Papst Pius IX - Württ. Christusbund eV

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1.Stunde: Einführung
2.Stunde: Oliver Cromwell 17. Jh.
3.Stunde: Paul Gerhardt 17. Jh.
4.Stunde: John Wesley 18. Jh.
5.Stunde: Marie Durand 18. Jh.
6.Stunde: Gotthold Ephraim Lessing 18. Jh.
7.Stunde: Friedrich Schleiermacher 18./19. Jh.
8.Stunde: Pius IX. 19. Jh.
9.Stunde: Mathilda Wrede 19./20. Jh.
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Oliver Cromwell (1599 – 1658)
Singen: Freue dich Welt 136,1-2.4
Buchstabenrätsel: Acht Buchstaben 1C 2R 3O 4M 5W 6E 7L 8L
Am 25. April 1599 wird Olver Cromwell in Huntington geboren und vier Tage später ind er Kirche des
Heiligen Johannes getauft. Huntington ist eine kleine Landstadt im Osten Englands, am Rand großer
Moorgebiet, aber immer Mittelpunkt einer Grafschaft mit dem Recht, Abgeordnete in das Unterhaus zu
entsenden. Die Cromwells gehören zum bescheidenen Landadel, hochgekommen in der
Reformationszeit. Vater Robert Cromwell, eher von schwacher Gesundheit, lebt von den Erträgen der
Landwirtschaft und einer Brauerei. Er stirbt, als Oliver, der einzig überlebende Sohn von insgesamt zehn
Kindern, gerade mal achtzehn Jahre alt ist. Die Mutter ist die starke Persönlichkeit und bleibt die
wichtigste Frau in Cromwells Lebens. Seine Familie gehört zur puritanischen Richtung an, die seit der
Regentschaft Elisabeths I. 1558 sich in England zu etablieren begann. Puritaner, die „Reinen“, sind eine
calvinistische Bewegung zur Reinigung der Kirche vom katholischen Kultus auf der Grundlage eines
freien Bibelchristentums mit Gemeindeprinzip (Abschaffung der Messgewänder, des Bischofsamtes,
Einsetzung einer presbyterialen Kirchenverfassung).
Die Puritanische Partei hatte zunächst großen Einfluss auf die englische Politik, der aber gegen Ende des
16. Jh. am Schwinden war. 1604 verdammt die Bischofskonferenz von Hampton sowohl den
Puritanismus als auch den Katholizismus. 1607 wanderten Puritaner aus Norwich, die die anglikanische
Staatskirche ablehnten, in die Niederlande aus. Die inneren Spannungen in der Gemeinde führten zu
dem Entschluss, einen Neuanfang in Amerika zu machen. Auf der Mayflower reisten die Pilgram
Fathers 1620 nach Massachusetts und gründeten dort die Plymouth-Kolonie mit einer eigenen
Kirchenverfassung und einem eigenen Staatsgebilde (Mayflower Compact).
Zwei Faktoren prägen also den jungen Oliver: Das tiefe Bewusstsein seines Standes, dass er aufgrund
seiner Herkunft zu jenen gehört, denen es bestimmt ist, Herren zu sein. Und die tiefe Überzeugung
seines puritanischen Glaubens, dass Gott verwirft und erwählt, wen er will, lebendig erhält und tötet,
wen er will. Cromwell erlebt dieses Handeln eines völlig souveränen Gottes an seiner Familie, in der
laufend Kinder geboren werden, um zu sterben. Cromwell, viel robuster und kräftiger als sein Vater,
erhält zunächst Unterricht im Haus. Danach wird er auf die Grammer School der Stadt geschickt. Dort
unterrichtet ihn Dr. Thomas Baerd, ein Puritaner, der davon überzeugt ist, dass Gott in der Geschichte
auch durch Kriege handelt und am Ende obsiegen wird. Der Antichrist ist der römische Papst, die
wahren Gläubigen sind die von ihm verfolgten Protestanten.
Mit 16 Jahren geht Cromwell nach Cambrigde, um an der dortigen Universität ein puritanisches College
zu besuchen. Nach dem Tod des Vaters 1617 siedelt er nach London über, um sich die juristischen
Kenntnisse für die Führung seines Gutes anzueignen. Er übernimmt dessen Verwaltung und heiratet
1620 die Tochter eines wohlhabenden Londoner Pelzhändlers, Elizabeth Burchier. Sie schenkt ihm neun
Kinder. 1628 wird Cromwell ins Parlament gewählt und kommt mitten hinein in die Streitigkeiten mit
dem jungen, 28jährigen König Karl I.. Er gehört der seit 1603 in England regierenden schottischen
Dynastie der Stuarts an und stützt sich auf die anglikanische Staatskirche. Weil er absolutistische
Neigungen entwickelt, bildet sich eine puritanische Parlamentsopposition, in der sich Religion und
Politik verbinden. Cromwell, gewählt für seine Heimatstadt, findet Anschluss an die
Oppositionsgruppierung, in der etliche seiner Verwandten bereits eine Rolle spielen. Im Juni 1628
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kommt es zum Eklat, als das Parlament in den Petition of Rights Sicherheiten vor willkürlicher
Verhaftung und Besteuerung verlangt. Das Parlament verschärft noch den Konflikt mit der Krone,
indem es sein Vorrecht, Steuern zu bewilligen mit dem Anspruch auf die Zollerhebung verbindet.
Dadurch würde der König finanziell wie religiös vom Parlament abhängig. Karl I. vertagt zunächst das
Parlament, dann löst er im Mai 1629 auf. Bei dem Tumult, der dabei im Parlament entsteht, ist auch
Cromwell beteiligt.
Die nächsten elf Jahre regiert der König allein und nutzt seine Machtposition aus. Für die Mitglieder der
Opposition bedeutet dies Benachteiligung, zuweilen Gefängnis. Oliver Cromwell bleibt ungefährdet,
weil er sich bisher politisch nicht groß hervor getan hat. Im Unterhaus hatte er nur eine einzige Rede
gehalten vor der Auflösung. Aber persönlich hat er trotzdem einiges durchzumachen. In den Jahren um
1630 versinkt er immer mehr in eine schwere Depression. Er hat Todesängste, Kreuzeserscheinungen,
hört Stimmen. Seine wirtschaftliche Lage und seine gesellschaftliche Stellung verschlechtern sich. 1631
verkauft er seinen Besitz in Huntington und verlässt für immer seine Heimatstadt. In St. Ives lässt er sich
als Pächter nieder, spielt mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern. Er bleibt, und es geht
allmählich aufwärts: Er erbt das Haus seines Onkels in der Bischofsstadt Ely und bezieht es 1637. Auch
seine Psyche stabilisiert sich wieder. Cromwell spricht in einem Brief von 1638 von der Rettung seiner
Seele durch einen gnädigen Gott, von der Befreiung aus der Finsternis seines Herzens und aus einem
erbärmlichen Leben. Der schlechteste aller Sünder sei er gewesen, und doch habe Gott ihn erwählt.
Fortan versteht Cromwell sich als sein Werkzeug.
1637 bahnt sich auch die Katastrophe für das Königshaus Stuart an. Karl I. will im calvinistischen
Edingburgh im Gottesdienst ein neues, dem Anglikanismus angenähertes Gebetbuch einführen. Es
kommt zu Aufruhr, der binnen kurzem weite Teile Schottlands ergreift. Der König ist praktisch dort
entmachtet, hat kein kampffähiges Heer und auch keine Mittel, ein solches aufzustellen. Also beruft er
im April 1640 das Parlament wieder ein, das ihm diese Mittel zur Verfügung stellen soll. Das Parlament
aber, von Puritanern dominiert, verweigert dem König jegliche Unterstützung. Es greift ihn wegen der
Neuerungen an und beansprucht für sich selbst Souveränität. Karl I. löst es wieder auf, versucht die
militärische Unterwerfung der Schotten im Alleingang. Diese besetzen im Gegenzug den Norden
Englands und zwingen den König dazu, Ende Oktober 1640 das Parlament erneut zu berufen. Cromwell
wird dieses Mal für Cambrigde hinein gewählt. Die puritanische Opposition fordert ein Ende der
Günstlingswirtschaft des Königs. Karl I. opfert seinen engsten Vertrauten, Lord Stafford, lässt ihn im
Mai 1641 auf dem Schafott hinrichten. Der verhasste Erzbischof von Cambridge Laud wird auf
Anordnung des Parlaments in den Kerker geworfen und vier Jahre später hingerichtet. Im Oktober 1641
bricht ein Aufstand der Katholiken in Irland aus, viele Reformierte werden dort ermordet, in England ist
man darüber empört, vermutet gar eine Intrige des Königs. Die betont schlicht gekleideten Puritaner
(Roundheads = Rundköpfe) halten Brandreden im Parlament gegen die prächtig gekleideten Höflinge
(Tories = Kavaliere) des Königs. Im November 1641 legen sie dem König einen Beschwerdekatalog vor
(Great Remonstrance): Das jetzige Parlament soll sich nur selbst auflösen können, alle drei Jahre soll ein
neues Parlament gewählt werden, die Bischöfe sollen aus dem Oberhaus entfernt werden, hohe Beamte
sollen nur mit Zustimmung des Parlaments eingesetzt werden.
König Karl I. geht das alles viel zu weit. Nun versucht er, die Opposition einzuschüchtern, indem fünf
ihrer Führer verhaftet werden sollen. Doch das ganze Unternehmen scheitert. Das Volk bringt die
geflüchteten Abgeordneten im Triumph nach Whitehall. Am 10. Januar 1642 verlässt der wütende
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König fluchtartig die Hauptstadt und sammelt bei York das Heer seiner Tories. Der Bürgerkrieg
zwischen Royalisten und Parlamentariern (mehrheitlich Puritaner) ist da! Cromwell verlässt im August
1642 London und eilt in seinen Heimatbezirk (Cambridge). Dort stellt er einen Reitertrupp von 80 Mann
auf und wird deren Hauptmann. Mit ihnen bemächtigt er sich der Stadt Cambrigde. Damit will er
verhindern, dass die royalistisch gesinnte Universität dem König ihr Silber zukommen lässt. Cromwell
selbst hat keine militärische Ausbildung oder Erfahrung. Er kann reiten und den Degen gebrauchen
sowie Befehle geben. Aber bei ihm kommen noch zwei wichtige Fähigkeiten hinzu: eine ausgesprochen
organisatorische Begabung sowie eine robuste Physis (Spruch vom Essen). Dadurch kann Cromwell
eine Einheit ins Gefecht führen und eine ganze Schlacht vorbereiten. Er kann selbst kämpfen und andere
gut kämpfen lassen. Als Kavallerieoffizier erleben er und seine Männer in der Schlacht von Edgehill am
23. Oktober 1642 zum ersten Mal die Wirklichkeit des Krieges. Sie schreckt ihn nicht. Cromwell ist
überzeugt: Es ist Gottes Werk, das er hier tut. Und er zieht eine Lehre aus der Niederlage des
parlamentarischen Heeres bei Edgehill: Derjenige kämpft besser, der die stärkere Motivation besitzt.
Aus ihr ergibt sich alles weitere: Mut, Disziplin, Opferbereitschaft usw. Fortan sammelt er die religiös
Begeisterten um sich, lässt aus einer militärischen Einheit eine bewaffnete Gemeinschaft werden. Sie
macht ihn zu einem Führer, dessen Männer glauben, dass aus dem Blut der Schlachtfelder das Reich
Gottes wächst. Cromwell schafft sich aus den Ergebensten, Frömmsten seiner Anhänger die Regimenter
der Ironsides (Eisenseiten). Sie kämpfen in der einen Hand mit dem Psalmenbuch und in der anderen
Hand mit dem Schwert. Bereits im Oktober 1642 befehligt er 2000 Mann, keine Söldner, sondern
Gottesfürchtige. Mit ihnen durchzieht er den Osten Englands, bestraft royalistisch Gesinnte und
beschlagnahmt deren Güter.
Der Bürgerkrieg, in dem sich Verwandte und Bekannte einander gegenüber stehen, wird mit ungleichen
Mitteln geführt. Die adligen Kavaliere sind zu keinerlei wirtschaftlichen Opfern bereit, ja, sie warten auf
Geschenke ihres Königs. Das Parlament verfügt dagegen über die gesamte Wirtschaftskraft des Landes
und über reichliche private Spenden. Wo das Land vom Bürgerkrieg erfasst wird, zerschlagen die
Puritaner die bunten Kirchenfenster, köpfen die steinernen Figuren der Kathedralen, schaffen alle
Feiertage ab, verbieten Theater, Tanz und Kartenspiel, Konzerte und Kleiderprunk. Dieser Radikalismus
geht der Mehrheit im Volk zu weit, aber die Partei der Independenten verfügt über das Heer und ist somit
unangreifbar. Es kommt nach dem Bürgerkrieg zu Abspaltungen weiterer Gemeinschaften, wie der
Quäker, die gegen jede Art von Gewalt sind.
Das Parlament in London nutzt nun seine durch keinen König mehr beschränkten Machtbefugnisse, eine
Reform der anglikanischen Kirche durchzuführen nach dem Muster der presbyterianischen Kirche von
Schottland. Zu diesem Zweck ernennt es im September 1643 aus seiner Mitte einen beratenden
Ausschuss, die sog. Westminstersynode. Diese mehrheitlich presbyterianische Synode beschließt 1646
die Westminster-Confession. Sie ist in England nur vorübergehend in Geltung, wird aber das
Hauptbekenntnis der schottischen und amerikanischen Presbyterianer.
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Außerdem verkündet die Westminster-Synode im September 1643 ein Bündnis mit Schottland im
Kampf gegen Karl I. So stehen am 2. Juli 1644 die verbündeten Armeen der Schotten und des
Parlaments dem königlichen Heer bei Marsten York gegenüber. Die Schlacht wird blutig und erbittert
geführt, und obwohl die Verbündeten zahlenmäßig überlegen sind, scheint ihre Niederlage nur noch eine
Frage der Zeit. Bis Cromwell, selbst schwer bedrängt und durch einen Pistolenschuss verletzt, mit
seinen Reitern die Wende erzwingt. Immer angreifend, nicht nachlassend, sobald der Feind zu weichen
beginnt, sondern ihn unerbittlich verfolgend und zerstörend. Cromwell, der es bis zum Lieutenant
General gebracht hat, kehrt Ende 1644 nach London zurück und schlägt dem Parlament die Bildung
einer neuen Armee nach dem Vorbild der Ironsides vor. Jeder Soldat soll einen Militärkatechismus
erhalten, in dem die Soldaten eine Anleitung sowohl zum Beten als auch zum Töten bekommen. Das
Parlament ernennt Cromwell zum stellvertretenden Oberbefehlshaber der New Model Army, die 22 000
Mann zu einem einheitlichen Heer verbinden soll. Im Juni 1645 wird er zum Oberbefehlshaber der
Reiterei ernannt, gerade rechtzeitig vor der letzten Entscheidungsschlacht. Am 14 Juni 1645 treffen die
10.000 Mann des Königs auf die rund 13.000 Soldaten des Parlaments. Wieder entscheidet Cromwell
die Schlacht in einem kritischen Moment. Er greift vom rechten Flügel aus mit seinen Männern das
Zentrum der Infanterie des Gegners an und zwingt sie zur Kapitulation. Der König ist geschlagen, flieht
1646 zum schottischen Heer. Verblendet, wie er ist, hofft er aufgrund seiner königlichen Würde auf
Hilfe bei seinem Stammvolk. Doch die Schotten setzen ihn gefangen und liefern ihn den Engländern aus
(gegen Bezahlung).
Eigentlich könnte der Bürgerkrieg nun vorbei sein. Aber nun kommt es zum Konflikt zwischen
independentischem Heer und presbyterianischem Parlament. Die Truppen Cromwells widersetzen sich
dem Befehl zur Auflösung ebenso wie dem Befehl zu einer Strafexpedition nach Irland. Als die Unruhen
in der Stadt zunehmen, rückt Cromwell im August 1647 mit 20.000 Mann in London ein. Er versucht,
zwischen König und Parlament zu vermitteln, wird sogar des Royalismus verdächtigt. Karl I. lehnt alle
Kompromissvorschläge ab, führt Gemeinverhandlungen mit den Schotten. Cromwell dagegen sieht sich
immer radikalerer Forderungen seiner Soldaten ausgesetzte: Die Leveller wollen die Beseitigung des
gegenwärtigen Parlaments und der Monarchie, Bekenntnisfreiheit, Abschaffung des Oberhauses,
zweijährige Parlamente nach allgemeinem Wahlrecht, Volkssouveränität, wirtschaftliche Gleichheit und
Volkseigentum. Dem König gelingt die Flucht, kann jedoch wieder gefangen genommen werden. Für
Cromwell ist das Ereignis ein Fingerzeig Gottes: Die Fronten sind wieder klar. In einem zehnstündigen
Treffen im Dezember 1647 einigt sich Cromwell mit den Levellers. Zwischen (zehnstündigem) Beten
und Vorlesen aus der Bibel, Schuldbekenntnis und Selbstanklage, besprechen sie, was als nächstes zu
tun sei. Der König wird vor Gericht gestellt und auf Leben und Tod angeklagt. Daraufhin kommt es zu
royalistischen Aufständen in Wales. Cromwell wird mit der Niederschlagung von Mai bis Juli 1648
beauftragt. Die Schotten marschieren im Juli 1648 erneut in England ein, dieses Mal, um ihren
presbyterianischen Glaubensbrüdern im Parlament beizustehen. Cromwell gelingt es, im August 1648
nach Gewaltmärschen die ahnungslosen Schotten bei Preston zu überraschen und zu besiegen. Der
Bürgerkrieg ist zu Ende.
Wieder rückt Cromwells Armee in London ein, am 6. Dezember stehen die Soldaten vor dem Eingang
der Whitehall und lassen nur die Abgeordneten hinein, die als zuverlässig im Sinne Cromwells gelten.
Weniger als 50 sind es, 100 werden abgewiesen, 41 festgenommen. Am 1. Januar 1969 beschließt das
Rumpfparlament die Bildung eines Gerichtshofes, das den König aburteilen soll. Am 30. Januar 1649
findet die Hinrichtung auf dem Platz vor Whitehall statt. Schwarz und stählern umstehen die Ironsides
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den Richtplatz. Der Henker hebt das Totenhaupt Karls I. an seinen Locken empor und ruft der Menge
zu: „Dies ist das Haupt des Verräters!“ Damit ist die Monarchie abgeschafft. Das Oberhaus wird
aufgelöst, England als Republik (Commonwealth and Free State) vom Rumpfparlament regiert. Zum
ersten Mal setzt ein Volk sein Gesamtwohl und seinen Willen als Staatsgrundsatz über das traditionelle
Recht eines Monarchen. Cromwell führt dazu aus (Brief von 1648)
Cromwell wird Präsident des Staatsrates, gleichzeitig ist er Oberbefehlshaber der Armee. Faktisch ist er
der Diktator von Großbritannien. Im August 1649 bricht er mit 12.000 Mann zu einer Strafexpedition
nach Irland auf. Er wütet dort mit Feuer und Schwert, unterwirft die Katholiken politisch, religiös und
ökonomisch. Tausende Iren werden als Plantagensklaven nach Westindien verkauft, andere Tausende
wandern in die Neue Welt aus. Die Mauer des Hasses zwischen Irland und England ist dauerhaft
aufgerichtet, als Cromwell im Mai 1650 die grüne Insel wieder verlässt. Im Juni 1651 darf Karl II. als
Thronfolger nach Schottland zurück, da die Schotten die Republik ablehnen. In seinem Namen treten die
Schotten gegen ihre einstigen Verbündeten an. Am 3. September 1650 kommt es zur Kampf, 32.000
Schotten gegen 16.000 Engländer. Cromwell umgeht die rechte Flanke des Gegners, reibt ihre
Regimenter vollkommen auf. Er rückt in Edingburgh ein. Eine von Karl II. erneut aufgestellte Armee
vernichtet Cromwell am 3. September 1651 bei Worcester. Der Krieg in Großbritannien ist zu Ende.
Cromwell hat Englands Herrschaft über Schottland und Irland auf Jahrhunderte gesichert. Frieden aber
ist nicht in Sicht. Um die niederländische Konkurrenz empfindlich zu treffen, hat das Parlament im
Oktober 1651 die Navigationsakte erlassen, die bestimmt, dass Importe nach England nur noch auf
englischen Schiffen eingeführt werden dürfen. Es kommt 1652 bis 1654 zum Seekrieg mit Holland und
ab 1654 mit Spanien. Auch hieraus geht Cromwell als Sieger hervor. Jamaika wird 1655 erobert,
Dünkirchen 1658.
In der Außenpolitik erfolgreich gelingt Cromwell die innere Befriedung nicht. Im April 1653 löst er das
Rumpfparlament auf, nachdem er die Abgeordneten als Hurensöhne, Säufer und korruptes Pack
bezeichnet hat. Statt dessen setzt er im Juli 1653 ein „Parlament der Heiligen“ ein. Bei der
Eröffnungsrede spricht Cromwell vor den 140 Abgeordneten über seine Erwählung durch Gott: Gott
habe ihn als Werkzeug gebraucht im Krieg des Lammes gegen seine Feinde. Etwas Neues warte am
Ende der Kette von Vorsehungen. Das Parlament sieht dies ebenso und stellt radikale Forderungen:
Abschaffung der Kirche, Einführung alttestamentlicher Gesetze, Gemeineigentum usw. Im Dezember
1653 zieht Cromwell die Notbremse und löst das Parlament der Heiligen auf. Vier Tage danach lässt er
sich als Lordprotektor auf Lebenszeit ausrufen, verantwortlich nur dem Staatsrat, in dem seine
Marionetten sitzen. Obwohl auf dem Gipfel der Macht angekommen, sieht sich Cromwell ständig
gefährdet. Die Royalisten, die Katholiken, die Presbyterianer, die Levellers, überall Gegner, wenig
Verbündete. Er weiß um die Bedingungen seiner Herrschaft, gestützt auf die Macht der Armee. Neun
von zehn Engländern seien gegen ihn? Was, so seine Antwort, wenn ich die neun entwaffne und gebe
dem zehnten ein Schwert in die Hand? 1657 wird ihm der Königstitel angetragen, den er ablehnt. Voller
Misstrauen und in ständiger Angst vor Attentaten stirbt der Sieger über die Krone am Jahrestag seiner
Schlachten von Dunbar und Worcester im Jahr 1658. Sein schwächlicher Sohn Richard tritt die
Nachfolge an, kann sich jedoch nur kurz halten. Als er abdankt, ist im Volk nach so viel Krieg und
Einschränkung die Sehnsucht nach stabilen Verhältnissen groß. Das Parlament stellt das Stuartkönigtum
wieder her. General Monks ruft König Karl II. nach England zurück. Amnestie und Religionsfreiheit
sind die wichtigsten Zusagen, die der König macht. Doch nachdem sich seine Stellung gefestigt hat,
vergisst er seine Versprechen. Er restauriert die anglikanische Episkopalkirche auf Kosten der
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Puritaner und Presbyterianer, die er verfolgen lässt. Als sein Nachfolger Jakob II. als Katholik eine
katholische Restauration versucht, kommt es zur Glorious Revolution: 1688 flieht Jakob II. nach
Frankreich. Das Parlament proklamiert 1689 die Declaration of Rights: Steuerbewilligung, Redefreiheit,
kein stehendes Heer. Doch das alles geschieht drei Jahrzehnte nach Cromwells Tod. Sein Sekretär John
Milton setzt ihm1667 noch ein literarisches Denkmal: Im Epos „Paradise Lost“ kommt das englischpuritanische Sendungsbewusstsein erneut zum Tragen, das sich bis heute in Amerika fortsetzt: nämlich
Gottes auserwähltes Volk zu sein (God’s own people).
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Paul Gerhardt (1607 – 1676)
Summen und Erraten: Befiehl du deine Wege
Singen: Befiehl du deine Wege 447,1-3.8
Anfang des 17. Jahrhunderts ziehen dunkle Wolken am Horizont der Geschichte Mitteleuropas auf. Das
heilig-römische Reich deutscher Nation ist politisch wie religiös zerrissen. Die Gegenreformation hat
seit 1570 bedeutende Erfolge erzielt: Bayern und Österreich sind wieder rein katholisch. Von den
größeren geistlichen Territorien sind Köln, Paderborn und Fulda, die sämtlich schon überwiegend
evangelisch waren, rekatholisiert. Immer häufiger entscheiden Reichskammergericht und Reichshofrat
zugunsten der Gegenreformation. Die konfessionellen Fronten verhärten sich. Der streng katholische
Herzog Maximilian von Bayern vollstreckt an der evangelischen freien Reichsstadt Donauwörth die
Reichsacht. Er benutzt dies dazu, die Stadt zu rekatholisieren und Bayern zuzuschlagen. Daraufhin
bilden 1608 mehrere lutherische und reformierte Fürsten die Union zu Ahausen. Auf der anderen Seite
sammelt Maximilian von Bayern 1609 eine Anzahl geistlicher Fürsten in der Liga. Hinzu kommt, dass
Kaiser Rudolf II. weitgehend entmachtet ist. In Prag residierend ist eine seiner letzten Amtshandlungen,
dass er 1609 den böhmischen Protestanten weitgehende Religionsfreiheiten im sog. Majestätsbrief
zusichert.
In diese spannungsgeladene Zeit wird Paul Gerhardt hinein geboren. Am 12. März 1607 kommt er als
zweites von vier Kindern im lutherischen Gräfenhainichen zur Welt, nicht weit weg von Wittenberg.
Sein Vater Christian ist Ackerbauer, Gastwirt und Bürgermeister. Seine Mutter Dorothea geb. Starcke
stammt aus einer Theologenfamilie: Ihr Vater ist Superintendent in Eilenburg gewesen. Paul Gerhardts
Leben verläuft in engen Grenzen. Über Sachsen und Brandenburg wird er nie hinauskommen.
Während Paul Gerhardt noch zu Hause zur Schule geht, überstürzen sich die Ereignisse im nicht einmal
500 km entfernten Prag. Die böhmisch-evangelischen Stände wollen die ständigen Verletzungen des
Majestätsbriefs von 1609 nicht mehr dulden. Auf dem Prager Protestantentag kommt es zu wilden
Tumulten. In deren Verlauf werden die kaiserlichen Räte Martinitz und Slawata sowie der
Geheimschreiber Fabrizius am 23. März 1618 aus dem Fenster des Hradschin gestürzt (sog. Prager
Fenstersturz). Dies führt zum Ausbruch des 30jährigen Krieges. Die böhmischen Rebellen erklären
Kaiser Ferdinand II. als König von Böhmen für abgesetzt, jagen die Jesuiten aus dem Land, bilden eine
neue Regierung und stellen ein Heer auf. In Österreich und Ungarn kommt es überall zu Aufständen
protestantischer Kreise. Die Böhmen wählen den Schwiegersohn Jakobs I. von England, Friedrich V.
von der Pfalz, zu ihrem neuen König. Daraufhin verbündet sich Kaiser Ferdinand mit Spanien, der Liga
und Kursachsen, dem die Lausitz versprochen wird. 1620 kommt es zur Entscheidungsschlacht am
Weißen Berg. Friedrich wird vollständig geschlagen, muss in die Niederlande flüchten. Die Truppen der
Liga unter dem niederländischen Mietgeneral Tilly marschieren in Böhmen und Mähren ein und
beginnen mit der gewaltsamen Gegenreformation. 150.000 Protestanten wandern aus, fast die Hälfte des
adligen Grundbesitzes wird enteignet und neu vergeben.
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Im selben Jahr kommt Paul Gerhardt an die sächsische Fürstenschule nach Grimma. Kurz darauf wird er
Vollwaise, denn der Vater ist 1619 gestorben, die Mutter stirbt 1621. Der junge Paul erhält dort in den
kommenden sieben Jahren eine umfassende lateinische und theologische Bildung auf der Grundlage
lutherischer Tradition. Das Urteil seines Magisters lautet: „Er ist von nicht geringer Begabung, beweist
Fleiß und Gehorsam. Sein Stil kann zum größten Teil erträglich genannt werden, und auch seine
Verslein sind erträglich.“
Derweil verhärten sich die Fronten im 30jährigen Krieg. Spanien, das seine oberitalienischen mit seinen
niederländischen Gebieten verbinden will, setzt ein Heer unter General Spinola nach Norden in
Bewegung. Zusammen mit Tillys Heer verwüsten sie die Oberpfalz, das 1623 zu Bayern geschlagen
wird. Als Tilly auch noch die norddeutschen Aufgebote der Protestanten unter Christian von
Braunschweig 1623 schlägt, scheint die Gegenreformation einen vollständigen Sieg errungen zu haben.
Die die norddeutschen Protestanten verbünden sich deshalb 1625 mit Karl I. von England und Christian
IV. von Dänemark gegen Liga und Kaiser. Unterstützung erhalten sie sogar aus dem katholischen
Frankreich durch Kardinal Richelieu, der eine Umklammerung Frankreichs durch Habsburg befürchtet.
Angesichts dessen will Kaiser Ferdinand II. nicht mehr bloß auf die Hilfe Bayerns und der Liga
angewiesen sein. Er nimmt das Angebot des Emporkömmlings Albrecht von Wallenstein an. Der hat
sich bereit erklärt, mit eigenen Mitteln ein Heer zu unterhalten und es dem Kaiser zur Verfügung zu
stellen. 1625 stellt Wallenstein 100.000 Mann unter Waffen. 1626 schlägt die Wallensteinsche Armee
die Truppen des Grafen Mansfeld, Tilly erringt einen Sieg über Christian von Dänemark, Wallensteins
Truppen besetzen das festländische Dänemark. Wallenstein bekommt als Dank das Herzogtum
Mecklenburg. Weil England den von Richelieu angegriffenen Hugenotten zu Hilfe eilt, ist der Bund von
Frankreich und England zugunsten der deutschen Protestanten gesprengt. 1629 im Frieden von Lübeck
verspricht Christian IV. für die Rückgabe seiner besetzten Gebiete und sich künftig neutral zu verhalten.
Kurz darauf fordert Kaiser Ferdinand II. im Restitutionsedikt die Rückgabe aller seit 1552 eingezogenen
geistlicher Güter und beschränkt den Religionsfrieden nur auf die Lutheraner unter Ausschluss der
Reformierten.
Wieder einmal hat die protestantische Seite in Deutschland eine katastrophale Niederlage erlitten, als
Paul Gerhardt im Januar 1628 sich als Student der Theologie in Wittenberg immatrikuliert. Hier
verpflichtet er sich auf das lutherische Grundbekenntnis der Reformation, der Confessio Augustana
(Verurteilung der Reformierten).
Unterdessen wird Wallenstein, der den katholischen Fürsten zu mächtig geworden ist, als Feldherr 1630
entlassen, sein kaiserliches Heer wird auf 40.000 Mann abgerüstet. Am 6. Juli 1630 landet Gustav Adolf,
König von Schweden, mit einem kleinen, aber schlagkräftigen Heer an der pommerschen Küste. Er will
vor allem Schwedens Vormachtstellung im Ostseeraum ausbauen. Und er verkündet, er sei zum Schutz
der evangelischen Freiheit und gegen die papistische Abgötterei ausgezogen. Gustav Adolf soll mit
einem Heer von 30.000 Mann zu Fuß und 600 zu Pferd in Deutschland Krieg führen. Frankreich wird
dafür jährlich eine Million Livres Subsidien bezahlen. Die Ziele der evangelisch-katholischen Allianz,
Glaubensfreiheit zu gewährleisten und die Reichsstände zu verteidigen, sind Frankreich gleichgültig. Es
geht nur um eine Schwächung des Reiches, damit Frankreich an den Rhein vordringen kann.
Weil die Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen (mächtigste protestantische Staaten) noch zögern,
die Schweden zu unterstützen, kann Tilly 1631 Magdeburg, das sich dem Restitutionsedikt widersetzt
hat, erobern. 20.000 bis 30.000 Menschen werden auf bestialische Weise massakriert
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(„Magdeburgisieren“). Der Schock im protestantischen Lager ist ungeheuer. Jetzt treten endlich
Kurbrandenburg und Kursachsen auf die Seite Gustav Adolfs. Tilly rückt gegen Leipzig vor, bei
Breitenfeld kommt es am 22. August 1631 zur Entscheidungsschlacht. Gustav Adolf erringt einen
triumphalen Sieg. Nun liegen die Länder der Liga und des Kaisers schutzlos vor dem fremden Eroberer.
Gustav Adolf besetzt die fränkischen Bistümer und plant eine tiefgehende politische Umgestaltung
Deutschlands mit ihm als neuem Kaiser und Frankfurt als neuer Hauptstadt. Wallenstein wird vom
Kaiser zu Hilfe gerufen. Er stellt erneut ein Söldnerheer mit 100.000 Mann auf, am 16. November 1632
kommt es zur Begegnung bei der Schlacht bei Lützen. Die Schweden behaupten das Feld, aber Gustav
Adolf fällt und Wallenstein kann sich ohne größere Verluste zurückziehen. Wallenstein plündert nun
Schlesien, Sachsen und Böhmen. Dagegen regt sich Widerstand der katholischen Fürsten. Wallenstein
wird vom Kaiser abgesetzt, muss flüchten und wird 1634 ermordet. Den Oberbefehl über die
kaiserlichen Truppen übernimmt der Thronerbe Ferdinand III. Er schlägt die deutsch-schwedische
Protestantenallianz bei Nördlingen. Daraufhin schließen Brandenburg, Sachsen und die anderen
evangelischen Reichsstände 1635 mit dem Kaiser den Frieden von Prag. Der Kaiser verzichtet auf die
Durchführung des Restitutionsedikts, die protestantischen Fürsten erklären sich bereit, an einem
gemeinsamen Kampf gegen Schweden teilzunehmen. Schweden und Frankreich schließen daraufhin ein
Bündnis gegen Kaiser und Reich. Damit beginnt der letzte und schrecklichste Akt des Krieges. Die
deutschen Fürsten, evangelisch wie katholisch (Bayern, Sachsen, Brandenburg), müssen zusehen, wie
schwedische und französische Heere wahllos ihre Gebiete verwüsten. Ortschaften werden teilweise 40 –
100 mal hintereinander gebrandschatzt. Paul Gerhardts Heimatstadt wird am 11. April 1637 von
schwedischen Soldaten vollständig zerstört. Sein älterer Bruder Christian stirbt an den Folgen der Pest.
Die Franzosen rücken bis München, die Schweden bis Wien vor. Nach vierjährigen Verhandlungen wird
endlich der am 24. Oktober 1648 Westfälische Friede geschlossen. Frankreich bekommt Teile des
Elsass, Schweden Vorpommern und Bremen. Die Reformierten erhalten nun endlich die gleichen Rechte
wie die Lutheraner, darauf hat vor allem Brandenburg gedrungen. Die Niederlande und die Schweiz
scheiden aus dem Reichverband aus. Ausgeschlossen vom Westfälischen Frieden sind Österreich und
Schlesien. Dort werden die Protestanten weiterhin verfolgt und ins Exil oder zum Übertritt gedrängt.
Deutschland ist ausgeblutet: Über die Hälfte der Menschen ist in den 30 Kriegsjahren ums Leben
gekommen (im Zweiten Weltkrieg waren es gerade mal 10 %). Viele Städte sind ausgeplündert und halb
zerstört, die blühende Wirtschaft ist dahin, die Sitten sind verroht, die Kriminalität ungeheuer
angewachsen.
In dieser trostlosen und zugleich herausfordernden Nachkriegszeit tritt Paul Gerhardt Ende 1651 sein
erstes öffentliches Amt an. Vorher hat er sich mit Hausunterricht und wechselnden geistlichen
Vertretungen seinen Unterhalt gesichert. Bereits 1643 ist er nach Berlin gegangen. Die Zahl der
Stadtbevölkerung ist durch Krieg und Krankheiten von 12.000 auf 5.000 geschrumpft und erholt sich
erst langsam. Mit 44 Jahren erhält Gerhardt nun die freigewordene Stelle des Propstes in Mittenwalde.
Die Stadt ist von den Kaiserlichen wie den Schweden verwüstet worden, der Bauernstand ist dezimiert,
die Felder liegen brach.
Daher nehmen die Kreuz- und Trostlieder im Schaffen Paul Gerhardts einen breiten Raum ein.
Angefangen mit dem Dichten hat er aber wohl vorher. Es gibt von 1642 ein Gelegenheitsgedicht von
ihm, das er für einen Freund schrieb. Und 1647 gibt Johann Crüger, Kantor an der Kirche St. Nikolai in
Berlin und Lehrer am dortigen Gymnasium zum Grauen Kloster ein Gesangbuch heraus, das fünfzehn
Choräle Paul Gerhardts enthält. Crüger selbst steuert die Melodien zu den Texten Gerhardts bei.
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Paul Gerhardt hat es nicht einfach in Mittenwalde. Sein Amtsbruder, der zweite Prediger, ist voller
Missgunst, weil Gerhardt ihm bei der Besetzung der ersten Stelle vorgezogen worden ist. Er macht ihm
das Leben schwer, wo er nur kann.
Aber es gibt auch Erfreuliches. Am 11. Februar 1655 heiratet der fast 48jährige Paul Gerhardt in Berlin
die fünfzehn Jahre jüngere Anna Maria Berthold. Sie ist die Tochter des Berliner Kammergerichtsadvokaten A. Berthold, bei dem Gerhardt in seiner Berliner Zeit vor 1647 in Hauslehrerdiensten
gestanden war.
Bald kündigt sich ein weiteres erfreuliches Ereignis an. Anna Maria Gerhardt schreibt am 19. Mai 1656
in ihr Tagebuch: Vorlesen!
Doch dann der weitere Eintrag 14. Januar 1657: Vorlesen!
Im Mai 1657 wird Paul Gerhardt vom Magistrat der Stadt Berlin an der dortigen St. Nikolai-Kirche eine
Diakonatsstelle angeboten. Im Juni sagt Gerhardt zu, bedeutet es doch nicht nur einen beruflichen
Aufstieg, sondern auch die Rückkehr zu Freunden und der Familie seiner Frau. Die Zeit in Berlin wird
jedoch mehrfach überschattet. Er und seine Frau verlieren jedes Mal das Kind, das ihnen geboren wird.
Seine Frau berichtet über den Verlust ihres zweiten, dritten und vierten Kindes in ihrem Tagebuch:
Vorlesen! Geschwächt durch die Geburten und den frühen Tod ihrer Kinder – nur ein 1662 geborener
Sohn Christian überlebt – erkrankt Anna Maria Gerhardt 1668 schwer: Vorlesen
Der zweite Schatten ist nicht familiärer, sondern beruflicher Natur: In Berlin schwelt schon seit
Jahrzehnten der Konflikt zwischen den beiden großen protestantischen Konfessionen, den Lutheranern
und den Reformierten. 1613 war das brandenburgische Herrscherhaus zum Calvinismus übergetreten.
Seither besitzt Berlin reformierte und lutherische Kirchen. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm
beraumt 1662 ein Religionsgespräch an zwischen den verfeindeten Richtungen, um eine Aussöhnung zu
erzielen. Aber das Ganze scheitert 1663 an dem Misstrauen auf lutherischer Seite.
Gerhardt dazu: „Dass unter den Reformierten Christen seien, gebe ich gerne zu. Aber dass die
Reformierten meine Mitchristen sind, das leugne ich.“
Enttäuscht erlässt der Landesherr am 16. September 1664 ein Edikt, das beiden Richtungen eine
Verketzerung von der Kanzel herunter untersagt. Um es durchzusetzen, sollen sämtliche Prediger bei
Androhung des Verlusts ihres Amtes einen entsprechenden Revers unterschreiben. Gerhardt und seine
lutherischen Amtskollegen halten das für eine unangemessene Beschränkung. Zwar ist Gerhardt kein
polemischer Prediger, der andere angreifen oder herabsetzen will. Aber er weiß sich doch in seinem
Gewissen an das lutherische Bekenntnis gebunden. Als er nach einer Woche Bedenkzeit im Februar
1666 das Edikt immer noch nicht unterschrieben hat, wird er von seinem Amt abgesetzt.
Seine Frau merkt dazu in ihrem Tagebuch an: Vorlesen!
Nun erreichen den Kurfürsten eine Vielzahl von Bittschriften der Bürgerschaft, des Magistrats, der
Gewerbe- und Landstände. Der Kurfürst muss Gerhardt vorschlagen, ihn auch ohne Zustimmung zu
seiner Verordnung wieder einzusetzen. Er macht es aber Gerhardt zur Auflage, in seiner Verkündigung
jegliche konfessionelle Kritik und Eigenart zu unterlassen. Gerhardt lehnt ab und verzichtet auf sein
Amt. Bürgerschaft und Magistrat sind verdrossen, sie halten Gerhardts Gewissensbedenken für
übertrieben. Er vereinsamt zunehmend. Obwohl 1668 der Kurfürst nach dem Tod seiner ersten Frau die
lutherische Prinzessin Dorothea von Holstein heiratet und es dadurch zu einem Klimawechsel im Land
kommt, will Gerhardt nicht in Berlin bleiben. Er nimmt einen Ruf des Herzogs Christian I. von SachsenMerseburg an auf die Archidiakonenstelle der Stadt Lübben. Damit wechselt er von der Residenz- in die
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Provinzstadt. Die Bezahlung ist geringer, das Pfarrhaus muss erst instand gesetzt werden. Sein Haushalt
für ihn und seinen Sohn Christian führt seine inzwischen verwitwete Schwägerin Sabine Fromm. In
dieser Zeit schreibt er kaum noch Lieder. Insgesamt aber gibt es von ihm 14 Passionslieder, 2
Adventslieder, 2 Neujahrslieder, 12 Gebetslieder, 29 Trostlieder und 18 Loblieder.
Am 27. Mai 1676 stirbt Gerhardt in Lübben, seinen 14jährigen Sohn zurücklassend.
In seinem Testament heißt es: Vorlesen
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John Wesley (1703 – 1791)
Singen: Amazing Grace 65,1-4
Rätsel: Pantomimisch darstellen: Predigt im Freien, Rede gegen Sklaverei
John Wesley wird am 17. Juni 1703 als 15. Kind von Samuel Wesley und seiner Susanna geboren. Von
seinen acht Brüdern überleben außer ihm nur noch Samuel und Charles die Kindheit, außerdem drei von
sieben Schwestern. Sein streitlustiger und oft pedantischer Vater Samuel Wesley ist Pfarrer in Epworth,
Loncolnshire, ein überzeugter politischer und religiöser Anhänger der anglikanischen Staatskirche,
ebenso wie seine Frau. Und das, obwohl ihre beiden Väter als Puritaner 1662 ihre Pfarrämter verloren
hatten. Doch Samuel hat als Student sich der Hochkirche angeschlossen, Susanna bereits als
dreizehnjährige. Seit dieser Kehrtwende um 180 Grad besteht ihre Abneigung gegen die Politik der
Dissenters und die calvinistische Theologie. Diese Haltung prägt auch den jungen John. Die begabte
Mutter kümmert sich intensiv um die Erziehung der Kinder – unterrichtet sie sechs Stunden am Tag.
Sie lernen mit fünf Jahren lesen, beginnen den Tag immer mit einem Kapitel der Bibel und einem
Psalm, dann folgen Grammatik, Mathematik, Geschichte, Geographie, Literatur. Eine Schwester von
John kann bereits mit acht Jahren im griechischen neuen Testament lesen. Daneben achtet die Mutter
sehr auf Disziplin und anständiges Benehmen.
Die starke Persönlichkeit seiner Mutter führt wohl mit dazu, dass Wesley als junger Mann keine
gelungene Beziehung zum anderen Geschlecht herstellen kann. 1751 geht er eine höchst unglückliche
Ehe ein mit Mary Vazeille, einer Witwe mit vier Kindern. Auf Reisen klagt seine Frau über die
Strapazen, zu Hause ist sie krankhaft eifersüchtig auf seine schwärmerischen Verehrerinnen, wird sogar
handgreiflich gegen ihren Mann. 1758 verlässt sie ihn endgültig, verbittert und zornig. Wesley merkt
dazu an: „Ich habe sie nicht verlassen, ich habe sie nicht entlassen, ich werde sie nicht zurückrufen.“
1781 stirbt die Hugenottin.
Als Fünfjähriger erlebt John, wie feindlich gesinnte Gemeindeglieder das Haus seines Vaters anzünden,
in dem er sich befindet. Er kann aus dem brennenden Gebäude noch gerettet werden, aber dieses
Ereignis bleibt eine wichtige Kindheitserfahrung für ihn. 1720 folgt Wesley seinem älteren Bruder
Samuel nach Oxford als Stipendiat und macht 1724 sein Examen als Bachelor of Arts. Seine
Entscheidung, Pfarrer zu werden, fällt ein Jahr später, und zwar unter väterlichem Druck. Im September
1725 wird er zum Diakon ordiniert und im folgenden März verhelfen ihm seine Verdienste sowie
Beziehungen zu einer Stellung am Lincoln College in Oxford. 1728 zum Pfarrer ordiniert steht er
seinem Vater als Hilfsgeistlicher zur Seite, macht seine ersten Damenbekanntschaften, spielt Karten.
Außerdem schmökert er in mystischen Schriften eines Jakob Boehme und anderer Autoren, die er später
heftig ablehnen wird. Nach dem Examen im Jahr 1730 schlägt er weiter die akademische Laufbahn ein.
Er wirkt als Dozent am Lincoln College und schließt sich der Studentengruppe an, die sein Bruder
Charles 1726 mit zwei Mitstudenten gegründet hat. Bald übernimmt er deren Führung. Wegen ihrer
geregelten Lebensführung erhalten sie den Spottnamen „Methodisten“. Ihr Leben ist bestimmt vom
täglich dreistündigen Bibellesen, vom Beten, von wöchentlich zweimaligen Fasten, vom Spenden, von
praktischer Armenhilfe und Gefängnisbesuchen.
1735 tritt ihr auch für kurze Zeit George Whitefield bei, der spätere Erweckungsprediger.
Wesleys Vater hegt die Hoffung, dass John einmal seine Gemeinde übernimmt. Zuerst lehnt Wesley ab,
und als sein Vater dann im Sterben liegt und er ein Heim für seine Mutter und die unverheirateten
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Schwestern schaffen soll, ist es zu spät: Epworth wird anderweitig vergeben. Nachdem er den
Gouverneur der neuen Kolonie Georgia kennen lernt, beschließt er Hals über Kopf, mit seinem jüngeren
Bruder Charles nach Amerika zu gehen. „Mein Hauptgrund“, so schreibt er, „dem alle anderen
untergeordnet sind, ist die Hoffnung, meine eigene Seele zu retten.“
An die neue Kolonie machen sich in dieser Zeit verschiedene Hoffnungen fest. Die britische Regierung
möchte eine Pufferzone zwischen Carolina und den Spaniern in Florida errichten. Vornehme Herren
suchen dort ihre Chance genauso wie verschuldete Ex-Sträflinge. Außerdem protestantische Flüchtlinge.
Auf der Überfahrt Anfang 1736 lernt Wesley eine solche Gruppe aus Mähren kennen, die der
Verfolgung durch den Katholizismus entfliehen will. Wesley sorgt dafür, dass auf der Fahrt ein
anständiger Ton herrscht und erlernt die deutsche Sprache. Beeindruckend für Wesley: Während eines
fürchterlichen Seesturms singen die 20 Männer, Frauen und Kinder ruhig ihre Psalmen, während die
anderen in Panik geraten. Die Leute von Mähren stellen ihm die verwirrende Frage, ob er einen
persönlichen Heilsglauben habe. Ihre Glaubensgewissheit beeindruckt ihn und er spürt, dass ihm
Entscheidendes fehlt.
In Amerika gelandet dauert Wesleys Georgia-Abenteuer weniger als zwei Jahre. Es erschüttert sein
Selbstvertrauen in hohem Maße. Sein Bruder versagt zuerst als Geistlicher, dann auch als Sekretär des
Gouverneurs. John muss diese Arbeit für ihn erledigen. Die Indianermission, von ihm lebhaft erwartet,
beginnt gar nicht erst. Darüber hinaus erregt Wesleys Versuch, strenge Gottesdienstregeln einzuführen,
Anstoß. Von dem Ehemann einer jungen Frau, der er zuvor die Ehe angetragen hat, ohne erhört zu
werden, wird er wegen Verleumdung auf Schadenersatz angeklagt. Denn Wesley hat die junge Frau vom
Abendmahl ausgeschlossen. Die Mehrheit der Großen Jury spricht sich gegen ihn aus, und obwohl die
Beamten es ihm untersagen, die Kolonie zu verlassen, reist Wesley sofort ab und folgt seinem Bruder
zurück nach England.
Im Januar 1738 befindet sich Wesley also wieder an Bord eines Schiffes, seine innere Leere wird noch
durch die Isolierung in der Reisegruppe verstärkt. Seinen Aufenthalt in der Neuen Welt empfindet er als
Fiasko; und ihn quält immer noch die Frage, ob er überhaupt einen persönlichen Heilsglauben an Jesus
Christus habe, der ihn frei von aller Unruhe und Angst machen könnte. Er schreibt in sein Tagebuch:
„Ich ging nach Amerika, um die Indianer zu bekehren; aber ach! Wer soll mich bekehren?“ Das Fazit
seines Auslandsaufenthaltes gibt Wesley mit Worten aus dem Römerbrief wieder: „Dies ist es also, was
ich an der Welt Enden einsehen gelernt habe: dass ich ein Sünder bin und des Ruhmes mangele, den wir
vor Gott haben sollen.“ Wesley schwankt zwischen Zweifel und Glauben, Gottesnähe und
Gottverlassenheit, wird zudem von Todesfurcht geplagt. Noch auf der Überfahrt entschließt er sich,
Gottes Wort nicht nur zu predigen, sondern es jedem einzelnen in persönlicher Anwendung auf seine
Lage zuzueignen. Wenige Tage nach seiner Ankunft in London lernt Wesley im Haus eines
niederländischen Kaufmanns mehrere Herrnhuter Brüder kennen, darunter Peter Böhler aus Frankfurt
am Main. Dieser junge Mann, der auf dem Weg in sein amerikanisches Missionsgebiet ist, legt Wesley
in vielen Gesprächen dar, was der selig machende Glaube ist, und dass die Gewissheit, diesen Glauben
zu besitzen, eine allen Christen gemeinsame Gnade bedeute. Diese nicht zu haben, hieße, gar kein Christ
zu sein. Wesley wird im Lauf der Zeit klar, dass ihm dieser Glaube fehlt, der allein zur ewigen Rettung
verhilft. Er schreibt in sein Tagebuch: „Ach, lassen wir uns doch von niemandem durch leere Worte
täuschen, als ob wir diesen Glauben schon hätten.... Gibt Gottes Geist unserem Geiste Zeugnis, das wir
Gottes Kinder sind? Ach nein!“ In diesem Zustand verharrt Wesley einige Zeit. Am Abend des 24. Mai
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1738 begibt er sich mit innerem Widerstreben in einen kleinen pietistischen Kreis, der sich in der
Aldergatestreet zu versammeln pflegt. Jemand liest Luthers Vorrede zum Römerbrief vor.
Schließlich kommt der Vorleser an folgende Stelle (vorlesen)
In diesem Moment fühlt Wesley, wie sich sein Herz auf sonderbare Weise ergriffen wird. Er empfindet,
dass er jetzt völlig auf Jesus vertraut und allein von ihm sein Heil erwartet. Es wird ihm zur Gewissheit,
dass Jesus seine Sünden weggenommen und ihn vom Gesetz des Todes erlöst hat. Obwohl Wesley auch
nach seiner Bekehrung in Aldergate noch Zweifel, Niedergeschlagenheit und Enttäuschung erfährt,
kommt es ihm nun so vor, als gehe er von Sieg zu Sieg (nicht mehr von Niederlage zu Niederlage).
Auch sein jüngerer Bruder Charles findet in diesem Monat zum Glauben, als ihm jemand, der ihn am
Krankenbett besucht, Luthers Kommentar zum Galaterbrief auslegt.
Im Sommer 1738 macht er sich nach Herrnhut auf. Denn Wesley will wissen, ob es eine Gemeinschaft
gibt, die so geheiligt ist, dass sie in sündenfreier Vollkommenheit lebt. Natürlich gibt es in Herrnhut
vieles zu bewundern, aber in seinem zweiwöchigen Aufenthalt erlebt Wesley auch so manche
Enttäuschungen. Die Speichelleckerei um Zinzendorf behagt ihm ebenso wenig wie manche
Eigentümlichkeiten in der Theologie Zinzendorfs. Zurück in England trifft Wesley im Herbst 1738 in
Bristol auf seinen Freund George Whitefield aus seinem früheren Studentenkreis. Whitefield ist im
Unterschied zu Wesley in Georgia als Geistlicher sehr erfolgreich gewesen. Seine Predigttätigkeit erfuhr
dort großen Widerhall. In ganz schlichter volkstümlicher Weise hatte er mit drastischer Ausmalung der
Höllenqualen und mit eindringlicher Ermahnung zu sofortiger Bekehrung die einfachen Grundgedanken
des Evangeliums verkündigt. Nun will er in England Geld auftreiben für den Bau eines Waisenhauses in
der neuen Kolonie. Weil er weiter nach Wales möchte, bittet er Wesley, sich der Neubekehrten
anzunehmen, die seine Predigten in der Gegend von Bristol erweckt hatten. Nun tritt John Wesley als
Erweckungsprediger auf. Peter Böhler hat ihn gedrängt, den Glauben so lange zu predigen, bis er ihn
selbst habe. Jetzt predigt Wesley den Glauben, bis andere ihn haben. Aus dem akademischen Pharisäer
wird von Herbst 1738 an ein erwecklicher Feldprediger, zu dem sich auch bald sein Bruder Charles
gesellt. Bristol und Kingswood werden zu den geographischen Mittelpunkten der neuen
Erweckungsbewegung, wo Wesley den Bergarbeitern vor ihren Kohleminen predigt. Er reitet
unermüdlich von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, hält täglich vier bis fünf Predigten, insgesamt bis zu
seinem Tod 40.000.
Der Inhalt: Buße, Sündenvergebung, Heilsgewissheit, Wiedergeburt durch Christi Heilstat.
Drei Bruchlinien deuten sich ab den 1740er an und bestimmen Wesleys Leben und Wirken fortan:
der Bruch mit der Anglikanischen Staatskirche,
der Bruch mit Herrnhut und
der Bruch mit dem Calvinismus.
Zum Bruch mit der Anglikanischen Staatskirche: Dieser Bruch deutet sich bereits 1739 an, wird aber
erst nach dem Ableben von John Wesley vollständig vollzogen. Whitefield und Wesley liegt eine
Trennung zunächst ganz fern. Bei ihrer Predigttätigkeit stoßen sie jedoch bald auf Widerstände. Die
anglikanischen Geistlichen verweigern ihnen ihre Kanzeln. Die beiden beginnen noch 1739, unter
freiem Himmel zu predigen, oft vor vielen Tausenden. Damit setzt die eigentliche methodistische
Bewegung ein. Aus der Not wird eine Tugend: Wesley dazu: „Ich schätze ein gemütliches Zimmer, ein
weiches Kissen und eine schöne Kanzel. Doch Seelen werden durch das Predigen im Freien gerettet.“
Seine Bewegung gewinnt rasch eine große Ausdehnung. Nicht zuletzt wegen des organisatorischen
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Talents von Wesleys. Während Whitefield unermüdlich in England, Schottland und Amerika insgesamt
18 000 Predigten hält, aber die von ihm erweckten Kreise nicht organisiert, liegt Wesley neben der
Evangelisation auch die Nacharbeit am Herzen. Er schreibt: „Es fehlen hier regelrechte Gemeinschaften,
Disziplin, Ordnung und Zusammenhalt. Die Folge davon ist, dass von zehn Erweckten jetzt neun einen
tieferen Schlaf schlafen als je zuvor.“ Wesley sammelt die Bekehrten daher bereits ab 1739 in sog.
United Societies. Jede society (religiöser Verein) unterteilt sich dabei in mehrere classes. Sie bestehen
aus ca. einem dutzend Mitglieder mit einem Führer, der über den geistlichen Fortschritt zu wachen hat.
Die Mitglieder erhalten Vereinskarten (tickets), die vierteljährlich erneuert werden müssen: Wer sich
nicht bewährt hat, muss gehen. Die Laien werden seit den 1740er Jahren als nicht ordinierte Prediger,
als Gemeindehelfer, als Krankenpfleger usw. sehr stark am Gemeindeleben beteiligt. Das Gesamtgebiet
ist in Bezirke (circuits) eingeteilt. Manche societies schreiten schon 1739 zur Errichtung eigener
methodistischer Privatkapellen. Trotz alledem: Auf seiner ersten Konferenz 1744 mit den
methodistischen Laienpredigern lässt Wesley beschließen, den anglikanischen Bischöfen zu gehorchen,
soweit dies mit dem Gewissen vereinbar sei. Konflikte mit der Church of England gibt es jedoch
weiterhin, weil nicht wenige kirchenfeindliche Dissenters zu den Methodisten durch Wiedertaufe
übergehen; und weil einige Methodistenprediger eigenmächtig das Abendmahl auszuteilen beginnen.
Der Methodismus etabliert sich immer mehr in England: Sind es 1770 noch 50 circuits mit 30 000
Mitgliedern, gibt es in Großbritannien 1783 bereits 46.000 Mitglieder. Als Wesley 1791 stirbt, hat seine
Gesellschaft 134 000 Mitglieder. Erst 1797 kommt die Entwicklung der Verfassung mit einem eigenen
Glaubensbekenntnis zu ihrem Abschluss. Die Mehtodisten stellen nun eine eigene Freikirche dar.
Wesley selbst dagegen hat nicht konfessionell gedacht (siehe Geschichte von Hölle/Himmel).
Zum Bruch mit den Herrnhuter: Während Wesley in Bristol predigt, trifft 1740 Philipp Molther aus
Deutschland in London ein. Er verbreitet die mystizistische Lehre einer Erlösung durch Gnade ohne
gute Werke. Der Glaube solle nur still warten auf die Gabe der Gnade, Taufe und Abendmahl seien nicht
wichtig. Molther spaltet die Gemeinschaft, in der Wesley zum Glauben gekommen ist, nimmt kaum 20
Männer, aber fast alle Frauen mit sich. Wesley ist entsetzt, dass seine Geschwister einen solchen Weg
gehen. Die Mähren beginnen, ihre eigene Brüdergemeine in England zu organisieren. Sie ziehen viele
von Wesleys alten Freunden an – und fast auch seinen Bruder Charles. Das Verhältnis bleibt schlecht
und erst in Wesleys hohem Alter bessert es sich wieder etwas.
Zum Bruch mit dem Calvinismus: Sein Freund George Whitefield vertritt als überzeugter Calvinist die
Prädestinationslehre. Wesley spricht sich offen dagegen aus und lehrt die freie Gnade. Fortan gibt es
unter den Methodisten zwei verschiedene Richtungen. Nach dem Tod von Whitefield 1770 kommt es
zum offenen Konflikt. Die calvinistischen Methodisten in Wales organisieren eine getrennte
Vereinigung. Sie gründen eine eigene Religionsgesellschaft, die immer wieder von Wesley angegriffen
wird. Wesley glaubt, dass der Calvinismus die Anziehungskraft des evangelischen Predigers mindere,
der Sündenvergebung den Beweggrund nehme und einer Amoralität Vorschub leiste. Erst die
Generation nach Wesleys Tod vertritt weitgehend die Ansicht, dass die Frage der Prädestination
praktische keinerlei Auswirkung für die Evangelisation habe. Aber selbst danach bleibt das Verhältnis
zwischen beiden Seiten ausgesprochen kühl.
Interessant ist auch Wesleys Beziehungen zu Amerika. In den englischen Kolonien bricht seit 1734 eine
Erweckungsbewegung auf (revival), vorangetrieben durch die gewaltige Predigttätigkeit von George
Whitefield. Die Wirkungen zeigen sich in einem raschen Anwachsen der Gemeinden. Um die Mitte des
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18. Jh.s herum kommt es zur Bildung größerer kirchlicher Verbände, auch unter den eingewanderten
deutschen Lutheranern und Reformierten. Für die weitere Entwicklung der kirchlichen Verhältnisse in
Nordamerika werden die politischen Verschiebungen seit 1763 bestimmend. Durch die Verdrängung
Frankreichs und Spaniens aus Nordamerika erlangt der Protestantismus das Übergewicht auf dem
neuen Kontinent. Mit der amerikanischen Revolution wird zudem das Verhältnis Kirche-Staat ganz neu
festgelegt. Am 4. Juli 1776 erklären die 13 Neu-England-Staaten ihre Unabhängigkeit vom Mutterland.
Der Unabhängigkeitskrieg der 3 Mio. Siedler gegen die britische Kolonialarmee, gegen englandtreue
Amerikaner und mit England verbündete Indianerstämme geht bis 1783. Wesley verurteilt entschieden
den Widerstand in Amerika, was seine Popularität in England fördert, ihm aber andernorts, besonders in
Irland, viele Türen verschließt. Der Unabhängigkeitskrieg, eigentlich vorteilhaft für die Verbreitung des
Methodismus in England, schafft jedoch grundlegende Probleme in der methodistischen
Glaubensgemeinschaft. Die amerikanische Fluvanna-Konferenz 1779 führt die presbyteriale Ordination
ein, was die Austeilung der Sakramente durch nicht bischöflich eingesetzte Prediger ermöglicht.
Dagegen opponiert der einzig verbliebene englische Geistliche, der eine Gruppe von Predigern in
Delaware versprechen lässt, nur dann die Austeilung von Sakramenten zuzulassen, wenn sie vom
anglikanischen Klerus kommen. Obgleich die Krise beigelegt wird, lernt Wesley daraus. Er vermacht
1784 das Recht, Prediger einzusetzen, nach seinem Tod der jährlichen Konferenz.
Wesley geht es aber nicht nur um den Aufbau gemeindlicher Strukturen. Von Anfang an hat er auch eine
ausgeprägte Neigung zur sozial-diakonischen Tätigkeit getreu seinem Satz: „Keiner ist ein Christ, bis er
es erfährt“. Er kämpft für Reformen im Gefängniswesen und für die Abschaffung der Sklaverei. Er
richtet Volksbibliotheken ein und sammelt Geld zum Aufbau von vorbildlichen Schulen. Er richtet
Darlehenskassen zur Selbsthilfe ein. Er kümmert sich ferner um die Volksgesundheit, indem er eine
Poliklinik und Armenapotheken gründet, Bücher über Volksmedizin verfasst und – angeregt durch
Benjamin Franklin – die Elektrotherapie mittels „electric shock machines“ zur Heilung diverser
nervöser Erkrankungen einführt. Seine Sozialwerke finanziert er aus dem Erlös seiner Schriften,
während er selbst sehr sparsam lebt.
Wesley glaubt fest an göttliche Führung. In seinen jüngeren Jahren lässt er bei zahlreichen wichtigen
Entscheidungen, die zu treffen sind, nach biblischem Vorbild das Los entscheiden, was zu tun sei, um so
die Entscheidung Gottes Willen zu überlassen. Auch schlägt er zu Beginn seiner Predigten oft die Bibel
zufällig irgendwo auf, weil er überzeugt ist, Gott weise ihm so die Stelle an, über die es am jeweiligen
Tag zu predigen gilt. Wesley orientiert sich hierbei an der Herrnhuter Lospraxis.
In seinen reiferen Jahren distanziert sich Wesley ausdrücklich von schwärmerischen Auffassungen und
verweist insbesondere auf die Bibel: „Verlass dich nicht auf Visionen oder Träume, auf plötzliche
Eingebungen oder starke Gemütsbewegungen irgendeiner Art! Bedenke: Nicht durch solche Dinge sollst
du 'Gottes Wille' bei bestimmten Gelegenheiten erkennen, sondern durch Anwendung der klaren
biblischen Regel mithilfe der Erfahrung und der Vernunft und unter dem ständigen Beistand des Geistes
Gottes!“
Wesley stirbt am 2. März 1791 in London und wird von sechs Armen bestattet, die dafür die respektable
Summe von einem Pfund erhalten. 1791 wird in den USA die Religionsfreiheit in die Verfassung
aufgenommen. Heute stellen die Methodisten neben den Katholiken die größte christliche
Konfessionsgemeinschaft in den USA dar. Insgesamt gibt es weltweit 70 Mio. Methodisten, in Europa
1,6 Mio., in Deutschland jedoch nur 40.000.
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Marie Durand (1715 – 1776)
Singen: O komm du Geist der Wahrheit 200,1-4
Rätsel: Drei Bilder nacheinander zeigen
1715 erblickt Marie Durand im südfranzösischen Dorf Le Bouchet-de-Prantes das Licht der Welt. Ihr
Vater Etienne Durand ist Gemeindeschreiber und - was noch entscheidender ist - Hugenotte. Er gehört
also in Frankreich mit seinen damals 20 Mio. Einwohnern einer Minderheit von ca. 730 000
calvinistisch geprägten Protestanten an. Es sind schwere Zeiten für die Hugenotten unter dem
Sonnenkönig Ludwig XIV. angebrochen: Der absolutistische König (der Staat bin ich) hat 1685 im
Edikt von Fontainebleau das Edikt von Nantes widerrufen und das katholische Bekenntnis zur
Staatsreligion erklärt und gleichzeitig die Praktizierung des protestantischen Glaubens verboten. Im
Edikt von Nantes hatte der damalige König Heinrich IV. 1598 den Protestanten in Frankreich Jahrzehnte
der Duldung beschert: sie durften ihre Gottesdienste feiern, hatten Zutritt zu allen Staatsämtern, waren
bürgerlich also gleichberechtigt. Damit war es ab 1685 vorbei. Ca. 150.000 bis 200.000 Hugenotten
flohen in den Jahren von 1685 bis 1730 aus Frankreich. Sie fanden in Deutschland (Preußen, Hessen,
aber auch Württemberg; z.B. ist Perouse, Stadtteil von Rutesheim, 1699 durch den Zuzug von 71
Hugenottenfamilien entstanden), England und Holland Aufnahme. Da aber die Auswanderung verboten
war, landeten diejenigen, die es versuchten, entweder auf dem Schafott oder auf der Galeere.
Wer von den Protestanten sich oder seine Kinder nur äußerlich von einem Priester taufen ließ, wurde
„Neubekehrter“ genannt. Der 58jährige Etienne Durand entzieht seine Tochter der katholischen Taufe.
Auch seinen 15jährigen Sohn Pierre hat er nicht katholisch taufen lassen. 1704 war er für kurze Zeit
verhaftet worden, weil er in seinem Haus evangelische Wanderprediger aufgenommen habe.
Das Jahr, in dem die kleine Marie geboren wird, ist auch das Todesjahr des Sonnenkönigs. Die
Protestanten schöpfen vorübergehend Hoffnung. Der erst 19jährige Prediger Antoine Court beruft
heimlich eine Versammlung der wenigen Prediger in der Provinz Languedoc ein. Sie versteht sich als
erste Synode der verfolgten „Kirche in der Wüste“ Offb 12,6. Es wird der Versuch gemacht, zum einen
ekstatisch-zügellose Prophetien in den Gemeinden einzudämmen. Dazu wird den Frauen das Predigen
verboten. Zum anderen soll das geordnete Prediger- und Ältestenamt wieder aufgebaut werden. Ganz
eifrig bei diesem gefahrvollen Neuaufbau der Gemeinden ist Maries Bruder Pierre dabei. Im Jahr 1719
bricht über die Familie Durand das Unglück herein. In einer Schlucht nahe bei Bouchet wird in der
Nacht vom 22. zum 23. Januar eine Versammlung unbemerkt durchgeführt. Eine Woche später wagt
Etienne Durand in seinem Haus eine weitere Zusammenkunft mit etwas 20 Personen. Dort predigt sein
Sohn Pierre, dessen Freund Pierre Rouvier liest Schriftworte vor. Für den Abend ist eine weitere
Versammlung in der Schlucht geplant. Doch ein Verräter, der beim Morgengottesdienst dabei war, zeigt
die plante Versammlung den Behörden an. Zwei Kompanien Soldaten dringen um Mitternacht in die
Schlucht ein, drei junge Mädchen werden verhaftet, die anderen entkommen. Pierre Durand flieht mit
seinem Freund Pierre Rouvier über die Schweizer Grenze. Aber: Seine Mutter Claudine Durand wird
kurz darauf verhaftet, ihr Haus zerstört. Sie selbst stirbt sieben Jahre später im Gefängnis.
Die beiden Freunde studieren Theologie in Genf. Pierre Rouvier kehrt bereits im Herbst 1719 wieder
zurück, wird verhaftet und lebenslang auf die Galeere verbannt. Pierre Durand folgt ihm im Herbst 1720
in sein Heimatdorf zu Vater und Schwester. 1724 verlobt er sich mit Anne Rouvier, der Schwester
seines Freundes Pierre. In diesem Jahr verschärft Ludwig XV. nochmals die grausamen Maßnahmen
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seines Vorgängers: alle evangelischen Prediger werden mit dem Tod bedroht. Trotzdem lässt sich Pierre
Durand am Schluss einer heimlich stattfindenden Synode 1726 zum Pastor ordinieren und heiratet im
Jahr darauf Anne Rouvier. Unter Lebensgefahr versieht er seinen Dienst als Wanderprediger in den
Cevennen.
Weil die Behörden ihn nicht fassen können, wollen sie sich seines Vaters bemächtigen. In der Frühe des
18. September 1728 durcheilt eine Schreckensnachricht das Dorf Bochet: Soldaten marschieren heran!
Etienne Durand vertraut seine 13jährige Tochter Marie seinen Nachbarn an und flieht in ein nahe
gelegenes Schloss. Die Soldaten nehmen als Beute aus dem Haus nur sein Tagebuch und eine Bibel mit.
Einige Wochen kann sich Etienne Durand in seinem Versteck aufhalten, dann wird er entdeckt. Er wird
dem stellvertretenden Präfekten Du Monteil vorgeführt, der ihn wegen seines Sohnes heftig beschimpft.
Der richte in Vivarais mehr Schaden an als Calvin in Frankreich und England. Und zwar durch die
verbotenen Eheschließungen, die er überall durchführe. Wenn Etienne Durand dem Gefängnis entgehen
wolle, solle er seinen Sohn Pierre überreden, das Königreich zu verlassen. Der 71jährige schreibt einen
Brief an seinen Sohn, mit ihm Erbarmen zu haben und seine verbotene Tätigkeit in Frankreich
einzustellen. Als Pierre den Brief erhält, spielt sich in seinem Herzen ein erschütternder Kampf ab. Soll
er seinem Gewissen folgen und bleiben? Oder soll er aus Rücksicht dem Vater gegenüber seine
Gemeinde verlassen? Er setzt einen Brief an den Militärkommandanten des Bezirks auf mit folgendem
Inhalt (Brief vorlesen)
Der mutige Brief kann das Schicksal des Vaters nicht wenden. Im Februar 1729 wird er förmlich
verhaftet und in dem auf einem Mittelmeerfelsen gelegenen Fort Brescou eingekerkert.
Die 14jährige Marie steht nun ganz allein da. Doch der um 25 Jahre ältere Matthieu Serre, ebenfalls ein
Hugenotte, steht ihr bei und wirbt um sie. Am 26. April 1730 heiraten die beiden, allerdings ohne
kirchlichen und familiären Segen, da Maries Bruder Pierre mit der Verbindung wegen des Alters von
Serre nicht einverstanden ist. Nur wenige Wochen sind die beiden beisammen, denn am 14. Juli 1730
werden beide verhaftet und für immer getrennt. Sie haben sich nie mehr wieder gesehen. Marie hat
später diese Ehe nur als flüchtige Episode in ihrem Leben betrachtet. Marie wird nach Aigues-Mortes in
den berüchtigten Turm der Standhaftigkeit (Tour de Constance) gebracht. Offizieller Grund: Man müsse
der Ausbreitung der hugenottischen Eheschließungen durch ein abschreckendes Beispiel entgegen
treten. Matthieu Serre wird nach Brescou geschafft, wo er die Gefangenschaft mit dem alten Vater
Durand teilt. Als Etienne Durand von der Kerkerhaft seiner 15jährigen Tochter erfährt, schreibt er ihr
am 17. September 1730 einen Brief, der sie nie erreicht hat (Brief vorlesen)
In der Tat: Marie braucht von Gott viel Mut. Man muss die gewaltige Kerkerfestung mit ihren fast zwei
km langen Mauern und ihrem 11 m hohen Mauerring und den zahlreichen Befestigungstürmen gesehen
haben, um das Schicksal der Gefangen erahnen zu können. Ludwig IX. hatte die Stadt inmitten der
Sumpflandschaft der Rhonemündung im 13. Jh. anlegen lassen, um einen Ausgangshafen für den von
ihm geplanten Kreuzzug zu haben.
Der Hauptturm, der Tour de Constance, ist 30 m hoch, bestehend aus zwei runden Stockwerken. Er trägt
oben ein Laternentürmchen, das für die Schiffe als Leuchtfeuer dient. 1686 werden dort erstmals
Hugenotten eingekerkert, die nicht von ihrem evangelischen Glauben lassen wollen. 16 Gefangene
sterben innerhalb weniger Monate. Der Mangel an Licht, Heizung und Pfleg lässt sie dahinsiechen.
Meist sind es weibliche Insassen. Als Marie eingeliefert wird, bevölkern ca. 30 Frauen das dunkle,
feuchte Gefängnis. Durch schmale Schießscharten, im Winter vernagelt, dringen Nebel, Kälte, Wind
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und Sonnenglut jederzeit ein. Sie erhellen ein Verlies mit 11 m Durchmesse, ein offenes Feuer
verqualmt den Raum, ein Strohsack ist die einzige Bleibe. Der Blick schweift jahraus, jahrein über die
Stadtmauern zu den Sümpfen, Kanälen und weiß schimmernden Salzhaufen bis hin zu den Cevennen,
der verlorenen Heimat.
Eine der Gefangenen ist blind, zwei andere sind gerade Mutter geworden. In diese Schicksalsgemeinschaft kommt Marie hinein. Im April 1731 wird die Schwiegermutter ihres Bruders Pierre in ihr Verlies
gebracht. Isabeau Rouvier hat nicht den bekennenden Eifer ihrer Tochter und ihres Sohnes. Aber ihre
Beteuerungen, nie an verbotenen Versammlungen teilgenommen zu haben und von evangelischen
Predigern sich fern gehalten zu haben, haben ihr nicht geholfen. Nun ist sie Gefangene wie Marie, die
viel unter ihrer lieblosen Haltung zu leiden hat. Isabeau klagt über ihren Schwiegersohn, Maries Bruder,
dass er das Glück der Familie zerstört habe. Marie versucht, der Frau mit gleich bleibender
Freundlichkeit zu begegnen. Ein Jahr zuvor ist Anne Durand bereits in die Schweiz geflohen, ihre
beiden Kinder muss sie bei Pflegeeltern zurücklassen. Ihr Mann besucht sie so häufig als möglich. Nach
wie vor gilt er als gefährlicher Aufwiegler, auf den eine hohe Belohnung ausgesetzt ist. Im Februar 1732
fällt er seinen Feinden durch Verrat in die Hände. In den Verhören bekennt er sich tapfer als
evangelischer Prediger, der Gott mehr zu gehorchen hat als den Menschen. Sorgsam vermeidet er in
seinen Aussagen, seine Glaubensgeschwister zu belasten. Der katholische Ortspriester verlangt von
Pierre bei einem Besuch in seiner Zelle finanzielle Entschädigung für die vielen hugenottischen
Trauungen. Die letzten Tage seines irdischen Lebens verbringt Pierre Durand in einem feuchten,
unterirdischen Gefängnis in Montpellier. Ein abgefallener Protestant kann ihn kurzzeitig aus der Bahn
werfen. Unter Weinkrämpfen erklärt Pierre sich bereit, mehr über die katholische Religion hören zu
wollen. Aber bald fängt er sich wieder und bleibt standhaft bei seinem Glaubensbekenntnis. Am 22.
April 1732 wird Pierre Durand das Todesurteil überbracht. Er ruft mit gefalteten Händen:
„Gelobt sei Gott! Dies ist der Tag, der allen meinen Leiden ein Ende bereitet, der Tag, an dem mich der
große Gott mit seinen köstlichsten Gnaden überschütten und mir das selige, ewige Glück geben wird.“
Er bittet nochmals um die Freilassung seiner Schwester und seines Vaters, dann wird er unter
Trommelwirbel und strömendem Regen zum Galgen geführt. Unerschrocken besteigt er die Leiter und
gibt dem Henker selbst das Zeichen.
Marie wird durch die Nachricht vom Tod ihres geliebten Bruders hart getroffen. Andererseits versteht
sie seinen Tod auch als Verpflichtung, selbst standhaft zu bleiben. Verständlicherweise wächst bei
manchen Frauen die Versuchung, dem evangelischen Glauben abzuschwören und sich dadurch die
Freiheit zu erkaufen. So gibt es im November 1735 eine Entlassung: Eine gewisse Antoinette Gonin
gewinnt die Freiheit, weil sie zur katholischen Religion übertritt.
Vom 31. Dezember 1736 datiert die erste von Marie Durand angefertigte Liste der Gefangenen. 20
Frauen sind aufgezählt. Ein glücklicher Monat für Marie wird der März 1737. Dort schließt sie mit einer
neu Eingelieferten, einer jungen Frau namens Isabeau Menet, eine innige Freundschaft. Isabeau hat ihr
kleines Kind bei sich, ihr Mann ist auf die Galeeren verbannt worden. Die protestantischen Gemeinden
unterstützen die Gefangenen leider nicht immer regelmäßig durch Geld- und Lebensmittelsendungen.
Wo sie eintreffen, werden sie im Turm gewissenhaft registriert und verteilt und den Spendern brieflich
gedankt. Marie ist dabei die Wortführerin. Von Zeit zu Zeit schreibt sie einen Brief an die Gemeinden
im Vivarais, um sie an ihre Verpflichtungen ihnen gegenüber zu erinnern.
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Nicht alle im Turm bleiben standhaft. In den Jahren 1740 bis 1743 sind es insgesamt sieben von ca. 30
Frauen, die ihren evangelischen Glauben verleugnen. Marie, die im Lauf der Jahre zur Seelsorgerin der
Gefangenen Frauen wird seufzt: „Das sind die schwersten Heimsuchungen, die über uns kommen
können, viel schwerer als Krankheit und Tod; darum liebe Schwestern, Resistez! Widersteht und betet,
dass nicht auch wir noch in Anfechtung fallen.“ Das Wort resister ritzt sie in einen Stein des Turmes, wo
er noch heute sichtbar ist.
Immer wieder flammt die Hoffnung auf Befreiung auf. Im November 1741 verwendet sich kein
Geringerer als Friedrich der Große beim französischen Außenminister für die Frauen von AiguesMortes. Eigentlich sind die Aussichten gut, denn der Preußenkönig ist ein Verbündeter von Ludwig XV.
Der Präfekt rät dem Minister aber, die Bitte abzulehnen mit folgender Begründung: Die Frauen wären
nicht wegen ihrer Ablehnung des katholischen Glaubens gefangen gesetzt, sondern weil sie den
Befehlen des Königs sich widersetzt hätten, indem sie Aufruhr angezettelt oder an verdächtigen
religiösen Versammlungen teilgenommen hätten.
Trotzdem git es auch gute Nachrichten: Im August 1743 erfährt Marie Durand, dass ihr inzwischen
86jähriger Vater aus dem Gefängnis entlassen worden ist. Er kehrt in sein verfallenes Haus in Bouchet
zurück und verbringt dort noch einige Jahre. Im Dezember 1746 muss Maries Freundin Isabeau ihren
inzwischen sechsjährigen Sohn ihrer Schwester zur Pflege weg geben.
Sorge bereitet Marie die Familie ihres Mannes. Nachdem ihr kleiner Neffe Jacques bereits 1740 mit 10
Jahren gestorben war, erliegt ihre Schwägerin am 8. September 1747 einem längeren Krankheitsleiden.
Nun lebt nur noch ihre 18jährige Nichte Anne. Hugenottische Flüchtlinge in Genf nehmen sich ihrer an.
Marie Durand begleitet durch viele liebevolle Briefe ihre Nichte, die sie noch nie gesehen hat, aus dem
Gefängnis.
1749 wird für Marie ein hartes Jahr: Zuerst stirbt ihr Vater mit 92 Jahren, dann verliert ihre beste
Freundin Isabeau Menet den Verstand. Sie wird am 3. März 1750 aus dem Turm entlassen. Ihr Bruder
holt sie ab. Sie stirbt 1758 in ihrem Heimatdorf. Am 27. November 1754 stirbt im Turm Isabeau Sautel,
die Schwiegermutter von Pierre Durand. Sie war seit neun Jahren gelähmt gewesen. Ihr verbittertes
Wesen hatte sich nicht gewandelt. Immer musste Marie sich von ihr Vorwürfe anhören. Anfang
Dezember 1754 stellt Marie wieder eine Gefangenenliste zusammen. Es sind 25 Frauen im Turm, 9 sind
seit Anfang 1746 verstorben. Die Älteste war eine blinde 80jährige mit 29 Jahren Gefangenschaft.
1756 schlägt Marie ihrer kränkelnden und trägen Nichte Marie vor, nach Frankreich zurück zu kehren.
Sie könne in den Quellen des Badeortes Balaruc Heilung für ihre Leiden suchen und sie auch im Turm
besuchen. 1759 endlich verlässt Anne Genf und nimmt eine Stellung als Kindermädchen in Nimes an.
Im Julie besucht sie ihre Tante im Gefängnis. Es ist die Zeit des siebenjährigen Krieges. Hoffnung keimt
auf, weil der französische König Ludwig XV. auch einen Teil der Reichtümer der katholischen Kirche
zur Kriegsfinanzierung heranzieht. Könnte er dann nicht das Häuflein Protestanten dulden? Aber die
Hoffnungen werden enttäuscht.
Groß ist auch die Enttäuschung bei Marie über Anne. Ihre Nichte hat ihr baufälliges Haus in Bouchet
bezogen, hat große Geldsorgen. Da umwirbt die 45jährige ein reicher Bewohner von Pranles, JeanClaude Cazeneuve, ein Katholik, ein 65jähriger Witwer. Er kann Anne auf seinem großen Besitztum ein
Leben in Wohlstand anbieten. Diese greift zu um den Preis, dass sie, die Tochter des protestantischen
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Märtyrers, die katholische Taufe empfängt. Am 2. Juni 1765 wird die Hochzeit gefeiert. Anne zieht in
das schöne Haus ihres Gatten, Maries Besitz in Bouchet wird einem Verwalter übergeben.
Die Zeit scheint über die Gefangenen in Aigues-Mortes hinweg zu gehen. 1767 sind es noch elf Frauen,
die jüngste davon ist 47 Jahre alt. Da kommt ein neuer Gefängniskommandant, de Canette, der das
Schicksal der Gefangenen endlich beendet sehen will. Er wendet sich an den Prinzen von Beauvau, den
Militärbefehlshaber der Provinz. Dieser setzt sich beim Minister für die Frauen ein und ringt ihm in
zähen Verhandlungen die Freilassung aller Inhaftierten ab. Die letzte Entlassung ist am 26. Dezember,
das Gefängnis wird für immer geschlossen. Marie Durand verlässt schon am 14. April den Turm, in dem
sie 38 Jahre ihres Lebens zugebracht hat. Sie kehrt körperlich gebrochen in ihr altes Haus in Bouchet
wieder zurück. Bei ihr sind ihre Leidensgenossin Marie Vey-Gutete sowie der entlassene GaleerenMärtyrer Alexander Chambon. Wegen der Schulden auf dem Haus drücken sie Geldsorgen. Ihre jetzt so
wohlhabende Nichte Anne rührt keinen Finger, das Los ihrer Tante zu erleichtern. Doch die reformierte
Kirche in Amsterdam erklärt sich bereit, jährliche eine größere Summe an Marie zu zahlen. Acht Jahre
lebt Marie Durand noch in der wiedergeschenkten Freiheit. Anfang Juli 1776 ruft der Herr sie heim. Der
Tod hat für sie seine Schrecken verloren. Auf sie wartet die Krone des Lebens, denn Jesus sagt: Wer
mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater.
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Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781)
Singen: Viele Wege gibt es auf dieser Welt 265,1-3
Rätsel: Heiteres Personenraten mit 10 Fragen (Ja/Nein-Antworten)
Einstieg: Selbstbeschreibung von Lessing
Lessing wird seine Beziehung zum Christentum und zur Kirche quasi in die Wiege gelegt. Er ist
Pfarrersohn nach dem Motto: Pfarrers Kind und Müllers Vieh geraten selten oder nie. Er wird am 22.
Januar 1729 im sächsischen Kamenz in der Lausitz geboren als drittes von insgesamt 12 Kindern, von
denen nur wenige alt werden. Sein Vater Johann Gottfried Lessing und seine Mutter, die Pfarrerstochter
Justina Salome geb. Feller haben 1725 geheiratet. Den ersten Unterricht erhält Lessing vom Vater, der
seit 1721 als Prediger in Kamenz wirkt. Er übernimmt nach dem Tod seines Schwiegervaters Gottfried
Feller 1733 dessen Pfarrstelle in Kamenz. Lessings Vater ist ein aufrechter, rechtgläubiger Mann, aber
auch aufbrausend. Verbittert hat ihn, dass sich seine akademische Laufbahn nicht erfüllt hat und er seine
schriftstellerischen Pläne nur teilweise ausführen kann. Sein Hauptwerk ist eine 1717 in Wittenberg
erschienene Verteidigungsschrift Luthers gegen seine späteren Kritiker. Auch fromme Verse übersetzt er
aus dem Englischen und Französischen. Von der Rechtgläubigkeit des Elternhauses, falls er sie je geteilt
hat, findet sich beim jungen Gotthold bald keine Spur mehr. Mit zwölf Jahren verlässt er das Elternhaus,
um nach vier Jahren Stadtschule in Kamenz ab Juni 1741 die Fürstenschule St. Afra in Meißen zu
besuchen. Die Aufnahmeprüfung an dieser berühmten Anstalt, die bekannt ist für ihre harte Zucht,
besteht er glänzend. Nach anfänglichen Konflikten mit der Schulordnung fügt der junge Lessing sich in
das Anstaltsleben ein. Aufgrund seiner hohen Begabung erwirbt fast spielerisch ein umfangreiches
Wissen. Sein Rektor bezeichnet ihn als „Pferd, das doppeltes Futter haben muss“ Zur Mathematik
entwickelt der junge Gotthold eine besondere Liebe, das Hauptgewicht aber liegt auf den alten Sprachen
Hebräisch, Griechisch und Latein, so dass Lessing nur wenig Zeit findet, sich mit der zeitgenössischen
schönen Literatur zu beschäftigen. Noch in seiner Schulzeit schreibt er sein erstes Drama mit dem Titel
„Der junge Gelehrte“.
Obwohl Meißen relativ von der Welt abgeschlossen ist, bekommt der junge Lessing doch schon früh
etwas von den Dramen auf der Weltbühne mit. Im Verlauf des zweiten Schlesischen Krieges zwischen
König Friedrich dem Großen von Preußen und Kaiserin Maria Theresia von Österreich 1744/45 werden
der Ort und die Schule in arge Mitleidenschaft gezogen. Mit dem Frieden von Dresden 1745, in dem
Österreich die Abtretung Schlesiens anerkennt, kehrt vorläufig Ruhe ein.
Lessing drängt es nach draußen. Ein Jahr vor der Zeit wird er in Meißen entlassen. So kann er bereits als
17jähriger im Herbst 1746 in Leipzig das Studium beginnen – dank eines Stipendiums. Auf Wunsch des
Vaters schreibt er sich in der Theologischen Fakultät ein. Aber Theologie studiert er dort sehr wenig,
trotz des gelehrten Theologieprofessors Johann Ernesti. Seine eigentlichen Lehrer in Leipzig werden der
Mathematiker Abraham Kästner und der Altertumswissenschaftler Johann Christ. Doch wichtiger als
alles Studieren wird ihm etwas anderes. Lessing dazu in der Rückschau: „Ich lernte einsehen, die Bücher
würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen.“ So begibt er sich in
Gesellschaft, um auch leben zu lernen. Er tanzt, fechtet, reitet, lebt sich in die Welt des Theaters ein,
befreundet sich mit der Schauspielerin Christiane Lorenz. Daneben betätigt er sich literarisch, verfasst
Gedichte usw. Den frommen Eltern ist dies ein Dorn im Auge. Unter dem Vorwand, die Mutter sei zu
Tode erkrankt, bewegen sie ihn im Frühjahr 1748 zu einem Besuch in Kamenz. Dort versöhnt man sich
einigermaßen, und Lessing kehrt zum Sommersemester nach Leipzig zurück. Dieses Mal immatrikuliert
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er sich im Fach Medizin, hört aber stattdessen lieber Vorlesungen an der philosophischen Fakultät in
Poetik, Ethik und Rhetorik. Weil er für Schauspieler gebürgt hat und dadurch in finanzielle Bedrängnis
geraten ist, siedelt er heimlich nach Wittenberg über. Der Aufenthalt dauert nur kurz, das
Medizinstudium nimmt er nicht wieder auf. Nach einer überstandenen Krankheit zieht es ihn nach
Berlin. Dort ist er von November 1748 bis Oktober 1755 ansässig. Vom überlieferten Glauben, den
seine Eltern miteinander teilen, distanziert er sich nun endgültig (Brief an die Eltern)
In Berlin regiert seit 1740 Friedrich II. genannt auch Friedrich der Große. Mit ihm ist zum ersten Mal
ein überzeugter Anhänger der Aufklärung auf dem preußischen Thron. Er steht in Verbindung zu dem
Religionskritiker Voltaire, mit dem Christentum kann er nichts anfangen. Sein Grundsatz lautet:
„Die Religionen müssen toleriert werden... hier muss jeder nach seiner Fasson selig werden.“
Durch den Einfluss von Friedrich dringt das Gedankengut der französischen Aufklärung in weite Kreise
des Bürgertums. Die Religion wird unter dem Blickwinkel der Moral gesehen, Tugend, ein deistischer
Gott und die Unsterblichkeit der Seele sind die drei Leitsterne der natürlichen Religion. Lessing betätigt
sich in seiner Berliner Zeit als freier Schriftsteller und Zeitungsrezensent. Durch einen Konflikt mit
Voltaire 1750 verscherzt er sich die Gunst Friedrichs des Großen. Dadurch verbaut er sich den
Karriereweg in den preußischen Staatsdienst, nämlich eine Anstellung an der Berliner Königlichen
Bibliothek. Für einige Zeit kehrt Lessing nochmals 1751 nach Wittenberg zurück, um im April 1752
durch den Magister der Sieben freien Künste sein Studium formell abzuschließen. Oktober 1755 siedelt
er von Berlin nach Leipzig über, tritt 1756 tritt als Begleiter eines Bildungsreisenden namens Winkler
eine Reise nach England an. Diese wird aber durch den Ausbruch des siebenjährigen Krieges schon in
Holland abgebrochen.
Halb Europa wird in diesen Krieg, der von 1756 bis 1763 dauert, hineingezogen. Preußen, Hannover,
Hessen und England auf der einen Seite und Österreich, Russland, Frankreich, Schweden und Sachsen
auf der anderen Seite ringen miteinander. Preußen kämpft dabei gegen eine 20fache Übermacht. 1759
vernichten österreichische und russische Truppen in der Schlacht bei Kunersdorf nahezu das gesamte
preußische Heer. Berlin wird geplündert. Preußen steht am Abgrund. In diesen wirren Kriegszeiten
pendelt Lessing zwischen Leipzig und Berlin. Unabhängig, wie er ist, verteidigt er, wenn er in Leipzig
ist, die Preußen, in Berlin dagegen die Sachsen. Gleichwohl tritt Lessing Ende 1760 in preußische
Dienste: Er wird Sekretär des Kommandanten von Breslau, General von Tauentzien. Der Dienst lässt
ihm Zeit für Studien, Geselligkeit und Spiel. Mit Leidenschaft frönt Lessing dem Lotto, und das einzige
Möbelstück, das sich aus seinem Besitz erhalten hat, ist ein Schachtisch. In dieser Zeit tritt die
Kriegswende ein. Obwohl Preußen so gut wie verloren scheint, rettet es die Uneinigkeit der siegreichen
Koalition (le miracle de la maison de Brandenbourg). 1762 verlässt Russland nach dem Tod der Zarin
Katharina der Großen das Bündnis mit Österreich. Kräftemangel zwingen Frankreich und Schweden zur
Aufgabe. Österreich, dessen Staatsschulden sich durch den Krieg fast verdreifacht haben, muss
einlenken. 1763 wird der Friede zu Hubertusburg geschlossen, ohne territoriale Veränderungen.
Preußen behält Schlesien und steigt zur fünften Großmacht Europas auf. An der Person und Leistung
Friedrichs des Großen entzündet sich ein erstes politisches Selbstbewusstsein und Nationalgefühl der
Deutschen. Lessing lässt sich davon allerdings nicht erfassen, bleibt auch hier kritisch-distanziert.
1765 kehrt Lessing nach Berlin zurück, wo ihn bald ein Ruf aus Hamburg erreicht: Er soll bei der
Gründung eines Nationaltheaters als Berater fungieren. Da er finanziell klamm ist und keine beruflichen
Perspektiven für sich in der Hauptstadt sieht (s. o.), geht er 1767 nach Hamburg. Das Nationaltheater, in
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dem Lessings Stück „Minna von Barnhelm“ uraufgeführt wird, muss aber bereits 1769 aus finanziellen
Gründen wieder eingestellt werden. Gleichzeitig scheitert Lessings Versuch, mit dem Übersetzer Bode
einen Autorenverlag zu gründen.
1769 bietet der Erbprinz des Herzogtums Braunschweig Lessing die Stelle des Bibliothekars an der
berühmten Bibliotheca Augusta in Wolfenbüttel an. Lessing, wieder in großen Geldsorgen, hat kaum
eine andere Wahl und tritt im Mai 1770 das Amt an. Leicht ist es nicht, denn aus der lebendigen
Hamburger Gesellschaft fühlt er sich in bittere Einsamkeit versetzt. Die Menschen, mit denen er
Umgang pflegen kann, wohnen in Braunschweig. Depression und Krankheit werden nun bei Lessing
häufige Gäste. 1771 wird Lessing in die Freimaurerloge „Zu den drei Rosen“ aufgenommen. Außerdem
verlobt er sich mit der Hamburger Kaufmannswitwe Eva König. Aber die Heirat zögert sich lange
hinaus. Nicht nur muss die Braut in langwierigen Verhandlungen ihre geschäftlichen Verhältnisse
ordnen. Auch Lessing selbst kommt erst 1776 in die finanzielle Lage, den Hausstand zu gründen. Am 8.
Oktober 1776 heiraten die beiden in Jork bei Hamburg. Am Weihnachtsabend 1777 gebiert sie einen
Sohn, Traugott, der aber den folgenden Tag nicht überlebt. Am 10. Januar 1778 stirbt auch Eva Lessing
an Kindbettfieber. In den drei Jahren, die Lessing noch bleiben, führt seine Stieftochter Amalie ihm den
Haushalt.
Lessing ist inzwischen weit bekannt. Er unternimmt 1775/76 mehrere Reisen, die nach Wien, Rom,
Turin, Venedig, Florenz, Genua, Mailand, Neapel und auf Korsika führen. Empfangen wird er unter
anderem von Kaiserin Maria Theresia, Kaiser Joseph II. und Papst Pius VI.
Lessing bleibt sein Leben lang ein Suchender nach Wahrheit (Ausspruch zur Suche).
Lessing ist gern ein Opportunist und hat Freude daran, die rechtgläubigen Theologen seiner Zeit zu
provozieren. Noch in seiner Hamburger Zeit machen ihm die Nachkommen des angesehenen
Gymnasialprofessors für Hebräisch und orientalische Sprachen Hermann Samuel Reimarus dessen
Manuskript zugänglich: „Apologie oder Schutzdrift für die vernünftigen Verehrer Gottes.“ Darin streitet
er für eine natürlich, vernünftige Religion ohne übernatürliche Offenbarung und übt beißende Kritik an
den Widersprüchen des christlichen Glaubens durch die Vernunft: das Volk Israel sie nie in der Weise
durch das Rote Meer durchgezogen, die Gottesoffenbarung am Sinai seien von Moses inszeniert
gewesen, Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft Christi seien Erfindungen der Apostel gewesen,
die ganzen protestantischen Lehren von der Trinität, der Erbsünde, der Rechtfertigung und dem
Endgericht würden das Gottesbild verzerren; die Kindertaufe, der Katechismusunterricht, die
Predigtweise in der protestantische Kirche würden nur einen blinden Glauben produzieren. Das Werk,
das Reimarus 1768 abgeschlossen hat, ist eine aufklärerische Generalabrechnung mit Bibel und Dogma.
Zunächst versucht Lessing, das gesamte Werk beim Voß-Verlag in Berlin zu veröffentlichen, scheitert
aber an der dortigen Zensur. Weil er jedoch für seine Veröffentlichungsreihe „Schätze der Herzoglichen
Bibliothek zu Wolfenbüttel“ alle Freiheiten genießt, benutzt er 1777/78 diese Reihe, um einzelne Teile
des Werkes von Reimarus zu veröffentlichen. Dabei tut er so, als ob es sich um eine Handschrift
handele, die er in der Bibliothek Wolfenbüttel aufgefunden hätte. Die Verfasserschaft des Reimarus
verschleiert er konsequent. Er spricht nur von den Fragmenten eines Ungenannten. Fünf Auszüge
publiziert Lessing, darunter die Abschnitte über den Durchzug durchs Rote Meer und die Auferstehung
Jesu. Hier lauten die Thesen des Reimarus: Die Israeliten, höchstens 6.000 Mann, entkamen den
Ägyptern, indem sie bei einem Wasser teilenden Sturm über das Meer flohen. Jesus ist nicht
auferstanden, sondern wahrscheinlicher ist, dass sein Leichnam durch die Jünger gestohlen wurde.
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Lessing löst eine breite Diskussion aus. Er identifiziert sich nicht einfach mit Reimarus. Aber er
akzeptiert dessen Ablehnung der heilsgeschichtlichen Grundlagen des Glaubens. Größtes Aufsehen
erregt sein literarischer Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze. Goeze
verteidigt den Offenbarungsglauben und greift Lessing an. Lessing verteidigt sich und greift Goeze an.
Der sog. Fragmentenstreit 1778 währt nur wenige Monate. Am 6. Juli 1778 hebt der Herzog die
Zensurfreiheit auf. Lessing muss sein handschriftliches Reimarus-Exemplar in Braunschweig abliefern.
Seither ist es verschollen.
1779 veröffentlicht Lessing das Schauspiel „Nathan der Weise“. Das Stück spielt in Jerusalem in der
Zeit der Kreuzzüge. In Wirklichkeit aber entspricht es ganz dem ausgehenden 18. Jhdt., den geistigen,
ökonomischen und politischen Zuständen vor der französischen Revolution. Noch liegt die Herrschaft in
den Händen absolutistischer Fürsten und Könige. Das wirtschaftlich aufgestiegene Bürgertum drängt
nach Macht und öffnet sich revolutionären Ideen. Hohe Staatsverschuldung und die Bemühung, das
Bürgertum zur Finanzierung heranzuziehen, wecken nicht nur in Frankreich Unruhe. Auf diesem
Hintergrund ist Nathan zu verstehen: Saladin ist der typische absolutistische Herrscher, Nathan der
Repräsentant des reich gewordenen Bürgertums. Er verkündet die Ideen der Aufklärung, für die er auch
Saladin gewinnen will. Höhepunkt ist die „Ringparabel“. In der Lehrerzählung geht es um die Frage,
welche der drei großen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – die wahre Religion sei.
Symbolisch sind die Religionen dargestellt durch drei Ringe, die der Vater auf seine Söhne vererbt hat.
Vorausgesetzt ist zunächst, dass ein Ring der echte, eine Religion die wahre ist. Aber das Urteil des
Richters ändert diese Voraussetzung: „O, so seid ihr alle drei betrogene Betrüger/Eure ringe sind alle
drei nicht echt. Der echte Ring ging vermutlich verloren.“ Eigenartig ist die Annahme, alle drei Ringe
seien einander vollkommen gleich, weil sie auf Geschichte gründen – Ja, aber sie gründen nicht auf
derselben Geschichte! Es ist gerade der besondere geschichtliche Ursprung, der den Unterschied der
Religionen begründet. Was jedoch als allen drei Religionen gemeinsam und in diesem Sinn als wahre
Religion angenommen wird, ist die christliche Ethik: „Es eifre jeder seiner unbestochen von Vorurteilen
freien Liebe nach! Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohl tun, mit innigster Ergebenheit in Gott.“
Kritik daran: Religion wird auf Ethik reduziert, Motivation für Ethik kommt nicht aus Einredungskünsten, Islam und Judentum kennen keine Diakonie, Christlicher Glaube ist keine Religion. Einzig
guter Gedanke: Toleranz!
1779 verschlechtert sich Lessings Gesundheitszustand. Dennoch ist er noch in der Lage, 1780 seine
kleine, aber bedeutendste theologische Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ zu verfassen.
Darin findet sich die Erwartung eines Zeitalters des Geistes, das den alten Bund des Moses und den
neuen Bund Jesu überholt. Auch Gedanken an eine Seelenwanderung aufgrund deren Unsterblichkeit
äußert Lessing. Seine Seele verlässt ihn in Braunschweig am 15. Februar 1781 im Haus des
Weinhändlers Angott nach 14-tägiger Bettlägerigkeit. Auch ihm ist es wie allen anderen Menschen
bestimmt, nur einmal zu sterben, danach aber das Gericht (Hebr. 9,27). Er selbst hat kurz vor seinem
Tod geäußert, wenn es in Europa ein Land gäbe, wo es weder Christen noch Juden gäbe, wäre er der
erste, der dorthin gehen würde. Lessings sterbliche Überreste werden auf dem Braunschweiger MagniFriedhof beigesetzt. Das Grab gilt längere Zeit als verschollen und wird erst 1833 von dem
Kunsthistoriker Carl Schiller wiederentdeckt.
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Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher (1768 – 1834)
Singen: Jesu geh voran 271,1-4
Silbenrätsel: Maschleicherer
Friedrich Daniel Schleiermacher wird am 21. November 1768 in Breslau geboren, wo er sein erstes
Lebensjahrzehnt verbringt. Sein Vater Gottlieb Schleiermacher ist preußischer Feldprediger, der die
Soldaten reformierten Bekenntnisses in den Garnisonen Schlesiens zu betreuen hat.
Da der Vater häufig auf Dienstreisen ist, fällt die Erziehung der Kinder – neben Friedrich die drei Jahre
jüngere Schwester Charlotte und der vier Jahre jüngere Bruder Carl – an die Mutter Catharina Maria
geb. Stubenrauch. 1778 siedelt die Familie nach Pleß in Oberschlesien über, 1779 nach Anhalt, wo der
Vater zusätzlich zum Feldpredigeramt ein Pfarrstelle der kleinen reformierten Gemeinde übernimmt.
Schleiermacher kommt also aus einer Pastorenfamilie. Wie der Vater waren die beiden Großväter
Theologen. Der Großvater Daniel Schleiermacher war als reformierter Prediger in Elberfeld mit einer
apokalyptischen Gemeinde des radikalen Pietismus in Verbindung gekommen, die sich um den
Bandfabrikaten Eller gesammelt hatte. Er war jahrelang deren Prediger in Ronsdorf bei Elberfeld
gewesen. Schließlich wurde er bei den Auseinandersetzungen um diese radikale Sondergemeinschaft der
Hexerei und Zauberei angeklagt. Bevor er verhaftet werden konnte, floh er. Schleiermachers Vater, in
seiner Jugend selbst Mitglied dieser Sekte, nahm sein Amt zunächst im Sinn der christlichen Aufklärung
an. Er gehörte einer Freimaurerloge an. Als 50jähriger ist er 1777, neun Jahre nach Schleiermachers
Geburt, der Brüdergemeine begegnet und zum Herrnhuter geworden. Rückblickend in einem Brief an
seinen Sohn urteilt er, er habe wenigstens 12 Jahre lang als wirklich Ungläubiger gepredigt.
Schleiermacher hat seinen Vater und seine Mutter zuletzt als 14jähriger gesehen. Die Mutter stirbt
wenige Monate später, der Vater, der bald wieder heiratet und in der zweiten Ehe zwei Kinder hat, stirbt
1794. Es bleibt auffällig, dass in elf Jahren kein Wiedersehen zustande gekommen ist. Dafür pflegt
Schleiermacher ein intensives Verhältnis zu seiner Schwester Charlotte und zu seinem Patenonkel
mütterlicherseits, Samuel Stubenrauch, der ihm mehrfach für längere Zeit bei sich aufnimmt.
Schleiermacher gehört wie sein Vater der reformierten Konfession an und damit einer Minderheit in
Preußen, die jedoch eine besondere Stellung hat, insofern das Herrscherhaus reformiert ist.
1782 entschließen sich die Eltern, ihre drei Kinder der Obhut der Brüdergemeine anzuvertrauen.
Friedrich und Carl werden 1783 in das Paedagogicum zu Niesky aufgenommen, Charlotte tritt in das
Schwesternhaus Gnadenfrei in Niederschlesien ein. Die Entstehung der Bruderunität verdankt sich dem
Reichsgrafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, der von Kindheit an pietistisch geprägt war. Da er in
seinem Oberlausitzer Besitztum einige Rechtsfreiheiten gegenüber der kursächsischen Landeskirche
besaß, konnte er dort in Herrnhut seit 1722 eine eigenständige Gemeinschaft aufbauen, die eine
Handwerkerkolonie mährischer Exulanten und deutsche Pietisten umschloss. Seit 1727 etablierte er eine
originelle Gemeindeordnung mit einer biblisch-überkonfessionellen Orientierung: die einzelnen
Angehörigen lebten in aktiven Kleingruppen, sog. Chöre für Knaben, Mädchen, Jungfrauen, Witwen,
Männer usw. zusammen, pflegten urchristliche Frömmigkeitsformen, seit 1728/29 auch die Losung,
musikalische Gottesdienste (Singstunde, Litanei) und eine reiche Liturgie (Agape, Fußwaschung,
Ostermorgenfeier auf dem Friedhof). Alles war getragen von einer emotionalen Jesusfrömmigkeit und
Heilsfreude sowie von dem Bedürfnis, Christi Erlösungswerk in alle Welt zu tragen. Seit 1732 entsandte
die Herrnhuter Gemeinde die ersten Missionare nach Lappland, Ceylon, Grönland, USA, Südafrika.
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Zinzendorfs Missionsimpulse sowie die Gründung neuer Gemeinden in Europa und Amerika führten zur
Entwicklung einer Freikirche. Zinzendorf hielt auch Kontakte zur Erweckungsbewegung in England und
Nordamerika. Durch Zinzendorfs Zutun kam es in Herrnhaag 1743-50 infolge enthusiastischer
Überspanntheiten zu einer schweren Krise durch absonderliche Fehlentwicklungen mit einem naiven
Heilandskult um Jesu Seitenhöhle, der Geschlechtsverkehr wurde als reales Abbild der mystischen
Vereinigung Christi mit seiner Braut angesehen usw. Zinzendorf verbot schließlich die Exzesse. Das
Erziehungswerk sollte die Kinder in den Umgang mit dem Heiland einüben. Die pädagogische Tradition
der Mähren spielte dabei eine wichtige Rolle. Das Paedagogicum seit 1760 in Niesky entwickelte sich
zu einer niveauvollen Lateinschule. Nach dem Tod Zinzendorfs 1760 fixierte man einige
Leitungsprinzipien in einer Verfassung sowie die herrnhutsche Theologie in einem Lehrbuch.
Schleiermacher wächst zunächst ganz in die herrnhutsche Frömmigkeit hinein in den ersten beiden
Jahren in Niesky. Als 16jähriger wechselt er dann in das herrnhutsche Seminar von Barby, unweit von
Magdeburg gelegen. Leben und Studium der ca. 20 Studierenden sind durch feste Regeln geordnet. Ihre
Lektüre unterliegt der Zensur, mit der Folge, dass die verbotene Literatur heimlich um so intensiver
gelesen wird. Schleiermacher hat im Einklang mit den Wünschen des Vaters Prediger werden wollen.
Durch eine Glaubenskrise wird er aus seinen religiösen und theologischen Überzeugungen heraus
geworfen. (Briefdialog)
Der Bruch mit der Brüdergemeine ist nicht Schleiermachers letztes Wort gewesen. Durch die
lebenslange enge Verbindung mit seiner Schwester Charlotte ist auch die Verbindung zur Gemeinde nie
abgerissen. Sein Verhältnis zu dieser hat er später so ausgedrückt: In der Religion sei er mit den
Herrnhutern einig, in der Theologie nicht. Deshalb nennt er sich später „Herrnhuter höherer Ordnung“.
Zum Studium der Theologie gegen den Willen des Vaters geht Schleiermacher 1787 für vier Semester
nach Halle an der Saale. Diese war 1694 vom reformierten brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III.
auf lutherisch geprägtem Gebiet gegründet worden. Die theologische Fakultät sollte ein Gegengewicht
bilden zu Wittenberg und Leipzig, den Zentren der lutherischen Orthodoxie. August Hermann Francke,
der sich 1687 bei der Predigtvorbereitung auf Jh. 20,31 bekehrt hatte, war seit 1692 Pfarrer in Glaucha,
baute seit 1695 zunächst ein Armenhaus auf, dann ein Waisenhaus und schließlich ein ganzes Netz von
Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, die sog. Franckeschen Stiftungen. An der Universität Halle
brachte Francke eine Reform des Theologiestudium nach Speners Ideen in Gang. Sie stellte die
Schriftauslegung in den Mittelpunkt, bezog sie unmittelbar auf die religiöse Praxis und verband durch
Predigtübungen an der Uni und durch pädagogische Betätigung in den Schulen das Studium mit den
Aufgaben des Pfarramts. Bis in die Mitte des 18. Jh.s hinein hielt durch entsprechende Berufungen die
in Deutschland einzigartige pietistische Prägung der theologischen Fakultät Halle.
Als Schleiermacher anfängt, ist Halle inzwischen fest in der Hand der aufgeklärten liberalen Theologen.
Ihr führender Vertreter, Johann Salomo Semler, seit 1754 in Halle Professor, kritisiert in seinem Werk
„Abhandlung von freier Untersuchung des Kanons“ 1771-75 erstmals die Entstehung des biblischen
Kanons. Er verzichtet auf die Inspirationslehre und zeigt die allmähliche Entstehung des Kanons und
den ungleichen Wert seiner verschiedenen Bestandteile. Göttlichen Ursprungs sei nur, was zur
moralischen Besserung diene, das übrige seien Zugeständnisse und Angleichungen von Jesus und den
Aposteln an die Zuhörer und für die Gegenwart bedeutungslos. Semler lehrt noch, als Schleiermacher
dort studiert. Allerdings stürzt er sich dort mehr auf die griechischen Philosophen, setzt sich mit Kant
auseinander. 1789 legt er mit 21 Jahren das theologische Examen ab. Seine Leistungen sind teils sehr
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gut, teils gut, nur im Fach Dogmatik mit „ziemlich“ beurteilt. Zunächst wartet Schleiermacher wie alle
anderen jungen Theologen auf eine Pfarrstelle – insgesamt sechseinhalb Jahre. Er wird nacheinander
Hauslehrer bei einer Grafenfamilie in Ostpreußen, Lehrer an einem Berliner Seminar, Hilfsprediger in
Landsberg. Während dieser Zeit finden in Frankreich große Umwälzungen statt, die ihre Schatten auch
auf Preußen und damit auf Schleiermachers Leben werfen. 1789 bricht die französische Revolution über
die katholische Kirche herein: Noch im gleichen Jahr wird das gesamte Kirchengut für
Nationaleigentum erklärt, 1790 wird durch die Zivilkonstitution des Klerus die kirchliche Verwaltung
der staatlichen eingeordnet (Wahl des Pfarrers durch sämtliche Bürger, auch Juden und Protestanten,
Wahl des Bischofs durch staatliche Departementverwaltung, 83 Bistümer entsprechend den 83
Departements), 1792 werden 40.000 Priester, die den Eid auf diese Konstitution verweigern, vertrieben,
1793 werden die christliche Zeitrechnung und die christlichen Feste abgeschafft und 2.000 Kirchen im
Kirchensturm verwüstet, 1795 wird wieder die Religionsfreiheit hergestellt. Die Republik selbst gilt als
religionslos.
Schleiermacher bekommt diese Entwicklungen in Preußen natürlich mit. 1796 wird er endlich Prediger
an der Berliner Charite. Da er nur für die reformierten Patienten des Krankenhauses zuständig ist, lassen
ihm die amtlichen Pflichten viel Zeit für private Studien und für die Pflege von Freundschaften mit dem
Dichter Friedrich Schlegel und der Arztfrau Henriette Herz. Was Schleiermacher in dieser Zeit bewegt,
sind die Traditionsabbrüche und die Entchristlichung in den gebildeten Schichten der Bevölkerung.
Durch die Aufklärung wird zum ersten Mal massiv die Bedeutung des christlichen Glaubens für das
Leben grundsätzlich in Frage gestellt. Einhergehend mit der industriellen Revolution, der politischen
Demokratisierung, dem sozialen Wandel und der technischen Fortschritte wird die Kluft zwischen
öffentlicher kirchlicher Praxis und privat gepflegter Frömmigkeit immer größer. Als er bei der Feier
seines 29. Geburtstags seinen Freunden verspricht, binnen Jahresfrist ein Buch zu schreiben, nimmt er
sich dieser Thematik an. 1799 veröffentlicht Schleiermacher, ohne sich als Autor zu nennen, seine
berühmteste Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern.“ Er grenzt
sich in dieser Schrift sowohl gegen ein aufklärerisches Verständnis von Religion als Moral sowie gegen
ein lutherisch-konservatives Verständnis von Religion als Metaphysik (über das sinnlich Erfahrbare
Hinausgehende) ab. Religion definiert er ganz im Sinn neuzeitlicher Subjektivität als selbstständige,
notwendige Dimension menschlichen Lebens. Ihr Wesen besteht nicht im Denken oder im Handeln,
sondern in Anschauung und Gefühl, im unmittelbaren Erleben des Unendlichen bzw. des Seins Gottes
als Universum (Pantheismus). Der Religion eigne das Gesellige als konstitutives Element an, die
Mitteilung an andere und die Bildung von Gemeinschaften (also kein Individualglaube). Ihre Vollgestalt
finde sie im Christentum als Religion der Religionen, weil diese das Absolute mit dem Endlichen
vermittle in der Person Jesu Christi. Jesus. Jesus Christus ist für Schleiermacher ein vergotteter Mensch,
der in besonderer Weise sich der Ursprünglichkeit seiner Religiosität bewusst war. Er habe nie
behauptet, der einzige Mittler zu sein, so wie die Bibel keinem anderen Buch verbiete, auch zur Bibel zu
werden. Daher dürfe das Christentum keinen Exklusivitätsanspruch erheben, die einzig richtige
Wirklichkeitswahrnehmung zu haben. Die bestehende Kirche sei eine Vereinigung solcher, die die
Religion erst suchen. Schleiermacher plädiert dabei für die Ablösung der Parochialgemeinden durch
Personalgemeinden, die sich ihren Pfarrer selbst wählen. Als Grundschaden des bestehenden
Kirchenwesens macht er die staatskirchliche Verfassung der Religion namhaft. Er fordert die Trennung
von Kirche von Staat, wie sie in der Französischen Revolution vollzogen worden sei.
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1802 verlässt Schleiermacher Berlin und damit den inzwischen spannungs- und wirrenreichen Kreis der
dortigen Freunde. Er übernimmt die Stelle des reformierten Hofpredigers im pommerschen Stolpe, die
80 Jahre zuvor sein Großvater Stubenrauch inne gehabt hatte. Er gewinnt damit zumindest räumlich
auch Distanz zu einem persönlichen Problem. Er hat gehofft, die Frau eines Berliner Predigers zu
heiraten, Eleonore Grunow. Schleiermacher hat ihr zur Trennung von ihrem ungeliebten Ehemann
geraten und jahrelang auf ihre Entscheidung gewartet. Eleonore Grunow entschließt sich dann 1805
endgültig, bei ihrem Mann zu bleiben. Schleiermacher empfindet seine Zeit in dem 4000-EinwohnerStädtchen als Exil. Da seine Gemeinde nur die 250 Reformierten umfasst, hat er viel Zeit für private
Arbeiten. Er beginnt mit der Übersetzung der Schriften Platos. Während dessen erfolgt der
Zusammenbruch des alten Deutschen Reiches und der katholischen Kirche in Deutschland in der
bisherigen Form. Bereits 1797 erzwingt Napoleon im Frieden von Luneville den Kongress zur
Abtretung des linken Rheinufers. Damit gehen die drei geistlichen Kurfürstentümer Mainz, Köln und
Trier ihrer linksrheinischen Gebiete verlustig. 1803 schließlich vollzieht sich die Neuordnung
Deutschlands durch Napoleon im Reichsdeputationshauptschluss von Regensburg. Nun werden auch
noch sämtliche rechtsrheinischen geistlichen Gebiete säkularisiert. Bei der territorialen Neuordnung
werden viele evangelische Gebiete mit katholischen zu einem Staatswesen vereinigt. Damit beginnt die
Auflösung der konfessionellen Geschlossenheit deutscher Territorien, wie sie seit dem Augsburger
Religionsfrieden von 1555 festgeschrieben worden war. Die Landesherren erhalten das Recht, mit den
ihnen zugewiesenen Gebieten nach Belieben zu verfahren. Infolgedessen werden viele Klöster aufgelöst,
viele Priester müssen sich eine bürgerliche Existenz aufbauen.
1804 erhält Schleiermacher einen Ruf als außerordentlicher Professor und Universitätsprediger nach
Halle, der bedeutendsten preußischen Universität mit ca. 1000 Studenten. Sein dort neu gewonnener
Freund Professor Steffens beschreibt Schleiermacher wie folgt: „Schleiermacher war bekanntlich klein
von Wuchs, etwas verwachsen, doch so, das es ihn kaum entstellte. Inn allen seinen Bewegungen war er
lebhaft, seine Gesichtszüge höchst bedeutend. Etwas Scharfes in seinem Blick mochte vielleicht
zurückstoßend wirken. Er schien in der Tat einen jeden zu durchschauen...“
Schleiermacher lehrt in Halle nur zwei Jahre. Im August 1806 verzichtet Franz II. unter dem Druck
Napoleons auf die Kaiserkrone. Damit endet das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das immer
mit der katholischen Kirche aufs engste verbunden war. Preußen entgeht selbst nur knapp dem
Untergang. Nach der vernichtenden Niederlage Preußens gegen Napoleon in der Doppelschlacht bei
Jena und Auerstedt im Oktober 1806 wird Halle von französischen Truppen besetzt, die Universität
geschlossen. Der König Friedrich Wilhelm III. flieht nach Ostpreußen. Napoleon zieht kampflos in
Berlin ein, beschränkt das preußische Heer auf 42.000 Mann. Im Juli 1807 wird der Friede von Tilsit
geschlossen: Preußen entgeht nur durch russischen Einspruch der Auflösung. Es verliert seine
polnischen Gebiete sowie seinen westelbischen Besitz. Halle fällt dadurch an das neue Königreich
Westfalen.
Schleiermacher siedelt Ende 1807 nach Berlin über. Er steht dort in enger Verbindung mit den Führern
der preußischen Reform, so auch mit Freiherr von Stein. Dieser führt nicht nur 1807/08 die bäuerliche
Leibeigenschaft ab und die kommunale Selbstverwaltung ein, sondern bittet auch Schleiermacher, einen
Entwurf für eine neue Verfassung der preußischen Kirche auszuarbeiten. Im selben Jahr beteiligt sich
Schleiermacher an geheimen Plänen zu einem Aufstand gegen die französischen Besatzertruppen.
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Schleiermacher wird 1809 reformierter Prediger an der Dreifaltigkeitskirche, wo er großen Zulauf hat
(Anekdote). Zu Schleiermachers Konfirmanden zählt 1831 auch ein gewisser Otto von Bismarck.
Mit 41 Jahren heiratet Schleiermacher die 20 Jahre jüngere Pfarrerswitwe Henriette Mühlenfels. Zu den
zwei Kinder aus der ersten Ehe seiner Frau kommen im Lauf der Zeit noch drei eigene Töchter sowie
der 1820 geborene Sohn Nathanael, der im Alter von neun Jahren stirbt. 1810 wird Schleiermacher
Professor an der von Humboldt neu gegründeten Berliner Universität und ihr erster Dekan. Er hält vor
den zunächst 29 Theologen und 230 weiteren Studenten Vorlesungen nicht nur über Theologie, sondern
auch über Philosophie, Pädagogik, Ästhetik, Politik, Psychologie, Geschichte. Damit gehört er mit
Augustin, Thomas von Aquin und Luther zu wenigen bahn brechenden christlichen Denkern, die über
Jahrhunderte fortwirken. Von 1810 an ist er als Mitglied der Unterrichtssektion im Innenministerium an
der Reform des preußischen Schulwesens mit Einführung des Abiturs beteiligt. Anfang 1813 erhebt sich
Preußen gegen Napoleon nach dessen gescheitertem Russlandfeldzug und verbündet sich mit Österreich,
England und Russland gegen Frankreich. Der Sieg der Koalition in der Völkerschlacht bei Leipzig mit
über 100.000 Toten und Verwundeten bedeutet die Befreiung. 1814 wird Napoleon auf Elba verbannt,
kehrt nochmals für 100 Tage zurück und wird 1815 in Waterloo endgültig besiegt und nach St. Helena
verbannt. 1815 wird im Zuge der staatlichen Neuordnung auf dem Wiener Kongress der Deutsche Bund
aus der Taufe gehoben. In Artikel 16 wird allen Angehörigen der christlichen Konfessionen in allen
Bundesländern volle bürgerliche und politische Gleichberechtigung gewährt. Damit ist der
konfessionelle durch den paritätischen Staat ersetzt.
Im Gefolge dieser Befreiungskriege kommt es zur national-patriotischen und demokratischrepublikanischen Ideen in Deutschland. Doch die Herrscherhäuser wollen nach dem Sieg über Napoleon
eine politische Restauration. Liberale und demokratische Ideen werden in der Biedermeierzeit von der
Obrigkeit gewaltsam unterdrückt. Auch Schleiermacher gerät unter politischen Verdacht. Seine
Predigten werden überwacht, sein Haus mehrmals nach Briefen durchsucht, 1823 wird er dreimal auf
dem Polizeipräsidium verhört.
Es kommt aber auch im Zuge der Befreiungskriege zu religiösen Aufbrüchen in Deutschland. Deutsche
Studenten gründen am 17. Oktober 1817 in romantisch-patriotisch-religiöser Begeisterung auf dem
Wartburgfest die deutsche Burschenschaft. Pastor Claus Harms in Kiel gibt anlässlich des 300jährigen
Reformationsjubiläums 95 neue Thesen heraus, die starken Widerhall finden. Claus Harms, ein
ehemaliger Müllerbursche, hat als Student beim Lesen von Schleiermachers Reden eine religiöse Wende
erfahren, die er im Rückblick als Geburtsstunde seines höheren Lebens bezeichnet. Durch die
Erweckungsbewegung, gespeist aus politischem Aufbruch und apokalyptischer Erwartung entsteht der
Neupietismus.
Schleiermacher wirkt auch an der Reform des preußischen Kirchenwesens mit, allerdings oft in der
Auseinandersetzung mit seinem summus episcopus, König Friedrich Wilhelm III. Die großen Themen
der Reformdebatte sind 1. die Kirchenverfassung, 2 die Union und 3. die Gottesdienstordnung.
Die Kirchenverfassung: Schleiermacher plädiert nicht mehr wie 1799 für eine Trennung von Kirche und
Staat, wohl aber für die Selbstständigkeit der Kirche im Staat, für eigene kirchliche Verfassungsorgane,
für eine Synodalverfassung. Der preußische Kultusminister verfügt 1816 zwar die Organisation von
Presbyterien und Provinzialsynoden, stellt sogar eine Generalsynode in Aussicht. Doch 1827/28 werden
diese organisatorischen Neuanfänge wieder eingestellt, die Generalsuperintendenten sollen die
Provinzialkonsistorien unter den Willen des Königs beugen. Nur in den westlichen Provinzen gibt es
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einen Teilsieg mit der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung von 1835, die Synodalverfassung (KGR,
Kreissynoden, Landessynode) und landesherrliches Kirchenregiment (Generalsuperintendenten,
Konsistorien) vereint. Es ist ein letzter Sieg des fürstlichen Absolutismus.
Die Union: Bereits 1804 hat Schleiermacher für eine Aufhebung der Trennung zwischen reformierter
und lutherischer Kirche plädiert. In Preußen lag das insofern auch nahe, da das Herrscherhaus seit 1613
reformiert war. Friedrich Wilhelm III. fordert am 27. September 1817 dazu auf, das bevorstehende
Reformationsjubiläum durch eine protestantische Union zu krönen. Schon davor hat die Berliner
Geistlichkeit unter dem Vorsitz Schleiermachers beschlossen, am Reformationsfest durch eine
gemeinsame Abendmahlsfeier die Union zu schließen. So kommt es am 31. Oktober 1817 zur Union in
Berlin und Potsdam sowie in der Provinz Rheinland-Westfalen; allerdings nehmen nur wenige
Gemeinde in den östlichen Provinzen den Unionsritus an. Als der König 1830 anlässlich des
300jährigen Jubiläums des Augsburger Bekenntnisses die Union in widerspenstigen Gemeinden
gewaltsam durchführen will, kommt es zur Abspaltung der altlutherischen Gemeinden. Der König lässt
daraufhin deren Kirchen teilweise abreißen und deren Pfarrer verhaften. Erst sein Nachfolger Friedrich
Wilhelm IV. hebt 1834 die Zwangsmaßnahmen auf, kann aber die Gründung der Ev-luth. Kirche in
Preußen 1841 nicht verhindern (zwischen 40 000 und 60 000 Mitglieder).
Die Gottesdienstordnung: 1816 führt der König eine selbst verfasste, altertümliche Liturgie im Berliner
Dom und in den Berliner Garnisonskirchen ein, 1822 seine Kirchenagende im Heer und im Berliner
Dom, um die freiwillige Annahme eines einheitlichen Gottesdienstes in ganz Preußen zu erreichen. Er
beruft sich dabei auf sein liturgisches Recht als Landesherr und oberster Bischof. Dem widerspricht
Schleiermacher auf das Schärfste. Er erwägt sogar die Trennung von der preußischen Kirche und die
Gründung einer freien Gemeinde. 1827 geht der König einen Kompromiss ein: einzelne Provinzen wie
Pommern und Rheinland-Westfalen dürfen parallel auch ihre Agenden weiterhin benutzen.
Schleiermacher stirbt hoch angesehen am 12. Februar 1834 im 66. Lebensjahr an einer
Lungenentzündung. Unmittelbar vor seinem Tod feiert er mit seiner Familie das Abendmahl.
Am 15. Februar wird er unter großer Anteilnahme der Berliner Bevölkerung – 20.000 bis 30.000
Menschen begleiten den Trauerzug – auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde beigesetzt.
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Papst Pius IX. (1792 – 1878)
Singen: Großer Gott, wir loben dich 5,1-3
Rätsel:
1. Teil: Was will die Frau des Fischers werden und ist trotzdem nicht so schön wie das Amt des SPDVorsitzenden?
2. Teil: der lateinische Name gibt das Deutsche „Der Fromme“ wieder
3. Teil: ergibt sich aus 27 : 9 x 3
Der Mann, der als Papst des Kulturkampfes und der Unfehlbarkeit in die Geschichte eingeht, wird als
Giovanni Maria Mastai-Ferreti am 13. Mai 1792 in Senigallia im Kirchenstaat geboren. Die Familie
gehört zum kleinen Provinzadel und pflegte innige Frömmigkeit, ist aber auch offen für Reformen und
gegen die reaktionäre Polizeistaatlichkeit im Kirchenstaat. Das Schicksal von Giovannis Mastais
Geschwister entspricht wenig der Vorstellung eines guten katholischen Hauses: Die Ehe seiner
Schwester Isabella scheitert und drei seiner Brüder nehmen am Aufstand von 1831 im Kirchenstaat teil.
Giovanni selbst leidet in seiner Jugendzeit unter epileptischen Anfällen, die zu seiner Entlassung vom
Kolleg von Volterra führen, wo er seine ersten Studien aufgenommen hat. Zum Priestertum zieht es ihn
keineswegs schon zu Beginn. Er will in Rom in die Nobelgarde aufgenommen werden, was ihm wegen
seiner Krankheit verwehrt bleibt.
Es ist eine bewegte Zeit, in der Giovanni aufwächst. Österreich und Frankreich ringen vom Ende des 18.
bis zur Mitte des 19. Jh.s um die Vorherrschaft in Italien. Napoleon hat 1809 den Kirchenstaat annektiert
und Papst Pius VII. gefangen nehmen und 1812 nach Frankreich schleppen lassen. 1814 erklärt sich
Napoleon zur Wiederherstellung des Kirchenstaates bereit, muss dann abdanken und noch im gleichen
Jahr stellt Papst Pius VII. den Jesuitenorden wieder her. Die Gesellschaft Jesu setzt sich rasch von
neuem in allen Ländern fest und wird im 19. Jh. der führende Orden der katholischen Kirche. Dies führt
zu einem Erstarken des Papalismus mit strengem Autoritätsglauben und reaktionärer
Kulturfeindlichkeit.
Mit 24 Jahren entschließt sich Giovanni für das Priesteramt, studiert in Rom eher oberflächlich und
bruchstückhaft drei Jahre, wird 1819 zum Priester geweiht, wofür er wegen seiner epileptischen
Störungen einen Dispens benötigt. Eine tiefere geistliche Prägung erhält er in den Jahren danach durch
die Gesellschaft Jesu, die Jesuiten, denen er beinahe beitritt. 1823 reist er nach Chile, um die infolge der
Revolution gegen die spanische Herrschaft völlig verwirrten kirchlichen Verhältnisse neu zu ordnen. Es
wird die einzige Reise des späteren Papstes außerhalb Italiens bleiben.
Seelsorgerlicher Eifer, spontane Menschlichkeit und Kontaktfähigkeit sowie Organisations- und
Führungstalent lassen ihn immer höher die kirchliche Karriereleiter aufsteigen: So wird er 1827
Erzbischof von Spoleto. Die Julirevolution 1830 in Frankreich, die ausgelöst durch Pressezensur,
Wahlrechtsänderung und Kammerauflösung den bourbonischen König Karl X. zur Flucht nach England
zwingt, führt zu Aufständen im Kirchenstaat. Dort haben dank Napoleon von 1797 bis 1800 und von
1809 bis 1814 bereits republikanische Verhältnisse geherrscht. Da französische Hilfe für die
Republikaner aber ausbleibt, kann Papst Gregor XVI. mit Hilfe der Österreicher alle revolutionären
Bewegungen unterdrücken und stellt Bologna unter militärische Aufsicht. Giovanni muss für seine drei
Brüder Fürsprache beim Heiligen Stuhl einlegen, um sie vor härteren Strafen zu bewahren.
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1832 wird er zum Bischof von Imola ernannt. Er versucht dabei eine mittlere Linie zwischen den
Liberalen und den Reaktionären einzuhalten. Er ist dabei von der Notwendigkeit äußerer Reformen
überzeugt, vorausgesetzt, sie gefährden nicht das Grundprinzip der päpstlichen Herrschaft im
Kirchenstaat. Zum Papst gewählt wird Mastai am 16. Juni 1846 nach einer Konklave von nur zwei
Tagen. Sein Gegenkandidat war der von den Österreichern geförderte reaktionäre Kardinal
Lambruscini.
Geprägt ist die Persönlichkeit des neuen Papstes
1. von einer tiefen Frömmigkeit, die ihn auf göttliche Führung vertrauen lässt
2. von einem schlichtem Intellekt, der ihm Volksnähe erleichtert: Er ist ein Papst, der auch auf
Spaziergängen außerhalb der Mauern Roms einfache Menschen anspricht und mit ihnen plaudert
3. von einer impulsiven Art, die ihn ausgeglichen erscheinen lassen
4. von Humor: Pius macht gern Witze, auch ironische auf Kosten anderer, die nicht selten verletzend
und deplaziert sind. (Beispiel)
In den ersten Jahren seines Pontifikats will Pius gemäßigte Reformen einführen: Amnestie für politisch
Gefangene, Bau von Eisenbahnlinien, Einführung einer beratenden Kammer. Aber diese Reformen
werden nicht konsequent durchgeführt, mal verzögert, mal zurückgenommen, mal verändert usw.
Schließlich wird im März 1848 doch noch eine Verfassung im Kirchenstaat eingeführt, der Papst gilt als
vermeintlich liberal und beispielhaft für reformwillige Fürsten. Dann überschlagen sich die Ereignisse.
Die patriotische Bewegung erhebt sich im Frühjahr 1848 in Oberitalien und will sich vom Joch
österreichischer Fremdherrschaft befreien. Sie hofft auf den Papst, der durchaus Sympathien für die
lombardischen Aufständischen hat. Doch Pius lehnt in der Ansprache vom 29. April 1848 die Forderung
nach einer Teilnahme am Krieg gegen Österreich ab, hin und her gerissen zwischen seinem italienischen
nationalen Empfinden und seiner universalen Verpflichtung als Papst und Vater aller Katholiken. Die
Dinge gleiten ihm aus der Hand: Sein gemäßigter Regierungsbeauftragter Rossi im Kirchenstaat kann es
weder der revolutionären noch der reaktionären Seite recht machen und fällt am 15. November 1848
einem Attentat zum Opfer. Puis IX. muss am 24. November 1848 verkleidet nach Süditalien fliehen.
Anfang 1849 konstituiert sich die Römische Republik auf dem Boden des Kirchenstaates.
Pius vollzieht im Exil eine Wende vom mehr liberalen zum reaktionäreren Positionen. Er sieht seinen
Versuch, den absolutistisch geführten Kirchenstaat von oben her durch eine Verfassung zu
demokratisieren, als gescheitert an. Er reagiert darauf aber zunächst nicht politisch, sondern religiös. In
den ersten Tagen nach der Flucht betet er viel.
Nachdem französische und österreichische Truppen die revolutionäre Bewegung in Rom
niedergeschlagen haben, kehrt Pius 1850 zurück. Er und sein Staatssekretär Antonelli fördern zum einen
den jesuitischen Einfluss, nicht zuletzt durch eine schlagkräftige Presse und der Organisation einer
Vielzahl von Vereinen (z.B. Piusvereine  Piusbruderschaft), um die Massen einzubinden. Dagegen
wehrt sich Pius massiv gegen eine aktivere Rolle der Gläubigen bei Kirchenreformen auf dem
Hintergrund des Scheiterns seiner politischen Reformen von 1848. Der Papst schätzt die Jesuiten wegen
ihrer Einsatzbereitschaft für seine Sache in den Auseinandersetzungen um den Kirchenstaat und geht
darum ein Zweckbündnis mit ihnen ein. Zum anderen inszeniert Pius sein Papsttum: Durch große
Bischofsversammlungen, z. B. bei der Kanonisation der japanischen Märtyrer 1862 oder der 1800Jahrfeier des Martyriums von Petrus und Paulus; durch eine Vervielfältigung seiner Audienzen für
Gruppen und Einzelpersonen. Durch seinen Charme und seine Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen,
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erreicht Pius eine Popularität wie später nur noch Johannes XXIII. und Johannes Paul II. Dadurch tritt
die Papstverehrung als einigendes Band mehr und mehr anstelle der Kirchenbindung. Jetzt reist man als
Pilger nach Rom, nicht um an den Gräbern der Apostel zu beten, sondern um den Papst zu sehen. In den
1860er Jahren verstärkt sich diese Papstverehrung, weil die Fortschritte des Liberalismus und die
Bedrohung und Zerstückelung des Kirchenstaates den Papst als Märtyrer dastehen lassen.
Durch die beginnende italienische Einigung muss nämlich 1859/60 der Papst über zwei Drittel seines
Territoriums an den neuen italienischen Nationalstaat abtreten. Nur französische Schutztruppen von
Kaiser Napoleon III., Neffe Napoleons I., verhindern eine völlige Übernahme. 1860/61 laufen in Rom
Verhandlungen, wobei der italienische Ministerpräsident Cavour bereit ist, dem Papst für den Verzicht
auf den Kirchenstaat die volle Freiheit der Kirche und den Verzicht auf alle staatskirchlichen
Einengungen in der italienischen Gesetzgebung zu gewähren. Doch Pius bleibt unnachgiebig, teils
wegen seiner reaktionären Berater, teils wegen der kirchenfeindlichen Maßnahmen in den annektierten
Provinzen, vor allem der Klosteraufhebungen. Der Papst sieht das Ganze zudem religiös als Kampf
zwischen Gott und den satanischen Mächten, nicht als politisch-gesellschaftlichen Übergangsprozess.
Das 1861 proklamierte Königreich Italien erklärt im gleichen Jahr Rom zur zukünftigen Hauptstadt, aber
der Pius besteht auf seinem Recht als weltlicher Souverän, als Papst-König.
Aber der Papst ist nicht mehr der Handelnde, sondern Zuschauer. Im Juli 1870 erklärt Frankreich
Preußen den Krieg, weil es eine deutsche Vorherrschaft in Europa fürchtet aufgrund der spanischen
Thronkandidatur eines Deutschen. Am 1. September wird Kaiser Napoleon III. nach der von ihm
verlorenen Schlacht bei Sedan gefangen genommen. Am 4. September 1870 wird die Dritte Republik in
Frankreich ausgerufen, die Deutschen belagern nun Paris. Seiner französischen Schutzmacht verlustig
muss Pius zuschauen, wie am 20. September 1870 italienische Truppen in den Restkirchenstaat
einmarschieren und Rom erobern. Eine römische Volksabstimmung entscheidet mit 133 000 gegen 1
500 Stimmen den Anschluss an das Königreich Italien und besiegelt damit den endgültigen Untergang
des Kirchenstaates. Am 21. Dezember 1870 verlegt König Viktor Emanuel II., über den Pius IX. den
Bann verhängt hatte, seine Residenz nach Rom. Das Garantiegesetz vom 13. Mai 1871 gewährt dem
Papst den Rang eines Souveräns mit dem Recht des diplomatischen Verkehrs, den Vatikan, den Lateran,
die Villa Catel Gandolfo und eine Jahresrente von 3 225 000 Lire. Der Papst weist das Gesetz und die
Erhebung der Rente zurück und wird von da an der Gefangene des Vatikans, bis 1929 der faschistische
Diktator Mussolini in den sog. Lateranverträgen dem Papst einen Kirchenstaat im Kleinen in
Vatikanstaat zugesteht.
Die weltpolitischen Ereignisse stehen in engem zeitlichen und inhaltlichem Zusammenhang mit dem
theologisch-dogmatischen Entscheidungen von Pius IX. Beim vorübergehenden Verlust des
Kirchenstaates 1848/49 geht er die Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis Mariens an. Er sieht in
der römischen Revolution den Ausdruck des grassierenden Naturalismus (Natur an der Stelle Gottes)
bzw. theologischen Liberalismus im Gegensatz zum Supranaturalismus. Ihn gilt es zu überwinden, und
das wirksamste Mittel ist das über alle Natur und gegen alle Natur stehende Dogma von der
unbefleckten Empfängnis. Am 8. Dezember 1854 wird die unbefleckte Empfängnis Mariens in der Bulle
„Ineffabilis Deus“ zum die katholische Kirche verpflichtenden Glaubenssatz (Sündlosigkeit Marias, frei
von Erbsünde  Text)
Konsequent führt Pius in den Jahren darauf diese antimodernistische Frömmigkeitsrichtung weiter.
Erstens, weil er unter dem Eindruck der Bedrohung des Kirchenstaates steht: 1864 verpflichtet sich
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Napoleon III. zu einem Truppenabzug aus Rom, wenn die Souveränität des Restkirchenstaates durch
Italien garantiert wird. Zweitens, weil 1863 zwei wichtige Reden von bekannten liberalen Katholiken
gehalten werden, die mehr Religionsfreiheit und größere Freiheit für die Theologie bei aller Bindung an
das unveränderliche Dogma einfordern. Pius ist nun überzeugt, dass der Virus liberalen
Autonomiedenkens auch bei führenden Katholiken grassiert und eine lehramtliche Verurteilungen
unumgänglich ist. Mitte Dezember 1864 erscheint der Syllabus errorum !!!, ein Verzeichnis von 80
modernen Irrtümern. Sie werden von Pius verdammt, was entsprechend heftige Reaktionen hervorruft.
Die liberale Seite versteht den Syllabus als „Kriegserklärung des Papsttums an die moderne Kultur“.
Die reaktionäre Seite begrüßt ihn. Pius selbst versucht, die Wogen zu glätten und den Sturm der
öffentlichen Meinung aufzufangen, indem er verschiedene Auslegungen zulässt und begrüßt. Außerdem
plant er noch im Dezember 1864 ein groß angelegtes Konzil, um den Syllabus und die Lehre von der
Unfehlbarkeit des Papstes festzulegen. Am 8. Dezember 1869 ist es schließlich so weit:
774 Konzilsteilnehmer sind bei der Eröffnung des 1. Vatikanischen Konzils anwesend, darunter allein
726 Italiener (mehrheitlich reaktionär), aber nur 19 Deutsche (mehrheitlich liberal). Das bedeutet: Die
Gegner der Unfehlbarkeitslehre, meist Bischöfe aus den führenden Kulturländern Deutschland,
Österreich und Frankreich, sind von Anfang an in der Minderheit. Durch ihre gelehrten Darlegungen
bereiten sie der Kurie allerdings unerwünschte Schwierigkeiten. Der Papst beginnt nun immer stärker
von Februar 1870 an einzugreifen, auch durch den sich allmählich abzeichnenden deutsch-französischen
Konflikt. In einzelnen Fällen brüskiert der Papst führende Bischofe der Minderheit öffentlich in
beschämender Weise. Von dem Mainzer Bischof Ketteler, der eine kritische Schrift zur
Unfehlbarkeitsfrage unter die Konzilsteilnehmer verteilt, verlangt er, er möge sich zuerst vor dem Kreuz
niederwerfen und überlegen, was er mit dieser Schrift tun solle. Nach lange erregten Debatten gestattet
der Papst der oppositionellen Minderheit die Abreise. So wird am 18. Juli 1870 die „Constitutio de
ecclesia“ mit 533 gegen 2 Stimmen angenommen (Text verlesen)
Auf diesen Triumph kirchlicher Macht des Papstes folgt dann nur zwei Monate später der Verlust aller
weltlichen Macht des Papstes mit dem Untergang des Kirchenstaates.
Nachdem das Konzil gesprochen hat, unterwerfen sich sämtliche katholischen Bischöfe dem neuen
Dogma. In Deutschland, Österreich, der Schweiz, Niederlande und Polen kommt es zur Bildung der
Altkatholischen Kirche, angeführt durch katholische Universitätsprofessoren. Sie brechen mit Rom,
weil die Bischöfe mit dem Kirchenbann gegen sie vorgehen. In Deutschland hat die altkatholische
Kirche, die sich als einzig echte Vertreterin des Katholizismus betrachtet, 1908 hat sie 30.000
Mitglieder, 2008 noch 15.000 Mitglieder.
Die letzten Jahre des Papstes sind bestimmt einerseits von einer Steigerung seiner Popularität, die
anlässlich des Goldenen Bischofsjubiläums am 3. Juni 1877 einen nie gekannten Gipfel erklimmt;
andererseits durch die Verhärtung der Beziehungen zu den meisten Staaten.
Allen voran Deutschland, wo Bismarck im 1871 gegründeten Reich die Kirche stärker der staatlichen
Oberhoheit unterzuordnen gedenkt. Die Gründung der katholischen Zentrumspartei 1870, die bereits
1871 bei der ersten Wahl 58 Sitze erringt, veranlasst Bismarck zum Angriff, den Einfluss vor allem der
katholischen Kirche zu beschränken. 1871 wird der sog. Kanzlerparagraph beschlossen, der vorsieht,
den Missbrauch der kirchlichen Verkündigung zu politischen Zwecken mit Gefängnis oder Festung bis
zu zwei Jahren zu bestrafen. 1872 folgt das Jesuitengesetz, das die Gesellschaft Jesu vom Gebiet des
Deutschen Reiches ausschließt. 1875 wird mit der Zivilstandsgesetzgebung die obligatorische Zivilehe
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eingeführt und der Taufzwang beseitigt. In Preußen selbst werden mit den vier Maigesetzen von 1873
u.a. die kirchliche Straf- und Zuchtmittel beschränkt sowie der Kirchenaustritt erleichtert. Die Kleriker
leisten massiven Widerstand, auch die katholischen Massen. Der Staat schreitet mit Geldstrafen ein, seit
1874 mit Verhaftungen, Amtsentsetzungen und Verbannung. 1877 sind von 12 preußischen
Bischofssitzen 6 durch Amtsenthebung vakant. Pius verschärft den sog. Kulturkampf noch, indem er den
ungeschickten Versuch macht, mit einem Brief vom 7. August 1873 den Kaiser zum Einlenken zu
bewegen. Dabei er erhebt den Anspruch, dass jeder, der die Taufe empfangen hat, in irgendeiner Weise
dem Papst angehört. Wilhelm I. rechtfertigt in seiner Antwort vom 3. September 1873 die Maßnahmen
seiner Regierung und weist diesen Anspruch des Papstes zurück. Am 5. Februar 1875 geht Pius IX. in
seiner Enyzklika „Quod nunquam“ sogar so weit, in aller Form die preußischen Maigesetzt für nichtig
zu erklären und dem Klerus unter Androhung von Exkommunikation ihre Befolgung zu verbieten.
Die Fronten sind so verhärtet, dass es am 13. Juli 1874 sogar zu einem Attentat auf Bismarck kommt,
verübt in Kissingen durch einen katholischen Tischlergesellen.
Erst mit dem Tod von Pius IX., der am 7. Februar 1878 isoliert und vereinsamt nach fast 32
Pontifikatsjahren stirbt (die der Überlieferung nach 32 Jahre des Petrus erreicht er damit knapp nicht)
kommt es zu einer Verständigung zwischen Bismarck und dem Nachfolger Leo XIII. Die meisten
Gesetze werden abgemildert und schließlich 1886/87 durch die sog. Friedensgesetze in bestimmtem
Umfang zurück genommen. Aber: Durch den Kulturkampf, zu dem auch Pius IX. seinen Beitrag
geleistet hat, wird das Verhältnis vieler Katholiken zum Staat schwer belastet; sie fühlen sich als
benachteiligte Minderheit im Reich. Das Verhältnis zum Protestantismus ist nachhaltig gestört.
Bismarck aber hat sein Ziel einer Entflechtung von Kirche und Staat zumindest teilweise erreicht, denn
etliches ist bis heute in Geltung (staatliche Schulaufsicht, Standesregister, Zivilehe, Kirchenaustritt).
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Mathilda Wrede (1864 – 1928)
Singen: Die Kirche steht gegründet 404,1.4.5
Rätsel: Vier Frauen der Lebenszeit nach ordnen:
Eva von Tiele-Winkler (2)
Mathilda Wrede (1)
Sophie Scholl (4)
Elisabeth von Thadden (3)
Finnland steht lange Zeit im Schatten seiner Nachbarländer. Im Hochmittelalter wird Finnland Teil des
Schwedischen Reiches und auch von Schweden aus christianisiert.1527 führt König Gustav Wasa die
Reformation ein, weil er sich eine Stärkung seiner Krongewalt erhofft. Die Finnen nehmen das
lutherische Bekenntnis an. Der finnische Reformationsbischof Martin Skytte schickt junge Männer nach
Deutschland, die dann als Pfarrer und Lehrer das finnische Volk für das Evangelium gewinnen. Das
schwedische Großreich im 17. Jahrhundert, das beinahe den gesamten Ostseeraum umfasst, zerbricht im
Nordischen Krieg 1700 bis 1721. Zar Peter der Große strebt einen eisfreien Hafen an der Ostsee an. Er
erobert das Baltikum und gründet St. Petersburg. Finnland ist von 1714 bis 1721 russisch besetzt. Unter
dem Eindruck der katastrophale Niederlage kommt es in Finnland zum Durchbruch eines radikalschwärmerischen Pietismus. 1726 verbietet ein königlicher Erlass alle privaten erbaulichen
Versammlungen außer Hausandachten unter Androhung von Geld- und Freiheitsstrafen. Viele
Separatisten wandern nach Amerika aus.
Im Zuge der napoleonischen Koalitionskriege verbündet sich Russland unter Zar Alexander I. mit
Frankreich gegen England und Schweden. 1808 greift Russland Schweden an und beginnt den
Finnischen Krieg. Das Ergebnis ein Jahr später: Schweden muss Finnland an Russland abtreten. Aus
diesen und den bereits im 18. Jahrhunderten eroberten ostfinnischen Gebieten wird das russische
Großfürstentum Finnland gebildet.
Finnland ist nun Teil des russischen Reiches, genießt aber weitgehende politische und religiöse
Autonomie. Die hergebrachten schwedischen Gesetze wie die Verfassung werden aufrecht erhalten.
Damit bleibt auch die lutherische Staatskirche in Geltung. Der Anteil der russisch-orthodoxen Christen
ist sehr gering. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist in Finnland von einer gewissen politischen
Starre geprägt. Der Reichstag als ständische Volksvertretung wird von den Zaren zwischen 1809 und
1863 nicht einberufen, die Politik konzentriert sich auf die Verwaltung bei unveränderter Gesetzeslage.
Mitte des 19. Jahrhunderts setzt in Finnland ein nationaler Aufbruch ein. Das finnische Volk erwacht zu
neuem Selbstbewusstsein: „Schweden sind wir nicht, Russen wollen wir nicht sein, lasst uns also Finnen
sein!“ Es kommt zu einem politischen Frühling, ermöglicht durch die größere Freizügigkeit unter Zar
Alexander II. Ab 1863 erfolgt die Einberufung des Reichstags wieder regelmäßig. Er lockert auch die
Verbindung zwischen Kirche und Staat in Finnland 1865/69. Kommunale Gemeinden und
Kirchengemeinden werden getrennt, die Kirche bekommt mehr Zuständigkeiten für ihre
innerkirchlichen Belange. Es kommt zu einem ökonomischen Frühling, zu einer Industrialisierung ab
den 1860er Jahren, angetrieben vor allem durch die Holzwirtschaft. Und es kommt zu einem religiösen
Frühling durch den Bauern Paavo Ruotsalainen. Die Erweckung erfasst vor allem die Landbevölkerung
und Teile der Pfarrerschaft. Bereits 1844 entsteht die „Evangelische Bewegung“, die sich 1873 in der
„Lutherischen Evangeliumsvereinigung in Finnland“ zusammenschließt. Ihr Ziel: Das Evangelium von
Jesus Christus lauter und rein zu verkündigen.
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Mitten in diese Aufbruchsstimmung hinein wird dem alten Adelsgeschlecht der Wrede am 8. März 1864
ein Mädchen geboren. Sie ist das jüngste von neun Geschwistern. Ihr Vater, Freiherr Carl Gustav
Wrede, ist Gouverneur des Vasabezirks. Ihre Mutter, Eleonora geb. Glansenstjerna, stirbt noch im
Kindbett – nachdem sie Mathilda in die Arme ihrer ältesten 17jährigen Tochter Helene gelegt hat. Ab
nun vertritt die Schwester Mutterstelle und zieht Mathilda auf. Das kleine Mädchen wächst auf dem
elterlichen Hofgut unter Freundinnen und Tieren auf, besucht die Volksschule vor Ort. Als 10jährige
wird sie auf ein private Internatsschule nach Fredrikshamn geschickt. Sie fühlt sich zum ersten Mal
einsam und hat Heimweh. Nach dem Schulabschluss kehrt sie wieder nach Vasa zurück. Mit 17 Jahren
hat Mathilda eine Bekehrungserlebnis: Bei einer Evangelisation in Vasa hört sie einen Laienprediger
über Johannes 3,16 predigen. Sie ist innerlich so stark davon angerührt, dass sie beschließt, fortan ihr
Leben Christus völlig hinzugeben. Sie ist erfüllt von der inneren Gewissheit, Kind Gottes zu sein. Ein
Jahr später hat sie nochmals ein Erlebnis, das ihr ganzes künftiges Leben bestimmen sollte: Einem
Gefängnisinsassen, der bei ihr zu Hause Schlosserarbeiten erledigt, erzählt sie in ihrer unbekümmerten
Freude über ihre eigene Erweckung und von der Freiheit der Kinder Gottes. Der Mann erwiderte
spontan: „Ach, gnädiges Fräulein, Sie sollten zu uns hinauskommen und so mit uns reden. Wir hätten es
wohl nötig.“ Um ihm eine Freude zu machen, verspricht Mathilda, ihn am nächsten Sonntag im
Gefängnis zu besuchen. Als sie ihrem Vater ihre Absicht mitteilt, besteht er darauf, dass der
Gefängniswärter dabei ist. Mathilda besucht an diesem Sonntag zum ersten Mal das Gefängnis in Vasa.
Sie fühlt , dass es die Menschen dort erfreut. Aber sie sieht noch keinen Auftrag darin. Da sieht sie in
der Nacht darauf in einem Traum einen gefesselten Mann, der an ihr Bett tritt und sie ergreifend um
Hilfe bittet. Ganz erschüttert bittet sie nach dem Aufwachen Gott um Weisung. Sie schlägt ihre Bibel
auf und ihr Blick fällt auf die Stelle Jer 1,6-8. Sie schlägt nochmals auf und stößt auf Hesekiel 3,9-11.
Tief bewegt beschließt sie, von nun an regelmäßig Besuche im Gefängnis zu machen.
Im Sommer 1884 legt ihr Vater sein Amt als Gouverneur des Vasa-Bezirks nieder. Die Familie siedelt
nach Rabelugn über. Schweren Herzens trennt sich Mathilda von ihren Freunden, die sie im Gefängnis
gewonnen hat. Sie schreibt ihnen aber weiterhin fleißig Briefe. Im Herbst 1884 muss sie wegen starker
Zahnschmerzen nach Helsingfors. Dort begegnen ihr auf der Straße einige Gefangene unter Bewachung.
Sie bleibt stehen und fragt sich, warum sie sich von den Gefangenen getrennt hat, obwohl sie darin ihre
Aufgabe sieht. Daraufhin geht Mathilda zum Gefängnisdirektor von Helsingfors, dem Oberstaatsanwalt
Grotenfelt. Sie stellt sich als Tochter des Gouverneurs von Vasa vor und bittet um die Erlaubnis,
sämtliche Strafanstalten in Finnland besuchen zu dürfen. Grotenfeld fragt sie nach ihrem Alter.
„Zwanzig Jahre.“ „Nicht gerade ein hohes Alter.“ bemerkt er. „Nein, aber dieser Fehler verbessert sich
ja mit den Jahren von selbst.“ Erwidert sei. Sie erhält daraufhin die schriftliche Erlaubnis, die
Gefängnisse in Helsingfors, Abo, Tavastehus und Villmanstrand zu besuchen, sowie ein
Empfehlungsschreiben in die dortigen Direktoren.
Während ihres 10tägigen Aufenthaltes in Helsingfors besucht Mathilda gleich die beiden Gefängnisse,
teilt Traktate unter die Gefangenen aus und redet mit ihnen. Ihre erste eigentliche Gefängnisreise macht
sie im Januar 1885 nach Vollmanstrand. Der Direktor und auch der Pfarrer empfangen sie freundlich,
aber distanziert. Kurz nachher ist sie im Bezirksgefängnis in Vilborg und im April 1885 fährt sie nach
Abo. So also beginnt ihre Tätigkeit, die nicht, wie Oberstaatsanwalt Grotenfelt meinte, nach kurzer Zeit
wieder aufhört.
In den folgenden Jahren besucht Mathilda Wrede außer Abo noch die Gefängnisse in Vollmanstrand, St.
Michel, Tavastehus und Helsingfors. Sie macht dabei die Erfahrung, dass die Langzeitgefangenen in der
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Regel empfänglicher für ihre Botschaft sind als die Kurzzeitgefangenen. Die junge Frau übt eine
eigenartige Macht über Menschen aus, denen sie von der Liebe Gottes erzählt und sie auch vorlebt. Ihre
Liebe bezwingt sogar Mörder und aufsässige Gefangene, zu denen sich kein Wärter in die Zelle gewagt
hätte. Mathilda kennt keine Frucht und keine Abscheu. Sie begleitet Schwerverbrecher und politische
Gefangene, wenn sie nach Sibirien verbannt werden, bis zur russischen Grenze. Ein ganz besonderes
Geburtstagsgeschenk erwartet sie am 14. März 1886. Ihr Vater übergibt ihr ein Haus, um dort ein Heim
für freigelassene Gefangene einzurichten. Ihrem Bruder Henrik und ihr übergibt er die Leitung. Ein Jahr
später wird das Heim mit dem Namen Tiovola eröffnet und Mathilda nimmt das in Angriff, was man
heute unter Resozialisierung versteht.
Im Sommer 1890 findet in St. Petersburg der große internationale Pönitentiär-Kongress statt, Von
überall sind die höchsten Vertreter des Gerichts- und Gefängniswesens anwesend. Mathilda Wrede reist
als Delegierte hin. Als der Vertreter Frankreichs feststellt, es gebe leider unverbesserliche Verbrecher,
denen gegenüber jeder Gedanke an eine Rettung aufgegeben müsste, geht sie ans Rednerpult und sagt
Folgendes auf Französisch (Rede Mathildas)
Im Jahr darauf reist Mathilda Wrede nach England und erhält die Erlaubnis vom Innenministerium, alle
Gefängnisse in England besuchen zu dürfen. 1892 stirbt ihr Vater, Baron Carl Gustav von Wrede,
Mathilda erleidet im Gefängnis einen Herzschwächeanfall. Sie erholt sich auf Schloss Kremon in
Livland bei ihrer Freundin, der Fürstin Liewen. Im Herbst nach Helsingfors zurückgekehrt beschließt
sie, sich auf dieselbe tägliche Ration wie ihre gefangenen Freunde zu setzen und von 32 Pfennig täglich
zu leben.
Die politische Großwetterlage in Finnland verschlechtert sich zusehends. 1898, nach dem Tod von Graf
Heyden ernennt der russische Zar Nikolai Bobrikow zum neuen Generalgouverneur von Finnland.
Sogleich schränkt er die finnischen Selbstbestimmungsrechte stark ein. Eine halbe Million Finnen
unterschreiben eine Protestpetition. Zar Nikolaus II. weigert sich, sie anzunehmen. Bobrikow treibt die
Russifizierung Finnlands voran: 1900 führt er Russisch als Behörden- und Schulsprache ein, 1901
schafft er die eigenständige finnische Armee ab. 1903 schränkt er die Versammlungs- und
Meinungsfreiheit ein. 1904 ermordet ein finnischer Nationalist im Senat von Helsinki den verhassten
Repräsentanten russischer Herrschaft. 1905 kommt es im Zusammenhang mit der russischen Erhebung
gegen den Zaren nach dem verlorenen Krieg gegen Japan in Finnland zu einem umfassenden
Generalstreik. Der Zar macht das Zugeständnis eines selbstständigen, nichtständischen Volksvertretung.
1906 wird dieses neu geschaffene Parlament zum ersten Mal gewählt; alle Finnen, auch die Frauen,
haben das gleiche Wahlrecht. Doch die Spannungen nehmen nicht ab, zumal 1909 die
Russifizierungsbemühungen wieder aufgenommen werden.
Im Sommer 1914 bricht erste Weltkrieg bricht aus. Die Mittelmächte Deutschland und ÖsterreichUngarn samt ihren Verbündeten Bulgarien und Osmanisches Reich kämpfen gegen die Entente aus
Frankreich, England, Italien und Russland. Finnland verhält sich neutral, seine Armee nimmt abgesehen
von einigen Freiwilligen an den Kampfhandlungen nicht teil. Ebenfalls im Sommer 1914 stirbt Helene,
die Schwester Mathildas, die ihre Ersatzmutter gewesen ist. Anfang 1917 kommt es zu einem Aufstand
der in Finnland russisch stationierten Soldaten gegen ihre finnischen Offiziere. In Kakola herrscht aber
weiterhin eine mustergültige Ordnung, nicht zuletzt dank der Wirksamkeit von Mathilda Wrede unter
den 725 Insassen.
In Russland überstürzen sich derweil die Ereignisse. Die jahrhunderte lange Zarenherrschaft zerbricht
1917 infolge der Februarrevolution. Mit der Oktoberrevolution gelangen die Bolschewisten unter Lenin,
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Trotzki und Stalin an die Macht und enteignen sogleich alle Großgrundbesitzer. Am 6. Dezember 1917
erklärt das finnische Parlament sein Land für unabhängig. Die Unabhängigkeit wird im Januar 1918
durch das bolschewistische Russland anerkannt. Den Ablösungsprozess von Russland begleiten
allerdings schwere innere Konflikte, die am 27. Januar 1918 in einem sozialistischen Umsturzversuch
gipfeln. Es bricht ein dreimonatiger Bürgerkrieg aus, unter dem auch die Kirche zu leiden hat. Zehn
Kirchen werden niedergebrannt und viele geplündert und geschändet. Zehn Pfarrer und neun
Kirchenbeamte werden erschlagen. Als die Verhaftungen der bürgerlichen Weißen durch die
sozialistischen Roten überhand nehmen, geht Mathilda Wrede direkt in die Wohnung des gestürzten
Generalgouverneurs. Dort haben die Roten nun ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Sie bittet deren Führer,
die weißen Gefangenen doch gut zu behandeln und ihnen genügend zum Essen zu geben. Im März 1918
schließen Russland und Deutschland den Frieden von Brest-Litowsk. Damit ist die Ostfront geschlossen.
Deutsche Truppen marschieren nach Finnland ein, beenden den Bürgerkrieg und verhelfen den Weißen
zum Sieg über die Roten. 1919 gibt sich Finnland eine republikanisch-demokratische Verfassung.
Mathilda Wrede bekommt alle Hände voll zu tun im Gefolge des Ersten Weltkriegs. Tausende von
russischen Flüchtlingen vegetieren auf der Karelischen Landzuge dahin, abertausende von deutschen
Kriegsgefangenen schmachten in den sibirischen Lagern. Auch die orthodoxen Mönche vom Kloster
Valamo am Ladogasee brauchen Hilfe, weil sie den neuen Ostertermin nicht akzeptieren und dadurch
hartem Druck ausgesetzt sind. Der Engel der Gefangenen, wie Mathilda Wrede inzwischen genannt
wird, gründet verschiedene Hilfswerke. Auf der „Weltkonferenz für Praktisches Christentum“ in
Stockholm 1925 versucht sie, für das Recht der Entrechteten zu kämpfen. Diese rastlose Tätigkeit zehrt
so an ihren Kräften, dass sie einmal ausruft: „Mein ganzes Leben ist verbraucht, aber mein Verhältnis zu
Gott ist nicht verbraucht.“ Als wieder einmal bei den Mönchen von Valamo zu Besuch ist, sieht sie auf
dem Klosterfriedhof die Gräber der Mönche. Jeder gleicht dem anderen, ein grüner Hügel mit einem
vom Ladogasee rund geschliffenen grauen Stein, nur mit der kurzen Inschrift „Gottes Leibeigener“ und
darunter der Name des Toten. Mathilda äußert, wie gut ihr solch ein einfacher Grabstein gefalle. Kurze
Zeit nach ihrer Rückkehr nach Helsinki wird ihr eine große Kiste aus Valamo gebracht. Darin ein runder
grauer Stein mit derselben Inschrift und ihrem Namen darunter. Diesen Stein liegt fortan in einem
großen Lehnsessel neben ihrem Bett. Wenige Tage vor ihrem Tod sagt sie (Schlussworte vorlesen). Am
Christfest 1928 geht Mathilda Wrede dann schließlich getrost über diese Grenze. Ihre Körper wird unter
dem einfachen grauen Stein vom Ladogasee zur Ruhe gebettet – Mathilda Wrede, Engel der
Gefangenen, Gottes Leibeigene.
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