Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen zur

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Manuel Bauer
Friedrich Daniel ernst Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und
Kritik. Hg. von Wolfgang Virmond unter Mitwirkung von Hermann
Patsch (= Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen
Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu
Göttingen. Hg. von Günter Meckenstock und andreas arndt, ulrich
Barth, lutz Käppel, notger Slenczka. Zweite abteilung. Vorlesungen.
Bd. 4). Berlin/Boston: de Gruyter 2012. lI + 1162 S. € 259,-.
ISBn 978-3-11-025244-6
Im philosophischen System Friedrich Schleiermachers, unbestritten einer
der bedeutendsten protestantischen Theologen und wichtigsten Denker
des frühen 19. Jahrhunderts, nimmt die Hermeneutik nicht den höchsten
rang ein. Die nachwelt indes gewichtet das anders. Großen Teilen der
Geisteswissenschaft ist Schleiermacher als Verfasser der Reden über die Religion und vor allem als Klassiker der Hermeneutik bekannt; noch immer
gilt er als Wendepunkt in der Theoriegeschichte der Textauslegung. Seit
1805 bis zum ende seines lebens beschäftigte sich Schleiermacher mit Hermeneutik und Kritik und hielt Vorlesungen über diese Gegenstände.
Schleiermacher fordert eine Praxis des Verstehens, die nicht erst bei
Schwierigkeiten oder dunklen Stellen ansetzt, sondern davon ausgeht, dass
sich das Verstehen nicht von selbst ergibt. Das Verstehen selbst ist Schleiermacher zum Problem geworden. Hermeneutik sei »die Kunst, sich in den
Besitz aller Bedingungen des Verstehens zu setzen« (S. 73) – das Verstehen
beruht mithin auf Bedingungen, die allererst erfüllt werden müssen, was
als unendliche aufgabe anzusehen sei.
Zwar entwickelt Schleiermacher seine auslegungslehre ausdrücklich in
Hinsicht auf den umgang mit dem neuen Testament. Doch mit der Formulierung spezieller anwendungsregeln könne die Hermeneutik nicht beginnen, »sondern wir müssen auf die allgemeinen Principien zurückgehn«
(S. 193). es ist Schleiermacher um eine allgemeine Hermeneutik als theoretisches Fundament zu tun, auf dem jede einzeldisziplin, die mit der exegese von Schriften beschäftigt ist, aufbauen kann und muss. Jede sprachliche
Äußerung, nicht nur klassische oder heilige Schriften, könne Gegenstand
der Hermeneutik sein und müsse im Kontext der Gesamtheit der jeweiligen
Sprache sowie der Gesamtheit des Denkens des urhebers verstanden werden. Zudem müsse bei dem Bemühen, einen Text zu verstehen, Sicherheit
über dessen authentizität bestehen. Das kritische Geschäft, das sich mit
der »Beurtheilung der Ächtheit ganzer Schriften oder einzelner Theile der-
Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik
168 selben« (S. 452) befasst, ist als steter Begleiter der hermeneutischen Bemühung konzipiert: »eine Disciplin setzt die andre voraus« (S. 453). Diese
– hier nur grob umrissene – Theorie differenziert Schleiermacher in seinen
Vorlesungen sehr detailliert aus.
unter den zahllosen unvollendeten Projekten seiner Zeit nimmt Schleiermachers Hermeneutik eine besondere Stellung ein. es handelt sich um
den größten interpretationstheoretischen Wurf der romantik. Obschon
Schleiermacher zu lebzeiten trotz umfänglicher Vorarbeiten kein lehrbuch
seiner Verstehenslehre vorlegte, erfuhr sie eine erstaunliche rezeption.
Schleiermacher wirkte unter anderem auf august Boeckh und Wilhelm
Dilthey und damit nicht nur auf andere Klassiker der Hermeneutik, sondern durch deren Vermittlung auf das Selbstverständnis und die Methodik
der Geisteswissenschaften bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Während
Schleiermacher für Martin Heideggers folgenreichen entwurf einer existenzialhermeneutik und Hans-Georg Gadamers hermeneutisches Projekt
nur eine untergeordnete rolle spielte, kommt ihm für neuere texthermeneutische ansätze im anschluss an Peter Szondi und Manfred Frank eine
Bedeutung zu, die weit über bloß historisches Interesse hinaus geht.
Freilich ist die Stilisierung Schleiermachers zum großen neuerer nicht
unproblematisch. nicht nur, dass er sich wiederholt auf direkte Vorläufer
wie Friedrich august Wolf und Friedrich ast bezieht; er klammert zudem
bei seinen Bemühungen um eine allgemeine Hermeneutik zu weiten Teilen
frühere Hermeneutiken aus. Immer wieder wurde auch nach der Verwandtschaft oder gar abhängigkeit von Schleiermachers Hermeneutik mit bzw.
von Friedrich Schlegels ungeschriebener Philosophie der Philologie und dessen Programm der Kunstkritik gefragt.
noch mehr als der umstand, dass Schleiermacher zu lebzeiten trotz
wiederholter intensiver Beschäftigung mit der Materie keine Buchfassung
seiner Theorie der Textauslegung und -kritik fertigstellte, erstaunt es, dass
erst jetzt, im rahmen der seit 1980 erscheinenden Kritischen Gesamtausgabe (= KGA) von Schleiermachers Schriften, zum ersten Mal eine philologisch verlässliche ausgabe der Vorlesungen über Hermeneutik und Kritik
vorliegt. Die bisherigen ausgaben werden von dieser edition nicht nur
quantitativ bei weitem übertroffen, sondern in jeder Hinsicht in den Schatten gestellt.
Das Bild der ›romantischen Hermeneutik‹ wurde durch Friedrich lückes edition von 1838 geprägt. lücke erstellte aus Schleiermachers nachlass
und nachschriften einen Text, den Schleiermacher in dieser Form niemals
geschrieben oder als Vorlesung gehalten hat. Diesen Text machte auch Manfred Frank zur Grundlage seiner edition von 1977, die noch immer im
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Suhrkamp-Verlag greifbar ist und bei allen philologischen Bedenken den
Vorteil hat, einen »anhang« mit weiteren zentralen Texten Schleiermachers zum Problembereich zu präsentieren.
Heinz Kimmerle legte 1959 eine verdienstvolle kritische edition von
Schleiermachers Manuskripten vor, die (von einzelnen Datierungsschwierigkeiten und textphilologischen Details abgesehen) authentische Texte
bot. aufgrund des knappen, teils fragmentarischen Zustands der notizen
konnte allerdings nur ein unzureichendes Bild von der konkreten ausprägung der hermeneutisch-kritischen Theorie Schleiermachers entstehen.
nachdem also die bisherigen ausgaben entweder philologisch unzuverlässige Vorlesungstexte oder bisweilen schwer interpretierbare, weil skizzenhafte Originalmanuskripte boten, geht die neue edition erheblich weiter.
Wolfgang Virmond hat unter Mitarbeit von Hermann Patsch – beide sind
seit vielen Jahren ausgewiesene Schleiermacher-Kenner, denen die Forschung zur romantischen Hermeneutik viel verdankt – im vorliegenden
Band sämtliche erhaltenen Originalmanuskripte Schleiermachers seit 1805
versammelt. Zudem ist das bereits 1985 von Virmond veröffentlichte Heft
mit der Allgemeinen Hermeneutik von 1809/10, das Schleiermacher als
»einen vorläufigen entwurf zu künftigen lehrbüchern« bezeichnet hat
(S. XXIII), in einer abschrift von august Tweten enthalten. So erfreulich
die edition der Manuskripte Schleiermachers inklusive der Allgemeinen
Hermeneutik ist: Die Hauptleistung der neuedition besteht zweifellos
darin, dass sie vier vollständige Vorlesungsnachschriften – zu einem erheblichen Teil erstmalig – zugänglich macht. Das zeigt schon der umfang, der
allein für diese nachschriften knapp 1000 Seiten beträgt.
Die einleitung informiert konzise über die wichtigsten entstehungsgeschichtlichen umstände. Virmond bietet einen Überblick über die bisherigen editionen und beschreibt die Manuskripte, die der ausgabe zugrunde
liegen, enthält sich aber lektürelenkender oder gar interpretierender ausführungen. Der Sachapparat beschränkt sich auf den nachweis von Zitaten
und anspielungen, den Vorlesungsnachschriften sind zudem Varianten aus
anderen nachschriften beigefügt. Der Textteil enthält neben Schleiermachers Manuskripten nachschriften der Vorlesungen von 1819, 1822,
1826/27 bis hin zum letzten Kolleg über Die allgemeinen Grundsätze der
Hermeneutik und Kritik und deren Anwendung auf das N. T. aus dem Winter 1832/33. Obschon die Vorlesungen übereinstimmend mit der notwendigkeit einer allgemeinen Hermeneutik einsetzen, ist es von keinem
geringen reiz, auch die theologische Spezialhermeneutik auf dieser neuen
Textgrundlage zu ergründen. Seit 1826/27 hat Schleiermacher ausführlich
auch über die Kritik gesprochen, die er den ausführungen zur Hermeneutik
Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik
169
170 anhängte. Die Kritik wurde in der Forschung bislang kaum beachtet. es ist
zu hoffen, dass sich das nun ändert; an Material mangelt es nicht mehr.
Überhaupt ist damit zu rechnen, dass der Forschungsstand zu Schleiermachers Hermeneutik einer gründlichen revision unterzogen wird. Die neu
edierten Texte stürzen sicherlich nicht alle bisherigen erkenntnisse um, akzentuieren und gewichten allerdings manches anders als es bisher bekannt
war. Das gilt gleichermaßen für einzelne Begriffe wie für komplexe methodische Zusammenhänge. Dabei kommen sowohl anregende aspekte zum
Tragen als auch solche, die problematisch sind und für die Schleiermacher
kritisiert wurde: Wiederholt kommt in den Vorlesungen die notwendige
Kongenialität des auslegers, eine Tendenz zur einfühlung oder die ausrichtung auf die Individualität des Verfassers zum ausdruck. Dieser hermeneutische entwurf ist irreduzibel historisch gebunden und bei allen
anknüpfungspunkten zu moderneren ansätzen mit diesen auch partiell
unvereinbar. Doch wie man sich auch zu dieser Theorie der Interpretation
stellen mag: Die Beschäftigung mit der romantischen Hermeneutik wird
durch diese ausgabe auf eine neue Stufe gehoben.
Ob nach den erschöpfenden Theorie- und Methodendebatten der letzten Jahrzehnte noch ein breites literatur- und kulturwissenschaftliches Interesse an hermeneutischer Grundlagendiskussion und der Geschichte der
Theorie und Praxis der Textauslegung besteht, ist zwar keineswegs ausgemacht. Tendenzen der re-Philologisierung und eine vermehrte Theoretisierung der Textkritik lassen allerdings vermuten, dass ein klassischer autor
wie Schleiermacher noch immer oder erneut Gehör finden könnte. Die
Basis für eine neue, weiterführende Beschäftigung mit Schleiermachers
Hermeneutik und Kritik ist so gut und solide wie nie zuvor. allerdings
mögen künftige untersuchungen bedenken, dass diese voluminöse ausgabe
das Textkorpus zu Schleiermachers Hermeneutik und Kritik enorm bereichert, es aber nicht ausschöpft. um ein vollständiges Bild von Schleiermachers hermeneutisch-kritischem Projekt zu gewinnen, bedarf es noch immer
der Bereitschaft, sich mit zahlreichen unterschiedlichen Texten zu befassen,
die an anderer Stelle publiziert sind (die meisten bereits im rahmen der
KGA, weshalb sie mit gutem Grund nicht im vorliegenden Band zu finden
sind). In erster linie sind die akademievorträge Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch (1829)
sowie Über Begriff und Einteilung der philologischen Kritik (1830) zu nennen, die zu den wenigen authentischen, über einen Skizzen- und Fragmentcharakter hinausgehenden Texten Schleiermachers zum Thema zählen.
Hinzu kommen unter anderem die Übersetzungstheorie, ausführungen
im rahmen der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums, die einlei-
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tungen zu den Übersetzungen der Dialoge Platons, exegetische Schriften
oder gar die frühen rezensionen, in denen sich etliche aspekte des groß
angelegten Projekts der Textauslegung finden lassen. Weiterhin muss die
theoretisch-systematische nähe von Hermeneutik und Kritik zu Schleiermachers Ästhetik und Dialektik berücksichtigt werden. Das vermeintliche
Spezialproblem der Textauslegung zeigt nachdrücklich, wie eng verbunden
die einzelnen Theoriefelder für einen systematischen Denker wie Schleiermacher waren. Die neue Textgrundlage ermöglicht es, sowohl synchrone
Verbindungen als auch diachrone entwicklungen im Verhältnis der einzelnen Systembereiche genauer beleuchten zu können.
allerdings wird dem leser ein solcher Vergleich nicht leicht gemacht.
Die ausgabe verfügt über ein register der Personen sowie der Bibelstellen.
ein Sachregister, in dem etwa Begriffe und Theorieelemente wie ›Divination‹, ›Missverstehen‹, ›Gattung‹ oder ›recensirende Kritik‹ verzeichnet
wären, ist nicht enthalten. Da die Vorlesungen weitgehend ohne Zwischentitel auskommen und die Herausgeber auch kein Inhaltsverzeichnis der einzelnen Vorlesungsnachschriften erstellt haben, sind die Texte kaum selektiv
nutzbar; Vergleiche einzelner aspekte und der nachvollzug ihrer begrifflichen entwicklung sind nicht ohne Weiteres möglich.
In seinem Manuskript zur Kritik unterscheidet Schleiermacher zwischen »ausgaben zum bequemen lesen« und »ausgaben für kritisches
lesen mit apparat« (S. 177). Der vorliegende Band der KGA schließt die
lücke einer ausgabe für kritisches lesen. noch mangelt es an einer kompakten Studienausgabe zum gleichsam bequemeren lesen, die – ähnlich
wie Franks ausgabe, aber auf Grundlage der KGA, so dass höheren philologischen ansprüchen genüge getan werden kann – eine auswahl wichtiger
Texte Schleiermachers zur Hermeneutik und Kritik versammelt und kostengünstiger, als es im rahmen einer Kritischen ausgabe naturgemäß möglich ist, zur Verfügung stellt. Die Voraussetzungen dazu sind nun geschaffen.
Schleiermacher bestimmte die auslegung als stetig fortschreitende Tätigkeit, die immer von Belangen der Kritik abhängig ist. auch die auslegung
von Schleiermachers hermeneutischen Texten ist längst nicht beendet. Sie
kann nunmehr aber, wie Schleiermacher selbst sagen würde, »auf dem Grund
einer tüchtigen philologischen Basis« (S. 433) fortgesetzt werden.
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