Aus dem Artikel: Hermeneutik, in Wikipedia

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Schleiermachers Hermeneutik
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Schleiermacher
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Hermeneutik seit den Schriften Friedrich Schleiermachers
zu einer zentralen philosophischen Disziplin. Schleiermacher zog den Leser des Textes selbst mit in
die Betrachtung ein, welche dadurch nun alle Texte oder Geistesprodukte umfasst. Mit dieser
Erweiterung verliert die Hermeneutik ihre traditionelle Beziehung zu Texten als
Wahrheitsvermittler. Stattdessen werden diese als der Ausdruck der Psyche, des Lebens und der
geschichtlichen Epoche des Verfassers begriffen und das Verstehen wird gleichgesetzt mit einem
Wiedererleben und Einleben in das Bewusstsein, das Leben und die geschichtliche Epoche, aus der
die Texte entstammen. Die Hermeneutik wird zu einer allgemeinen Kunstlehre, sich in das Leben
einzufühlen, das hinter einem gegebenen Geistesprodukt steht. Ein Interpret versucht, sich in das
Denken des Autors hineinzuversetzen, um den schöpferischen Akt nachzuvollziehen und auf diese
Weise den möglichen Sinn des Kunstwerkes aufzudecken. Diese Theorie des „Einlebens“, welche
Schleiermacher Divination nennt, wird mit einer allgemeinen metaphysischen Theorie verbunden,
nach der Verfasser und Leser beide Ausdruck ein und desselben überindividuellen Lebens (des
Geistes) sind, welches sich durch die Weltgeschichte entwickelt. Diese metaphysische Theorie des
überindividuellen Lebens wird in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch aufgegeben, und
die Hermeneutik wird im Historizismus schlechthin als Kunstlehre aufgefasst, welche die richtige
Rekonstruktion der psychologischen Zustände anderer vorliegender Texte (Quellen) sichern soll.
Aus: Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik. Tübingen 1990
So stellt er [Schleiermacher] neben die grammatische die psychologische (technische) Auslegung –
und in dieser liegt sein Eigenstes. (S. 190)
Die Hermeneutik umfasst grammatische und psychologische Auslegungskunst. Schleiermacher
Eigenstes ist aber die psychologische Interpretation. Sie ist letzten Endes ein divinatorisches
Verhalten, ein Sichversetzen in die ganze Verfassung des Schriftstellers, eine Auffassung des
‚inneren Herganges‘ der Abfassung eines Werkes, ein Nachbilden des schöpferischen Aktes. (S.
191)
Gewiß stellt sich auch nach Schleiermacher dort, wo ein Zeitabstand überwunden werden muß, eine
besondere Aufgabe. Schleiermacher nennt sie die ‘Gleichsetzung mit dem ursprünglichen Leser’.
Aber diese ‘Operation des Gleichseins’, die sprachliche und historische Herstellung dieser
Gleichheit, ist ihm nur eine ideale Vorbereitung für den eigentlichen Akt des Verstehens, der ihm
nicht die Gleichsetzung mit dem ursprünglichen Leser ist, sondern die Gleichsetzung mit dem
Verfasser, durch die der Text als eine eigentümliche Lebensmanifestation seines Verfasser
aufgeschlossen wird. (S. 195)
Betrachten wir nun näher, was Schleiermacher mit solcher Gleichsetzung meint. Denn natürlich
kann sie nicht schlechthin Identifikation meinen. Reproduktion bleibt wesenhaft von der Produktion
verschieden. So kommt Schleiermacher zu dem Satz, es gelte, einen Schriftsteller besser zu
verstehen, als er sich selber verstanden habe – eine Formel, die seither immer wiederholt worden ist
und in deren wechselnder Interpretation sich die gesamte Geschichte der neueren Hermeneutik
abzeichnet. In der Tat liegt in diesem Satz das eigentliche Problem der Hermeneutik beschlossen.
Es sei daher auf den Sinn dieser Formel näher eingegangen.
Was diese Formel bei Schleiermacher besagt, ist klar. Er sieht den Akt des Verstehens als den
rekonstruktiven Vollzug einer Produktion. Ein solcher muß manches bewußt machen, was dem
Urheber unbewusst bleiben kann. Es ist offenbar die Genieästhetik, die Schleiermacher mit dieser
Formel auf seine allgemeine Hermeneutik überträgt. Die Schaffensweise des genialen Künstlers ist
der Modellfall, auf den die Lehre von der unbewussten Produktion und der notwendigen
Bewusstheit in der Reproduktion sich beruft. (S. 196)
Aus: F.D.E. Schleiermacher: Hermenutik und Kritik. Hrsg. v. Manfred Frank, Frankfurt a.M.
1977
Die Aufgabe ist auch so auszudrücken, »die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu
verstehen als ihr Urheber«. Denn weil wir keine unmittelbare Kenntnis dessen haben, was in ihm ist,
so müssen wir vieles zum Bewußtsein zu bringen suchen, was ihm unbewusst bleiben kann, außer
sofern er selbst reflektierend sein eigener Leser wird. Auf der objektiven Seite hat er auch hier
keine andern Data als wir.
Die Aufgabe ist, so gestellt, eine unendliche, weil es ein Unendliches der Vergangenheit und
Zukunft ist, was wir in dem Moment der Rede sehen wollen. (S. 94)
Die grammatische Auslegung
I. Erster Kanon: Alles, was noch einer näheren Bestimmung bedarf in einer gegebenen Rede, darf
nur aus dem dem Verfasser und seinem ursprünglichen Publikum gemeinsamen Sprachgebiet
bestimmt werden. (S. 101).
Das Gebiet des Verfassers selbst ist das seiner Zeit, seiner Bildung und das seines Geschäfts. (S.
102)
In dem Ausdruck, dass wir uns des Sprachgebiets müssen […] bewusst werden, liegt auch jenes,
dass wir den Verfasser besser verstehen müssen als er selbst, denn in ihm ist vieles dieser Art
unbewusst, was in uns ein bewusstes werden muß“ (104).
Die psychologische Auslegung
I. Der gemeinsame Anfang für diese Seite der Auslegung und die grammatische ist die allgemeine
Übersicht, welche die Einheit des Werkes und die Hauptzüge der Komposition auffasst. Aber die
Einheit des Werkes, das Thema, wird hier angesehen als das den Schreibenden bewegenden Prinzip,
und die Grundzüge der Komposition all seine in jener Bewegung sich offenbarende eigentümliche
Natur.
Indem ich den Verf. so erkenne, erkenn ich ihn, wie er in der Sprache mitarbeitet: denn er bringt
teils Neues hervor in ihr, da jede noch nicht gemachte Verbindung eines Subjekts mit einem
Prädikat etwas Neues ist, teil erhält er das, was er wiederholt und fortpflanzt. Ebenso, indem ich das
Sprachgebiet kenne, erkenne ich die Sprache, wie der Verf. ihr Produkt ist und unter ihrer Potenz
steht. Beides ist also dasselbe, nur von einer andern Seite gesehen. (167)
Grammatische Interpretation. Der Mensch mit seiner Tätigkeit verschwindet und erscheint nur
als Organ der Sprache. Technische Interpretation. Die Sprache mit ihre bestimmenden Kraft
verschwindet und erscheint nur als Organ des Menschen, im Dienst seiner Individualität, so wie
dort die Persönlichkeit im Dienst der Sprache.
Grammatische Interpretation. Nicht möglich ohne technische. Technische Interpretation. Nicht
möglich ohne grammatische. Denn woher soll ich den Menschen kennen als nur durch seine Rede,
zumal in Beziehung auf diese Rede? (S. 171).
[Das Verhältnis von grammatischer und technischer Interpretation stellt eine besondere Form des
hermeneutischen Kreises dar. Die Vorstellung vom hermeneutischen Kreis besagt, dass alles
Einzelne nur aus dem Ganzen sowie das Ganze nur aus dem Einzelnen verstanden werden kann.]
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