, dass erstens verschiedene
Untersuchungen in Deutschland vergleichbare Daten ergaben und zweitens diese
von internationalen Werten abweichen. Diese international verwendeten
Normwerte wurden an Lungenfunktionsuntersuchungen der Jahre 1954-1980
von verschiedenen Studienpopulationen, inklusive aktiver Raucherinnen und
Raucher, sowie unter Zusammenfassung verschiedener Untersuchungstechniken
erstellt und folglich lagen keine repräsentativen Stichproben im eigentlichen
Sinne vor. Aktuelle Arbeiten weisen darauf hin, dass die Anwendung
historischer Referenzwerte für die Spirometrie zu einer beträchtlichen
Unterschätzung der bevölkerungsbezogenen Lungenfunktionswerte führen kann.
Die dringende Überarbeitung der historischen Referenzwerte wird
dementsprechend empfohlen, und es sollten Männer und Frauen in gleichem
Umfang in solche Analysen einbezogen werden.
137
Medizin und Geschlecht
Literatur
BMAS, 2008, Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung
Buist AS et al. Int J Tuberc Lung Dis 2008; 12:703-08
Gläser S et al. BMC Pulmonary Medicine 2008, 8:3
Gläser S et al. Eur J Cardiovasc Prev Rehabil. 2010 Mar 18 [Epub ahead of
print]
Gläser S et al. Respiration. 2010 Feb 5 [Epub ahead of print]
Hautmann H et al. Respir Med 2000;94:689-93
Koch B et al. Dtsch Med Wochenschr. 2009;134:2327-32
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Midgley AW et al. Sports Med 2008;38:441-47
Schnabel E Respir Res 2010 Respiratory Research 2010; 11:40
Völzke H et al. Ärzteblatt MV 2007 (2), 49-53
Völzke H et al. Int J Epidemiol. 2010 Feb 18 [Epub ahead of print] No abstract
available
Kontakt
Prof. Dr. Ralf Ewert
Klinik Innere Medizin B der Medizinischen Fakultät
Universitätsklinikum Greifswald / Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Loeffler Str. 23a
17487 Greifswald
Telefon: 03834 / 86 67 76
E-Mail: [email protected]
138
Medizin und Geschlecht
COPD –
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE BESONDERHEITEN –
EFFEKTIVE PNEUMOLOGISCHE REHABILITATION.
VON DR. KARIN TAUBE
Einleitung
Pneumologische Rehabilitation ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Therapie
vieler Erkrankungen der Atmungsorgane und gewinnt zunehmend an
Bedeutung. Wie auch in anderen Bereichen der Medizin trägt die Beachtung
geschlechterspezifischer Unterschiede zur Verbesserung von Diagnostik,
Therapie und Erfolg bei.
Definition der pneumologischen Rehabilitation
Medizinische Rehabilitation generell bezieht sich auf das biologischpsychosoziale Modell von funktionaler Gesundheit und deren Beeinträchtigung.
Die entsprechende Klassifikation ist die ICF, Internationale Klassifikation der
Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Kurative Versorgung dagegen
ist a priori kausal orientiert. Ihr konzeptionelles Bezugssystem ist das biomedizinische Krankheitsmodell und die entsprechende Klassifikation, die ICD,
Internationale
Klassifikation
der
Krankheiten
und
verwandter
Gesundheitsprobleme.
Gerade im Bereich der Pneumologie beruhen die angewandten rehabilitativen
Methoden auf einer breiten Basis internationaler wissenschaftlicher
Untersuchungen. Die amerikanischen und europäischen Fachgesellschaften
definieren daher pneumologische Rehabilitation als eine evidenzbasierte,
multidisziplinäre und umfassende Behandlung für Patientinnen und Patienten
mit chronischen Erkrankungen der Atmungsorgane, die Symptome aufweisen
und in ihren Alltagsaktivitäten eingeschränkt sind. Eine kürzlich erschienene
Prognos-Studie hat ergeben dass die pneumologische Rehabilitation im
Vergleich zu den anderen häufigsten Indikationen die größte Effektstärke in
Bezug auf die Prä-Post-Veränderungen aufweist.
Gesetzliche Grundlagen der Rehabilitation
In Deutschland ist die medizinische Rehabilitation in das gegliederte System der
sozialen Sicherung mit seinen unterschiedlichen Zuständigkeiten und
Trägerstrukturen eingebunden (SGB IX, SGB V, SGB IV, SGB VII). Ihrer
Aufgabe entsprechend haben die verschiedenen Träger spezifische
Zielsetzungen. In Übereinstimmung mit dem SGB IX formuliert das deutsche
139
Medizin und Geschlecht
Renten-, Kranken- und Unfallversicherungsrecht für die Atemwegs- und
Lungenerkrankten, die Krankheitsfolgen aufweisen, ausdrücklich einen
Anspruch auf Rehabilitation.
Indikation von pneumologischer Rehabilitation
Rehabilitative Maßnahmen sind bei vielen Erkrankungen der Atmungsorgane
indiziert. Zu den wichtigsten gehören die Volkserkrankungen Asthma
bronchiale und Chronic Obstructive Pulmonary Disease (COPD). Die COPD ist
die Erkrankung, die den größten Teil der pneumologischen Rehabilitanden
ausmacht. Beispielhaft waren bei den 745 Patientinnen und Patienten, die 2006
und 2007 an einer ambulanten Maßnahme in der Atem-Reha Hamburg
teilgenommen haben, 462 (62 %) an einer COPD erkrankt. Ca. 1/3 davon waren
Frauen. Diese Verteilung ist wahrscheinlich als repräsentativ anzusehen, da die
Einrichtung von allen Kostenträgern belegt wird.
Inhalte der Rehabilitation bei COPD
Zur Durchführung der Rehabilitation bei COPD wurde 2007 eine S2-Leitlinie
erstellt. Das übergeordnete Ziel soll die Normalisierung des Lebens und die
Wiederherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit sein, soweit dies möglich
ist. Dabei sind funktionale, somatische, psychosoziale und edukative
Therapieziele zu berücksichtigen. Das wird nur erreicht durch eine
multidisziplinäre und multimodale Maßnahme (Tab.1), wobei die medizinische
Trainingstherapie eine Kernkomponente ist. Die Ergebnisse der Rehabilitation
bei COPD sind auf Grund umfangreichen wissenschaftlicher Untersuchungen
mit höchsten Evidenzgrad gesichert (Tab.2). Geschlechterspezifische
Differenzierung ist bei den Studien nur selten erfolgt. Bisherige Untersuchungen
weisen aber darauf hin, dass diese im Krankheitsspektrum der COPD aber eine
Rolle spielen und berücksichtigt werden sollten.
Tabelle 1
Bei der pneumologischen Rehabilitation handelt es sich um ein Komplexangebot zur
Beeinflussung von biologisch-psychosozialen Krankheitsfolgen
bestehend aus:
- Tabakentwöhnung
- Ernährungstherapie
- medikamentöse Therapie
- Hilfsmittelversorgung
- körperlichem Training
- psychosozialem Support
- Patientenschulung
- Sozialmedizin
- Physiotherapie/Ergotherapie
Die ambulante oder stationäre
starke Empfehlung
pneumologische Rehabilitation soll
insbesondere bei COPD-Patient/inn/en ab
einem mittleren Schweregrad und auch bei
höherem Lebensalter durchgeführt werden
als wirksame Komponente des langfristig
140
Medizin und Geschlecht
ausgerichteten Managements der COPD
Tabelle 2
Nutzen der pneumologischen Rehabilitation
Gesteigerte körperliche Leistungsfähigkeit
Abnahme der Atemnot
Steigerung der Lebensqualität
Abnahme von COPD assoziierter Angst und Depression
Verbesserung von Kraft und Ausdauer der Armmuskeln bei
gezieltem Training
Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Atemmuskeln bei
speziellem Training, insbesondere in Kombination mit
allgemeinem körperlichen Training
Besserung von psychischen Störungen, Förderung durch
psychosoziale Intervention
Evidenzgrad
A
A
A
A
B
B
C
Prävalenz
Dank der Burden of Obstructive Lung Disease Studie (BOLD-Studie) hat sich
die Datenlage in Bezug auf die Prävalenz der COPD verbessert. Die
Untersuchung für Stadt und Region Hannover ergeben eine Prävalenz von 13,2
% für die Population über 40 Jahre. Wurde früher die COPD als eine
Erkrankung der Männer angesehen, so zeigt sich nun, dass in der Altersgruppe
zwischen 40 und 49 Jahre schon mehr Frauen als Männer daran erkrankt sind.
Dieser Trend bestätigt sich ebenso in anderen Ländern z.B. in der Region
Salzburg. Die Ursache liegt einmal an den veränderten Rauchgewohnheiten der
Geschlechter, z.B. waren in der BOLD-Studie aus der Region Hannover in den
unteren Altersklassen mehr Frauen aktive Raucherinnen als Männer aktive
Raucher. Zum anderen aber spielt wahrscheinlich die stärkere Empfindlichkeit
der Frauen gegenüber Tabakrauch eine Rolle.
Diagnostik
Noch 2001 wurde von Chapman in Nordamerika festgestellt, dass bei Frauen die
COPD von Allgemeinärztinnen und -ärzten unterdiagnostiziert wurde. In der
deutschen BOLD-Studie zeigt sich auch hier ein Wandel. In dem
Gesamtkollektiv von 683 Probandinnen und Probanden war die COPD bei 7,7 %
aller Probandinnen und Probanden schon ärztlich diagnostiziert. In dieser
Gruppe waren in fast allen Altersklassen die Frauen in der Überzahl. Auch in
einer amerikanischen Untersuchung waren bei den jüngeren COPD-Patientinnen
und Patienten mehr Frauen als Männer schon ärztlich diagnostiziert.
Pathomorphologie
141
Medizin und Geschlecht
Die COPD wird definiert als eine chronische Lungenerkrankung, mit nach Gabe
von Bronchodilatatoren und/oder Kortikoiden nicht vollständig reversibler
Atemwegsobstruktion auf dem Boden einer chronischen Bronchitis und/oder
Lungenemphysem. Allerdings mehren sich Hinweise, dass die
Entzündungsvorgänge, die dabei eine Rolle spielen, nicht nur auf das Organ
Lunge beschränkt sind, sondern auch zu Veränderungen der Skelettmuskulatur,
von Herz und Gefäßen, des Skelettsystems, des Endokriniums und von Blut und
Psyche führen. Die Berücksichtigung all dieser Faktoren erklärt die für den
Krankheitsverlauf typische Abwärtsspirale mit zunehmender Beeinträchtigung,
Inaktivität und Dekonditionierung. Pathomorphologisch sind bei Frauen
besonders die Atemwege betroffen. Funktionell macht sich das bemerkbar durch
den stärkeren Abfall der Einsekundenkapazität (FEV1) bei gleichem
Rauchverhalten. Erklärt wird dies durch die stärkere Empfindlichkeit der Frauen
auf den Zigarettenrauch. Neben der vermehrten Ablagerung schädlicher Partikel
bei kleinerem Durchmesser der Atemwege sind wahrscheinlich biochemische
Prozesse die Hauptursache. Östrogene verursachen eine up-regulation der
Expression und Aktivität von Cytochrom P 450. Dies wiederum erhöht den
Metabolismus von Bestandteilen des Zigarettenrauchs von denen einige potente
Oxidantien sind. Da Östrogene die Expression oder Aktivität von
detoxifizierenden Enzymen nicht beeinflusst, haben rauchende Frauen einen
höheren oxidativen Stress besonders im Bereich der Atemwege.
Emphysematöse Veränderungen dagegen sind stärker bei den Männern
ausgeprägt, wie in dem Kollektiv des National Lung Screening Trial/NLST
festgestellt worden ist. Außer im Stadium 2 ist der Unterschied signifikant.
Ähnliche Ergebnisse zeigen die Daten der multizentrischen International COPD
Genetic Network-Untersuchung(ICGN).
Symptome
Geschlechterspezifische Unterschiede sind auch bei den für die COPD typischen
Symptomen vorhanden.
1. Atemnot
Dieses Hauptsymptom der COPD ist bei Frauen stärker ausgeprägt. In der
Confronting COPD Beobachtungsstudie (Survey), die von August 2000 bis
Januar 2001 in den USA, Canada, Frankreich, Italien, Deutschland,
Niederlanden, Spanien und UK bei 3465 Patientinnen und Patienten mit einer
ärztlich diagnostizierten COPD in Form einer Befragung durchgeführt
wurde, überwog der Frauenanteil in den höheren Scores der Medical
Research Council-Atemnotskala (MRC), die Atemnot bei Alltagsaktivitäten
beschreibt. Auch in der National Emphysema Treatment Trial-Studie
(NETT), in der 1053 Patientinnen und Patienten (38,8 % Frauen) untersucht
wurde, litten Frauen an hoch signifikant stärkerer Atemnot auch unter
142
Medizin und Geschlecht
Berücksichtigung des Alters, des FEV1 in Prozent des Solls und der
Ausprägung des Lungenemphysems.
2. Depression, Angst, Panik
In der gleichen Studie stellte sich auch heraus, dass Frauen mit COPD
signifikant häufiger und stärker an Depressionen leiden. Im Beck-Depression
Inventory (BDI), ein häufig verwendeter Fragebogen zur Messung von
Depression, fanden sich bei Frauen deutlich höhere Werte als bei den
Männern. Weiterhin zeigten Frauen niedrigere Werte im psychischen
Summenscore des 36 Item short form (SF-36), eines Verfahrens zur
Bestimmung der generischen Lebensqualität. Vermehrte psychische
Störungen wie Angst, Phobie und Panik hat auch Laurin bei Frauen mit
COPD nachgewiesen.
Lebensqualität
Wieder in der NETT-Studie konnte gezeigt werden, dass Frauen bei gleichem
COPD-Schweregrad eine signifikant schlechtere krankheitsbezogene
Lebensqualität haben, die mit dem Saint George's Respiratory Questionnaire
(SGRQ) erfasst wurde. Bestätigt wurde dies auch in einer anderen Untersuchung
an einem speziellen Kollektiv, von jeweils 53 Männer und Frauen aus Teneriffa
und Boston mit COPD gleichen Schweregrades, die in eine Klinik eingewiesen
wurden. Die Skalen Symptome und Aktivität des SGRQ waren bei den Frauen
signifikant stärker beeinträchtig als bei den Männern.
Mortalität
Trotz stärkerem Leidensdruck wurde im
Observationsstudie, ein Parameter, der eine
und Prädiktion erlaubt, festgestellt, dass
vergleichbar schwerer Erkrankung (FEV 1
niedriger ist.
Rahmen der aktuellen BODEbessere Krankheitsklassifizierung
die Mortalität bei Frauen bei
% des Solls und BODE-Index)
Therapie
1. Medikamente
In der Vergangenheit wurden bei Medikamentenstudien nur selten
geschlechterspezifische Aspekte berücksichtigt, was sich aber zunehmend
ändert. Die Tristan-Studie, die im Vergleich zu Placebo einen signifikanten
Effekt von Salmaterol und Fluticason auf den FEV1, Lebensqualität (SGRQ)
und Exazerbationen ergab, zeigt in Bezug auf das Geschlecht keine
signifikanten Unterschiede auf.
2. Sauerstofflangzeittherapie
In einer prospektiven Studie aus Schweden, in der 5689 sauerstoffpflichtige
Patientinnen und Patienten während eines Zeitraums von 1987 bis 2000
untersucht wurden, zeigt sich, dass die Inzidenz und Prävalenz bei Frauen
143
Medizin und Geschlecht
schneller ansteigt als bei Männern. Auch in dieser Untersuchung kommt
wieder eine bessere Überlebensrate der Frauen zur Darstellung.
3. Hospitalisierung
Im Rahmen der NETT-Studie hat man weiterhin festgestellt, dass in der
Kontrollgruppe, die nicht operiert wurden, weibliches Geschlecht bei
Adjustierung nach Schweregrad der COPD, assoziiert war mit einem
erhöhten Risiko von Krankenhausbehandlung wegen respiratorischer
Erkrankungen (OR 1,5:95 % CI,1.01-2.28).
4. Krankheitsmanagement
Eine der Gründe könnte sein, dass bei Frauen das Management der
Erkrankung schlechter ist. In einer Untersuchung benutzten bei gleicher
Beschwerdesymptomatik nur 59 % der Frauen ein Anticholinergikum
gegenüber 69 % der Männer. Bei Exazerbationen der COPD nahmen in den
ersten 24 h 25 % der Frauen und 36 % der Männer eine Notfallbehandlung in
Anspruch.
Geschlechterspezifische Beeinflussung der Rehabilitationsergebnisse
Besonders unter Berücksichtigung der geschlechterspezifischen Unterschiede in
Bezug auf die biologisch-psychosoziale Krankheitskomponente der COPD
sollten
bei
einer
Rehabilitationsmaßnahme
geschlechterspezifische
Therapieansätze berücksichtigt werden. Zu diesen Fragen gibt es allerdings nur
eine dürftige und heterogen Datenlage.
1. Geschlechterspezifische Unterschiede sind feststellbar
Beschränkt sich die rehabilitative Therapie nur auf eine körperliche
Trainingstherapie, so profitieren Frauen in Bezug auf die Lebensqualität,
bestimmt mit dem Chronic Respiratory Questionnaire (CRQ) weniger als
Männer, auch wenn das Training über 18 Monate fortgesetzt wird. Die
Autoren folgern daraus, dass bei Frauen zusätzlich andere
Rehabilitationsinhalte wichtig sind. In einer älteren multizentrischen Studie
mit 164 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus zehn amerikanischen
Rehabilitationseinrichtungen zeigte sich bei der Eingangsuntersuchung, dass
die Männer älter waren und mehr geraucht hatten. Funktionell bestand bei
der Einsekundenkapazität (FEV 1) kein Unterschied. Die Frauen hatten
jedoch einen signifikant schlechteren 6-Minuten-Gehtest. Niedriger war auch
der Gesamtscore der Pulmonary Function Status Scale und zwar bei den
funktionellen Aktivitäten, Atemnot, Angst, sozialen Bindungen und der
Subscores Mobilität. Am Ende der Rehabilitation kam es bei den Frauen im
Vergleich zu den Männern zu einer signifikant stärkeren Verbesserung der
psychosozialen Parameter und der Lebensqualität bestimmt mit dem CRQ,
wobei dies den Domänen Stimmungslage und Krankheitsbewältigung
zuzuschreiben war. In einer neueren Untersuchung über ein 12-wöchiges
144
Medizin und Geschlecht
Rehabilitationsprogramm (3x/Woche) aus Kanada zeigte sich, bei sonst
unterschiedsloser Verbesserung der Endergebnisse eine signifikant stärkere
Abnahme der Atemnot bei den Frauen. Eine Untersuchung aus Schweden
ergab nach einer 4-wöchigen intensiven Maßnahme in Bezug auf den 6Minuten-Gehtest nur bei den 22 Männern eine Verbesserung des 6-MinutenGehtestes und nicht bei den 18 teilnehmenden Frauen.
2. Geschlechterspezifische Unterschiede sind nicht feststellbar
In einer weiteren Untersuchung dieser Arbeitsgruppe zeigte sich jedoch, dass
nach 4 Wochen Rehabilitation sowohl die 46 Männern als auch die 46 Frauen
eine signifikante Steigerung der Leistungsfähigkeit zeigten, die sich nicht
unterschied. Auch die positiven Effekte auf Lebensqualität und Angst waren
direkt nach der Rehabilitation bei Männern und Frauen gleich. Auch in
unserer Arbeitsgruppe konnten wir in einer retrospektiven Untersuchung
keine geschlechterspezifischen Unterschiede in Bezug auf die
Rehabilitationserfolge feststellen. 210 COPD-Patientinnen und -Patienten (41
% Frauen und 59 % Männern), die in den Jahren 2005/2006 15 Tage an einer
intensiven Maßnahme mit den in Tabelle 1 aufgezählten Inhalten und einer
täglichen Nettotherapiezeit von 5 Stunden teilgenommen hatten, wurden
retrospektiv überprüft. Erreicht wurde eine signifikante Steigerung der 6Minuten-Gehstrecke, eine Abnahme der Atemnot (BORG) bei Belastung
(Abschluss 6-Minuten-Gehtest) und eine Steigerung des körperlichen und
psychischen Summenscor des SF-36. Geschlechterspezifische Unterschiede
kamen nicht zur Darstellung.
Zusammenfassung
Die Prävalenz der COPD nimmt bei Frauen zu und die Erkrankung zeigt
geschlechterspezifische Unterschiede, insbesondere in Bezug auf psychische
Symptome. Obwohl eine umfangreiche Literatur die Effekt der Rehabilitation
bei COPD mit höchstem Evidenzgrad gesichert hat, ist in Bezug auf
geschlechterspezifische Auswirkungen die Datenlage unzureichend. Die
bisherigen Ergebnisse sind heterogen. Zuwenig wurden die bestehenden
geschlechterspezifischen Besonderheiten einbezogen und die geeignete
Assessmentparameter erfasst. In der pneumologischen Rehabilitationsforschung
sollte daher in Zukunft dieser Aspekt stärker berücksichtigt werden.
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Kontakte
Dr. Karin Taube
Atem-Reha GmbH
Jungestraße 10
20535 Hamburg
Tel: 040 / 88 30 69 69
Fax: 040 / 25 49 95 21
147
Medizin und Geschlecht
E-Mail: [email protected]
148
Medizin und Geschlecht
GESCHLECHTERSPEZIFISCHE ASPEKTE BEI DER
RAUCHPRÄVENTION
VON DR. RICHARD LUX
Die Entwicklungen der Rauchprävalenz und des Raucheinstiegsalters verliefen
in den vergangenen Jahrzehnten bei den Geschlechtern unterschiedlich. Analog
zu diesen Entwicklungen lässt sich mit zeitlicher Latenz insbesondere bei
Frauen ein Anstieg pneumologischer Erkrankungen, die mit dem Tabakkonsum
assoziiert sind, beobachten.
Diese tabakepidemischen Verläufe besitzen Modellcharakter. Aus dem daraus
ableitbaren Modell und der höheren Empfänglichkeit (Suszeptibilität) bzw.
Verletzbarkeit (Vulnerabilität) lässt sich auch für die Zukunft eine Zunahme
weiblicher, aus dem Rauchverhalten resultierender Morbidität und Mortalität
folgern.
Als Konsequenz haben (1) die weiblichen Anteile in den rauchenden
Bevölkerungsgruppen, (2) die auf Mädchen und Frauen fokussierte Prävention
des Tabakkonsums und (3) die Nikotinentwöhnung bei Raucherinnen für die
Versorgungsbereiche im Gesundheitswesen an Bedeutung gewonnen.
Diesbezüglich sind sowohl aus präventiver als auch aus kurativer Sicht die
Gründe, warum a) Mädchen mit dem Rauchen beginnen, b) Frauen das Rauchen
beibehalten, c) Raucherinnen der Ausstieg aus dem Tabakkonsum schwerer fällt
als Rauchern und d) postabstinent eher einen Rückfall erleiden, zu
berücksichtigen.
Neben der Geschlechterzugehörigkeit der Konsultierten beeinflusst die
Geschlechterzugehörigkeit der Konsultierenden die interpersonalen Prozesse
während der Analyse-, Beratungs- und Umsetzungsphase einer begleiteten
Tabakabstinenz und Nikotinentwöhnung. Inhalt und Umfang einer eruierenden
und motivierenden Kommunikation können in Abhängigkeit vom ärztlichen
Geschlecht differieren.
Geschlechterunterschiedliche Reaktionen auf den selbst- bzw. fremdinitiierten
Rauchverzicht und auf die ggf. medikamentös unterstützte Nikotinentwöhnung
lassen sich durch soziokulturelle – in geringerem Ausmaß auch
sozioökonomische – bzw. psychosoziale Einflüsse erklären. Einerseits sind bei
Raucherinnen und Rauchern, die den Ausstieg vorbereiten und praktizieren,
hinsichtlich der physiologischen und pharmakologischen Effekte Ähnlichkeiten
149
Medizin und Geschlecht
vorhanden. Andererseits gibt es präventions- und therapierelevante Unterschiede
der Wirkung und Wirksamkeit von Nikotinentzug und Medikation.
Strukturelle Präventionsmaßnahmen sind zumeist geschlechterneutral ausgelegt.
Dennoch können sie sich unterschiedlich auf das Verhalten und die
Rahmenbedingungen von Raucherinnen und Rauchern bzw. von Frauen und
Männern, die passiv gegenüber Tabakrauch exponiert sind, auswirken. Somit
ziehen
solche
Ansätze
trotz
ihrer
unspezifischen
Ausrichtung
geschlechterspezifische Folgen nach sich.
Einen wesentlichen Ansatz, Geschlechteradäquatheit in der Prävention des
Tabakkonsums und bei der Nikotinentwöhnung zu steigern, stellt die
Implementierung von Geschlechteraspekten in der ärztlichen Sozialisation dar.
Dies beinhaltet die Identifikation neuer Zielgruppen in Vorbeugung und
Behandlung sowie die Aneignung standardisierter und zugleich spezifizierter
Beratung, Motivation und Therapie von (zukünftigen) Raucherinnen bzw.
Rauchern und ihres sozialen Umfeldes.
Das breite Spektrum unterstützender und therapeutischer Angebote ermöglicht
eine Anpassung an die geschlechterbezogenen Bedürfnisse und Eigenschaften.
Eine Beteiligung an der Ein- und Durchführung von strukturellen
Präventionsmaßnahmen ist auch in Hinblick auf den Geschlechterbezug
lohnens-, das Hinwirken auf eine geschlechterspezifische Ausgestaltung solcher
Strategien wünschenswert.
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Kontakt
Dr. Richard Lux
Institut für Patientensicherheit
Universität Bonn
Stiftsplatz 12
53111 Bonn
Telefon: 0228 / 73 83 07
E-Mail: [email protected]
151
Medizin und Geschlecht
WAS MACHT DIE FRAU IM SCHLAF
ANDERS ALS DER MANN?
WAS MACHT DEN SCHLAF DER FRAU ANDERS?
VON DR. BIRGIT HOFFMAN-CASTENDIEK
Schlaf allgemein
Der Schlaf ist im Gegensatz zum ruhigen Anblick einer schlafenden Person ein
hochkomplexes Geschehen, an dem weitgehend alle Teile des Gehirns beteiligt
sind. Die Schlafstruktur ist bei Männern und Frauen gleich. Unser Schlaf
verläuft in Zyklen von etwa 90 Minuten Dauer, insgesamt drei bis fünf Zyklen
pro Nacht. In jedem Zyklus kommt zu einem Übergang vom Stadium „Wach“
über das Einschlafen (S1) in ein mittleres Schlafstadium (S2), das insgesamt
etwa 50 % einer Nacht einnimmt, weiter zum Tiefschlaf (S3), auch Slowwaves-sleep genannt, der in den REM-Schlaf (Repid-Eye-Movement-Schlaf)
mündet. Der REM-Schlaf, in dem Träume sehr gut erinnert werden, hat
wahrscheinlich eine Schlüsselfunktion, Tagesereignissen „aufzuarbeiten“ und
ggf. in das Langzeitgedächtnis zu übernehmen. Nur wenn der zyklische
Schlafablauf mit ausreichend langen, ungestörten Phasen von Tief- und REMSchlaf gewährleistet ist, fühlen wir uns am Folgetag wach und ausgeruht.
Ein Schlüsselhormon der Schlafsteuerung ist das zykisch ausgeschüttete
Hormon Melatonin, das erst ab dem dritten Lebensmonat gebildet wird und ab
dem mittleren Lebensalter abnimmt. Es ist mit dafür verantwortlich, dass sich
im höheren Lebensalter die Schlafkontinuität verschlechtert.
Die meisten Menschen in unserem Kulturkreis schlafen nachts zwischen sechs
und acht Stunden. Ohne externen Zeitgeber schlafen Frau 9,8 h und Männer 8,4
h (Wever, Sleep 2004). Ob ein Mensch Kurzschläfer (5,5 bis 6,5 h Schlaf oder
weniger) oder Langschläfer (9,5 h Schlaf oder mehr) ist, ist genetisch festgelegt.
Zu den Langschläfern zählen nach einer britischen Studie (Groeger et al, J Sleep
Res. 2004) 2 % der Männer und 5 % der Frauen. Zu den Kurzschläfern gehören
nach einer deutschen Umfrage (Meier, Somnologie 2004) 1,5 % der Männer und
2,5 % der Frauen. Frauen ordnen eher ihr Schlafverhalten den familiären
Bedürfnissen unter und haben oft dadurch kurze Schlafzeiten. Frauen klagen
doppelt so oft wie Männer darüber, dass sie nicht genug Schlaf bekommen. Sehr
kurze (< 6 h) oder lange (> 7 h) Schlafzeiten erhöhen bei Frauen die Mortalität
(Nurse Health Study, Sleep 2004). Auch erhöhen kurze Schlafzeiten das Risiko
für arteriellen Hypertonus und Koronare Herzkrankheiten (KHK), nicht aber bei
Männern (Whitehall II Study). Gleichzeitig reagieren Entzündungsparameter,
152
Medizin und Geschlecht
wie Interleukin-6 (IL-6) und C-reaktive Proteine (CRP), bei Männern und
Frauen, die sehr kurz oder sehr lang schlafen, ganz uneinheitlich, teilweise
gegenläufig. Hier sind noch keine Aussagen möglich, welche Bedeutung diese
Unterschiede haben.
Frauen gehen tendenziell abends früher ins Bett, liegen morgens aber auch
länger im Bett als Männer, wenn es die äußeren Umstände zulassen. Insgesamt
brauchen Frauen im Schnitt 45 min mehr Schlaf als Männer. Untersuchungen
von Dittami im Wiener Schlaflabor an Studenten zeigte, dass Frauen besser und
kontinuierlicher schlafen, wenn sie alleine schlafen, während die Männer besser
schliefen, wenn sie eine Partnerin an ihrer Seite hatten.
Neben dem Melatonin spielt die Körpertemperatur eine wesentliche Rolle beim
Einschlafvorgang. So induziert der abendliche Rückgang einen Schlafdrang. Ein
zu schneller Abfall aber verhindert ein Einschlafen. Bei Männern sinkt aufgrund
der meist größeren Körpermasse die Körpertemperatur langsamer ab. Als Folge
wird vermutet, dass Frauen, wenn sie mit einem Mann das Bett teilen, aufgrund
des langsameren Temperaturabfalls leichter einschlafen.
Frauen variieren ihr Schlafverhalten stärker nach externen Bedürfnissen
zwischen Arbeitswoche und Wochenende, während bei den Männern die
täglichen Schlafzeiten eher gleich bleiben. Letzteres stabilisiert die
Schlafstruktur und verbessert das Ein- und Durchschlafen. Frauen wachen
nachts häufiger auf und sind geräuschempfindlicher. Einerseits kann dies auf
genetisch festgelegte Verhaltensmuster zurückgeführt werden z.B. das
nächtliche Erwachen durch Geräusche eines zu versorgenden Kleinkindes.
Andererseits obliegt es auch im heutigen Rollenverhalten meistens der Frau, das
Familienleben zu koordinieren und zu organisieren. Es besteht sozusagen ein
„Radar-Verhalten“ bis in den Schlaf hinein, das den Schlaf erschwert.
Träume (Michael Schredl, DGSM-Tagung 2008)
Frauen erinnern sich häufiger an Träume. Männern träumen meist nur von
wenigen Personen, häufiger von Unbekannten und überwiegend von Männern.
Die Träume finden vor allem „draußen“ statt und beinhalten mehr körperliche
Aktivitäten und konfliktreiche soziale Interaktionen. Frauen träumen meist von
bekannten Personen, gleichhäufig von Männern und von Frauen. In den
Träumen kommt es mehr zu „freundlichen“ sozialen Kontakten, seltener zu
sexuellen Interaktionen. Die Träume „spielen“ innerhalb von Räumen.
Schlafstörungen
Schlafstörungen werden ab dem 50. Lebensjahr von Männern und Frauen nach
der Gesundheitsberichtserstattung des Bundes von knapp 40 % der Frauen und
153
Medizin und Geschlecht
knapp 20 % der Männer berichtet. Auffällig ist dabei, dass berufstätige Frauen
seltener über Insomnie klagen als hauptberufliche Hausfrauen. Beamte klagen
insgesamt am seltensten über Schlafstörungen. Hohes eigenes Einkommen und
hoher Bildungsgrad schützen vor Insomnie. Obwohl Ein- und
Durchschlafstörungen in den Medien präsenter sind, hat ihr Anteil zwischen
1958 und 2001 nicht zugenommen.
Als „Einschlafdroge“ nutzen Männer vorrangig Fernsehen (21,1 %) oder
Alkohol (19,5 %). Schlafmittel spielen kaum eine Rolle (2,1 %). Frauen nutzen
zu 15,3 % das Fernsehen als Einschlafhilfe, Alkohol zu 10,9 % und Schlafmittel
mit 5,3 %.
Frauen leiden doppelt so oft wie Männer an Schlafstörungen. Sie sind aber auch
häufiger von Depression betroffen. Hier ist die Abgrenzung schwierig, da eine
Depression in der Regel immer mit einer Insomnie einhergeht, während die
primäre Insomnie das Risiko für eine Depression erhöht. Im praktischen Alltag
erfolgt wahrscheinlich oft unter falscher Verdachtsdiagnose die falsche
Behandlung.
Atemstörungen im Schlaf
Schlafbezogene Atemstörungen bestehen nach vielfältigen epidemiologischen
Untersuchungen bei 4 % der Männer und bei 2 % der Frauen. Ursache ist
vorrangig ein Zurückfallen der Zunge mit Verlegen der oberen Atemwege.
Wichtigster Risikofaktor ist Adipositas. Im Jahr 2002 wurde bei stationären
Krankenhausaufhalten bei den Frauen bei 200 von 100.000 und bei den
Männern bei 800 von 100.000 Einwohnern die Diagnose Schlafapnoe gemäß
des Statischen Bundesamtes erfaßt.
Die obstruktive Schlaf-Apnoe mit lautem, unregelmäßigem Schnarchen wird
meist als typische Männererkrankung wahrgenommen. Folge ist, dass Frauen
sehr viel seltener als Männer weitergehend im Schlaflabor untersucht werden. Je
nach Zentrum liegen die dokumentierten Raten bei 1:2 bis 1:10, im eigenen
Patientinnen- und Patientengut zwischen 2004 und 2007 bei 1:5,3.
Neben Schnarchen ist eine vermehrte Tagesmüdigkeit Leitsymptom für
schlafbezogene Atemstörungen. Die Tagesmüdigkeit wird anhand von einfachen
Fragebögen erfasst. Weit verbreitet und auch gebräuchlich in der MHH ist der
Epworth Sleepiness Scale. Nach eigenen, noch nicht validierten Untersuchungen
geben Frauen dabei bei gleichem Schweregrad der nächtlichen Atemstörungen
einen geringeren Müdigkeitswert an als Männer. Auf Befragung hin äußern sie
selten das typische Symptom Tagesmüdigkeit, sondern berichten eher von
Abgeschlagenheit und Depression.
154
Medizin und Geschlecht
Die Verdachtsdiagnose für schlafbezogene Atemstörungen wird meist zuerst
durch niedergelassene Pneumologinnen und Pneumologen oder HNO-Ärztinnen
und -Ärzte gestellt, die eine Polygraphie durchführen. Diese
Screeninguntersuchung führt die Patientin oder der Patient ähnlich wie ein
Langzeit-EKG zuhause durch. Eine Validierung der Daten erfolgt meist nicht,
da die Vergütung dieser Untersuchung im ambulanten Bereich schlecht ist.
Besonders vermeintlich leichtgradige Befunde sind nach klinischer Erfahrung
oft unzuverlässig. Erst aufgrund einer positiven Polygraphie darf der
niedergelassene Arzt eine Polysomnographie (PSG) im Schlaflabor veranlassen.
Bei PSG-Analysen ist aufgefallen, dass Frauen bei gleichem Body-Mass-Index
(BMI) weniger Atemstörungen haben als Männer. Die Atemstörungen treten bei
Frauen vermehrt im REM-Schlaf auf. Bei gleichem Apnoe-Hypopnoe-Index
(AHI) sind die Frauen meist 10 Jahre älter. Als Ursache für diese Unterschiede
wird der Einfluß von Geschlechtshormonen vermutet. Gleichzeitig wird
postuliert, dass die kürzere Anatomie der oberen Atemwege bei Frauen ein
Zurückfallen der Zunge verhindert.
Anhand von Daten aus der Sleep heart health study (AJRCCM 2010) wird ein
Zusammenhang zwischen AHI im Non-REM-Schlaf mit Tagesmüdigkeit
gesehen. Eine mögliche Theorie aus diesen und weiteren Daten ist, dass Männer,
die Atemstörungen im REM und Non-REM-Schlaf haben, eher über
Tagesmüdigkeit klagen, während Frauen mit überwiegend REM-assoziiertem
AHI Depression äußern, und somit gar nicht weiter schlafmedizinisch untersucht
werden. In einer eigenen, noch laufenden Studie, bei der alle Frauen mit
schlafbezogenen Atemstörungen im Schlaflabor erfasst werden, ist aufgefallen,
dass ein sehr hohe Anteil in diesem vorselektierten Patientengut an Depression
leidet, während es bei den Männern nur Einzelfälle sind. Frauen äußern als
vorrangige Beschwerden Abgeschlagenheit, Fatigue, Probleme, den Alltag zu
bewältigen und Ein- und Durchschlafstörungen, während die Männer die
„klassischen“ Symptome aus Schnarchen, Tagesmüdigkeit und Nykturie
aufweisen. Im eigenen Patientinnen- und Patientengut haben die Frauen, wie
bereits bekannt ist, vorrangig im REM-Schlaf Atemstörungen. Dies führt dazu,
bezogen auf die ganze Nacht, dass der Gesamt AHI bei Frauen deutlich
niedriger liegt als bei Männern (26,8 vs 36,6 im eigenen Patientinnen- und
Patientengut), während der AHI im REM-Schlaf bei Frauen deutlich höher lag
(43,1 vs 36,99). Da der AHI der Gesamtnacht bereits bei der
Screeniguntersuchung entscheidet, ob der oder die Betroffene überhaupt weiter
untersucht wird, ist zu vermuten, dass hier bereits auf der Ebene der
niedergelassen Ärztinnen und Ärzte Frauen nicht zur weiterführenden
Diagnostik überwiesen werden, da sie vermeintlich zu leichtgradig sind. Über
die Bedeutung von REM-Schlaf assoziierten Atemstörungen gibt es keine
155
Medizin und Geschlecht
Untersuchungen. Bei der Therapieentscheidung im eigenen Patientinnen- und
Patientengut wurden gleichviele Männer und Frauen mit der Standardtherapie
Continuous Positive Airway Pressure (CPAP) versorgt. Es haben mehr Männer
als Frauen (21 % vs 13 %) eine indizierte CPAP-Therapie abgelehnt oder nach
kurzem Versuch abgebrochen. Obwohl die Frauen primär einen geringeren
Schweregrad der Schlaf-Apnoe hatten, benötigte ein höherer Anteil eine
differenzierte Atemunterstützung im Sinne einer Heimbeatmung (12 vs 8 %).
Auch nach effektiver Therapieeinleitung berichteten Frauen häufiger über
Tagesmüdigkeit und Ein- und Durchschlafstörungen.
Insgesamt ist davon auszugehen, dass aufgrund anderer geäußerter Beschwerden
und formal geringer ausgeprägtem Befund Frauen seltener eine weitergehende
Diagnostik im Schlaflabor erhalten. Bei Frauen ist die Bedeutung von REMSchlafassoziierten Atemstörungen hinsichtlich Morbidität und Mortalität völlig
unklar. Ziel muss sein, dass Frauen mit schlafbezogenen Atemstörungen früher
und besser erkannt werden.
Literatur
Groeger JA et al. Sleep quantity, sleep difficulties and their perceived consequences in a representative sample of some 2000 British adults. J Sleep
Res. 2004 Dec;13(4):359-71
Kölsch G et al. Aufgedeckt: Wie Paare miteinander schlafen 2009
Meier U, Das Schlafverhalten der deutschen Bevölkerung: eine repräsentative
Studie. Somnologie 2004 (8):87-94
Virtanen M et al. Overtime work and incident coronary heart disease: the
Whitehall II prospective cohort study. Eur Heart J (2010)
doi:10.1093/eurheartj/ehq124
Kontakt
Dr. Birgit Hoffmann-Castendiek
Klinik für Pneumologie
Medizinische Hochschule Hannover
30625 Hannover
Tel: 0511 / 5 32 24 86
E-Mail: [email protected]
156
Medizin und Geschlecht
157
Medizin und Geschlecht
ARBEITSMEDIZIN
28. MAI 2010
158
Medizin und Geschlecht
159
Medizin und Geschlecht
WHY ADAM IS NOT EVE AT WORK GRUNDLAGEN UND BEISPIELE EINER
GESCHLECHTERSPEZIFISCHEN ARBEITSMEDIZIN
VON DR. CHRISTINE KALLENBERG
Als Arbeitsmedizinerin beschäftige ich mich seit Jahren mit dem Thema und
habe heute folgende Ziele: Ich möchte für das Gender Thema sensibilisieren,
Zahlen, Daten, Fakten vermitteln, Geschlechterspezifische Belastungen und
Beanspruchungen im Beruf vorstellen, arbeitsmedizinische Aspekte und
Schwerpunkte herausarbeiten, arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen
erläutern, Gefährdungsbeurteilung und Begehung beschreiben, Beispiele für das
Gesundheitsförderparadox nennen, für eine Gute Praxis werben, weiterführende
Quellen nennen, Fact sheets von OSHA vorstellen und zu eigenen Aktivitäten
anzuregen.
Vertrag von Amsterdam 1997
Die Zugehörigkeit zum weiblichen oder männlichen Geschlecht ist noch immer
eine der prägendsten und bedeutsamsten gesellschaftlichen Unterscheidungen.
Dies wirkt sich auch auf die Sicherheit und den Gesundheitsschutz bei der
Arbeit aus. Gender bezeichnet im englischen Sprachraum die gesellschaftlich
und kulturell geprägten Geschlechterrollen von Männern und Frauen. Sie sind in
einem historischen Kontext sozial erlernt und somit veränderbar. Im Unterschied
dazu bezeichnet sex das biologische Geschlecht.
Mainstreaming steht für Hauptströmung. Eine bestimmte Vorgabe wird zum
zentralen Bestandteil bei allen Entscheidungen, Maßnahmen und Prozessen
gemacht. Gender Mainstreaming ist eine Methode, Politik geschlechtergerecht
auszugestalten. Ziel des Gender Mainstreamings ist es, eine horizontale und
vertikale Chancengleichheit für Männer und Frauen zu erreichen. Voraussetzung
ist in der Arbeitsmedizin eine geschlechtersensible Datenerhebung und
Gesundheitsberichterstattung.
In Deutschland haben wir etwa 400 Ausbildungsberufe. Mädchen wählen davon
schwerpunktmäßig 10 Berufe, vor allem Bürokauffrau, Arzthelferin, Friseurin,
Krankenschwester und Erzieherin, an der Universität Sprachen, Pädagogik und
Psychologie. Jungen wählen aus einem breiten Spektrum vorwiegend
gewerblich-technische Berufe, an der Universität natur-wissenschaftliche und
technische Fächer.
160
Medizin und Geschlecht
Frauenarbeiten in Europa vorwiegend in den folgenden Bereichen
Gesundheitswesen,
Kinderbetreuungseinrichtungen,
Reinigungsgewerbe,
Lebensmittelherstellung, Catering und Gaststättengewerbe, Textil- und
Bekleidungsindustrie, Wäschereien, Keramikindustrie, „Leichte“ Produktion,
Callcenter, Bildungswesen, Frisörsalons, Büros und Landwirtschaft.
Entsprechend angepasst und spezifisch soll die arbeitsmedizinische Betreuung
erfolgen.
Männer haben andere Beruf und andere Risiken
Unfälle, Heben von schweren Lasten, Lärm/Hörverlust, arbeitsbedingte
Krebserkrankungen.
Beide Geschlechter sind durch Stress, ungünstige Arbeitszeiten und in ihrer
reproduktiven Gesundheit belastet. Nach wie vor gibt es ein in den
verschiedenen europäischen Ländern unterschiedlich ausgeprägtes Lohngefälle,
genannt Gender pay gap. Je nach Untersuchung verdienen in Deutschland
Frauen zwischen 20-25 % weniger als Männer bei gleicher Qualifikation.
In den Berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen für arbeitsmedizinische
Vorsorgeuntersuchungen finden wir unterschiedliche Grenzwerte für Männer
und Frauen für Laborwerte, unterschiedliche Normwerte für die
Lungenfunktionsprüfungen und Ergometrie; außerdem gibt es eine
umfangreiche Gesetzgebung zum Thema Mutterschutz für Frauen.
Instrumente des klassischen Arbeitsschutzes waren seit dem 19. Jahrhundert
vorwiegend technische Lösungen, Ge- und Verbote. Im Kontext des
Arbeitsschutzgesetzes ist jetzt eine aktive Beteiligung der Beschäftigten möglich
und erwünscht. Als Hilfe bietet die Europäische Agentur für Sicherheit und
Gesundheitsschutz
am
Arbeitsplatz
OSHA
eine
gendersensible
Gefährdungsbeurteilung mit dem Schlüsselaspekt einer positiven Einstellung zur
Geschlechterthematik an. Im betrieblichen Alltag spielt das Thema
Gesundheitsförderung
im
Rahmen
eines
Betrieblichen
Gesundheitsmanagements eine zunehmende Rolle.
Für Männer gilt das Gesundheitsförderparadox
Männer verfügen über eine geringere Lebenserwartung. Sie haben für einige
Erkrankungen deutlich höhere Prävalenzen und sie nehmen geschlechtsneutrale
Gesundheitsförderungsangebote wenig in Anspruch, darüber hinaus lassen sie
sich gewinnen, wenn wenig Aufwand erforderlich ist z.B. am Arbeitsplatz.
161
Medizin und Geschlecht
Gender Mainstreaming führt bei konsequenter Umsetzung zu einer Win-WinSituation für beide Geschlechter. Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner
sollten für das Thema sensibilisiert werden, an einem Gender-Training
teilnehmen,
genderkompetente
Gefährdungsbeurteilungen durchführen,
Genderanalysen beherrschen, geschlechtersensible Präventionsprogramme
anbieten und evaluieren.
Der Europäische Fahrplan 2006 – 2010 hat sich folgende Ziele gesetzt
Gleiche wirtschaftliche Unabhängigkeit für Frauen und Männer
Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben
Ausgewogenen Repräsentanz in Entscheidungsprozessen
Beseitigung aller Formen geschlechterbezogener Gewalt
Beseitigung von Geschlechterstereotypen
Förderung der Gleichstellung in Außen- und Entwicklungspolitik
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Literatur
Badura B et al 2007, Fehlzeitenreport
BMFSFJ (Hrsg.) 2005, 1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und
Männern in der Bundesrepublik
BMFSFJ (Hrsg.) 2009, Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in
Deutschland
Milczarek M 2010, European Agency for Safety and Health at Work (EUOSHA), Maintenance and Occupational Safety and Health: A statistical picture
Kontakt
Dr. Christine Kallenberg
Arbeitsmedizin/Gesundheitsmanagement
Vetter Pharma-Fertigung GmbH & Co. KG
Schuetzenstrasse 87
88212 Ravensburg
Tel. 0751-3700-4637
E-Mail: [email protected]
162
Medizin und Geschlecht
MÄNNER SIND ANDERS – FRAUEN AUCH! PRÄVENTION UND GESUNDHEITSFÖRDERUNG
GESCHLECHTERGERECHT GESTALTEN
VON THOMAS ALTGELD
Die
Zielgruppengerechtigkeit
von
Gesundheitsförderungsund
Präventionsangeboten unter der Geschlechterperspektive zu betrachten, bedeutet
insbesondere auch, den Blick auf Männer zu richten. Männer zeigen nicht nur in
vieler Hinsicht ein stärker gesundheitsriskantes Verhalten, sondern sie nutzen
auch seltener Angebote der Gesundheitsförderung. Dabei zeigt sich, dass der
aktuell in bestimmten Medien und Forschungsvorhaben sehr beliebte risiko- und
defizitorientierte
Männlichkeits-Diskurs nicht sehr hilfreich ist, um
Gesundheitsbedürfnisse und Präventionspotenziale von Jungen und Männern
auszuloten.
Die
Präventionsberichte
über
die
Leistungen
der
Gesetzlichen
Krankenversicherung in der Primärprävention zeigen Jahr für Jahr das gleiche
Bild, was die Erreichbarkeit von Männern für Kursangebote nach dem
individuellen Ansatz anbelangt: Männer nehmen dieses Angebot nicht
nennenswert in Anspruch. In dem aktuellen Präventionsbericht 2009 wird dieser
Sachverhalt eingeleitet mit dem lapidaren Satz: „Kursangebote nach dem
individuellen Ansatz wurden – wie in den Berichtsjahren zuvor –
überdurchschnittlich häufig von Frauen in Anspruch genommen. Ihr Anteil lag
bei 77 % aller Kursteilnehmer, der Anteil der männlichen Kursteilnehmer lag
hingegen bei 23 %“ (Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der
Krankenkassen e.V., 2009, S. 74). Differenziert nach den einzelnen
Handlungsfeldern zeigt sich folgendes Bild:
Tab. 1 Inanspruchnahme nach Geschlecht in den jeweiligen Handlungsfeldern
(eigene Darstellung) (Präventionsbericht 2009)
163
Medizin und Geschlecht
Die Nichterreichbarkeit von Männern über diese Angebotsstruktur und bei
anderen präventiven Angeboten wird offenbar hingenommen wie ein
Naturereignis und gar nicht erst hinterfragt. Insbesondere wird von den
Krankenkassen nicht thematisiert, ob die Angebotsstruktur selbst und die
vorgegebenen Inhalte (Bewegung, Ernährung, Stressbewältigung und
Suchtprävention) der Grund für niedrige Männerraten in den Kursangeboten
sein könnten. Damit leisten diese primärpräventiven Kursangebote der
eigentlichen Intention des Gesetzesauftrages entgegen wahrscheinlich einen
Beitrag schlimmstenfalls zur Vergrößerung, bestenfalls zur Beibehaltung
ungleicher Gesundheitschancen zwischen den Geschlechtern.
Die
Forderung
nach
mehr
effektiven
Präventionsund
Gesundheitsförderungsangeboten, die Männer als Zielgruppe adressieren und
erreichen ist keineswegs neu, allerdings wird sie insbesondere von den
Leistungsanbietern und Kostenträgern der größten Präventionsschienen nie
besonders nachdrücklich erhoben. Hinze und Samland forderten bereits 2004
„die Beseitigung einer die Geschlechterdisparität betreffenden extremen
Schieflage
in
der
Prävention
und
Gesundheitsförderung“.
Die
geschlechterspezifische Inanspruchnahme der Gesundheitsbildungsangebote
variiert aber erheblich nach Bundesländern, dabei schneiden die kleineren alten
Bundesländer besser ab, was die erreichten Männer anbelangt, als die neuen
Bundesländer, wie Altgeld 2007 analysiert hat. Einer der Gründe für die relativ
hohe Männerteilnahmerate in Bremen könnte der deutlich höhere Anteil an
berufs- und arbeitsplatzbezogenen Gesundheitsbildungsangeboten in Bremen
sein. Diese hohe Varianz in den Inanspruchnahmeraten der Männer zwischen
den einzelnen Bundesländern zeigt, dass die Angebotsstruktur sich
männerspezifischer und -gerechter gestalten lässt.
Männergesundheitsforschung steht noch am Anfang
Für Männer und die kaum existente Männergesundheitsforschung ergibt sich
eine fast schon paradoxe Situation. Auf der einen Seite boomt national und
international der Männergesundheitsmarkt, der mehr oder weniger sinnvolle
(medizinische) Dienstleistungen erfolgreich an den Mann bringt und damit auch
zeigt, dass Männer kein unerreichbares Geschlecht für Gesundheitsangebote
sind. Auf der anderen Seite will ein etwas wehleidiger, risikobetonter und rein
bipolar angelegter Männergesundheitsdiskurs nicht verstummen. Denn das
Infragestellen starker Männerbilder sowie in Folge davon die Neuentdeckung
des gesundheitlich eigentlich „schwachen Geschlechts“ der Männer hat in
bestimmten Teilen der gesundheitswissenschaftlichen Literatur mittlerweile
Tradition.
164
Medizin und Geschlecht
Die statistisch nachweisbare kürzere Lebenszeit der Männer in Deutschland
verführt gemeinsam mit erhöhten Morbiditätsrisiken für eine Reihe von
verhaltensbedingten Erkrankungen (z.B. des Herz-Kreislauf-Systems, der
Lungen oder der Leber) zu dem (Kurz-)Schluss, dass Männer im Vergleich zu
den diesbezüglich besser abschneidenden Frauen gesundheitlich vielleicht das
„schwächere Geschlecht“ sein könnten. Das wird schon an den Titeln einiger
Publikationen deutlich, z.B. „Der frühe Tod des starken Geschlechts (Klotz et al.
1998), „Männerdämmerung“ (Hollstein, 1999) oder „Konkurrenz, Karriere,
Kollaps – Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann“ (Bründel et
al. 1999). Aber die meisten Publikationen zur Männergesundheit bleiben
ebenfalls auf einer oberflächlich-beschreibenden Ebene stehen.
In fast allen geschlechtervergleichenden Analysen wird beinahe schon stereotyp
die
höhere
Risikobereitschaft
und
vermeintlich
geringere
Gesundheitsbewusstheit von Männern diagnostiziert. Verwiesen wird in diesem
Zusammenhang auf Risikosportarten, den Konsum legaler und illegaler Drogen
oder die Nahrungsmittelzufuhr mit fettreicheren Lebensmitteln und
Süßgetränken. Außerdem bezieht sich der gesamte Diskurs, wie Dinges betont,
„noch zu oft auf ein überholtes monolithisches Bild von Männlichkeit. Ein
statistischer Durchschnittsbefund – also ein Mehrheitsverhalten – reicht zur
Behauptung einer ‚Essenz der Männlichkeit’ nicht aus“ (Dinges 2007). Tiefer
gehende Erklärungen für diese höhere Risikobereitschaft werden jedoch kaum
angeboten. „In vielen Kulturen macht es der Prozess der männlichen
Sozialisation – aus Jungs ‚richtige’ Männer zu machen – den Männern oft
schwer, Schwäche zu zeigen. Dies hält sie möglicherweise davon ab,
Vorschläge für Gesundheitsförderung ernst zu nehmen und bei Problemen einen
Arzt/eine Ärztin aufzusuchen. So sind viele Männer sich selbst ein Hindernis,
was einen möglichst optimalen Nutzen des Gesundheitssystems angeht.“ (Doyal
2004) Diese fast schon ontologisierte „männertypische“ Sozialisation scheint
dann der einzige Grund dafür zu sein, dass Männer kaum auf ihren
Gesundheitszustand achten und sich weniger anfällig gegenüber Krankheiten
fühlen.
Die zentrale Frage ist jedoch, ob nicht gerade die auf den ersten Blick
riskanteren gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen von Männern wesentlicher
Teil ihrer Art, „ihren Mann zu stehen“, sind. Das heißt, wenn
Männlichkeitskonzepte und Rollenerwartungen sich nicht verändern, werden
Männer diese Verhaltensweisen kaum aufgeben können, ohne den Verlust ihrer
männlichen Identität und ihrer gesellschaftlich nach wie vor privilegierten
Situation zu riskieren. Dinges ist der einzige, der im deutschen Sprachraum
einen Blick auf die Normen von Männlichkeit, insbesondere bei
Heranwachsenden, wirft und sie auf ihren Präventionsbezug hin genauer
165
Medizin und Geschlecht
analysiert. Er stellt fest, das damit konkurrierende Botschaften vermittelt
werden: „Gesundheitsdiskurse, die auf Risikovermeidung in der Jugendphase
setzen, stehen also in einer Spannung zu anderen gesellschaftlich vermittelten
Anforderungen an Männer. (…) Auf Risikovermeidung zielende
Gesundheitsdiskurse sollten nicht bei der Abwertung eines gängigen Verhaltens
junger Männer als gesundheitsschädlich verharren, sondern die historischen
Gründe für die Erziehung zur Härte und den rezenten Wandel in der Arbeitswelt
reflektieren und ihre Botschaften darauf einstellen“ (Dinges 2007).
Bevor die Frage nach männergerechten Gesundheitsangeboten befriedigend
beantwortet werden kann, stellen sich zunächst ganz andere Fragen: An welchen
Leitbildern orientieren sich Männer und Frauen? Wie viel Platz für Gesundheit
gibt es in diesen geschlechterspezifischen Orientierungen? Kann die
Gesundheitsversorgung überhaupt effektiv geschlechtsneutral organisiert
werden? Wenn man sich die Gestaltung der meisten Gesundheitsinformation
anschaut, dann werden dort immer sehr hehre Botschaften an vermeintlich
geschlechtslose Wesen gerichtet. Eigenverantwortung für Gesundheit,
verantwortlicher Umgang mit dem eigenen Körper scheinen überhaupt nicht von
geschlechterspezifischen Sozialisationen abhängig zu sein, sondern irgendwie
für jeden (zweckrationalen) Menschen lebbar und möglich zu sein. Diese
Gesundheitsbotschaften konkurrieren jedoch mit sehr vielen anderen
Botschaften, und vor allem konkurrieren sie eben mit einer geschlechtstypischen
Sozialisation, in der Männer immer noch lernen, keinen Schmerz zu kennen
oder für außenorientiertes Verhalten mehr belohnt werden als Frauen. In ganz
anderen
Sozialisationsbereichen
werden
die
Grundlagen
für
gesundheitsbewusstes Verhalten gelegt als in der Hygiene- und
Gesundheitserziehung selbst.
Eine bessere Ausdifferenzierung von Zielgruppen ist notwendig
Die Broschüren- und Medienproduktion ist ein klassischer Weg der
Gesundheitsaufklärung und entspricht nicht immer den Routinen und Bedarfen
der Zielgruppen. Die PISA-Studie hat sehr detailliert nachgewiesen, dass die
relativen Risiken von Jungen, zur Gruppe schwacher Leser zu gehören, um etwa
70 % höher sind als die für Mädchen (Artelt et al. 2001). Deshalb führt die
leselastige Materialproduktion in der Gesundheitsaufklärung und -information
zu einer höheren Akzeptanz bei Mädchen und Frauen. Die Ergebnisse von PISA
zeigen zudem, dass es Jungen im Vergleich zu Mädchen deutlich größere
Schwierigkeiten bereitet, Texte und ihre Merkmale kritisch zu reflektieren und
zu bewerten. Auch bei den benannten Hobbys von Jungen taucht Lesen nicht
einmal bei einem Fünftel als liebstes Hobby auf, während mehr als zwei Fünftel
der Mädchen dies als liebstes Hobby angeben. In diesem Zusammenhang kann
es eine gute Strategie sein, Männern den Zugang zu Gesundheitsinformationen
166
Medizin und Geschlecht
via
Internet
zu
eröffnen.
Wünschenswert
wäre
hier
ein
„Männergesundheitsportal“ analog zu der von der BZgA entwickelten und
betreuten Fachdatenbank „Frauengesundheitsportal“, in der Datenquellen und
Informationen über Links erschlossen werden können.
Den größten gesundheitlichen Nutzen für Jungen und Männer hätte
wahrscheinlich nachhaltige geschlechterreflektierende Praxis in den frühen
Bildungseinrichtungen sowie die Teilmaskulinisierung des dortigen Personals.
Darüber hinaus muss eine zielgruppengerechtere Arbeit in allen Präventionsund Gesundheitsförderungsbereichen erreicht werden. Altgeld et al. haben 2006
deutlich
gemacht,
dass
sich
Zielgruppengerechtigkeit
von
Präventionsprogrammen in vier Schritten erreichen lässt:
- die Wahl der Zugangswege,
- der Entwicklung der Methodik,
- einer effektiven Ansprache,
- gelingenden Sozialraum- und Lebensweltorientierung
Für die Gesundheitsförderung und weite Bereiche anderer gesundheitsbezogener
Präventionsansätze ist ein sich ausdifferenzierendes Spektrum von
Handlungsoptionen wie beispielsweise in der Suchtprävention noch nicht zu
erkennen. Die verschiedenen Präventionsbereiche profitieren zudem noch
zuwenig von dem in jeweils anderen Feldern gemachten Erfahrungen, auch
wenn die Herausforderungen vielfach dieselben sind: das Erreichen sogenannter
bildungsferner Schichten sowie die Verankerung von Ansätzen in Lebenswelten.
Die Ergebnisse einer Umfrage des 2006 gegründeten Netzwerkes für
Männergesundheit zeigen, dass die benannten relevanten Themen bisher kaum
innerhalb des Mainstreams der von öffentlichen Händen oder Kassen
finanzierten Prävention abgedeckt werden, weil Bewegung und Ernährung nach
dieser Umfrage an letzte Stelle der genannten Themen stehen. Ganz oben auf
der Hitliste stehen dagegen Work-Life-Balance, Stressbewältigung, Sexualität
und Bilder von Männlichkeit.
Mit der Wahl der richtigen Themen und dem stärkeren Anknüpfen an
Ressourcen im männlichen Lebensverlauf könnte eine effektive Neuorientierung
der Präventions- und Gesundheitsförderungsangebote eingeleitet werden.
Altgeld hat darüber hinaus 2004 vier Haupthandlungsfelder für die Entwicklung
einer männergerechteren Gesundheitsförderung und Prävention skizziert:
- Sensibilisierung und Qualifizierung von Multiplikatoren im Gesundheits-,
Sozial- und Bildungsbereich für männerspezifische
Gesundheitsproblematiken und Gesundheitsförderungsansätze,
167
Medizin und Geschlecht
- Entwicklung einer jungen- und männerspezifischen
Gesundheitskommunikation,
- Ausdifferenzierung von klar umrissenen Subzielgruppen,
- Implementation von Gender Mainstreaming als Querschnittsanforderung und
Qualitätsmerkmal von Gesundheitsförderung und Prävention
Insbesondere für den Bereich der Qualifizierung von Multiplikatoren für
männerspezifische Gesundheitsproblematiken und der männerspezifischen
Gesundheitskommunikation gibt es bislang zu wenig Angebote und Strategien.
Neben
der
Entwicklung
geeigneter
geschlechtersensibler
Kommunikationsansätze muss vor allem mehr zielgruppenorientiert und nicht
orientiert an zugeschriebenen Risiken gedacht und gehandelt werden. Zudem
fehlt es an pharmaindustrie- unabhängiger Männergesundheitsforschung
(insbesondere zu Prostatakrebs, sexuellen Störungen, Depression und
ADS/ADHS).
Die Genderkompetenz von Anbietern im Feld könnte neben der durchgängigen
Implementierung von Gender Mainstreaming als Qualitätsmerkmal auch durch
die Entwicklung von Medienprüfsteinen für die Medienentwicklung erhöht
werden. Diese Medienprüfsteine sollten nicht nur die Vermeidung von
Geschlechterstereotypen, sondern auch die Berücksichtung unterschiedlicher
Rezeptionsgewohnheiten und Interessen beider Geschlechter berücksichtigen.
Die Entwicklung innovativer Strategien zur Förderung der Männergesundheit
darf nicht weiterhin allein dem Männergesundheitsmarkt überlassen werden,
weil darüber bestenfalls ohnehin gesundheitsbewusstere Männer erreicht
werden. Jungen und Männer sind bei frühzeitigem Einbezug mit der richtigen
Themenauswahl und dem Einsatz geeigneter Strategien eben kein
unerreichbares Geschlecht für Gesundheitsförderung und Prävention.
Literatur
Altgeld, T (2007): Warum weder Hänschen noch Hans viel über Gesundheit
lernen – Geschlechtsspezifische Barrieren der Gesundheitsförderung und
Prävention, in: Prävention und Gesundheitsförderung 2, 90-97
Altgeld, T (Hrsg.) (2004). Männergesundheit – Neue Herausforderungen für
Gesundheitsförderung und Prävention. Weinheim/München
Artelt, C et al. (Hrsg.) (2001). PISA 2000 – Zusammenfassung zentraler
Befunde. Berlin
Bründel, H et al. (1999): Konkurrenz, Karriere, Kollaps – Männerforschung und
der Abschied vom Mythos Mann. Stuttgart
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2009):
Evaluationsbericht Bundeselterngeld und Elternzeitgesetz 2009. Berlin
168
Medizin und Geschlecht
Dinges, M (2007): Was bringt die historische Forschung für die Diskussion zur
Männergesundheit?, in: Blickpunkt DER MANN 5(2), 6-9
Doyal, L (2004): Sex und Gender: Fünf Herausforderungen für
Epidemiologinnen und Epidemiologen, in: Das Gesundheitswesen 66, 15357
Helfferich, C (2006). Ist Suchtprävention ein „klassisches“ Feld
geschlechtergerechter Prävention?, in: Kolip, P.; Altgeld, T. (Hrsg.)
Geschlechtergerechte Gesundheitsförderung und Prävention, Weinheim und
München: Juventa Verlag, S. 27-40
Hinze, L et al. (2004) Gesundheitsbildung – reine Frauensache?, in: Altgeld, T
(Hrsg.)
Männergesundheit
–
Neue
Herausforderungen
für
Gesundheitsförderung und Prävention. Weinheim und München: Juventa
Verlag, S.171-82
Hollstein, W (1999): Männerdämmerung: von Tätern, Opfern, Schurken und
Helden. Göttingen
Klotz, T et al. (1998): Männergesundheit und Lebenserwartung: Der frühe Tod
des starken Geschlechts, in: Deutsches Ärzteblatt 95, A-460-64
Kolip, P. & Altgeld, T. (Hrsg.) (2006). Geschlechtergerechte
Gesundheitsförderung und Prävention,. Weinheim und München: Juventa
Verlag
Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen
e.V.(MDS)/ GKV-Spitzenverband (Hrsg.) (2009): Präventionsbericht 2009 –
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung: Primarprävention und
betriebliche Gesundheitsförderung. Berichtsjahr 2008. Essen
Kontakt
Thomas Altgeld
Landesvereinigung für Gesundheit und
Niedersachsen e.V.
Fenskeweg 2
30165 Hannover
Tel.: 0511 / 3 88 11 89 0
E-Mail: [email protected]
Akademie
für
Sozialmedizin
169
Medizin und Geschlecht
ZUR GESUNDHEIT WEIBLICHER FÜHRUNGSKRÄFTE
VON DR. BETTINA BEGEROW UND ANDREAS WEBER
Einleitung
Frauen verfügen über vergleichbare Ausbildungsqualitäten wie Männer und sind
zu einem ähnlichen Anteil berufstätig. Ihre Präsenz in einigen Berufsfeldern und
in Führungspositionen ist noch nicht gleich verteilt, hat sich aber in den
vergangenen Jahren deutlich angeglichen. Demnach ist auch die Gesundheit und
Leistungsfähigkeit von Frauen in Führungspositionen ein wichtiger
betriebswirtschaftlicher Faktor für Unternehmen geworden. Betriebliche
Maßnahmen zur Gesundheitssicherung von Führungskräften orientieren sich
jedoch noch immer am Bedarf der männlichen Mitarbeiter. Die Konsequenzen
liegen in zunehmenden Ausfallzeiten von Frauen und im Ausstieg aus bzw.
Verzicht auf Führungspositionen.
Ziel
Zur gesundheitlichen Unterstützung von Frauen in Führungspositionen,
entsprechend ihrer Neigungen und Fähigkeiten, ist es notwendig, spezifische
Vulnerabilitäten zu identifizieren und zu berücksichtigen.
Material und Methoden
In Datenbanken der Disziplinen Medizin, Psychologie, Sozialwissenschaft und
Wirtschaftswissenschaft wurden Originalarbeiten durch verschiedene
Verwendung und Verknüpfung relevanter Suchbegriffe recherchiert und nach
methodischen Gesichtspunkten und im Hinblick auf die Fragestellung
nachselektiert.
Ergebnisse
Die kombinierte Verknüpfung der Begriffe „betriebliche Gesundheitsförderung“
und „weibliche Führungskräfte“ ergab keine analysierbaren Treffer.
Korrespondierende Themenkomplexe brachten folgende Zusammenhänge
hervor:
1. Statistische Angaben zu Häufigkeiten von Frauen in Führungspositionen
und zu demographischen Besonderheiten ergaben, dass Frauen im Alter der
Familiengründung selten Führungspositionen bekleiden und dass weibliche
Führungskräfte häufiger als ihre männlichen Kollegen alleine leben.
2. Arbeiten zu gesundheitlichen Risiken berufstätiger Frauen beschreiben
geschlechtsimmanente Erkrankungen, deren Heilung und Verlauf oftmals
durch Tätigkeiten mit starken körperlichen Anforderungen, Gefahrenstoffen
und Kälte negativ beeinflusst werden.
170
Medizin und Geschlecht
3.
4.
Unterschiedliche
Verläufe
und
Einflüsse
bei
sogenannten
geschlechtsneutralen Erkrankungen zeigten sich für den Herzinfarkt, für
Rückenleiden und psychische Symptome. Untersuchungen zu Betrieblicher
Gesundheitsförderung haben ergeben, dass Frauen von beratenden und
Trainingsmaßnahmen im Hinblick auf körperlichen Beschwerderückgang
und Zuversicht profitieren.
Organisatorische Arbeitsumgestaltung verbesserten Motivation und
Produktivität.
Schlussfolgerungen
Die Beschreibung der Gesundheit weiblicher Führungskräfte weist
widersprüchliche Aussagen zur Doppelrolle und ihren belastenden und
begünstigenden Auswirkungen auf die Gesundheit auf, die nahelegen,
Selektionsfaktoren zur Homogenisierung der Untersuchungskollektive
hinzuzufügen. Bedarfsorientierte betriebliche Präventionsmaßnahmen könnten
Frauen die Ausführung von Führungspositionen erleichtern und ihre Arbeitskraft
für das Unternehmen stärken.
Literatur
Artazcoz L et al. Social inequalities in the impact of flexible employment on
different domains of psychosocial health. Journal of Epidemiology and
Community Health 2005;59(9):761-67
Badura B et al. Fehlzeiten-Report 2005 - Arbeitsplatzunsicherheit und
Gesundheit. Zahlen, Daten, Analysen aus allen Branchen der Wirtschaft.
Springer-Verlag 2006, Berlin
Gabler Wirtschaftslexikon. Alisch K et al. (Hrsg.) 2005; Gabler Verlag,
Wiesbaden, 16. Aufl.
Habermann-Horstmeier L Gesundheitliche Risiken von Frauen in
Führungspositionen
–
das
Problem
Alkohol.
Arbeitmed.Sozialmed.Umweltmed 2006;41(1):21-25
Habermann-Horstmeier L Restriktives Essverhalten bei Frauen in
Führungspositionen. Sozialmedizin 2007;42(6):326-37
Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit.
Kurzbericht 1 2004 und 2 2006;24.2 www.iab.de
Johnson LA. Menopause years especially tough for female executives. Canadian
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and Downsizing. NA J Psy 2005;7(2):297-314
Moore S et al. A longitudinal exploration of alcohol use and problems comparing managerial and non-managerial men and women. Addictive Behaviour
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Pfeiffer W et al. Wie gesund sind Führungskräfte? Eine Querschnittsstudie zum
kardiovaskulären
Risikofaktorenprofil
von
Managern.
Arbeitsmed.Sozialmed.Umweltmed.2001;36(3):126-31
Pfister G. Frauen in Führungspositionen – theoretische Überlegungen im
deutschen und internationalen Diskurs. In: Doll-Tepper G, Pfister G (Hrsg.)
Hat Führung ein Geschlecht? Genderarrangements in Entscheidungsgremien
des deutschen Sports. 2004;35-58. Köln: Sport und Buch Strauß
Stadler P et al. Gesundheitsförderliches Führen – Defizite erkennen und
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Kontakt
Dr. Bettina Begerow
Institut für Qualitätssicherung in Prävention und Rehabilitation
Deutsche Sporthochschule Köln
Eupener Str. 20
50933 Köln
Telefon: 0221 / 27 75 99 21
E-Mail: [email protected]
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Dr. phil. Bärbel Miemietz
Gleichstellungsbeauftragte der Medizinischen Hochschule Hannover
Sprecherin des Kompetenzzentrums für geschlechtersensible Medizin
Carl-Neuberg-Straße 1
Tel: 0511/ 532- 6501
Fax: 0511/ 532- 3441
E-Mail: [email protected]
Nina-Catherin Richter
Projektkoordinatorin „Medizin und Geschlecht“
Carl-Neuberg-Straße 1
Tel: 0511/ 532- 6474
Fax: 0511/ 532- 3441
E-Mail: [email protected]
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