Protokoll zur Sitzung vom 19.11.2012 – Einführung in die Literaturtheorie Prof. Dr. Dieter Burdorf Hermeneutik Begriffsklärung Hermeneutik kommt aus dem Griechischen (ἑρμηνεύω hermēneuō) und bedeutet „erkläre“, „übersetze“. Im Allgemeinen bezeichnet Hermeneutik eine Theorie des Verstehens und Interpretierens von Texten. Die Hermeneutik diente schon in der Antike und im Mittelalter als Wissenschaft bzw. Kunst der Interpretation von Texten; im Besonderen der Auslegung der Bibel. Ihr Anwendungsbereich weitete sich später aus. Heute gilt die Hermeneutik als allgemeine Lehre von den Voraussetzungen und Methoden sachgerechter Interpretation. Vertreter der Hermeneutik Neben Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) und Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002) beschäftigte sich auch schon der Theologe, Philosoph und Pädagoge Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (21. November 1768 – 12. Februar 1834) mit der Hermeneutik. Er gilt gar als Begründer der modernen Hermeneutik. Schleiermachers Lebenswerk war es, die Texte des antiken griechischen Philosophen Platon (428/427 v Chr. – 348/347 v. Chr.) ins Deutsche zu übersetzen. Die Hermeneutik Schleiermachers Es gibt verschiedene Methoden der Hermeneutik, die oftmals auch Spezialhermeneutiken genannt werden. Sie gliedern sich in juristische, philosophische und in die theologische Hermeneutik. Schleiermacher war ein Vertreter der letzten Form. Er war als Theoretiker bestrebt eine allgemeine Hermeneutik zu entwickeln, wobei er sich hier auf einen einzigen Schriftsinn des Textes beschränkte. Auch bekommt bei Schleiermacher der Autor und dessen Absicht mehr Bedeutung für das Verständnis des Textes zugeschrieben. Daher unterscheidet der Theologe zwei Gebiete innerhalb der Hermeneutik, die beim Verstehen von Texten berücksichtigt werden sollten: Die grammatische Interpretation, die psychologische Interpretation Die grammatische Interpretation bedeutet, die Wortsphäre in eigener und in fremder Sprache zu ermitteln. Es gilt, alles zu berücksichtigen, was um ein Wort angesiedelt ist. Thematisiert werden sprachliche Zusammenhänge. Jede sprachliche Äußerung ist überindividuell, es wird allerdings durch den jeweils individuellen Gebrauch der Sprache auch das sprachliche System verändert. Die psychologische Interpretation klärt, was der Verfasser aussagen möchte. Es geht um die Elemente der Komposition. Der Rezipient muss die Genese des vorliegenden Textes „nachbauen“. Er sollte verstehen unter welchen Bedingungen der Autor schrieb und welche Gründe er hierfür hatte. Bei der psychologischen Interpretation ist der Stil die individuelle Einheit. In einer späteren Fassung Schleiermachers ist die psychologische Interpretation der zweite Aspekt der Hermeneutik und soll das Werk aus der Totalität der Persönlichkeit des Schriftstellers rekonstruieren. Ziel beider Interpretationen ist das Ineinandergreifen. Dies ergibt die Oszillation, also ein dynamisches System, das zwischen zwei (oder mehreren) Zuständen hin und her wechselt. Was wird damit angestrebt? Der Rezipient soll der unmittelbare Leser werden, um Anspielungen des Schriftstellers zu verstehen und sich in dessen Stimmungen hinein zu versetzen. Schleiermachers Maxime hierbei war, „die Rede zuerst ebensogut und dann besser verstehen als ihr Urheber“ (nach Schlegel: „Den Autor besser verstehen, als er sich selbst versteht.“) Durch die grammatische und psychologische Interpretation wächst also beim Rezipienten das Verstehen des Verfassers. Schleiermacher nannte hierfür auch den Begriff des divinatorischen Verfahrens – d.h. das Erahnen des Textverlaufes, wodurch eine gewisse Seelenverwandtschaft mit dem Autor kennzeichnend ist. Der Verstehensprozess des Interpreten ist demnach die Umkehrung des Schaffensprozesses des Autors. Akademierede „Rede über den Begriff der Hermeneutik“ Friedrich Schleiermachers Akademierede ist ein wichtiger Aspekt der hermeneutischen Theorie. Er äußert sich dazu, dass der Leser in allen Texten jeder Sorte mit hermeneutischen Aufgaben konfrontiert wird – sowohl in schriftlichen, als auch in mündlichen Texten. Auch ein „Zeitungsschreiber“ kann „Gegenstand“ für die „Auslegungskunst“ sein. Der Philosoph sieht als Grundproblem des Verstehens, dass man das Fremde dem Eigenen annähern muss. Auch wenn man der Meinung ist, dass in einem Text kaum etwas Fremdes sei, braucht man Operatoren, um eben dieses Fremde dem Eigenen anzunähern. Eine Grundoperation des psychologischen Interpretation ist es, in den Kopf des anderen einzudringen, indem man ihn ansieht und ihm am Besten in die Augen schaut. Dabei sieht man Gestik und Mimik und man kann den Gegenüber besser einschätzen. Des Weiteren ist Schleiermacher der Meinung, wir wenden die Hermeneutik nur an, wenn wir durch die Fremde der Sprache dazu angehalten werden. Ist uns diese nicht fremd, wenden wir uns den hermeneutischen Theorien nur dann zu, wenn wir den „Zusammenhang in den Operationen des Redenden nicht fassen können“. Wenn sich von Beidem besonders wenig darstellt, kann das Anwenden der Auslegungskunst „unauflöslich“ werden. Jedoch ist die Hermeneutik eine Disziplin, die zum Menschen dazugehört, denn wir wollen UND müssen andere verstehen. Friedrich Schleiermacher hat seine Theorie der Hermeneutik zu Lebzeiten nicht drucken lassen. Erst vier Jahre nach seinem Tod, 1838, veröffentlichte ein ehemaliger Hörer, seine Vorlesungsmitschriften unter dem Titel „Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament“. Quelle: Frank, Manfred (Hg.): Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher - Hermeneutik und Kritik, mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, Frankfurt am Main 1977.