Begründung zur Verwendung des Begriffs „Doppelchromosom“ Das Wort „Chromatide“ stammt aus der (licht-)mikroskopischen Ära der Erforschung der Chromosomen. Chromatiden bezeichnen die bei Mitose und Meiose lichtmikroskopisch sichtbaren Spalthälften der Chromosomen, die am Centromer miteinander verbunden sind. Es handelt sich um Metaphase-Chromosomen, also Chromosomen in einem Zustand, den sie nur kurzfristig einnehmen. Die meiste Zeit liegen Chromosomen entspiralisiert, lichtmikroskopisch nicht sichtbar, in der Interphase als einzelne Chromosomen vor. Molekulargenetisch betrachtet besteht jedes Interphase-Chromosom („Ein-ChromatidChromosom“, „Einzelchromosom“) aus einem einzigen DNA-Molekül, das eine Serie von Genen enthält. Solch ein einzelnes Chromosom ist aus molekularbiologischer Sicht eine Funktionseinheit, weil es die genetische Information in einfacher Ausführung enthält und in der Interphase exprimieren kann. Ein Metaphase-Chromosom enthält zwei DNA-Moleküle, also zwei Chromosomen. Stimmig mit den molekularbiologischen Befunden ist, dass im haploiden Zustand (1n) jedes Chromosom und jedes Gen nur einfach vorhanden ist und im Vergleich dazu im diploiden Zustand (2n) jedes Chromosom, jedes Gen und die DNA-Menge im Zellkern doppelt vorliegen. Vor dem hier knapp skizzierten fachwissenschaftlichem Hintergrund muss ein didaktisches Motiv für den unterrichtlichen Gebrauch prägnanter, eindeutiger Fachtermini sein, molekularbiologische Perspektive und lichtmikroskopische Befunde widerspruchsfrei und mit möglichst wenigen Fachbegriffen zu integrieren. Es darf keine Kluft zwischen klassischer und molekularer Genetik entstehen, so dass Schüler und Schülerinnen molekularbiologische nicht auf lichtmikroskopische Befunde beziehen können. Unter Berufung auf fachdidaktische Autoritäten, die die Verwendung des Begriffs „Doppelchromosom“ vorgeschlagen haben (ESCHENHAGEN, D., KATTMANN, U., RODI, D.: Handbuch des Biologieunterrichts, Sekundarbereich I, Band 6: Vererbung; Aulis-Verlag, Köln, 1999, S. 22 – 87, S. 225) und gezeigt haben, dass er unproblematisch und gut verständlich anzuwenden ist sowie ohne Schwierigkeiten in molekularbiologischen Zusammenhängen genutzt werden kann, sehen wir folgende Vorteile hinsichtlich der unterrichtlichen Verwendung der Begriffe „Doppelchromosom“ und „Einzelchromosom“ gegenüber den Fachbegriffen im Umfeld des Wortes „Chromatide(n)“: - Der Begriff Chromosom“ ist zweifellos der grundlegende Begriff für die hier in Frage stehenden abgeleiteten Termini. In semantischer Hinsicht wird er auch als Begriff für eine Einheit genommen: Ein Chromosom ist eine Einheit von Etwas, was man zahlenmäßig erfassen kann. Bei Verwendung des Begriffs „Einzelchromosom“ (bzw. „Doppelchromosom“) ist unmissverständlich klar, dass diese Einheit einzeln (bzw. doppelt) vorliegt. Bei Verwendung des Begriffs „Ein-Chromatid-Chromosom“ (bzw. „ZweiChromatid-Chromosom“) bleibt von der Wortbedeutung her unklar, in welchem Verhältnis „Chromatid“ zur grundlegenden Einheit „Chromosom“ steht. Leitet man „Ein-ChromatidChromosom“ vom lichtmikroskopischen Bild als eine Hälfte der mitotischen MetaphaseChromosomen ab, wird nicht klar, ob die Zwei-Chromatid-Chromosomen oder die EinChromatid-Chromosomen die grundlegende Zähl-Einheit sind − zumal im naiven Vorverständnis nur schwer zu verstehen ist, dass die Hälfte von Etwas die grundlegende Zähl-Einheit sein soll. - Nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch in manchen Schulbüchern werden sprachlich die Chromatiden der Zwei-Chromatid-Chromosomen nach ihrer Trennung zu Tochterchromosomen. Das ist insofern schwer nachvollziehbar, weil sich materiell nichts geändert hat (lediglich die Spiralisierung), Ein und Dasselbe hat also unterschiedliche Namen. Wenn es nach der Trennung ein Chromosom ist − so gebietet hier die Logik − ist es auch vorher ein Chromosom. - Die Verwendung von Chromatiden beachtet nur ungenügend die molekularbiologischen Befunde. Das wird zum Beispiel dann deutlich, wenn in Fach- und Schulbüchern die Gesamtheit der Zwei-Chromatid-Chromosomen der mitotischen Metaphase als „2n“ bezeichnet wird, weil jedes Zwei-Chromatid-Chromosom zweifach ( in Form der Homologen) vorhanden ist, wobei jedes der Homologen aus „Spalthälften“ bzw. Chromatiden besteht, die jedoch bei „2n“ nicht mitgezählt werden (weil sie nicht als chromosomale Einheiten verstanden werden, siehe oben). Molekularbiologisch liegt in diesem Zustand ein vierfacher DNA-Gehalt vor, organisiert in Form von je zwei (homologen) Doppelchromosomen mit je zwei identischen DNA-Molekülen (siehe oben, 2 x 2n = 4n). Spricht man von je zwei homologen Doppelchromosomen, wird der Sachverhalt gemäß der Logik „2 x 2 = 4“ leicht verständlich. Dagegen kann es außerordentlich verwirrend sein, wenn aus 2n in der Metaphase nach Mitose und Zellteilung zwei Tochterzellen werden, die ebenfalls im diploiden Zustand 2n sind (zwei geteilt durch zwei kann nicht zwei ergeben). - An den Schnittstellen zur Molekulargenetik, zum Beispiel bei der identischen Verdopplung der DNA, wird der Vorteil des Begriffs „Einzelchromosom“ bzw. „Doppelchromosom“ deutlich, denn in sich schlüssig führt die identische Verdopplung eines Chromosoms zu einem Doppelchromosom. Dabei mag die sprachliche Nähe von „Verdopplung“ und „Doppelchromosom“ das Verständnis erleichtern. Für die hier vorgetragene Argumentation ist es hilfreich, festzustellen, dass auch Schulbücher bei der molekularen Deutung der Mitose als erbgleiche Teilung schlicht von identischer Verdopplung von Chromosomen durch DNA-Reduplikation reden und kaum mehr den Begriff „Ein-Chromatid-Chromosom“ verwenden.