Dur-Moll Seite 1 Endversion eines Beitrags, der 2002 fertiggestellt und in der Folge sofort zur Begutachtung bei der Redaktion des Jahrbuchs Musikpsychologie eingereicht wurde. Die Begutachtung wurde in wechselnder Intensität über die Jahre 2002 bis 2008 fortgesetzt. Seit 2008 wartet der Autor darauf, dass die Arbeit erscheint, nachdem auch das letzte Semikolon, dass die/der Gutachter/in gerne ausgewechselt haben wollte. Die Ungeduld sinkt. Kognitive Verarbeitung von Dreiklängen – ein Reaktionszeit-Experiment zur Unterscheidung von Dur und Moll im Kontext westlich-europäischer Tonalität Cognitive processing of musical chords – a speeded decision experiment with major and minor chords in the context of western-european tonality Herbert Bruhn 2008 vorgesehen zur Veröffentlichung im Jahrbuch Musikpsychologie Seite 2 Dur-Moll Zusammenfassung Die Experimente aus dem Jahr 2002 schließen an die Arbeiten von Bharucha und Stoeckig (Bharucha & Stoeckig, 1986; Bharucha & Stoeckig, 1987) an. In ihren Experimenten wurden Dur und Moll-Akkorde beurteilt, nachdem ein Ankerreiz (prime) eine Tonalität wachgerufen hatte. Die Ergebnisse von Bharucha und Stoeckig konnten präzisiert werden. (1) Die Zeiten der 10 männlichen und 10 weiblichen Experten waren deutlich kürzer als in allen anderen Studien, in denen Akkordbeurteilungen vorgenommen wurden. (2) Ein tonaler Ankerreiz verlängert die Beurteilungszeit geringfügig aber signifikant. (3) Bei den Verbindungen zwischen einem Dur-Ankerreiz und einem DurZielakkord verlängerte sich die Beurteilungszeit mit jeder zusätzlichen Quinte Abstand um 5 bis 10 ms, aber nur wenn man die Reaktionen betrachtet, die länger als 450 ms dauerten. (4) Sobald Zielakkord und/oder Ankerreiz in Moll gespielt wurden, zeigte die Verteilung der Antwortzeiten Besonderheiten, die darauf schließen lassen, dass mit Mollankerreizen eine verwandte Durtonart aktiviert wird. (5) Die besonders schnellen richtigen Reaktionen (266 bis 440 ms) zeigen keine Beziehung zum tonalen Gefüge des Ankerreizes. Abstract The experiments from 2002 follow the works of Bharucha and Stoeckig (1986, 1987). They play major and minor chords which had to be distinguished as fast as possible. The present experiment was able to report results more precisely. (1) Decisions were much faster than in any other up to now reported harmony experiment. (2) A tonal prime prolonges response times significantly. (3) Response times longer than 450 ms provde evidence for the fact that the distance between chord is represented mentally by fifth. (4) Minor chords cause particularly differing tonal structures: It seems as if minor chords activate related major tonalities. (5) Response times less than 440 ms are not affected by the tonality of a prime. Dur-Moll Seite 3 1. Forschungslage Musik wird oft als eine Art von Sprache bezeichnet (Sprache der Welt, vgl. dazu kritisch Bruhn & Rösing, 1998, S.15 ff). Auch wenn kaum definierbar ist, welche Inhalte mit Musik kommuniziert werden könnten (Semantik der Musik), so zeigt sich, dass Musik und Sprache strukturelle Analogien aufweisen: Sie lassen sich als auditive Objekte der Wahrnehmung anhand der Parameter Klang, Rhythmus (zeitliche Aufeinanderfolge) und Melodie (Tonhöhe) beschreiben, die zueinander in definierten Beziehungen stehen (Syntax oder Grammatik der Musik: Bruhn, 1988). Ein Sonderfall der Musiken der Welt ist die westlich-europäisch beeinflusste Kunstmusik, da sie zum einen überwiegend schriftlich fixiert und zum anderen von einem umfassenden Theoriegebäude mit Melodie-, Satz- und Harmonielehre umrahmt ist. Bereits vielfach wurde versucht, das musikalische Theoriegebäude mittels psychologischer Paradigmen zu beschreiben. Einen Überblick über die psychologischen Strukturmodelle zur Beschreibung von westlich-europäischer Musik gibt Stoffer (1998). Sehr erfolgreich war die Übertragung von Syntaxmodellen der Linguistik (insbesondere Chomsky, 1973) auf die Formanalyse und die Generierung von Melodien (dazu Lerdahl & Jackendoff, 1983; Stoffer, 1981, 1985). Bekannt wurde diese Forschungsrichtung in den 70er Jahren durch die berühmte Harvard-Vorlesung des Dirigenten Leonard Bernstein (Bernstein, 1976). Inhaltlich setzten sich die Arbeiten bei Krumhansl und ihren Mitarbeitern fort, die ihre Ergebnisse meist mit nichtmetrischen mehrdimensionalen Verfahren auswerteten (MDS; Krumhansl, 1991). Seltener als Melodien wurden Akkordzusammenhänge thematisiert. Keiler (1978) versuchte, die konstituierende Struktur des harmonischen Ablaufs mit einem an Chomsky angelehnten, hierarchischen Modell zu beschreiben. Bharucha und Krumhansl (1983) Seite 4 Dur-Moll wiesen mit der MDS von Ähnlichkeitsurteilen nach, dass die Stabilität der Beziehung zwischen Akkorden davon beeinflusst ist, in welchem harmonischen Zusammenhang sie gehört werden. Bharucha und Stoeckig (1986, 1987) stellten fest, dass die Identifikation von verstimmten Akkorden für harmonisch entfernte Akkorde länger dauert als für harmonisch nahe Akkorde. Eine Zusammenfassung der vorliegenden Studien findet sich bei Bruhn (1988 und 2005). Hier wird außerdem der Begriff der Entfernung bzw. der Verwandtschaft von Akkorden nach der funktionalen Harmonielehre (dazu Riemann, 1880; Maler, 1931; Motte, 1985) definiert und ein zweistufiges Verarbeitungsmodell entwirft. Nach diesem Modell wird zunächst auf einer präattentiven Stufe eine Wahrnehmungsobjekt identifiziert, dann bewusstseinsfähig die Beziehung zwischen den wahrgenommenen Objekten und Gedächtnisinhalten hergestellt. Bruhn stellt die Hypothese auf, dass die Identifikation von Akkorden als Dur oder Moll vom harmonischen Kontext abhängig ist, der vor Erklingen des Akkords etabliert wird. 2. Forschungsansatz Zwei Experimente (Bharucha & Stoeckig, 1986; Bharucha & Stoeckig, 1987) haben bereits Erkenntnisse zu dieser Hypothese beigetragen. Sie gingen von derselben Hypothese aus und beriefen sich auf das von Bharucha entworfene Netzwerkmodell (siehe Abbildung 1; Bharucha, 1987). Dur-Moll Seite 5 Abbildung 1: Netzwerkmodell der Beziehung zwischen Akkorden und Tonarten (Bharucha, 1987). Im ersten Experiment spielten sie Versuchspersonen eine Tonleiter vor (prime, Ankerreiz) und maßen die Zeit, die gebraucht wurde, um zu entscheiden, ob es sich bei einem nach der Tonleiter gespielten Akkord (target, Zielakkord) um einen sauber intonierten oder einen unsauberen Akkord handelte. In der Veröffentlichung wurden die zu beurteilenden Akkorde den Kategorien „related/unrelated“ zugewiesen. Die genaue Art der Relation ist der Veröffentlichung nicht zu entnehmen, sie beruhte jedoch anscheinend auf der Entfernung im Quintenzirkel: Entfernte Akkorde wurden später und fehlerhafter zugeordnet. Seite 6 Dur-Moll Abbildung 2: Experiment von Bharucha & Stoeckig, 1987. Im zweiten Experiment wurde nach einer Dur- oder Molltonfolge (prime) ein Akkord gespielt, der so schnell wie möglich als Dur- oder Molldreiklang identifiziert werden sollte (target). Dur-Zielakkorde wurden schneller erkannt als Moll-Akkorde, egal ob das Priming Dur oder Moll war. Bei Moll-Zielakkorden waren die Ergebnisse nicht so klar: Nach einem Dur-Priming wurden sie insgesamt schneller als nach einem Moll-Priming erkannt. Die Relation zum Priming spielte jedoch entweder keine Rolle (Dur) oder eine Rolle, die dem Dur-Priming entgegengesetzt war. Dur-Moll Seite 7 In beiden Arbeiten wird die wichtige Unterscheidung zwischen „related“ und „unrelated“ ungenau beschrieben, obwohl deutlich wird, dass mit harmonischer Beziehung (relatedness) die Quintbeziehung gemeint ist. Auch wird die Versuchspersonengruppe nicht genau beschrieben. Verwunderlich sind die relativ langen Beurteilungszeiten und die zum Teil sehr hohen Fehlerquoten, die auf eine nicht professionell ausgebildete Klientel schließen lassen. Mit der im folgenden beschriebenen Studie sollten die Ergebnisse repliziert und präzisiert werden. 3. Empirische Studie 3.1 Hypothesen Die vorliegende Studie wurde 2001/2002 durchgeführt und ging von zwei Hypothesen aus: (A) Entscheidungen über den Unterschied zwischen zwei auditiven Objekten wie musikalischen Akkorden werden schwieriger, wenn vor dem zu beurteilenden Objekt ein tonales Feld aktiviert wird. (B) Der Grad der Schwierigkeit ist von der Entfernung des zu beurteilenden Objektes vom aktivierten tonalen Feld abhängig. Die Entfernung misst sich nach dem Quintenzirkel mitteleuropäischer Harmonielehre. Seite 8 Dur-Moll 3.2 Operationalisierung Als auditive Objekte werden Dur- und Moll-Akkorde bzw. Akkordfolgen verwendet. Die Aktivierung eines tonalen Feldes erfolgt über eine Tonleiter und eine kurze Kadenz mit den drei Hauptfunktionen westlich-mitteleuropäischer Musik. Die Entfernung zwischen dem aktivierten tonalen Feld und dem zu beurteilenden Akkord wird im Experiment durch die Abstände in Halbtonschritten kontrolliert. Ausgewertet werden die Entfernungen in Quintabständen, da vermutet wird, dass dies der kognitiven Repräsentation entspricht. Die Schwierigkeit einer Entscheidung soll aus Reaktionszeiten (response time RT gemessen in Millisekunden) abgeleitet werden: Die Aufgabe der Vpn war, so schnell und so korrekt wie möglich den Charakter des Zielakkords (Dur oder Moll) zu bestimmen, der nach einer Tonleiter und einer kurzen Kadenz erklingt. Je schwieriger die Aufgabe ist, desto länger dauert die Bearbeitung der Aufgabe. 3.3 Versuchsaufbau und Apparate Das Experiment wurde von einem Laptop (Betriebsystem Win 98) mittels eines PascalProgramms (Delphi 6.0) gesteuert. Das Programm übernahm Abfolge und Auswahl der Versuchsstimuli, Zeitmessung und Speicherung der Daten. Die Tonerzeugung erfolgte über MIDI (musical instruments digital interface) mit einem Soundmodul (Roland SV 1010) und zwei Aktivboxen. Die Klänge waren gesampelte Klavierklänge. Drei Experimente wurden durchgeführt. Vor-Experiment: Die Vpn hörten zunächst eine Folge von sieben Tönen (distractor) im Abstand von je 200 ms (IOI inter onset interval). Diese Töne wurden vom Programm per Zufall aus der mittleren Oktave (MIDI 48 bis 59) ausgewählt und Dur-Moll Seite 9 sollten den Tonarteindruck der vorigen Aufgabe verwischen. Nach einer Pause von 200 ms plus/minus 50 ms (randomisiert) folgte ein Dur- oder ein Moll-Akkord. Die Aufgabe der Vpn war, so schnell wie möglich eine der beiden Pfeiltasten auf der Laptop-Tastatur zu drücken. Dieser Versuch diente lediglich dazu, die Vpn an die Versuchsanordnung zu gewöhnen und den Ehrgeiz auf schnelle Reaktionszeiten hervorzurufen. Um dies zu befördern, stand der Versuchsleiter neben der Versuchsperson und ermunterte sie/ihn, schneller auf die Pfeiltasten zu tippen, solange die Reaktionszeiten deutlich über 200 ms lagen. Das Vorexperiment wurde nur in der ersten Sitzung vorgeschaltet. Die Ergebnisse werden hier nicht berichtet. Experiment 1: Im nächsten Abschnitt hörten die Vpn wieder die Zufallsfolge (distractor) und darauf den Dur- oder Moll-Akkord als Zielakkord. Der Abstand zwischen dem Beginn des letzten Tons der Zufallsfolge und dem Zielakkord betrug diesmal durchgehend 1000 ms (IOI). Mit Erklingen des Zielakkords mussten die Vpn so schnell wie möglich entscheiden, ob es sich um einen Dur- oder Moll-Akkord handelte, und mit den Pfeiltasten der Laptoptastatur angeben. Die Pfeiltasten rechts und links wurde Dur und Moll beim Programmstart per Zufall zugeordnet, so dass sich die Vpn über die zehn Sitzungen mehrfach umstellen mussten. Experiment 2: Nach der bereits beschriebenen Zufallsfolge (distractor) wurde eine Tonleiter gespielt, der eine kadenzierende Reihe von vier Akkorden in derselben Tonart (Ausgangstonart) folgte. Danach erklang der Zielakkord, der von Vpn so schnell wie möglich auf Dur oder Moll untersucht werden musste. Die Entscheidung wurde mit den Pfeiltasten registriert (Anordnung wie in Experiment 1). Tabelle 1: Versuchsplan und Ablauf der Sitzungen jeder Vpn. Ablauf Aufgabe Experiment 0 distractor + Zielakkord möglichst schnelle Reaktion 1. Sitzung Experiment 1 distractor + Zielakkord möglichst schnelle und richtige Dur-MollBeurteilung Experiment 2 distractor + Tonleiter und vier Akkorde + Zielakkord 24 Dur+24 Moll möglichst schnelle und richtige Dur-MollBeurteilung 2. bis 8./11. Sitzung Experiment 1 Experiment 2 distractor distractor Zielakkord + Tonleiter und vier Akkorde + Zielakkord 24 Dur+24 Moll möglichst möglichst schnelle und schnelle und richtige Dur-Moll- richtige Dur-MollBeurteilung Beurteilung Seite 10 Dur-Moll 3.4 Versuchspersonen An den Experimenten nahmen 20 Vpn teil (10 weiblich, 10 männlich). Das Alter lag zwischen 17 bis 36 Jahre (M = 24,1). Die Vpn waren alle Studierende der Hochschule für Musik und Theater und haben in der Aufnahmeprüfung für Gehörbildung und in den folgenden Gehörbildungskursen überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Sie haben zwischen dem 4. und 10. Lebensjahr mit formellem Instrumentalunterricht begonnen und diesen zwischen 14 und 28 Jahre lang kontinuierlich erhalten (M = 18,3 Jahre der instrumentalen Unterweisung). 3.5 Versuchsablauf Nach 48 Messungen der Reaktionszeit im Vorexperiment 0 erschien der Anweisungsbildschirm mit der Erklärung des Experiments 1. Es folgten die Beurteilungen mit Zeitmessung, die so lange fortgesetzt werden mussten, bis 24 Dur- und 24 Moll-Akkorde richtig beurteilt waren. Wurde ein Akkord nicht richtig identifiziert, so wurde die Versuchsbedingung als nicht erledigt gekennzeichnet und später wiederholt. Unterlief der Vpn vier Mal nacheinander ein Fehler, so wurde eine Meldung eingeblendet, die zu einer Pause riet. Dies geschah im Verlauf des 1. Experiments nie – im Verlauf des 2. Experiments dreimal (bei insgesamt 52.697 Akkordbeurteilungen). Nach den 48 richtigen Beurteilungen in Experiment 1 erschien der Anweisungsbildschirm mit der Erklärung von Experiment 2. Jetzt wurden jeweils nacheinander alle 48 möglichen Verbindungen zwischen einer Dur- oder Moll-Kadenz (Ankerreiz) mit einem Dur- oder Moll-Zielakkord (= Versuchsbedingungen) in randomisierter Reihenfolge präsentiert (Tabelle 2). Dur-Moll Seite 11 Tabelle 2: Versuchsbedingungen (mode) in Experiment 2. Dur-Ankerreiz Moll-Ankerreiz N= Dur-Zielakkord jeweils für 0 bis 11 Halbtöne Abstand jeweils für 0 bis 11 Halbtöne Abstand 24 Moll-Zielakkord jeweils für 0 bis 11 Halbtöne Abstand jeweils für 0 bis 11 Halbtöne Abstand 24 24 24 48 Waren alle 48 Akkordverbindung richtig beurteilt, wurde das nächste Set von 48 randomisierten Versuchsbedingungen begonnen. Falsche Beurteilungen führten dazu, dass die jeweilige Versuchsbedingung im Rahmen des 48er-Sets erneut angeboten wurde, so lange bis alle 48 Versuchbedingungen richtig beurteilt worden waren. Das Experiment 2 wurde in jeder der acht bis elf Sitzungen so lange fortgesetzt, bis entweder die Vpn den Versuch beendete oder das Programm den Versuch abbrach. Der Versuch wurde vom Programm nach einer Gesamtarbeitszeit von ungefähr 45 bis 50 Minuten abgebrochen, da davon ausgegangen werden musste, dass spätestens nach dieser Zeit die Konzentration nachlassen würde. Während der Sitzung wurden weitere Pausen eingelegt, sobald die Vpn diese wünschte. Es wurde mit den Vpn vereinbar, dass so viele Sitzungen stattfinden, wie für 2000 richtige Beurteilungen notwendig sind. Dadurch war gewährleistet, dass jede Versuchbedingung mindestens zwanzig Mal bearbeitet wurde. Als Entschädigung für die Zeit der Teilnahme erhielten die Vpn den damaligen Stundensatz einer studentischen Lehrkraft für Instrumentalunterricht von 15 €. 4. Auswertung (I) 4.1 Unterschiede zwischen den Vpn Seite 12 Dur-Moll Die Genauigkeit der Dur-Moll-Unterscheidung war unterschiedlich hoch und lag im Hauptexperiment 2 im Mittel bei 93,1 Prozent richtigen Entscheidungen (Tabelle 3). Tabelle 3: Anzahl der richtigen und falschen Beurteilungen (Nr. 10-19 männlich, 20-29 weiblich) in Experiment 2. Dur-Moll Seite 13 Tabelle 4: Anteil schneller Reaktionszeiten bei den Dur- und Moll-Beurteilungen in Experiment 2. Vpn Gesamt 10 N= 11 N= 12 N= 13 N= 14 N= 15 N= 16 N= 17 N= 18 N= 19 N= 20 N= 21 N= 22 N= 23 N= 24 N= 25 N= 26 N= 27 N= 28 N= 29 N= N= unter 400 ms 531 26,6% 222 11,5% 13 ,6% 35 1,8% Reaktionsz eit 401-450 ms 539 27,0% 460 23,9% 46 2,3% 254 12,7% 225 11,2% 170 8,3% 351 17,4% 98 4,9% 260 13,0% 775 38,2% 167 8,3% 439 21,8% 147 7,4% 1 ,0% 421 21,1% 216 11,8% 27 1,4% 371 18,4% 23 1,2% 4492 11,3% 467 23,2% 464 22,6% 581 28,8% 282 14,0% 569 28,5% 568 28,0% 568 28,2% 435 21,6% 409 20,5% 44 2,2% 543 27,2% 402 22,0% 156 7,8% 485 24,1% 113 6,0% 7385 18,6% über 450 ms 930 46,5% 1242 64,6% 1943 97,1% 1711 85,6% 1920 100,0% 1324 65,7% 1416 69,1% 1084 53,8% 1636 81,2% 1171 58,6% 687 33,8% 1281 63,5% 1142 56,6% 1444 72,2% 1971 97,8% 1036 51,8% 1206 66,1% 1817 90,9% 1160 57,5% 1744 92,8% 27865 70,1% Gesamt 2000 100,0% 1924 100,0% 2002 100,0% 2000 100,0% 1920 100,0% 2016 100,0% 2050 100,0% 2016 100,0% 2016 100,0% 2000 100,0% 2030 100,0% 2016 100,0% 2016 100,0% 2000 100,0% 2016 100,0% 2000 100,0% 1824 100,0% 2000 100,0% 2016 100,0% 1880 100,0% 39742 100,0% Seite 14 Dur-Moll Tabelle 5: Prozentualer Anteil der richtigen Antworten in Experiment 2, M = 92,69 % und das Signifikanzniveau der unteren Grenze überzufällig richtiger Reaktionen (5% und 1% Niveau, Zeitangaben in Millisekunden, der kürzeste Wert für ein richtiges Urteil war 266 ms). Experiment 2 Prozent richtige Antworten untere Grenze RT signifikant: 5 % Niveau 1 % Niveau Vpn 10 Vpn 11 90,4 % 80,5 % 320 360 330 370 Vpn 12 Vpn 13 90,4 % 96,7 % 410 375 440 380 Vpn 14 Vpn 15 97,8 % 94,4 % 515 335 520 360 Vpn 16 Vpn 17 91,9 % 93,2 % 370 350 380 360 Vpn 18 Vpn 19 97,5 % 96,3 % 360 345 370 360 Vpn 20 Vpn 21 81,3 % 97,9 % 325 330 330 340 Vpn 22 Vpn 23 91,0 % 92,7 % 335 360 340 370 Vpn 24 Vpn 25 95,7 % 97,8 % 430 340 450 350 Vpn 26 Vpn 27 97,9 % 98,2 % 340 385 360 395 Vpn 28 Vpn 29 92,2 % 84,3 % 340 400 345 410 Einige der Vpn konnten die Entscheidung über Dur und Moll so schnell treffen, dass befürchtet wurde, sie hätten lediglich so schnell wie möglich eine Taste gedrückt. Es wurde deshalb berechnet, ab welcher Reaktionszeit richtige Antworten nach dem Binomialtest überzufällig auftraten. Die untere Grenze signifikant richtiger Entscheidungen ist für jede Vpn in Tabelle 5 (vorletzte und letzte Spalte) enthalten. Gender-Effekte wurden nicht gefunden. Dur-Moll Seite 15 Tabelle 6: Unterscheidung von „schnellen“ und „langsamen“ Versuchspersonen nach den Daten aus Experiment 2. Vpn mehr als 10 % der RT < 400 ms m: 10, 11, 15, 17, 19 w: 20, 21, 22, 25, 26, 28 weniger als 10 % oder keine RT < 400 ms m: 12, 13, 14, 16, 18 w: 23, 24, 27, 29 4.2 Zusammenhang zwischen Fehlerzahl und Beurteilungszeit In Tabelle 6 findet sich eine Einteilung in schnelle und langsame Versuchpersonen. Aus Tabelle 7 ist erkennbar, dass die schnellen Vpn ein größeres Fehlerrisiko eingehen: Je mehr schnelle Beurteilungen unter 400 ms liegen, desto mehr Fehler werden auch registriert (Variable FALSCH): Die Korrelation zwischen der Anzahl der extrem kurze Reaktionszeiten und der Fehlerzahl liegt bei r = .67 und ist signifikant. Die Anzahl der Fehler (FALSCH) korreliert aber gerade bei den schnellen Vpn nicht mit dem schnellsten überzufälligen Wert. Das heißt, eine sehr schnelle Vpn macht nicht generell mehr Fehler als eine etwas weniger schnelle Vpn. Aber es gibt eine schwach negative Korrelation zeigt an, dass bei den langsamer reagierenden, normalen Vpn die Entscheidung zwischen Dur und Moll sicherer wird, je mehr Zeit sich die Vpn nehmen. Tabelle 7: Korrelationen zur Überprüfung der Zuverlässigkeit der Daten (siehe Text). Sig.-Level der Korrelationen: * p = .05; ** p = .01; Variable FALSCH = Prozentanteil der Fehler jeder Vpn in Experiment 2; Variable „unter 400 ms/400 bis 450 ms“ = absolute Zahl dieser Reaktionszeiten je Vpn; unteres Sig.-Level = überzufällig richtige Entscheidungen mit p = .05. Seite 16 Dur-Moll 4.3 Vergleich der Reaktionszeiten mit und ohne Priming (Hypothese A) Tabelle 8 zeigt, dass die Entscheidung über Dur und Moll länger dauert, wenn der Zielakkord im tonalen Zusammenhang eines Ankerreizes beurteilt werden soll. Die Unterschiede liegen bei 4 bis 6 ms und sind für die gesamte Stichprobe auf 0,1-ProzentNiveau signifikant. Tabelle 8: Vergleich der Reaktionszeiten von Experiment 1 und 2, nur für die richtigen Beurteilungen (T-Test für Mittelwertsunterschiede). alle Versuche Zielakkord Dur Zielakkord Moll Experiment 1 2 N 8946 42444 Mittelwert 510,57 515,55 Standardabweichung 124,571 122,145 Unterschied signifikant: ** p < .001 1 2 4499 21257 517,03 520,94 127,808 124,586 n. s. 1 2 4447 21187 504,04 510,14 120,871 119,404 * p < .05 4.4 Abhängigkeit der Reaktionszeiten vom tonalen Umfeld (Hypothese B) Abbildung 3 und Abbildung 4 zeigen die Mittelwerte der Reaktionszeiten für alle Versuchsbedingungen in Experiment 2. Die X-Achse ordnet die Werte zwischen Ankerreiz und Zielakkord in Quintabständen an. Zu erwarten gewesen wäre, dass die Tonika der am leichtesten zu beurteilende Akkord ist, da die Ankerreiz-Kadenzen mit einem Akkord des selben Grundtons beendet werden – in der Hälfte der Fälle (Mode 1: Dur-Dur und Mode 4: Moll-Moll) sogar mit dem identischen Akkord. Genau dies ist für keine Versuchsbedingung der Fall. Die Tonika als Null-Entfernung führt sogar zu einer längeren Reaktionszeit. Dur-Moll Seite 17 Abbildung 3: Versuchbedingungen 1 und 2, links die Mittelwerte der RT für die Folge Dur-Kadenz und Dur-Zielakkord, rechts für die Folge Dur-Kadenz und Moll-Zielakkord. Die X-Achse zeigt die Entferung zwischen Ankerreiz und Zielakkord in Quinten an. Genau die Situation, dass die Tonika als Zielakkord auf die Tonika des Ankerreizes folgt, thematisierten mehrere Vpn während der Experimente, ohne darauf angesprochen zu sein: Sie sagten, sie seien bestimmt schlecht bei der Reaktion auf die Tonika, da sie immer wieder überrascht waren, denselben Akkord wie zuvor beim Kadenzabschluss zu hören. Da diese Bedingung bei jeder Vpn mindestes 80mal vorkam, scheint hier keine Fehlervarianz vorzuliegen, sondern ein systematischer Einfluss wirksam zu werden, der eine Gewöhnung verhindert. Eine regelhafte hypothesenkonforme Veränderung der Reaktionszeit auf Grund der Entfernung vom Ursprung einer Tonalität ist jedoch nicht zu erkennen. Zu diesem Auswertungsstand müsste Hypothese B zurückgewiesen werden. Seite 18 Dur-Moll Abbildung 4: Versuchsbedingungen 3 und 4, links die Mittelwerte der RT für die Folge Moll-Kadenz und Dur-Zielakkord, rechts für die Folge Moll-Kadenz und Moll-Zielakkord (ebenfalls nach Quintabständen). 5. Auswertung (II) 5.1 Unterscheidung zwischen schnellen und langsamen Reaktionen Eine weitere Auswertung wurde durchgeführt, die nicht von einer Hypothese gedeckt war. Die Unterscheidung zwischen schnellen und normalen Vpn entsprang der Betroffenheit des Versuchsleiters, der sich als Experte in Gehörbildung sieht und selbst keine sicheren Entscheidungen über Dur und Moll treffen konnte, die unter 430 ms lagen. In einer Proberechnung zeigte sich, dass die Werte der langsameren Versuchspersonen (siehe Tabelle 6) der in der Hypothese verlangten Struktur der Reaktionszeiten näher kamen als alle Werte aus Experiment 2 zusammen. Eine Reduktion des gesamten Datenmaterials von Experiment 2 wurde vorgenommen: Schrittweise wurden die Daten um die richtigen Reaktionen unter 400 ms, unter 410 ms usw. bis 450 ms herausgenommen. Die Veränderung der Verteilung soll aus Platzgründen exemplarisch am Mode 1 (Dur-Ankerreiz und Dur-Zielakkord) in Abbildung 5 dargestellt werden (die Verteilungen der anderen Modi verändern sich analog). Dur-Moll Seite 19 Seite 20 Dur-Moll Abbildung 5: Schrittweise wurden die Daten um schnelle Beurteilungszeiten reduziert. Ab 440 ms wird der Mittelwert von -5 bis -2 Quinten stetig kleiner, von 1 bis 5 Quinten stetig größer. Ab der unteren Grenze von 450 ms veränderte sich das Mittelwertsprofil der zwölf Beurteilung nicht mehr. Erstaunlicherweise nähert sich die Verteilung der Reaktionszeiten dem Profil an, das in der Hypothese B postuliert wurde. Es zeigt sich abgesehen von der längeren Beurteilungszeit für die Tonika bis zur fünften Quinte Abstand zwischen Ankerreiz und Zielakkord ein stetig größer werdender Wert für die Entscheidung über Dur und Moll. 5.2 Exkurs: Die Dichotomisierung der Daten beim Reaktionszeitwert 449/450 erfolgte „empirisch“ (im negativen Sinn) durch Ausprobieren und Erfahren. Ex post lässt sich eine Begründung für dieses Vorgehen finden: Aus der Neurowissenschaft ist bekannt (im Überblick Koelsch & Schroeger, 2008), dass ein auditiver Reiz zwei wichtige Hirnpotenziale hervorruft: Nach 100 bis 150 ms zeigt das N1 an, dass ein Signal eingegangen ist. Nach 250 und 400 ms zeigt das N400 an, dass das Signal bewusst geworden ist. Ein bewusster Entscheidungprozess würde also nach 250 bis 400 ms eine Reaktion einleiten, für die wiederum bis zur Ausführung im Schnitt 150 ms benötigt Dur-Moll Seite 21 werden (dazu Slater-Hamel, 1960). Die schnellsten Reaktionen auf bewusste Entscheidungen liegen also bei 400 ms, im Mittelwert um die 475 ms. Es liegt somit nahe, den Bereich der Reaktionszeiten nach unten hin abzugrenzen, da der Entscheidungsvorgang nicht bewusst sein kann. 5.3 Auswertung der langsamen Entscheidungen (RT > 450 ms) Für alle Versuchsmodi bleibt die Verzögerung bei der Erkennung der Tonika erhalten. Bei der Folge Ankerreiz = Dur und Zielakkord = moll fällt der Akkord auf der 6. Stufe (3 Quinten vom tonalen Zentrum entfernt) zusätzlich auf: Es handelt sich funktional gesehen um die Tonikaparallele, dem häufigsten Vertreter der Tonika insbesondere bei Trugschlüssen (zu Vertreterakkorden siehe Bruhn, 1988, S. 82 und 83). Der Bezug zur Tonalität der Ankerreiz-Kadenz kristallisiert sich jetzt sehr deutlich heraus. Für die Verbindung Dur-Kadenz und Dur-Zielakkord ist die Abhängigkeit zwischen der aktivierten Tonalität und der Reaktionszeit bis auf die verzögerte Beurteilung der Tonika nahezu perfekt: Die Reaktionszeiten werden mit zunehmender Entfernung in Quintschritten stetig und nahezu linear länger (Abbildung 6 oben links). Für die Folge Moll-Kadenz/Dur-Zielakkord gilt ähnliches: Absehen von der Tonikaverzögerung gibt es eine lineare Abhängigkeit von der Quintentfernung – allerdings überraschenderweise mit dem Minimum der RT zwei Quinten unter dem tonalen Zentrum der Ankerreiz-Kadenz. Es handelt sich nach traditioneller Harmonielehre um die Dominante der Dur-Parallele (beispielsweise bei einer Tonika c-Moll: B-Dur als Dominante für Es-Dur; Abbildung 6 unten links). Die lineare Abhängigkeit bleibt von diesem Ort der Aktivierung über vier Quinten nach oben und unten erhalten. Seite 22 Dur-Moll Die Verbindung von Dur-Kadenz als auch Moll-Kadenz mit einem Moll-Zielakkord verschiebt ebenfalls das Zentrum der Aktivierung – hier nun um drei Quinten nach unten. Vom tonalen Zentrum C beispielsweise wäre das es-Moll, eine Tonart ohne funktional erklärbaren Bezug zur Ankerreiz-Tonart. Sieht man von der verzögerten Erkennung der Tonika ab, ist die Beziehung zwischen Distanz und Beurteilungszeit von diesem Aktivierungszentrum wieder stetig und linear – für die Dur-Kadenz bis zur 6. Quinte, für die Moll-Kadenz aufwärts bis zur 4. und abwärts bis zur 3. Quinte. In der Grafik Dur-Kadenz/Moll-Zielakkord (oben rechts) sind die Unterschiede zwischen den RT bemerkenswert gering – bis auf die bereits erwähnte, mit einem Stern bezeichnete Tonika-Parallele der Ankerreiz-Tonart. Dur-Moll Seite 23 Dur Dur RT > 450 Dur Moll RT > 450 600 600 590 590 580 580 570 560 Mittelwert RT Mittelwert RT 570 560 550 -5 -4 -3 -2 S T D 2 3 4 550 540 530 5 6 -5 QUINT -4 -3 -2 S T D 2 3 4 5 6 QUINT Moll Moll RT >450 Moll Dur RT > 450 610 590 600 580 590 570 580 570 Mittelwert RT Mittelwert RT 560 550 540 -5 QUINT -4 -3 -2 S T D 2 3 4 560 550 5 6 -5 -4 -3 -2 S T D 2 3 4 5 6 QUINT Abbildung 6: Die vier Versuchsbedingungen aus Experiment 2, mit den Mittelwerten der Reaktionszeiten ab 450 ms. 5.4 Auswertung der schnellen Entscheidungen (RT < 450) Im Gegensatz zu den Daten über 450 ms erkennt man in den Daten unter 450 ms keine Beziehung zum Ankerreiz. Die Mittelwerte der vier Versuchsbedingungen liegen nahe beieinander (wenige Millisekunden, Abbildung 8). Auch eine weitere Reduzierung der Daten verändert das Bild nicht (Abbildung 7) – der Ankerreiz durch unterschiedlich weit entfernte Kadenzen hat keinen Einfluss mehr auf die Beurteilungszeiten. Diese Aussagen erweisen sich in der einfaktoriellen Varianzanalyse als überzufällig (Tabelle 9). Seite 24 Dur-Moll Dur Dur RT < 430 ms 400 395 395 390 390 385 385 380 380 375 375 370 370 365 365 Mittelwert RT Mittelwert RT Dur Dur RT < 440 ms 400 360 355 350 C C# D Eb E F F# G Ab A Bb 360 355 350 H C Tonleiterabstände 395 395 390 390 385 385 380 380 375 375 370 370 365 365 360 355 350 D Eb E F F# G Ab A Bb C 395 390 390 385 385 380 380 375 375 370 370 365 365 Mittelwert RT Mittelwert RT Ab A Bb H C# D Eb E F F# G Ab A Bb H F# G Ab A Bb H Dur Dur RT < 390 ms 395 360 355 350 Tonleiterabstände G Tonleiterabstände 400 Eb F# 350 H Dur Dur RT < 400 ms D F 355 400 C# E 360 Tonleiterabstände C Eb Dur Dur RT < 410 ms 400 Mittelwert RT Mittelwert RT Dur Dur RT < 420 ms C# D Tonleiterabstände 400 C C# E F F# G Ab A Bb 360 355 350 H C C# D Eb E F Tonleiterabstände Abbildung 7: Reaktionszeiten für die schnellen Entscheidungen unter 450 ms – die schrittweise Reduktion der Daten um langsamer Entscheidungen verändert das Profil überhaupt nicht. Dur-Moll Seite 25 Auch eine schrittweise weitere Reduktion der ausgewerteten Reaktionszeiten ergibt kein anderes Bild. Die Mittelwerte werden kürzer, die Varianz bleibt klein: Es ist eindeutig, dass der Einfluss des Ankerreizes unterhalb von 450 ms verschwunden ist. Dur Moll RT < 440 ms 440 430 430 420 420 410 410 400 400 390 390 Mittelwert RT Mittelwert RT Dur Dur RT < 440 ms 440 380 370 360 -5 -4 -3 -2 S T D 2 3 4 380 370 360 5 6 -5 QUINT Moll Dur RT < 440 ms -2 S T D 2 3 4 5 6 2 3 4 5 6 Moll Moll RT < 440 ms 440 430 430 420 420 410 410 400 400 390 390 Mittelwert RT Mittelwert RT -3 QUINT 440 380 370 360 -5 -4 -4 -3 -2 S T D 2 3 4 380 370 360 5 6 QUINT -5 -4 -3 -2 S T D QUINT Abbildung 8: Die Mittelwerte der vier Versuchsbedingungen sind erkennbar nicht abhängig vom Ankerreiz. Tabelle 9: Die Varianzen (obereTabelle) sind bei den kürzeren Reaktionszeiten nicht unterschiedlich, ab 450 ms sind die Reaktionszeiten jedoch signifikant von den Versuchbedingungen abhängig. Einfluss der Versuchsbedingungen auf die Reaktionszeitwerte (Varianzhomogenität) alle Daten Dur Dur Dur Moll Moll Dur Moll Moll Werte unter 450 ms p= .443 .901 .606 .457 .043 Werte ab 450 ms p= .000 .000 .000 .000 .000 sig. = Homogenität signifikant durchbrochen Einfluss der Quintabstände auf die Reaktionszeitwerte Seite 26 Dur-Moll (Mittelwerte) alle Daten Dur Dur Dur Moll Moll Dur Moll Moll Werte unter 450 ms p= .309 .806 .429 .417 .288 Werte ab 450 ms p= .000 .000 .000 .000 .000 sig. = die Mittelwerte der jeweiligen Versuchsbedingungen haben einen signifikanten Einfluss auf die RT 6. Diskussion Hypothese A kann nach Auswertung der Gesamtdaten als teilweise bestätigt angesehen werden kann. Insgesamt ist eine Verlängerung der Reaktionszeiten zu erkennen, wenn der Zielakkord nicht isoliert (Experiment 1), sondern nach Aktivierung eines tonalen Felds Ankerreiz) beurteilt werden soll. Dieser Effekt ist für Moll-Akkorde signifikant, für DurAkkorde nicht. Hypothese B kann aus den Gesamtdaten heraus nicht bestätigt werden kann. Erst wenn aus dem Datenpool alle Reaktionszeit unter 450 ms herausgefiltert werden, zeigen sich deutliche entfernungsabhängige Unterschiede zwischen den Modi des Experiments 2. Dagegen scheinen sich die Reaktionen unter 450 ms mit geringer Varianz um einen Mittelwert von 400 ms zu gruppieren. Man könnte argumentieren, dass sich hier die Daten von zwei Prozessen, von zwei Verarbeitungsformen überlappen. Sieht man die Daten unterhalb des Mittelwerts der schnellen Entscheidungen als die eine Hälfte einer Verteilung an, so kann man unter Annahme eine Normalverteilung der zufälligen Abweichungen den oberen Teil der Verteilung ergänzen. Zieht man den so errechneten Anteil präattentiver Prozesse von der Gesamtverteilung der Daten aus Experiment 2 ab, so nähert sich die Restkurve der asymptotischen Verteilung an, die aus der Theorie heraus eigentlich auch eher zu erwarten gewesen wäre als die nach unten hin weitgehend flach auslaufende Verteilung (Abbildung 9): Bewusst gesteuerte Prozesse benötigen offensichtlich mindestens 440 ms an Verarbeitungszeit bis zu einer offenen Antworthandlung. Dur-Moll Bitte an die Herausgeber: Entscheidung über die Grafik treffen!!! Herzlichen Dank: Bruhn Seite 27 Seite 28 Dur-Moll Abbildung 9: Verteilung der Gesamtmenge aller Reaktionszeiten für richtige Beurteilungen aus Experiment 2 dunkelgrau im Hintergrund. Hellgrau im Vordergrund hypothetisch angenommener präattentiver Prozess – in der Mitte (weiß) die dadurch übrigbleibende Verteilung von bewusst gesteuerten Entscheidungen (hypothetische, rechnerische Aufteilung der Originaldaten). Eine Zusatzinformation lässt sich aus den Daten abgeleiten: In mehreren Studien mit evozierten Potenzialen wurde nachgewiesen, dass der sogenannte neapolitanische Sextakkord einen besonderen Effekt auf das EEG hat. Aus den Reaktionszeitmessungen ist erkennbar, dass die Verarbeitung schwierig ist, da der Akkord harmonisch gesehen fünf Quinten vom tonalen Zentrum entfernt ist. Um eine Einzelstellung des Neapolitaners nachzuweisen, müsste benannt werden, was denn das Besondere sein könne. Plausibel erscheint nur, dass der Neapolitaner am Ende einer Kette von immer weiter entfernten Akkorden steht. Wenn man die zwischen Neapolitaner und tonalem Zentrum liegenden Akkorde ebenfalls auf einen ERAN hin untersucht, ergibt sich möglicherweise ein Kontinuum und keine Polarität (dazu Koelsch & Schroeger, 2008) Dur-Moll Seite 29 Diskutiert werden muss dann auch die Frage, ob es sich bei solchen Ergebnissen um semantische oder strukturbedingte, syntaktische Ergebnisse handelt. Aufgrund der Verarbeitungszeiten wäre es angemessener, die Ergebnisse im syntaktischen Bereich anzusiedeln, wenn nicht sogar im Bereich der automatisierten, präattentiven Objekterkennung. Nicht geklärt ist die Frage der Verlängerung der Reaktionszeiten bei der Tonika/dem tonalen Zentrum der Ankerreizkadenz. Auch hierzu wäre neuropsychologische Messungen nützliche Grundlage für weitere theoretische Überlegungen. 7. Ausblick Die Auswertung der Daten von Experiment 2 gibt Hinweise darauf, dass die Unterscheidung von Dur und Moll auf zwei unterschiedliche kognitive Prozesse zurückzuführen sein könnte: 1. Eine bewusst durchgeführte Unterscheidung der Zielakkorde, die von der aktivierten Tonalität beeinflusst ist, und 2. eine automatisierte Reaktion, die erst im Nachhinein bewusst wird und nicht von der aktivierten Tonalität beeinflusst wird. 3. Zwischen beiden Prozessen besteht kein fließender Übergang – zwischen 440 und 450 ms nach dem Onset des zu beurteilenden Akkords gibt einen schroffen Übergang, eine schlichte Ablösung des eine Prozesses durch den anderen. Die Untersuchungen sollten in zwei Richtungen fortgesetzt werden: Aus kognitionspsychologischer Sicht sollte der Unterscheidung zwischen bewusster und vorbewusster Informationsverarbeitung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Seite 30 Dur-Moll Dies könnte durch eine Kombination des bisherigen Versuchsplans mit der Messung evozierter Potentiale möglich werden. Aus musikpsychologischer Sicht müssen die Fragen der Tonika-Verzögerung und der Verschiebung des Zentrums der Aktivierung durch Moll-Akkorde vertieft untersucht werden. Die Tonika-Verzögerung kann auf eine Erwartungshaltung der Vpn zurückführbar sein: Es wird ein „anderer“ Akkord erwartet, so dass die Tonika als „Gleich“ überraschend ist. Die Verschiebung des Zentrums der Aktivierung durch Moll-Akkorde lässt sich nur im Zusammenhang mit Konsonanztheorien und deren möglicher Neubewertung untersuchen. Die Verschiebung des Aktivierungszentrums durch eine Moll-Kadenz um zwei Quinten nach unten deutet darauf hin, dass die Moll-Kadenz nicht die eigene Tonart, sondern die parallele Dur-Tonart (kleine Terz nach oben) aktiviert. Das könnte darauf hinweisen, dass Moll keine eigenständige Modalität bildet. Moll wäre dann nicht als dialektischer Gegenpol zu Dur anzusehen, sondern von Dur abhängig und eher komplementär ergänzend. Voraussetzung für Folgeuntersuchungen ist die Entwicklung einer Theorie, die die Ableitung von operationalisierbaren Hypothesen ermöglicht. Literatur Bernstein, L. (1976). The unanswered question: six talks at Harvard. Cambridge: Harvard University Press. Bharucha, J. J. (1987). Music cognition and perceptual facilitation: A connectionist framework. Music Perception, 5, 1-30. Bharucha, J. 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