Theoriendynamik

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Theoriendynamik
Einleitung
Theoriendynamik:
Beschaffenheit des wissenschaftlichen Fortschritts: Ausschließlich Erkenntnisfortschritt.
Methodologische Erfassung des Theorienwandels:
Rekonstruktion der Gründe für die Abfolge übergreifender wissenschaftlicher Theoriebildungen.
Betrachtung der jeweiligen Theorieinhalte sowie ihrer Beziehung zu den verfügbaren Daten und
anderen theoretischen Überzeugungen (dem Hintergrundwissen der Epoche).
Traditionell: Nachrangige Rolle von Theorien.
Wissenschaft primär durch Hinwendung zu den Tatsachen charakterisiert.
Umorientierung ab etwa 1920:
– Übergreifende Theoriebildungen wesentlich für
die Wissenschaft.
– Fundamentaler historischer Wandel der jeweils
akzeptierten Theorien.
THOMAS S. KUHN (1922-1996):
Paradigmentheorie (1962): Methodologische Konsequenzen dieser Umorientierung:
Die Wissenschaftstheorie hat sich auf die Beschaffenheit des wissenschaftlichen Wandels zu
konzentrieren;
insbesondere muss sie sich dem Problem der vergleichenden Beurteilung grundsätzlich
verschiedener theoretischer Zugangsweisen stellen.
Bestätigung von Theorien: Untersuchung aus logischem und aus historischem Blickwinkel.
Logische Ansätze:
Folgerungsbeziehungen zwischen theoretischer Hypothese und Beobachtungsbefund:
Bestätigungstheorie.
Historische Ansätze:
Einbeziehung des historisch zugehörigen theoretischen Kontexts und der Entwicklungsmuster von
Theorien: Theoriendynamik.
Bestätigungstheorie:
– ist statisch orientiert;
– betont die logischen Beziehungen zwischen
Theorie und Daten;
– ist auf einzelne Hypothesen konzentriert.
Theoriendynamische Ansätze
– sind historisch orientiert;
– betonen temporale Beziehungen zwischen
Theorienformulierung und Datenregistrierung
– sind holistisch ausgerichtet.
Theoriendynamik: Klärung von Struktur und Beschaffenheit des Erkenntnisfortschritts.
Heranziehen der Abfolge von Theorien für eine Klärung des Erkenntnisprozesses.
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Einbezug der epistemischen Perspektive:
Orientierung am gegenwärtigen Verständnis von Erkenntnis und an den Geltungsgründen für
wissenschaftliche Behauptungen.
Festlegung, dass die wissenschaftliche Methode zur Gewinnung von Erkenntnissen über die Welt
geeignet ist.
Wissenschaft als Musterbeispiel menschlicher Erkenntnis.
=> Brückenschlag zwischen Theorienwandel und Erkenntnisfortschritt oder wissenschaftlicher
Rationalität.
Fragestellung: Charakteristika einer qualifizierten, wissenschaftlich akzeptablen Theorie.
1. Die Akkumulationstheorie des wissenschaftlichen Fortschritts
1.1 Notwendigkeit und Faktizität wissenschaftlicher Wahrheiten
Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft (1600):
Zwei unterschiedliche methodologischen Interpretationen:
(1) Platonisch orientiert, mathematisch-aprioristisch ausgerichtet: GALILEO GALILEI.
(2) Aristotelisch angelegt, empiristisch geprägt:
FRANCIS BACON.
=> Übereinstimmend: Akkumulationstheorie des wissenschaftlichen Fortschritts:
Wissenschaftlicher Wandel als Anhäufung gesicherten Wissens.
Galilei:
Wissenschaftliche Wahrheiten sind notwendige Wahrheiten.
Erkenntniskraft der Vernunft gegen die Alltagserfahrung.
Die Wirklichkeit besitzt mathematische Struktur und ist deshalb von der mathematisch
operierenden Vernunft zu erfassen.
Galilei: Nur eine einzige Interpretation der Phänomene von inneren Widersprüchen frei:
Gedankenexperiment zur Aristotelischen Ansicht, dass schwere Körper schneller fallen als leichte.
Zusammenfügen zweier Körper unterschiedlichen Gewichts zu einem schwereren Körper.
Einerseits: Dieser Körper ist schwerer als der schwerere Teilkörper und sollte daher schneller
fallen als dieser.
Andererseits: Der schwerere Teilkörper wird von dem leichteren gebremst, sodass der
zusammengefügte Körper langsamer fallen sollte als die schwerere Komponente.
=> Auflösung des Widerspruchs durch Annahme gleicher Fallbeschleunigung für alle Körper.
=> Stabilitätsthese: Wissenschaftliche Wahrheiten sind dem wissenschaftlichen Wandel nicht
unterworfen.
Bacon: Empiristische Tradition: Verpflichtung der Wissenschaft auf die Erfahrung.
Kennzeichnung der wissenschaftlichen Methode durch vorurteilsfreie Betrachtung der
betreffenden Sachverhalte.
Spezifizierung von Vorurteilstypen (idolae) und Forderung ihrer Beseitigung.
Vorurteil der Gattung (idola tribus): Verzerrungen, die durch die allgemeine Beschaffenheit des
menschlichen Geistes.
Vorurteil der Bühne (idola theatri): Fehldeutungen durch überkommene und überholte theoretische
Systeme.
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Authentische Deutung der Naturphänomene:
Die Gesichtspunkte der Naturdeutung müssen aus der umsichtigen und vorurteilslosen
Beobachtung entspringen.
Die ordnenden Gesichtspunkte sind der Natur entnommen und werden ihr nicht vom Menschen
übergestülpt.
„Auslegung der Natur“ (interpretatio naturae) statt „Vorwegnahme des Geistes“ (anticipatio
mentis).
=> Wissenschaftlicher Wandel als Aufdeckung von Vorurteilen und Zurückweisung von
Irrtümern.
=> Zunehmende Entschleierung von Erfahrungswahrheiten.
=> Stabilitätsthese.
WILLIAM WHEWELL (1794-1866): Signifikanz
übergreifender theoretischer Vorstellungen.
Wissenschaftliche Methode als Erfindung einer Mehrzahl vorläufiger Hypothesen und Auswahl
der richtigen allein nach Maßgabe ihrer Anwendung auf die Tatsachen.
Der Prozess der Verfertigung von Hypothesen ist keinen Regeln unterworfen.
Entdeckungen beruhen nicht selten auf glücklichem Raten („happy guesses“).
1.2 Akkumulation und Eingrenzung
Übergreifende Theorien sind für die Wissenschaft wesentlich; aber ihnen wohnt letztlich keinerlei
Willkür inne.
Akkumulationstheorie des wissenschaftlichen Fortschritts:
Die Wissenschaft bringt es zu definitiven Erkenntnissen von Naturgesetzen, die durch den
nachfolgenden Theorienwandel nicht zurückgenommen werden.
Theoretische Rücknahmen von zweierlei Art:
– Modifikation oder Ersetzung von Illustrationen
der Gesetze oder von anschaulichen Modellvorstellungen,
– Einschränkung des Geltungsbereichs der
Gesetze.
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Die hypothetisch-deduktive Methode
Whewell (1858), Duhem (1906): Hypothetisch-deduktive Methode:
Provisorische Voraussetzung der Gültigkeit einer Annahme und Untersuchung ihrer empirischen
Konsequenzen.
Beurteilung der Ausgangshypothese im Lichte dieser Resultate.
Argument: Wissenschaftlich relevante Begriffe den Phänomenen nicht direkt entnehmbar.
Stattdessen Theorien als „freie Schöpfungen des menschlichen Geistes“.
Methodische Liberalisierung: Wissenschaftlich akzeptable Begriffe müssen keine unmittelbaren
Gegenstücke in der Erfahrung besitzen.
Hypothetische-deduktive Prüfungen: Drei Experimente Lavoisiers (1743–1794).
(1) Beobachtung: Gewichtszunahme einiger Metalle beim Rösten im Feuer („Kalzination“).
Erklärungsansatz Boyles (1627–1691): Bindung von Feuerteilchen.
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Lavoisier: Das Metall nimmt beim Rösten Luft aus der Atmosphäre auf, und es ist dieser
zusätzliche Bestandteil, der für das erhöhte Gewicht der Metallkalke verantwortlich ist.
Hypothetisch-deduktive Prüfung:
Konsequenz aus Boyles Auffassung: Gewichtszunahme der verschlossenen Retorte.
Konsequenz aus Lavoisiers Ansicht: Keine Veränderung des Gesamtgewichts des Gefäßes.
=> Zwei unterschiedliche Voraussetzungen können auf gegenteilige Konsequenzen führen, von
denen sich eine in der Erfahrung bestätigt.
(2) Hauptgegner Lavoisiers: Phlogistontheorie.
Stahl (1660-1734): Verbrennung als Zerlegung: Entweichen von Phlogiston aus dem brennenden
Körper; Zurückbleiben unbrennbarer Asche.
Umwandelbarkeit von Metallkalken in die zugehörigen Metalle durch Zufuhr von Phlogiston.
=> Glühen von Bleiglätte (PbO) mit Holzkohle: Entstehen metallischen Bleis.
Dagegen Lavoisier: „Rotes Präzipitat“ (HgO) kann durch bloßes Erhitzen mit dem Brennglas zu
metallischem Quecksilber reduziert werden.
Erster Schritt: Rotes Präzipitat als regulärer Quecksilberkalk.
Argument: wenn rotes Präzipitat ein Quecksilberkalk ist, dann sollte seine Reduktion mit
Holzkohle zu den gleichen Ergebnissen führen wie die Reduktion anderer Metallkalke.
Die Bestätigung dieser Schlussfolgerung in der Erfahrung stützt hypothetisch-deduktiv die
Prämisse.
Zweiter Schritt: Reduktion eines Kalks ohne materielle Phlogistonquelle als Gegenbeispiel der
Phlogistontheorie.
Lavoisier: Kalke als Sauerstoffverbindungen; Reduktion auch ohne äußere Quelle möglich.
=> Einklang mit Lavoisiers Auffassung.
(3) Lavoisier: Wasser kein Element, sondern das Oxid des Wasserstoffs.
Deutung der Verbrennung von Wasserstoff als Wassersynthese.
Hypothetisch-deduktive Gegenprobe: Analyse von Wasser.
=> Zerlegung, wenn man dem Sauerstoff im Wasser eine Substanz zur Bindung anbietet, zu der er
eine größere Affinität besitzt als zum Wasserstoff.
Beobachtung: Umwandlung metallischen Eisens in Eisenoxid und Bildung von Wasserstoff.
Unterstellte Reaktion:
Eisen + (Sauerstoff + Wasserstoff)  (Eisen + Sauerstoff) + Wasserstoff
Wasser
Eisenoxid
1.4 Duhem: Grenzen der hypothetisch-deduktiven Methode
Zuvor: Vernunft und Erfahrung zeichnen letztlich eindeutig die richtige Theorie aus.
Duhem: Grenzen der hypothetisch-deduktiven Methode: Weder schlüssige Bestätigung noch
schlüssige Widerlegung theoretischer Hypothesen.
Bestätigung scheitert: Existenz empirisch ununterscheidbarer, aber theoretisch unverträglicher
Erklärungsalternativen.
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Widerlegung scheitert: Keine eindeutige Identifizierbarkeit des theoretischen Grunds eines empirischen Fehlschlags durch Erfahrung allein.
1.4.1 Grenzen empirischer Bestätigung
Hypothese h, Beobachtung e;
(h => e)  e => h: Fehlschluss der Bejahung des Konsequens.
Grund der Ungültigkeit: Die gleichen Konsequenzen können aus wahren wie aus falschen
Prämissen folgen.
=> Ableitbarkeit eines Beobachtungsbefunds aus allgemeinen Prinzipien kein Beweis dieser
Prinzipien.
=> Keine schlüssige Bestätigung von Hypothesen auf hypothetisch-deduktive Weise.
Empirisch äquivalente Erklärungsansätze in der geozentrischen Astronomie
APOLLONIUS VON PERGE (200 v. Chr.): Zwei verschiedenartige theoretische Annahmen über den
Verlauf der Sonnenbahn führen zu den gleichen beobachteten Sonnenpositionen.
Hintergrund: Geozentrische Astronomie:
KLAUDIOS PTOLEMAIOS, CLAUDIUS PTOLEMAEUS Alexandria, ca. 100 - 170 n. Chr.
Almagest (150 n. Chr).
Erde im Mittelpunkt des Kosmos.
Rotation aller Planeten (im heutigen Sinne) sowie Sonne und Mond gleichförmig-kreisförmig um
die Erde.
Konzentrischer Kreis mit Korrekturepizykel gleiche empirische Konsequenzen wie exzentrischer
Hauptkreis.
=> Empirisch äquivalente Erklärungsansätze, sodass sich zwischen ihnen nicht durch Erfahrung
entscheiden lässt.
Bestätigungsbeschränkungen
=> Grenzen hypothetisch-deduktiver Prüfungen.
Erwartung, dass Befunde, die sich aus einer Theorie ergeben, auch Folge einer anderen, mit der
ersten unverträglichen Theorie sind.
=> Spielraum der Wissenschaft gegenüber der Natur: Unterbestimmtheit der Theorie gegenüber
der Erfahrung.
Argument: Beispiele von Unterbestimmtheit der Theorie durch die Erfahrung:
=> Auch in anderen Fällen sind alternative Erklärungen möglich.
=> Keine schlüssige Bestätigung.
Duhem-Quine-These
Duhem-Quine-These: Angebbarkeit von inhaltlich miteinander unverträglichen, aber empirisch
äquivalenten Beschreibungen eines gegebenen Phänomenbereichs.
Beispiele:
– Jeffreys’ Fassung des Fallgesetzes:
s = ½ gt2 + f(t) (t-t1) (t-t2) ... (t-tn)
mit ti als Zeiten der empirischen Prüfung des
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Gesetzes
– Schöpfung der Erde 4004 v. Chr. in einem Zu
stand, der ein höheres Alter anzuzeigen scheint.
Tragweite der Duhem-Quine-These für die Theoriendynamik umstritten.
Kritiker: Die Duhem-Quine These ist je nach Lesart trivial oder falsch:
Sie ist trivial, wenn sie begrifflich parasitäre Abkömmlinge einer Theorie als Alternativen zu
dieser Theorie zulässt.
Sie ist falsch, wenn sie die garantierte Angebbarkeit interessant verschiedener Alternativtheorien
vorsieht.
1.4.2 Grenzen empirischer Widerlegung
Duhem (1906): Erfahrung und Logik allein nicht hinreichend, um den theoretischen Grund eines
Fehlschlags eindeutig auszuzeichnen.
Terminologie: „Anomalie“ als unvorhergesehener Gegensatz zwischen theoretischer Erwartung
und empirischem Befund.
Schlüssige Widerlegung durch Gegenbeispiele anscheinend erreichbar nach Modus tollens:
Hypothese h, Randbedingung Rb:
h  Rb => e; e  Rb = h.
Jedoch Duhem: Eine einzelne Hypothese kann nur selten mit empirischen Befunden konfrontiert
werden.
Erst durch deren Einbettung in einen theoretischen Kontext ergeben sich Beobachtungskonsequenzen.
Das einschlägige Hypothesengeflecht umfasst Beobachtungstheorien Bt, Hilfshypothesen Hh und
Hintergrundwissen Hw.
Nicht: h => e.
Sondern: h  Bt  Hh  Hw => e.
Bei e keine Auszeichnung der fehlerhaften Annahme durch Logik und Erfahrung.
Empirische Erschütterung: Zwar logisch schlüssiges Verfahren, das aber nicht die Widerlegung
spezifischer Hypothesen erlaubt.
=> Keine schlüssige Prüfbarkeit einzelner Hypothesen.
Wird eine Annahme für unproblematisch gehalten, so entzieht sie sich der empirischen Prüfung.
Theoretische Systeme bieten stets einen Spielraum bei der Einpassung einer Anomalie.
Beispiel: Verpflichtung der astronomischen Theorie seit PLATON (428/427-347 v. Chr.) auf das
Prinzip der gleichförmigen Kreisbewegung.
Die ungleiche Länge der Jahresezeiten spricht gegen die Gleichförmigkeit der Sonnenbewegung,
das Auftreten von Retrogression gegen die Kreisförmigkeit der betreffenden Planetenbewegungen.
Aber keine Aufgabe des Prinzips der gleichförmigen Kreisförmigkeit, sondern Einführung der
Hilfshypothesen der Exzenter und Epizykel, die dieses Prinzip mit den scheinbar
entgegenstehenden Befunden in Einklang brachte und es dadurch bewahrten.
Bestätigungsholismus oder Duhems Problem:
Die Tragweite einer empirischen Schwierigkeit für die einzelnen Hypothesen eines theoretischen
Netzwerks ist nicht durch Logik und Erfahrung allein ermitteln.
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=> Unterschiedliche Konkretisierungen zu „Duhems These“:
(1) Für jede Anomalie einer Theorie gibt es mindestens zwei unterschiedliche Möglichkeiten der
theoretischen Anpassung.
(2) Jede Hypothese einer mit einer Anomalie konfrontierten Theorie kann gerettet werden, indem
man andere Hypothesen dieser Theorie modifiziert.
Der Ausschluss von Experimenta crucis
Duhem: Ausschluss entscheidender Experimente.
Bacon: Experimenta crucis als eindeutige Entscheidung zwischen zwei rivalisierenden Hypothesen:
Zwei Erklärungsoptionen, von denen eine empirisch widerlegt ist; dann muss die andere richtig
sein.
Logische Situation: h1  e1; h2  e2.
Beobachtung: e1.
=> Widerlegung von h2 und Beweis für h1.
=> Ultimativer Höhepunkt hypothetisch-deduktiver Prüfung.
Duhem: Ein solcher Beweis verlangte, dass beide Erklärungen den Spielraum der Möglichkeiten
ausschöpfen. Dessen aber kann man sich niemals gewiss sein.
=> Mehrfache Ausdeutbarkeit empirischer Befunde.
Lavoisiers Experimente als Versuche, durch Experimenta crucis die eigenen Erklärungsansätze zu
beweisen.
Allerdings: nur begrenzte Beweiskraft.
Gewichtszunahme von Metallen bei der Kalzination in verschlossenen Gefäßen:
Optionen der Einbindung in die Boylesche Lehre und in die Phlogistontheorie: Die zentralen
Prinzipien wurden für nicht betroffen erklärt und den widrigen Befunden durch Abänderung
randständiger Annahmen Rechnung getragen.
Tragweite der Unterbestimmtheit von Theorien durch die Erfahrung:
– Empirie und Logik reichen nicht hin, um einzelne Hypothesen als erschüttert oder bestätigt
auszuzeichnen.
– Die bloße Forderung des Einklangs mit der Erfahrung lässt Hypothesen einen großen Spielraum.
1.4.3 Duhem und der wissenschaftliche Fortschritt
Wissenschaftliche Theorien nicht länger von Vernunft und Erfahrung diktiert; sie sind und bleiben
Schöpfungen des menschlichen Geistes.
Jedoch: Festhalten an den wesentlichen Aspekten der Akkumulationstheorie.
– Die einzig signifikante Rücknahme betrifft die anschauliche Illustration der Gesetze; ihr
sachlicher Gehalt bleibt unverändert.
– Eingrenzungsthese: Durch den wissenschaftlichen Fortschritt werden die Geltungsgrenzen von
Gesetzen aufgewiesen; innerhalb dieser Grenzen bleiben die Gesetze gültig.
Angemessene Reaktion auf den empirischen Aufweis einer Geltungsbegrenzung: Ergänzung und
Modifikation des ursprünglichen Gesetzes.
=> Einschluss der Ausnahmen in den Gültigkeitsbereich.
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Der wissenschaftliche Fortschritt ist wesentlich auf Ergänzung des Bestehenden gerichtet:
Inhaltliche Kontinuität.
Ebenso temporale Kontinuität:
Gradualismus: Der Fortschritt verläuft allmählich und ohne abrupten Wandel der Begriffe,
Problemstellungen und Theorien.
Theorien werden stets nur gradweise modifiziert; der Fortschritt macht keine Sprünge.
Duhem: Zwar Hervorhebung des prägenden Einflusses der menschlichen Vorstellungskraft und der
Unsicherheiten der Theorienbeurteilung, aber Abweisung inhaltlicher oder temporaler
Diskontinuität des Fortschritts.
Grund: Die Tradition prägt die intellektuellen Linien vor.
1.5 Theorienevolution im Kritischen Rationalismus
KARL R. POPPER (1902-1994): „Kritischer Rationalismus“.
Abgrenzungsproblem:
Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft.
Einschätzungsproblem:
Methodologische Beurteilung wissenschaftlicher Theorien.
1.5.1 Das Falsifizierbarkeitskriterium
„Falsifikation“: Widerlegung einer Theorie durch die Erfahrung.
Abgrenzungskriterium: Falsifizierbarkeit:
Die Widerlegung durch empirische Befunde muss logisch möglich sein.
Falsifizierbarkeit:
Logischer Aspekt: Ein umfassendes Aussagensystem kann mit Beobachtungssätzen in Konflikt
geraten.
=> Logischer Widerspruch zwischen Beobachtungsaussagen und der Gesamtheit der einschlägigen
theoretischen Hypothesen, einschließlich aller Hilfsannahmen und Beobachtungstheorien.
Falsifizierbarkeit im logischen Sinne:
Eigenschaft eines Theoriensystems: Wenn bestimmte Beobachtungsaussagen angenommen
würden, wäre dieses Theoriensystem empirisch widerlegt.
Falsifizierbarkeit in pragmatischer Hinsicht: Auszeichnung der als prüfungsbedürftig und ggf. als
widerlegt eingestuften Hypothese.
Anerkennung, dass die Falsifikation theoretischer Grundsätze stets vermieden werden kann.
Pragmatisches Falsifikationskriterium: Eine Falsifikation sollte nicht vermieden werden, da der
Preis zu hoch ist.
Durch die Vorstellung, die zentralen Annahmen von Theorien würden durch
Immunisierungsstrategien vor der Widerlegung bewahrt, würde der wissenschaftliche Fortschritt
unverständlich.
Falsifikationen erkenntnistheoretisch wesentlich:
Der Konflikt mit der Erfahrung eröffnet die Möglichkeit des Lernens aus der Erfahrung.
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Die Immunisierung von Theorien gegen Anomalien verhindert, dass wir aus unseren Fehlern
lernen.
Kein theoretischer Grundsatz ist logisch zwingend oder von Natur aus zu falsifizieren.
Wer aus Erfahrung lernen will, muss sich dafür entscheiden, bestimmte empirische
Schwierigkeiten einer Theorie als Widerlegung dieser Theorie aufzufassen.
Falsifizierbarkeit im pragmatischen Sinne ist durch methodologischen Beschluss herzustellen:
Haltung von Wissenschaftlern, keine Eigenschaft von Theorien.
Falsifizierbarkeit im logischen Sinne ist Voraussetzung für Falsifizierbarkeit im pragmatischen
Sinne.
Herstellung der Falsifizierbarkeit theoretischer Grundsätze durch zwei Entscheidungen:
(1) Auszeichnung der für prüfungsbedürftig erachteten Hypothese:
Einteilung der für die Untersuchung insgesamt herangezogenen Annahmen in zwei Klassen:
Zu prüfende Hypothese und unproblematisches Hintergrundwissen.
(2) Festlegung der Korrektheit und Vollständigkeit der Datenbeschreibung:
Es sind niemals sämtliche Störeinflüsse sicher auszuschließen.
=> Verpflichtung auf Korrektheit und Vollständigkeit beinhaltet eine Entscheidung.
Die für die Herstellung der Falsifizierbarkeit erforderlichen Entscheidungen unterliegen dem
Risiko des Irrtums.
Der Kritische Rationalismus spezifiziert kaum Kriterien dafür, wie diese Entscheidungen zu
treffen sind.
1.5.2 Die Bewährung von Theorien
Einschätzung von Theorien: Kennzeichnung der Merkmale methodologisch qualifizierter
wissenschaftlicher Theorien.
Vergleichende Beurteilung von Theorien, die sämtlich das Kriterium der Wissenschaftlichkeit
erfüllen.
Angabe eines Verfahrens zur positiven Auszeichnung nicht-falsifizierter Hypothesen: Zuordnung
eines „Bewährungsgrads“.
Zweistufiges Verfahren: Theoretische und empirische Stufe.
(1) Theoretische Stufe:
Bestimmung der Bewährbarkeit, also des günstigstenfalls erreichbaren Bewährungsgrads.
Die Bestimmung der Bewährbarkeit erfolgt über den Falsifizierbarkeitsgrad.
Falsifizierbarkeitsgrad einer Hypothese:
Klasse ihrer Falsifikationsmöglichkeiten.
=> Zunahme des maximal erreichbaren Bewährungsgrads mit der Zahl möglicher Gegenbeispiele.
Keine Forderung, eine Theorie bei Auftreten einer empirischen Schwierigkeit umstandslos zu
verwerfen.
Stattdessen: Anomalien sind als theoretische Herausforderungen ernst zu nehmen.
Modifikationen von Theorien werden Bedingungen auferlegt; Auszeichnung zulässiger
Theorienänderungen.
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Methodologische Annehmbarkeit theoretischer Anpassungen, wenn sie den Falsifizierbarkeitsgrad
der zugehörigen Theorie steigern.
Die Disqualifikation von Ad-hoc-Hypothesen
Methodologischer Ausschluss von Ad-hoc-Hypothesen durch Poppers Bedingung.
Ad-hoc-Hypothese:
– Einführung zur Beseitigung einer Anomalie,
– nicht durch theoretischen Hintergrund nahegelegt,
– keine unabhängige empirische Prüfbarkeit.
Ptolemäische Erklärung der retrograden Bewegung der Planeten als Verkettung von Ad-hocHypothesen:
Beobachtungsbefunde für die äußeren Planeten:
(1) Auftreten von zeitweise rückläufiger Jahresbewegung,
(2) Gleichzeitigkeit von retrograder Bewegung und maximaler Helligkeit des Planeten,
(3) Verkürzung der Abstände zwischen zwei Retrogressionen mit zunehmendem Erdabstand,
(4) Retrogression nur bei Oppositionsstellung des Planeten zur Sonne.
Alle Befunde sind Ptolemäisch erklärbar.
Jedoch: Für jede Erklärung ist eine separate Annahme erforderlich.
(1) Auftreten von Retrogression: Epizykel.
(2) Korrelation mit dem Helligkeitsmaximum: Anpassung des Umlaufsinns.
(3) Zunahme der Retrogressionshäufigkeit mit wachsendem Erdabstand: Anpassung der
Umlaufperioden der Epizyklen.
(4) Bindung an die Opposition zur Sonne: Parallelität von Epizykelrotation und Sonnenumlauf.
Poppers Bedingungen für zulässige Hilfshypothesen
Zulässigkeit von Hilfsannahmen, die Aussagen über weitere, unabhängige Phänomene beinhalten.
Korollar: Bewährbarkeit wächst mit der Universalität und der Präzision einer Theorie.
Verschärfung (1963): Forderung der Prognose neuartiger empirischer Regularitäten.
(2) Empirische Stufe:
Festlegung des faktisch erreichten Bewährungsgrads:
Erfolgt auf der Grundlage des maximalen Bewährungsgrads aus Stufe (1) und anhand der erfolgreich bestandenen strengen oder kritischen Prüfungen.
Kritische Prüfung: Ernsthafter Widerlegungsversuch.
Der Fehlschlag eines solchen Versuchs lässt die Theorie als bewährt gelten.
Verschärfung (1963):
Empirische Bestätigung einiger der Gesetzesprognosen.
Nicht alle Tatsachen, die zutreffend aus einer Theorie folgen, erhöhen deren Bewährungsgrad. Nur
besonders qualifizierte Tatsachen, nämlich die Ergebnisse gescheiterter Widerlegungsversuche
führen zu Bewährung.
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1.5.3 Der Gang der Wissenschaft: Vermutungen und Widerlegungen
Ausgang der Wissenschaft von Problemen,
die ihrerseits häufig aus enttäuschten Erwartungen entstehen.
=> Probleme stellen sich erst im Licht von Theorien.
Gang der Wissenschaft als beständiges Wechselspiel von „kühnen Vermutungen“ und ernsthaften
Widerlegungsversuchen.
Große Wissenschaft:
– Falsifikation von zuvor für wahr gehaltenen
Aussagen.
– Scheitern der Falsifikation von zuvor für falsch
gehaltenen Behauptungen.
Gemeinsamkeit: Durchkreuzen von Erwartungen durch Erfahrung.
Wissenschaftlicher Fortschritt manifestiert dialektischen Dreischritt: Formulierung riskanter
Hypothesen, deren dramatische Widerlegung und der Verbesserung der Hypothesen.
Kritischer Rationalismus und Theorienentwicklung
Annahme, dass übergreifende wissenschaftliche Theorien als Folge empirischer Gegenbeispiele
aufgegeben werden.
Beispiel der Widerlegung der Ptolemäischen Astronomie durch Galileis Entdeckung der
Venusphasen.
Galilei 1611: Beschaffenheit der Venusphasen im Gegensatz zu den Ptolemäischen Vorgaben.
Die Tatsache, dass die Venus den vollen Phasenzyklus wie der Mond durchläuft, wurde als
Widerlegung der Ptolemäische These aufgefasst, dass die Venus vor der Sonne kreist.
Wichtigkeit des Gegensatzes von Vermutung und Widerlegung für den wissenschaftlichen
Fortschritt.
Agassi (1963): Hinter jeder großen Entdeckung steckt die Falsifikation einer vorherrschenden
Theorie.
Andererseits: Popper behält wesentliche Aspekte der Akkumulationstheorie bei:
Die überholte Theorie bildet den Grenzfall ihres Nachfolgers.
Einerseits: Zwischen Vorgänger- und Nachfolgertheorie besteht ein inhaltlicher Gegensatz.
Andererseits: Poppers „Korrespondenzprinzip“ der Theoriendynamik:
Die spätere Theorie enthält die frühere bei geeigneter Einschränkung der Situationsumstände in
Annäherung.
1.6 Die Zurückweisung der Akkumulationstheorie
HÉLÈNE METZGER (1923): Chemiegeschichte vor Lavoisier: Abfolge disparater, umfassender
Theorientraditionen.
Diese Theorien durchlaufen ein charakteristisches Muster von Aufstieg und Fall; ihre Komplexität
stellt das antreibende Moment dar.
Metzger nimmt den Duhemschen Freiraum für Theorienkonstruktionen ernst und macht ihn für die
Analyse der Theorienevolution fruchtbar.
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Kuhn (1962): Explizite Aufgabe der Akkumulationstheorie für die sog. wissenschaftlichen
Revolutionen.
Kuhnsche Revolutionen: Fundamentaler Theorienwandel, der keine Rekonstruktion als
Grenzfallerhaltung zulässt.
Ebenso Feyerabend (1962): Wissenschaftlicher Wandel auf der Ebene grundlegender Theorien
nicht durch Einbettung, sondern durch vollständige Ersetzung.
Kuhn: Die Anwendung der Eingrenzungsthese auf Revolutionen führt zu Absurditäten:
Danach lässt sich jede jemals von einer wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptierte Theorie als
Grenzfall der gegenwärtig vorherrschenden Auffassungen rehabilitieren und damit als gültig
erweisen.
Bei theoretischen Umbrüchen liegt keine Grenzfallerhaltung, sondern nicht-reduktive
Theorieersetzung vor.
Rescher: Eine Parzellierung des wissenschaftlichen Geltungsanspruchs liefe der Universalität der
wissenschaftlichen Erkenntnisziele zuwider.
Theorienwandel: Ablösung globaler, übergreifender Erklärungsansätze.
Wissenschaftlicher Fortschritt schließt den Zusammenbruch von Theorien und deren Ersetzung
durch andersartige ein.
2. Kuhns Paradigmentheorie
THOMAS S. KUHN (1922-1996):
Paradigmentheorie (1962): Theoriendynamische Umorientierung der Wissenschaftstheorie.
Zentrale Themenstellungen:
Beschaffenheit des wissenschaftlichen Fortschritts, Natur der wissenschaftlichen Rationalität.
=> Geburtsstunde der Theoriendynamik als Subdisziplin der Wissenschaftstheorie.
2.1 Das Kuhnsche Stufenschema
Paradigma: Allgemeiner theoretischer Rahmen, der sich in einzelnen Lösungsansätzen
(Paradigmaversionen) konkretisiert.
Erste Phase: Präparadigmatische Phase
Vielzahl rivalisierender Denkschulen.
Grundlagenprobleme stehen im Vordergrund;
deren Behandlung erfolgt auf jeweils disparate Weise.
2.1.1 Normalwissenschaft und Krise
Zweite Phase: Die Normalwissenschaft
Definierendes Merkmal: Monopolstellung eines Paradigmas.
Paradigma: charakterisiert die einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft gemeinsamen
Verpflichtungen.
– Auffassung von der inneren Beschaffenheit des Phänomenbereichs;
– grundlegende Gesetzmäßigkeiten;
– Qualitätsmaßstäbe für akzeptable wissenschaftliche Erklärungen.
– Sammlung von Musterlösungen für Probleme.
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Charakteristische Tätigkeit: „Rätsellösen“:
Einordnung der Phänomene in die vom Paradigma bereitgestellten Kategorien.
Paradigma:
– Existenzgarantie der Lösung: Auszeichnung sinnvoll bearbeitbarer Problemstellungen;
– Umreißen der Gestalt der Lösung;
– Einschränkung des Lösungswegs.
Gegenstand der Normalwissenschaft:
Ausarbeitung und Ausdifferenzierung einer Theorie, nicht deren Prüfung.
Keine strengen Prüfungen à la Popper:
Geprüft werden die Wissenschaftler, nicht das Paradigma.
Verantwortlich für einen empirischen Fehlschlag ist entweder die unzulängliche Erfassung der
Sachlage oder der Mangel an theoretischem Geschick.
Anomalie: Empirisches Problem, dessen theoretische Behandlung unvorhergesehene
Schwierigkeiten aufwirft.
In der Normalwissenschaft Immunität des Paradigmas gegen Anomalien.
These der „Omnipräsenz von Anomalien“ als erkenntnistheoretische Rechtfertigung für die
Immunität paradigmatischer Prinzipien.
Nur bei hartnäckigem Festhalten an den theoretischen Grundsätzen kann man der Herausforderung
durch empirische Schwierigkeiten am Ende wirksam begegnen.
Kuhns Immunitätsthese bildet einen Gegensatz zu Poppers Forderung nach strenger Prüfung.
Kuhn: Reife Wissenschaft ist durch eine Absage an Poppersche strenge Prüfungen gekennzeichnet.
=> Konflikt zwischen methodologischen Vorgaben und faktischer Vorgehensweise der
Wissenschaftler.
Drei mögliche Reaktionen:
(i) In Wirklichkeit entspricht die Vorgehensweise den Vorgaben: Es gibt keine Kuhnsche
Normalwissenschaft.
Lakatos: Wissenschaft stärker durch Innovation geprägt; selten Theorienmonopole.
Vorherrschende Theorien nicht stets immun gegen Anomalien.
=> Falsifikationen in der Wissenschaftsgeschichte:
(a) Copernicus: Fehlende Fixsternparallaxe.
Ausbleibende Verschiebung der Sterne als Folge der Jahresbewegung der Erde.
Copernicus’ Hilfshypothese: große Entfernung der Sterne.
Jedoch: Ad-hoc-Hypothese.
=> Einstufung der Anomalie als Widerlegung.
=> Wissenschaftshistorische Bestätigung von Poppers Anforderungen an akzeptable
Theorienänderungen.
(b) Keplers Einführung elliptischer Umlaufbahnen für Planeten als Folge des Scheiterns einer
Erklärung der Marsbewegung durch gleichförmige Kreisbewegungen.
(c) Experimentelle Widerlegung der Parität durch Lee und Yang 1957.
(ii) Akzeptieren der Korrektheit der wissenschaftshistorischen Beschreibung und Reformulieren
der methodologischen Kriterien derart, dass sie den Kuhnschen Mustern der Theorienentwicklung
Rechnung tragen.
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=> Charakteristika der Normalwissenschaft (und anderer Kuhnscher Entwicklungsstufen)
methodologisch angemessen.
(iii) Annahme von Kuhns Charakterisierung der Normalwissenschaft, aber normative
Zurückweisung als unannehmbar.
(3) Krise
Krise: Periode fachwissenschaftlicher Unsicherheit.
Erschütterung der Glaubwürdigkeit des Paradigmas durch anhaltendes Unvermögen beim Rätsellösen.
Die Normalwissenschaft führt zwangsläufig und ihrer Beschaffenheit nach früher oder später in
eine Krise.
Kuhns Beispiele:
(1) Zustand der Astronomie am Vorabend der Copernicanischen Revolution (1962, 80-82).
(2) Zustand der Phlogistontheorie vor der Formulierung von Lavoisiers alternativer Theorie (1962,
82-85).
=> Lockerung der Verpflichtung auf ein Paradigma aufgrund innerer Schwierigkeiten dieses
Paradigmas.
=> Aufsplitterung eines Paradigma in eine Vielzahl von Varianten.
Krise:
Kriterium: Nachlassende psychologische Verpflichtung auf ein Paradigma.
Grund: Auftreten massiver und gehäufter Misserfolge beim Rätsellösen.
Konsequenz: Ausbildung einer Vielfalt von Paradigmaversionen; kein fest umrissener Stand der
Forschung.
Krise notwendig, aber nicht hinreichend für Revolution.
Wissenschaftsinterne vs. –externe Krisenentstehung
Kuhn (1957): prä-Copernicanische Krise als Folge eines wissenschaftsexternen Meinungsklimas:
Vorherrschen des Neuplatonismus im 15. Jahrhundert.
Neuplatonismus: Hervorhebung der Wichtigkeit der Sonne.
Kuhn (1957): Copernicus’ Übertragung der Wichtigkeit der Sonne im Weltlauf in ihre
geometrische Auszeichnung.
Keine krisenhafte Entwicklung innerhalb der Astronomie erwähnt.
2.1.2 Die wissenschaftliche Revolution
Wissenschaftliche Revolution als Paradigmenwechsel: Neuaufbau einer Disziplin.
Aufgabe des zuvor akzeptierten Wissens und Ersatz durch neuartige Vorstellungen.
Revolution als nicht-akkumulativer Theorienwandel.
=> Theoretische Rücknahmen.
Besonders betroffen: Wandel der Begriffe, der Probleme und der Kriterien für Problemlösungen.
Begriffe:
Folge der Kontexttheorie der Bedeutung: Festlegung der Bedeutung von Begriffen durch deren
Gebrauchsweisen.
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Gebrauchsweisen wissenschaftlicher Begriffe durch die Gesetze der zugehörigen Theorie
bestimmt.
=> Theorienwandel beinhaltet Begriffsverschiebung.
=> Inkommensurabilität: Nicht-Übersetzbarkeit von Begriffen als Folge theoretischer Gegensätze.
Probleme:
Besonderer Typus des Problemwandels in der Revolution: Einzelne Probleme werden nicht gelöst,
sondern aufgelöst; die Legitimität der Fragestellung wird vom Nachfolgerparadigma bestritten.
Kriterien für Problemlösungen:
Abhängigkeit der Beurteilungsmaßstäbe für Erklärungen vom Paradigma;
Änderung solcher Maßstäbe durch eine wissenschaftliche Revolution.
Beispiele paradigmaspezifischer Beurteilungsmaßstäbe:
(1) Wandel der Anforderungen an akzeptable Erklärungen in der Astronomie: Rückführung auf
gleichförmige Kreisbewegung vs. Angabe von Bewegungsursachen.
(2) Wandel dieser Anforderungen in der Mechanik: Legitime Grundprozesse zunächst allein
Bewegungsübertragung durch Stöße, später Zulassung von Kräften als fundamental.
(3) Wandel der Beurteilungskriterien in der Chemischen Revolution: Erklärung von
Stoffeigenschaften vs. Erklärung von Reaktionsgewichten.
(4) Kognitive Revolution der Psychologie: Gründung von Verhaltenserklärungen exklusiv auf
äußere Situationsumstände vs. Rückgriff auf mentale Prozesse.
Nicht-akkumulativer Charakter von Revolutionen: „Kuhnsche Verluste“:
Aufhebung einer erfolgreichen Erklärung eines Phänomens durch die Revolution aufgehoben, ohne
dass angemessener Ersatz bereitsteht.
Vormals stützende Daten werden erneut zu Anomalien.
Kuhnsche Revolutionen:
Charakterisiert durch fundamentalen Theorienwandel, der keine Rekonstruktion als
Grenzfallerhaltung zulässt.
Die Gegensätze zwischen Theorien, die durch eine Revolution getrennt sind, sind tiefgreifend und
unaufhebbar.
2.2 Die Beurteilung von Theorien
Kuhn: Vergleichbarkeit der Folgen unterschiedlicher Paradigmen für Experiment und
Beobachtung.
Jedoch: Der Beurteilungsprozess lässt Raum für subjektive Wertungen und Gewichtungen.
Relative methodologische Qualifikation nicht durch Regeln eindeutig ermittelbar.
(a) Empirische Adäquatheit:
Konsequenz des Kuhnschen Ansatzes: In revolutionären Situationen keine eindeutige
vergleichende Beurteilung empirischer Adäquatheit möglich.
Grund nicht empirische Äquivalenz rivalisierender Theorieansätze, sondern Schwierigkeit, deren
empirische Leistungsfähigkeit in eine klare Rangordnung zu bringen.
(b) Rückgriff auf nicht-empirische Maßstäbe.
Jedoch: Paradigmaspezifität dieser Maßstäbe.
(c) Rückgriff auf transparadigmatische methodologische Kriterien.
Widerspruchsfreiheit, Erklärungskraft, Genauigkeit, Einfachheit, Kohärenz und Fruchtbarkeit
Kanon von paradigmaübergreifenden Beurteilungskriterien.
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Jedoch:
Ungenauigkeit und unterschiedliche Präzisierbarkeit einzelner Kriterien,
Konflikt zwischen Kriterien bei Anwendung mehrerer Kriterien auf einen konkreten Fall.
Kuhns Unterbestimmtheitsthese
(a) Nicht-Eindeutigkeit der empirischen Situation: Beide Alternativen enthalten Anomalien und
sind in unterschiedlichen Tatsachenbereichen erfolgreich.
(b) Paradigmagebundenheit nicht-empirischer Beurteilungsmaßstäbe.
(c) Mehrdeutigkeit und Konfliktträchtigkeit paradigmaübergreifender methodologischer Kriterien.
=> Wissenschaftliche Revolutionen enthalten „Glaubensentscheidungen“:
Kein streng regelgeleiteter Ablauf.
=> Konflikt mit traditionellen Rationalitätsvorstellungen.
Merkmale einer Kuhnschen Revolution
(1) Nicht-akkumulativer Theorienwandel:
Keine Fortführung der Theorie, sondern Ersetzung durch eine andersartige Theorie.
(2) Verschiebung der Begriffe und Probleme:
Grundlegende Änderung der Begriffsbedeutungen und Problemstellungen; insbesondere Abweisen
von Problemen.
(3) Nicht-Eindeutigkeit der empirischen Sachlage:
Keine eindeutige Beurteilbarkeit durch das Kriterium der empirischen Adäquatheit.
(4) Nicht-Eindeutigkeit des methodologischen Urteils:
Keine nicht-empirischen, methodologischen Kriterien zur Auflösung der empirischen Nicht-Eindeutigkeit.
2.3 Wissenschaftstheoretische Aspekte Kuhnscher Revolutionen
Anspruch: Kritischer Rationalismus als Methodologie der innovativen Wissenschaft.
Jedoch Kuhn:
Kuhnsche Revolutionen beinhalten keine Popperschen Falsifikationen.
Die Revolution ist stets Ergebnis eines Wettstreits zwischen rivalisierenden Theorien.
Eine Theorie wird nur dann aufgegeben, wenn eine bessere Alternative bereitsteht.
Tatsächliche oder scheinbare Rationalitätsdefizite der Paradigmentheorie:
(1) (Semantische) Inkommensurabilität:
Übersetzungsausschluss zwischen den Begriffen rivalisierender Theorien.
=> Keine inhaltliche Vergleichbarkeit theoretischer Ansprüche.
=> Keine vergleichende Beurteilbarkeit.
(2) Kuhn-Unterbestimmtheit:
Eindeutige Beurteilung der Leistungsfähigkeit alternativer Theorien wegen der Mehrzahl,
Mehrdeutigkeit und Ungenauigkeit methodologischer Kriterien nicht stets zu erreichen.
Auch: methodologische Inkommensurabilität, aber zu trennen von semantischer Inkommensurabilität.
17
Zugriffsbeschränkungen paradigmaübergreifender Beurteilungskriterien: Kuhn-Unterbestimmtheit:
Unsicherheit des methodologischen Urteils, also der Gesamteinschätzung zweier
Erklärungsalternativen.
Bei Kuhn-Unterbestimmtheit im Unterschied zur Duhem-Quine-Unterbestimmtheit keine
Behauptung empirischer Äquivalenz.
Sondern:
(1) Die für die rivalisierenden Konzeptionen einschlägige Datenlage favorisiert keine von ihnen
klar, da eben beide mit unterschiedlichen Bereichen oder Aspekten der Daten unterschiedlich gut
zurecht kommen.
(2) Methodologische Vorzüge legen die Theoriewahl nicht eindeutig fest.
Kuhn-Unterbestimmtheit bringt zum Ausdruck, dass konkurrierende Theorie nicht allein in
unterschiedlichem Maße, sondern auch in unterschiedlicher Hinsicht erfolgreich sein können.
=> Mögliches Scheitern der Festlegung einer eindeutigen Rangordnung.
Kuhn-Unterbestimmtheit: Copernicus vs. Ptolemäus
Kuhns Analyse der Vorzüge und Nachteile der heliozentrischen Theorie des Copernicus im
Vergleich zu ihrem Ptolemäischen Konkurrenten als Beispiel für Kuhn-Unterbestimmtheit:
Copernicus stützte sich auf die Einheitlichkeit von heliozentrischen Erklärungen im Vergleich zu
geozentrisch erforderlichen Ad-hoc-Hypothesen.
(i) Retrogression: einschlägige Beobachtungsbefunde für die äußeren Planeten:
(1) Auftreten von zeitweise rückläufiger Jahresbewegung,
(2) Gleichzeitigkeit von retrograder Bewegung und maximaler Helligkeit des Planeten,
(3) Verkürzung der Abstände zwischen zwei Retrogressionen mit zunehmendem Erdabstand,
(4) Retrogression nur bei Oppositionsstellung des Planeten zur Sonne.
Geozentrische Erklärbarkeit aller Aspekte. Aber jede Erklärung beruht auf einer besonderen
Hypothese.
Copernicus: Retrogression durch Verschiebung der Perspektive des Beobachters auf der bewegten
Erde.
=> Sämtliche Aspekte folgen ohne jede weitere theoretische Anpassungen aus dem
heliozentrischen Grundmodell.
(ii) Beschränkte Elongation der inneren Planeten:
Ptolemäus: Kopplung der betreffenden Epizykel an den Sonnenumlauf.
=> Keine Ermittelbarkeit der Stellung dieser Planeten zur Sonne.
Copernicus: Beschränkung der Elongation als Folge der Anordnung von Merkur und Venus
zwischen Erde und Sonne.
=> Eindeutige Festlegung der Stellung dieser Planeten zur Sonne.
Copernicus: Solche als „mathematischer“ Vorzug bezeichnete überlegene Erklärungskraft soll die
Vorrangigkeit des Heliozentrismus begründen.
Erklärungskraft: Fähigkeit, mit wenigen Prinzipien einer Vielzahl von Phänomenen Rechnung zu
tragen.
Heliozentrische Erklärungsdefizite bei den physikalischen Folgen der Erdbewegung.
Die Erdbewegung hätte im Rahmen der vorherrschenden physikalischen Theorien Folgen für die
Bewegung von Körpern auf der Erde erwarten lassen – welche tatsächlich fehlten.
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Kuhn-Unterbestimmtheit: In Kuhns Urteil steht es in Sachen Einfachheit und Genauigkeit pari, bei
der Erklärung irdischer Bewegungen fällt Copernicus zurück, bei der astronomischen
Erklärungskraft, den „mathematischen Harmonien“, liegt er in Führung.
Epistemische Adäquatheit von Kuhn-Unterbestimmtheit
Kuhn: Die von der Kuhn-Unterbestimmtheit eröffneten Spielräume sind sachangemessen.
Eine einhellige Beurteilung konkurrierender Ansprüche wäre dem wissenschaftlichen Fortschritt
abträglich.
Beurteilungsunsicherheit führt zur Aufteilung der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf die
rivalisierenden Ansätze: Vernünftiges und von der Sache her gebotenes Verhalten.
Kuhn-Unterbestimmtheit im Selbstverständnis kein Rationalitätsdefizit, sondern präzisere
Bestimmung wissenschaftlicher Rationalität.
Betonung soziologischer Einflussfaktoren
Vorgebliches Rationalitätsdefizit (3):
Einfluss sozialpsychologischer oder soziologischer Faktoren auf die Wissenschaftsentwicklung.
Stattdessen Kuhn: Die Untersuchung von soziologischen Strukturen der Wissenschaft leistet einen
gewichtigen Beitrag zur Klärung der Theorienentwicklung.
Insbesondere : Philosophische und soziologische Charakterisierbarkeit von Grundbegriffen der
Paradigmentheorie.
Methodologische Kriterien als Konventionen der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die über
soziale Mechanismen implementiert werden.
Normative Gültigkeit und faktische Adäquatheit:
Kuhns Selbstverständnis: Deskriptiv-normative Doppelnatur:
(1) Deskriptive Prämisse: Das Stufenschema ist empirisch adäquat.
(2) Normative Prämisse: In der Wissenschaftsgeschichte manifestiert sich ein Erkenntnisfortschritt.
=> Die Paradigmentheorie beschreibt die Charakteristika des Erkenntnisfortschritts.
=> Aussagen über typische Verhaltensweisen der wissenschaftlichen Gemeinschaft sind auch
Normen epistemisch angemessenen Verhaltens.
Kuhns erkenntnistheoretische Stützung des Stufenschemas:
Dogmatismus der Normalwissenschaft: Ausreizen des Erklärungspotentials eines Paradigmas.
=> Immunität von Paradigmen erkenntnistheoretisch legitim.
Auftreten von Krisen: Normalwissenschaft unterminiert sich selbst.
Pluralismus der Krise: Sachangemessene Strategie für den Umgang mit riskanten
Entscheidungssituationen.
Erwartung: Erkenntnistheoretisches Argument für den Abschluss von Revolutionen.
Wird nicht erfüllt: Lücke.
Optionen für Lückenschluss:
Anhaltender Pluralismus statt Paradigmenmonopol.
Keine Kuhn-Unterbestimmtheit.
=> Lakatos.
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Steve Fuller (2001): Trotz der deskriptiv-normativen Doppelnatur des Kuhnschen Anspruchs ist
Kuhn eine negativ zu beurteilende, deskriptivistische Wendung der Wissenschaftsphilosophie
anzulasten.
Kuhn akzeptiert die Gesamtheit der Wissenschaftsentwicklung als erkenntnistheoretisch
angemessen.
Hingegen „historisch-kritischer“ Ansatz (wie Mach oder Lakatos): Auszeichnung bestimmte
Theorieentwicklungen als Musterbeispiele des wissenschaftlichen Fortschritts.
=> Durch die Kuhnsche Universalisierung des Normativen verfallen die wissenschaftsreflexien
Studien in einen Deskriptivismus, in dessen Rahmen das epistemisch Angemessene einfach aus der
faktischen Entwicklung abgelesen wird.
Empirische Adäquatheit der Kuhnschen Theorie
Verbreitete wissenschaftshistorische Einschätzung: Die Normalwissenschaft ist nicht so
monolithisch, und die Revolutionen sind nicht so fundamental wie Kuhns Analyse nahe legt.
3. Die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme
IMRE LAKATOS (1922-1974): Rekonstruktion der Theoriendynamik als regelgeleiteten Prozess.
3.1 Das Problem der wissenschaftlichen Rationalität
Kennzeichnend für Theoriendynamik:
Rationalitätsproblem betrifft die vergleichende methodologische Beurteilung umfassender
wissenschaftlicher Theorien;
Rekonstruktion von Theoriewahlentscheidungen.
Verknüpfung von wissenschaftlicher Rationalität und wissenschaftlichem Fortschritt.
Rationalität: Treffen einer den wissenschaftlichen Fortschritt befördernden
Theoriewahlentscheidung.
=> Quasi-Hegelsche Auffassung: Die Vernunft zeigt sich in der Geschichte.
Lakatos’ Hintergrund: Duhem und Kuhn.
Duhem: Keine schlüssige Bestätigung oder Widerlegung theoretischer Annahmen.
Über die Gültigkeit theoretischer Grundsätze ist nicht schlüssig durch Logik und Erfahrung allein
zu befinden.
=> Aufgabenstellung methodologischer Theorien für Lakatos: Beurteilung wissenschaftlicher
Theorien auch durch nicht-empirische Kriterien.
(1) Beurteilungsmaßstäbe von epistemischer Kraft und theorieübergreifender Tragweite: Ansetzen
an den Erkenntnisleistungen oder der Erklärungskraft von Theorien und kein Zuschnitt auf
besondere Theoriewahlentscheidungen.
(2) Kriterien zu epistemisch relevanten Eigenschaften, aber Verbindung mit bestimmten
Theorientraditionen: theoriespezifische methodologischen Kriterien mit inhaltlichen Verpflichtungen auf besondere Grundsätze.
(3) Akzeptieren theoretischer Ansprüche nach Maßgabe gesellschaftlicher oder individueller
Interessen.
Lakatos: Festhalten an Option # (1): Leitung durch epistemische und theorieübergreifende
Kriterien als Vorbedingung für Rationalität.
Jedoch: Kuhn-Unterbestimmtheit spricht gegen deren Entscheidungstauglichkeit.
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Lakatos: Keine Kuhn-Unterbestimmtheit: Theoriewahlentscheidungen sind anhand
theorieübergreifender methodologischer Kriterien eindeutig zu rekonstruieren.
3.2
Grundbegriffe der Methodologie Lakatos’
Beobachtungstheorien und die Komplexität empirischer Prüfungen
Probleme der Popperschen Methodologie:
Empirisch: Normalwissenschaft und Revolution.
Begrifflich: Eingrenzung der prüfungsbedürftigen Hypothese riskant und willkürlich.
Gewinnung der Daten durch Beobachtungsinstrumente und Messgeräte, deren Funktionsweise
durch Beobachtungstheorien wiedergegeben wird.
=> Falsche Beobachtungstheorien führen zu irreführenden Daten.
Insbesondere: Falsche Beobachtungstheorie als Grund für Diskrepanz zwischen Theorie und
Erfahrung.
Im Falsifikationismus keine Beachtung von Beobachtungstheorien, sodass der irreführende
Eindruck einer Widerlegung der Theorie durch Tatsachen entsteht.
Beispiel der beschränkten Elongation von Merkur und Venus:
Ptolemäische Astronomie: Maximaler Winkelabstand von Planet und Sonne als Ausdruck der
relativen Größe des Epizykels: Verhältnis der Radien von Epizykel und Deferent.
Heliozentrische Astronomie: Maximaler Winkelabstand als Ausdruck des Verhältnisses der
Sonnenabstände von Planet und Erde.
Die Anwendung unterschiedlicher Beobachtungstheorien auf die gleiche Messgröße kann auf
verschiedene theoretische Größen führen.
Lakatos: Popper schenkt den Schwierigkeiten der Eingrenzung problematischer
Wissensbestandteile zu wenig Beachtung.
Ziel: Verminderung der Irrtumsanfälligkeit und Willkür falsifikationistischer Prüfung.
Die Architektur von Forschungsprogrammen
Wissenschaft als Wettstreit von Forschungsprogrammen.
Ein Forschungsprogramm ist charakterisiert durch
– seinen „harten Kern“: die zentralen Annahmen;
– seine „positive Heuristik“.
Der harte Kern ist unwiderlegbar durch Beschluss der Programmvertreter.
Anomalien werden von einem „Schutzgürtel von Hilfshypothesen“ absorbiert.
Änderungen im Schutzgürtel können betreffen:
(1) Beobachtungstheorien,
(2) Annahmen über Anfangs- und Randbedingungen,
(3) Zusatzannahmen in der betreffenden Theorie.
Positive Heuristik: Leitlinien der theoretischen Weiterentwicklung; objektive
Entwicklungsoptionen des Programms.
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Theoretische Dynamik qualifizierter Programme von den heuristischen Leitlinien bestimmt und
keine Reaktion auf empirische Schwierigkeiten.
Bei qualifizierten Programmen geht nicht die Erfahrung der Theorie voraus, sondern die Theorie
der Erfahrung.
=> Autonomie der theoretischen Forschung.
=> Akzent auf dem Erkenntnisfortschritt oder dem Wachstum des Wissens.
Lakatos’ Fortschrittsbedingung
Entwicklung eines Forschungsprogramms: Lineare Reihe von Programmversionen.
Methodologische Kriterien:
Einschränkungen für die Durchführung theoretischer Modifikationen.
Bedingungen für gerechtfertigte Versionenübergänge.
(1) Die Modifikation steht im Einklang mit der positiven Heuristik.
(2) Die Nachfolgerversion reproduziert die erfolgreichen Erklärungsleistungen des Vorgängers
(3) und prognostiziert neuartige empirische Gesetzmäßigkeiten (novel facts),
(4) die tatsächlich bestätigt werden.
Wenn (1) - (3):
Forschungsprogramm ist theoretisch progressiv.
Wenn (1) - (4):
Forschungsprogramm ist empirisch progressiv.
Fortschrittsbedingung:
Alle Versionenübergänge sind theoretisch progressiv,
und einige sind darüber hinaus empirisch progressiv.
Bewährter Gehaltüberschuss (corroborated excess content) einer Programmversion bei Reproduktion der Erklärungsleistungen des Vorgängers und Antizipation neuartiger Tatsachen.
Bewährter Gehaltüberschuss als Grundlage der methodologischen Beurteilung einer
Programmversion.
Temporale Lesart der „Neuartigkeit“ einer Tatsache: Neuartig sind diejenigen Phänomene, die im
Wissensstand der Epoche nicht enthalten waren.
Alternativ:
Komparative Deutung: Neuartig sind diejenigen Tatsachen, die im Rahmen einer rivalisierenden
Theorie nicht zu erwarten sind.
Interpretative Deutung: Neuartig ist in frühen Stadien der Theorieentwicklung auch die bloße
Uminterpretation einer sowohl bekannten als auch in anderem theoretischen Rahmen bereits
erklärten.
Zugrundelegung der temporalen Deutung.
Die Beurteilung von Forschungsprogrammen
Übertragung der Kriterien für einen Leistungsvergleich aufeinander folgender Versionen desselben
Forschungsprogramms sinngemäß auf die Konkurrenz verschiedener Programme:
Entscheidungsgesichtspunkt #1:
Erfüllung der Fortschrittsbedingung; empirische Progressivität beider Programme.
22
Entscheidungsgesichtspunkt #2:
Anwendung der Bedingungen (2) bis (4) auf den Vergleich zwischen den Programmen:
Die Bedingungen der Reproduktion und Prognose sind jeweils auf das alternative Programm zu
beziehen.
Reproduktionsbedingung (2): Verträglich mit einem nicht-akkumulativen Wandel im Kuhnschen
Sinne eines revolutionären „Neuaufbaus“.
Existenz übergreifender Forschungsprogramme als auszeichnendes Merkmal „reifer Wissenschaft“
und „Abgrenzungskriterium“.
Gegensatz zu Poppers Dialektik von Vermutung und Widerlegung: Antizipation der eigenen
Weiterentwicklung.
Gegensatz zu Kuhns Normalwissenschaft: kritische Diskussion und theoretische Innovation.
3.3
Programmbeurteilung in der Psychologie
Harter Kern von Skinners behavioristischem Forschungsprogramm:
Definition:
Verstärker sind Umstände, die die Auftretenswahrscheinlichkeit einer Handlung erhöhen.
Postulate:
(1) Verstärkung ist der einzige verhaltenssteuernde Mechanismus.
(2) Verstärker sind stets Situationsumstände
(3) und gehen einer Handlung nicht voraus, sondern folgen ihr nach.
Positive Heuristik: Konkretisierung des Programms zu optimalen Verstärkungsstrategien.
Kognitive Lernpsychologie als konkurrierendes Forschungsprogramm.
Harter Kern: Menschliches Verhalten ist durch die kognitive Verarbeitung äußerer Umstände
bestimmt.
=> Verhaltenswirksamkeit kognitiver Faktoren.
Positive Heuristik: Ausformung des Programms zu Fällen, in denen Verhalten nicht durch seine
Konsequenzen bestimmt ist.
Banduras sozial-kognitive Lerntheorie
Verstärker wirken als Information und Motivation.
=> Die Verhaltenswirksamkeit von Verstärkungen setzt deren kognitive Verarbeitung voraus.
Experiment Kaufman, Baron & Kopp 1966:
Übereinstimmende äußere Situationsumstände; gleichwohl unterschiedliches Verhalten.
Zurückführbarkeit der Unterschiede auf die kognitive Verarbeitung der äußeren Umstände.
Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz
Kognitive Dissonanz: Motivierungszustand bei psychischem Konflikt; etwa bei einem Gegensatz
zwischen Überzeugung und Verhalten.
Behauptung:
(1) Es gibt eine Tendenz zur Verminderung des Konflikts;
(2) es sei denn, es liegen rechtfertigende Gründe für dessen Aufrechterhaltung vor.
23
Experiment Brehm & Cohen 1962:
Die herbeigeführten Wirkungen sind um so beträchtlicher, je geringer die Belohnung, also die
Skinnersche Verstärkung, ausfällt.
Beurteilung nach Lakatos
Lakatos: Reproduktion von Erklärungsleistungen und Vorhersage neuartiger empirischer
Regularitäten.
Kognitive Interpretation von Verstärkern als Information und Motivation:
=> Reproduktion der behavioristischen Erklärungsleistungen.
Prognosen:
– Bei Auseinanderfallen von unterstellten und faktischen Situationsbedingungen Überwiegen des
kognitiven Einflusses auf das Verhalten.
– Umgekehrter Zusammenhang zwischen Verhaltensänderung und Verstärkungsintensität.
=> Methodologische Überlegenheit des kognitiven Programms über das behavioristische
Programm.
Verwerfung des Behaviorismus zugunsten der kognitiven Psychologie durch die wissenschaftliche
Gemeinschaft als gerechtfertigte Programmersetzung.
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