396 Universität: Abriss oder Umbau? Arnd Morkel ___________________________________________________________________________________________ Theorie und Praxis Die Aufgabe der Universität Arnd Morkel, Dr. rer. pol., Univ.-Professor (em.), Politikwissenschaft, ehem. Präsident der Universität Trier Die Theorie hat derzeit einen schweren Stand. Was sich nicht als „praxisrelevant" ausweisen kann, erscheint unerheblich für Gegenwart und Zukunft. Deshalb erscheint es wichtig, wieder daran zu erinnern, dass Leben, Wissenschaft und Universität ohne Theorie verkümmern. „Viele Wege führen nach Rom, nur nicht der kürzeste", soll Arnold Schönberg gesagt haben. Halten wir uns an diesen Satz und nähern uns unserem Thema auf einem Umweg, indem wir zunächst nach der Aufgabe der Universität fragen. Die gängige Antwort lautet: Die Universität dient Forschung, Lehre und Studium. Das ist nicht falsch, aber unvollständig. Es trifft auch nicht den Kern, es fehlt das Entscheidende: Die Suche nach Wahrheit. Die Suche nach Wahrheit - oder sagen wir bescheidener, weniger vollmundig: der Versuch, unserer Unwissenheit aufzuhelfen und unsere Irrtümer, Verschleierungen und Illusionen ans Licht zu bringen - ist die eigentliche Bestimmung der Universität. Erst unter dieser Bestimmung gewinnen Forschung, Lehre und Studium ihren präzisen Sinn. Die Suche nach Wahrheit Nach Wahrheit lässt sich auf vielen Wegen streben, zum Beispiel auf den Wegen der Religion, der Kunst, der Meditation. Die Universität sucht die Wahrheit mit den Mitteln der Wissenschaft, das heißt, sie treibt Forschung. Zur Forschung gehört, dass sie sich mit dem jeweiligen Stand des Wissens nicht zufrieden gibt. Sie sieht jede Erkenntnis für vorläufig an und strebt nach neuen Einsichten, ohne dabei der Illusion zu verfallen, jemals endgültig in den Besitz der Wahrheit zu gelangen. Vom Sinn der Suche nach der Wahrheit überzeugt, hält sich der Forscher gleich fern von denen, die meinen, der Wahrheit nicht zu bedürfen, wie von denen, die glauben, die Wahrheit in Händen zu halten. Zu dieser Haltung will auch die Lehre erziehen. So gewiss sie Wissen vermittelt, sie erschöpft sich nicht darin. Sie lehrt nicht die Wahrheit, sondern die Suche nach Wahrheit. Im Studium soll der Student nicht lernen nachzureden „was andere gedacht haben, sondern selbst wissen zu wollen, wie sich die Dinge in Wahrheit verhalten" (Thomas von Aquin). „Letztlich zählt nur, was ich selbst eingesehen habe" (Norbert Hinske). Artikel 5 des Grundgesetzes bestimmt: Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Jedermann kennt dieses Gebot, aber vielleicht nicht alle machen sich klar, worin es begründet ist und welche Verpflichtungen sich daraus ergeben. Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei, weil anders die Universität ihrer Aufgabe nicht gerecht werden kann. Wäre die Universität eine Berufsschule, ein Wirtschaftsuntemehmen oder eine Kaderschmiede, könnte sie dieser Freiheit entraten. Da sie dies aber nicht ist, da sie vielmehr den Dingen auf den Grund gehen und erkunden soll, wie sie wirklich sind, darf sie sich die Themen, die sie aufgreift, und die Ergebnisse, zu denen sie kommt, von niemandem einengen oder gar vorschreiben lassen. Mit der Wissenschaftsfreiheit allein ist es jedoch nicht getan. Die äußere Freiheit von Forschung und Lehre setzt die innere Freiheit des Hochschullehrers voraus. Ein Professor ist nicht schon dann frei, wenn er formell an keinerlei Weisungen gebunden ist, sondern erst dann, wenn er tatsächlich auf keinerlei Weisungen hört; wenn er sich den Blick auf die Wirklichkeit nicht durch politische, wirtschaftliche oder sonstige Wünsche trüben lässt; wenn er den Mut hat, Fragen auch dann aufzuwerfen und Erkenntnisse auch dann zu veröffentlichen, wenn sie nicht opportun sind. Erst diese Unabhängigkeit und nicht schon die in der Verfassung verbriefte Autonomie garantiert die Freiheit der Universität. Ein Hochschullehrer, der sich, bewusst oder unbewusst für ökonomische Zwecke einspannen lässt, bedroht die Aufgabe der Universität - die Suche nach Wahrheit - nicht weniger als ein Staat, der die Leistungen seiner Universitäten ausschließlich an den Erwartungen der Wirtschaft misst. Was heißt Theorie? Was wir Suche nach Wahrheit nennen, nannten die Griechen Theorie. Das Wort theorein meint ursprünglich Schauen, Zuschauen, etwa bei einer Festversammlung, später wird es im übertragenen Sinne gebraucht und bedeutet soviel wie geistiges Betrachten, Erkennen. Für Aristoteles ist theoria die Erforschung der Wahrheit. Die Erforschung der Wahrheit Forschung & Lehre 8/2000 397 Universität: Abriss oder Umbau? zweckfreien Bemühungen um Wahrheit oft zu den größten Erfolgen bei der Bewältigung praktischer Probleme führt. Der Physiologe Hastings hat recht, wenn er schreibt, die theoretische Grundlagenforschung sei die praktischste Sache der Welt. Vom Nutzen der Theorie für die Praxis. Es gibt Ausbildungsgänge, die vorwiegend praktische Kenntnisse und Techniken vermitteln. In vielen Bereichen reicht das auch aus, aber nicht in allen. Natürlich kann man sich damit begnügen, künftigen Biologen, Richtern, Ärzten, Pfarrern oder Lehrern das Handwerkszeug beizubringen. Viele erwarten von einer Universität gar nichts anderes, und mancher Studiengang, auf kleine Münze gebracht, kommt dem vielleicht schon nahe. Mit Handwerkern der Gentechnik, des Rechts, der Gesundheit, der Seelsorge, der Erziehung allein ist der Gesellschaft jedoch nicht gedient. Was wir in diesen Berufen Der Philosoph Aristoteles unterrichtet Alexander den Großen und andere. brauchen, sind Menschen, die gelernt haben, nach Wahrheit zu Foto: AKG fragen und Unwahrheit zu bekämpfen. Die Ausbildung in diesen Berufen muss daher mehr vermitteln als bloß technische Kompetenz. wird theoretisch genannt, weil sie sich, unbekümmert um praktische Sie darf „von der Denkungsart des eigentlichen Wahrheits-suchens nicht losgelöst werden. Wer ausgebildet wird, soll nicht nur der Zwecke, „zu freier Betrachtung des Seienden erhebt" und „im Anschauen, Betrachten und genauen Zusehen den Dingen richtig funktionierende Teil einer Maschine, sondern der mit seinem zuwende(t), um ihr Wesen und ihre Gründe und Ursachen zu Wesen für Wahrheit und Wissenschaft wirkende Mensch werden" begreifen" (Joachim Ritter). (Karl Jaspers). Dem theoretischen Denken geht es primär nicht um Nutzen, sondern um Erkenntnis. Von daher gesehen verlangt der theoretische Lernprozess immer eine gewisse Distanz zur Praxis - nicht aus Ignoranz oder Arroganz gegenüber den Interessen des Tages, sondern um nicht der Gefahr zu unterliegen, sich von diesen Interessen instrumentalisieren zu lassen und dadurch parteiisch zu werden. Unter diesem Aspekt hat die Rede vom „Elfenbeinturm" durchaus ihre Berechtigung. Die Theorie ist zweckfrei, nicht zwecklos Wenn das theoretische Denken aber in erster Linie der Erkenntnis, nicht dem praktischen Nutzen dient, ist es dann nicht unnütz? Der Verdacht ist alt. Seit jeher muss sich die Theorie gegen den Vorwurf verteidigen, sie sei weltfremd, tauge nicht für die Praxis und helfe niemandem. Das ist in der Tat häufig der Fall. Ebenso häufig liegt dem Verdikt aber auch ein Missverständnis zugrunde. Thaies soll bei der Betrachtung der Sterne in einen Brunnen gefallen sein, weil er nicht auf den Weg achtete. Möglicherweise war er jedoch in den Brunnen gestiegen, um ihn als Fernrohr zu benutzen. Vom Nutzen der Theorie für die Wissenschaft. Wie nützlich die Theorie sein kann, zeigt sich bereits bei den Griechen. So beruht etwa die Überlegenheit der griechischen Medizin über die ägyptische Heilkunst nicht zuletzt auf der Hinwendung zur Theorie. Während die ägyptische Medizin ihr Wissen hauptsächlich der praktischen Erfahrung, will sagen der Beobachtung einzelner Fälle verdankte, erforschte die griechische Medizin zuallererst die Natur des Menschen, fragte nach den Ursachen, Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten der Krankheiten und leitete ihre therapeutischen Vorstellungen aus allgemeinen Prinzipien ab. Damit schlugen die griechischen Ärzte ihre ägyptischen Kollegen aus dem Feld. Ihre Methode war erfolgreicher, weil sie auf einer theoretischen Einsicht in die Wirkungsweise der Natur beruhte. Mutatis mutandis gilt das damals wie heute - auch für andere Disziplinen. So sehr sich antike und moderne Wissenschaft unterscheiden - die Erfahrung lehrt immer wieder, dass gerade die Vom Nutzen der Theorie für die Politik. In der Politik bekämpfen sich unterschiedliche Interessen, Werte und Zielsetzungen. Die Universität kann diesen Streit nicht aufheben, aber darauf hinwirken, dass er verlässliche Erkenntnisse berücksichtigt. Sie kann helfen, die falschen Vorstellungen, Selbsttäuschungen und Frageverbote aufzuheben, die den Blick der Politiker auf die Wirklichkeit verstellen. Sie kann darlegen, was wir wissen und was wir nicht wissen, und auf diese Weise vielleicht dazu beitragen, den „terribles simplifi-cateurs" „Le Penseur" (Der Denker), 1889, das gute Gewissen zu nehmen. Auguste Rodin, Foto: AKG Beachtung von Tatsachen, Objektivität und Skepsis mögen im öffentlichen Leben nicht allzusehr ins Gewicht fallen, aber sie sind das einzige, was die Universität den Fahnenschwingern entgegensetzen kann, vorausgesetzt, sie läuft nicht selbst hinter einer Fahne her, sondern begreift es als ihre Aufgabe, alle Ansichten einer Prüfung zu unterziehen. Für die Gesellschaft ist es nicht gleichgültig, ob es eine solche Instanz gibt oder nicht. Alles spricht dafür, dass wir uns, um leben und überleben zu können, in Zukunft mehr denn je um Wahrheit bemühen müssen. Vom Nutzen der Theorie für die Studierenden. Schließlich fördert die Suche nach Wahrheit auch die geistige Selbständigkeit der Studenten. Ein Studium, das nicht auf technische Abrichtung zielt, regt zum Selbstdenken an, macht nachdenklich, weckt Zweifel an eingefahrenen, scheinbar selbstverständlichen Auffassungen, löst Vorurteile auf, zerstört Illusionen, erweitert den Horizont, kurzum: Es bewirkt Distanz Forschung & Lehre 8/2000 398 Universität: Abriss oder Umbau? zu sich selbst und zum Hier und Heute, und Distanz befreit. „Die Wahrheit wird euch frei machen", heißt es in Johannes 8,32. Der Satz gilt auch dann, wenn nicht die christliche Wahrheit und auch nicht der Besitz der Wahrheit, sondern nur das Streben nach Wahrheit gemeint ist. Mit Recht steht er über der Aula der Freiburger Universität. (Welche Universität würde heute noch wagen, ein so stolzes Wort als Motto zu wählen?) Entgegen der landläufigen Meinung ist die reine Wissenschaft für die Praxis also durchaus nicht irrelevant. Freilich dient die Universität der Praxis nur dann, wenn sie ihre theoretischen Bemühungen nicht vernachlässigt, wenn sie mehr als das unmittelbar Nützliche lehrt, mit einem Wort: wenn sie mehr als eine bloße Berufsschule ist. Der Nutzen der Universität ist abhängig von einer Substanz, die auf dem Wege einer bloß auf das Nützliche reduzierten Ausbildung nicht erworben werden kann. Wissenschaftlerin beim Mikroskopieren Foto: Süddeutscher Verlag - Bilderdienst entsteht jene Klugheit, auf die es in der Realität ankommt. „Wer eben begonnen hat, etwas zu lernen, der reiht die Lehrsätze zwar aneinander, aber er hat noch kein Wissen (phronesis). Vielmehr muss Mit dem theoretischen Studium ist die akademische der Gegenstand erst ganz mit dem Menschen verwachsen sein und Ausbildung jedoch nicht abgeschlossen; eine praktische Lehrzeit das braucht Zeit" (Aristoteles). muss sich anschließen. Worin liegt deren Sinn? Auch hier lohnt es sich, auf die Griechen zu hören. Von Aristoteles kann man lernen, dass es in der Praxis vor allem darauf ankommt, zu begreifen, dass Klare Unterscheidung sich theoretische Erkenntnisse nicht unmittelbar umsetzen lassen. droht verloren zu gehen Der „Praktikant" muss lernen, dass die Wirklichkeit aus einer verwirrenden Vielfalt von Einzelfällen besteht und sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen lässt. Um zu wissen, welche Lehre Lange Zeit zeichnete sich die akademische Ausbildung durch man wann und wie eine klare Unterscheidung von theoretischem Studium und beruflichem Vorbereitungsdienst aus. Damit scheint es nun vorbei zu sein. Die Universität gerät zunehmend unter Druck, ihre Studiengänge von allem theoretischen „Luxus" zu reinigen und den Bedürfnissen der Praxis anzupassen. So wie die Dinge liegen, dürfte dabei nicht viel mehr als ein Mischmasch herauskommen: ein bisschen Theorie und ein bisschen Praxis. Von da zur schlechten Theorie und schlechten Praxis ist nur ein kurzer Schritt. Theorie, Praxis und Universität bleiben von dieser Entwicklung nicht unberührt. Sie büßen ihren traditionellen Sinn ein, soll heißen: Die Theorie klammert die Frage nach der Wahrheit aus und stellt sich beliebigen Zwekken zur Verfügung. Die Praxis hört auf, ein Widerlager gegen schlechte Theorie zu sein; was technisch möglich ist, wird gemacht, auch wenn sich ein Nutzen nicht erkennen lässt. Die Universität bleibt nicht länger das, was sie in den Augen der Klassiker der Universität und ihrer Vorläufer - von Platon bis Jaspers - sein soll: „eine Zone der Wahrheit, ein Hegungsraum der unabhängigen Befassung mit Wirklichkeit, in welchem ungehindert gefragt, erörtert und ausgesprochen wird, wie die Wahrheit der Dinge sich verhält" (Josef Pieper); sie verliert ihre Auto-nomie und wird zum Bestandteil einer riesigen Ausbildungsmaschinerie. Was heißt Praxis? Labor der Universität München Foto: Heddergott, Süddeutscher Verlag - Bilderdienst Vom Autor liegt im Primus-Verlag, Darmstadt, das Buch „Die Universität anwenden soll, muss man die konkreten Umstände kennen. Dazu muß sich wehren: Ein Plädoyer für ihre Erneuerung" vor. reicht auch das beste Lehrbuchwissen nicht aus; erst die praktische Erfahrung macht mit dem Einzelnen vertraut, während die Theorie vom Einzelfall abstrahiert und auf das Allgemeine zielt. Für Aristoteles ergänzen Theorie und Praxis einander. Ohne Erfahrung Anschrift des Autors droht die Theorie mehr Schaden als Nutzen zu stiften, ohne Theorie Kurfürstenstraße 68, D- 54 295 Trier läuft die Praxis Gefahr, blind zu werden. Erst wenn theoretische Anstrengung und prakti sehe Erfahrung zusammenkommen, Forschung & Lehre 8/2000