Biblische Hermeneutik

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Philosophische Grundlagen Biblischer Hermeneutik
Litera gesta docet,
quid credas allegoria,
moralis quid agas
quid speres anagogia.
(„Der wörtliche Sinn lehrt, was geschehen ist,
der allegorische Sinn lehrt, was man glauben soll,
der moralische Sinn lehrt, was man tun soll,
der anagogische Sinn lehrt, was man hoffen soll.“)
Entsprechend der paulinischen Trias von Glaube, Liebe und
Hoffnung soll jede Bibelstelle über ihre historische Ursprungsbedeutung hinaus eine Dimension der Erbauung im Glauben, eine
Anleitung zum weltverbessernden oder -verändernden Handeln
und eine tröstende Eröffnung von Zukunftshoffnung besitzen. Man
muß sie – hermeneutisch wohlgeschult – allerdings jeweils neu entdecken.
Die Reformation hatte durchaus auch eine philosophische Dimension, wenngleich Martin Luther (1483–1545) Aristoteles als „Narristoteles“ verspottete. Sein Kampf gegen eine Überformung der ursprünglich biblischen Intentionen durch sekundäre philosophische
Lehren der katholischen Kirche basiert auch auf einer anderen Hermeneutik. „Die natürliche Sprache ist Frau Kaiserin, die geht über
alle subtile, spitze, sophistische Dichtung. Von der muß man nicht
weichen, es zwinge denn ein offenbarer Artikel des Glaubens; sonst
bliebe kein Buchstabe in der Schrift vor den geistigen Gauklern.“9
Luther rät: „Obwohl die Dinge, die in der Schrift betrieben sind,
etwas weites bedeuten, soll die Schrift darum nicht einen zwiespältigen Sinn haben, sondern allein den, wie die Worte lauten, behalten.
Danach soll man den unruhigen Geistern Urlaub geben, außer den
Worten nach den mannigfaltigen Deutungen der angezeigten Dinge
zu jagen und zu suchen. Doch daß sie zusehen und sich nicht in ihrer
Jagd versteigen, wie dem Gemsjäger geschieht … Es ist viel gewisser
und sicherer, bei den Worten und dem einfältigen Sinn zu bleiben; da
ist die rechte Weide und Wohnung aller Geister.“10 Oder spitz formuliert: „Über den Allegorien verliert man den rechten Grund und das
Verständnis der Schrift und führt die Leute nur auf Holzwege.“11 Lu9 Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakramenten
(1525), WA 18,180,17–20.
10 Auf das überchristlich usw. Buch Bocks Emsers zu Leipzig Antwort
(1521), WA 7,651,1–8.
11 Predigten über das 2. Buch Mose (1524–1527), WA 16,69,28–30.
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ther will Allegorien allenfalls als „Zierrat“12, als pädagogisches Mittel
für das einfache Volk gelten lassen. Statt aller hermeneutischen Taschenspielertricks, die die Menschen nur „bezirzen“, soll die Schrift
sich selber auslegen (Sacra scriptura sui ipsius interpres), wobei man
grundsätzlich von den klaren zu den unklaren Stellen vordringen soll
und niemals umgekehrt. Mit dieser starken Betonung des Wortsinnes
und dem Gedanken, daß sich die Bibel als in sich schlüssiger Kosmos
selbst auszulegen vermag, hat Luther im Zeitalter der Reformation
eine hermeneutische Revolution ausgelöst.
Jedoch führt der Versuch der Orthodoxie, im Gespräch mit der
Schulphilosophie den Ertrag der Reformation in lehrbuchmäßigen
Dogmatiken abzusichern, mit gewisser Notwendigkeit auf Augustin
zurück.13 Die Schrift muß mit den dogmatischen Grundwahrheiten
übereinstimmen. Zuerst hat Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) in
seinem Clavis scripturae sacrae (1567) die Verbalinspiration bis hin
zur Inspiration des hebräischen Konsonantentextes ausgesprochen.
Johann Gerhard (1582–1637) setzt Wort Gottes und Bibel vollständig
gleich; Gott selbst sei die causa principalis der Heiligen Schrift; die
Menschen seien nur causa instrumentalis, sie seien nicht im eigentlichen Sinne Autoren, sondern „Sekretäre Gottes, Hände Christi,
Schreiber und Notare des Heiligen Geistes, … Sklaven Gottes, Werkzeuge des Heiligen Geistes“. Spannungen und Widersprüche, theologisch Fragwürdiges oder gar Sachkritik an der Bibel darf es demnach
– entgegen der einsetzenden rationalistischen Bibelkritik – nicht
geben.
Auch der Pietismus kann sich von der Theorie der Mehrsinnigkeit
der Schrift nicht lösen, trotz der anderslautenden Absicht, die Bibel
im Wortsinn unmittelbar für den Glauben fruchtbar zu machen.
Indem die „Wiedergeburt“ und der daraus resultierende Glaube zur
Bedingung der Möglichkeit von Verstehen gemacht wird, hat jeder
biblische Text eine profane und eine geistliche Bedeutung. Drei pietistische Theoreme sind von erheblicher Bedeutung: Der Pietismus
entdeckt die konstitutive Bedeutung des Rezipienten im Verstehensprozeß; nicht jeder kann alles verstehen. Glaubenstexte kann nur derjenige tief erfassen, der selbst vom Glauben tief erfaßt ist. Zweitens
kommt mit der Beteiligung des Heiligen Geistes und seiner erleuch12
Eine kurze Form, das Paternoster zu verstehen und zu beten (1519), WA
6,15.
13 Vgl. K.-H. Michel, Anfänge der Bibelkritik. Quellentexte aus Orthodoxie und Aufklärung, Wuppertal 1985.
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tenden göttlichen Kraft die Grenze des rational-methodisch Machbaren und Verfügbaren deutlich in den Blick. Der distanzierte, rationalistische Umgang mit der Bibel erfordert als Ergänzung einen erbaulich-meditativen Zugang. Drittens wird die Bedeutung des Laien (v. a.
des durch Dogmatik und Philosophie Unverbildeten) herausgearbeitet. In den Collegia Pietatis soll nach den Pia Desideria (1675) von
Philipp Jakob Spener (1635–1705) die Bibel intensiv in ihrer Breite
und Fülle gelesen werden. Zumindest sollen täglich Losungen meditiert werden (nach Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf [1700–
1760]). Durch die Zentralstellung der Bibel im Ganzen der Theologie
gewinnt die Kenntnis des inspirierten Urtextes enorme Bedeutung, so
daß dem Pietismus für die wissenschaftliche Erforschung der Textüberlieferung große Bedeutung zukommt, so z. B. im Werk Johann
Albrecht Bengels (1687–1752).
Nach Hugo Grotius (1583–1645) und Baruch Spinoza (1632–1677)
in Holland, Richard Simon (1638–1712) in Frankreich und dem englischen Deismus fand die Aufklärung auch in Deutschland mit Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), Gotthold Ephraim Lessing
(1729–1781) und Immanuel Kant (1724–1804) ihre Höhepunkte,
schließlich in Johann Salomo Semler (1725–1791) und Johann August
Ernesti (1707–1781) ihre konsequente theologische Anwendung. Ihr
hermeneutisches Programm war es, aus jeder – also auch der biblischen – Überlieferung alle bloß zufälligen Geschichtstatsachen
auszuscheiden und den „Kern“ herauszupräparieren, der die ewigen
Vernunftwahrheiten, d. h. v. a. moralische Grundwerte, enthält. Das
hermeneutische Sieb, durch das alle Tradition hindurch mußte, war
der gesunde Menschenverstand, oder eher das, was man dafür hielt.
Auch wenn sich die vermeintlich ewig gültigen Wahrheiten vom heutigen Standpunkt aus als historisch bedingte Gewißheiten einer Epoche entpuppen, hat die Aufklärung mit ihrer (gescheiterten) Frage
nach dem überzeitlich Gültigen erheblich dazu beigetragen, die Geschichtlichkeit der biblischen Überlieferung zu entdecken.
Im deutschen Idealismus wurde die Frage nach dem Sinn und der
inneren Logik von Geschichte aufgegriffen und vor allem in der Geschichtsphilosophie Georg Friedrich Wilhelm Hegels (1770–1831)
mit der optimistischen Theorie eines dialektisch strukturierten, jedoch zielgerichteten weltgeschichtlichen Entwicklungsprozesses beantwortet. War auch mehr das Wünschen als das Wahrnehmen der
Realität der Vater des universalgeschichtlichen Gedankens, so blieb
doch die „Hegelsche Versuchung“, (heils)geschichtliche (Re-)Konstruktionen als legitimste Form des Verstehens anzusehen, bis heute
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stark wirksam. Verstehen bedeutet für viele, den Gang der Geschichte zu ordnen und das logische Zusammenwirken der unterschiedlichen Faktoren nachzuzeichnen.
Die Romantik hat teils im Gegenschlag zu Aufklärung und dürrem
Begriffsidealismus, teils aber auch in Fortführung von deren Frageintentionen der rein historischen Betrachtung der Tradition und damit
auch der Bibel Bahn gebrochen. Es entstand ein differenziertes ideographisches Wahrnehmungsvermögen, z. B. bei Johann Gottfried
Herder (1744–1803) in seinem Wissen um den Unterschied der je besonderen Zeiten und Völker.14 Diese Individualisierung der „Volksseelen“ verband sich einerseits mit einer großen Verehrung des Ursprünglichen, noch Unverdorbenen, von aller Kultur und Zivilisation
Unberührten, Natürlichen, Menschlichen; andererseits schwelgte
man im Gefühl geistlichen Fortschritts und glaubte, Gottes Pädagogik in der Weltgeschichte erkennen zu können. Mit diesem sich anbahnenden „rein“ historischen Denken war die Entdeckung und
Auslotung der Kategorie des Autors verknüpft. Man erkannte, daß
jede Schrift durch das geistige Erleben eines Individuums einen bestimmten Aussagewillen hat und in einer singulären Gedankenwelt
abgefaßt ist. Die großen Individuen wurden als Genies verehrt. Alles
Dogmatische, alles verstiegen Philosophische sollte abgestreift und
das wahre Leben einer reinen Seele freigelegt werden. Der wichtigste
Theoretiker der neuen „Autor-Hermeneutik“ ist Friedrich Daniel
Ernst Schleiermacher (1768–1834).15 Schleiermacher unterscheidet
zwischen zwei verschiedenen Grundformen des Verstehens: Das grammatische Verstehen versucht Unklarheiten durch komparativisches
Verstehen zu beseitigen, d. h. sprachliche Äußerungen durch philologische Analyse objektiv und intersubjektiv nachvollziehbar auf ihre
Struktur hin zu beleuchten. Von ganz anderer Natur ist das psychologische Verstehen; es erfordert ein Sich-Hineinversetzen in den Autor.
Ein Genie kann nur von einem kongenialen Geist verstanden werden.
Deswegen ist nach Schleiermacher nicht jedem jedwedes Verstehen
möglich; zwar gibt es verwandte Seelen, die einander ohne weiteres
verstehen; in anderen Fällen ist es aber auch möglich, daß einem
Leser ein bestimmter Autor verschlossen bleiben muß. Mit dieser
Vgl. besonders die Frühromantik bei Herder, der die „Stimmen der Völker“ (1778/79) einfühlsam voneinander abgehoben hatte.
15 Vgl. von M. Frank herausgegeben und eingeleitet: F. D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer
Texte Schleiermachers (stw 211), Frankfurt 1977.
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Konzeption von kongenialem Verstehen als Hineindenken und
Hineinleben in die individuelle Persönlichkeit des Autors entdeckt
Schleiermacher, daß es ein Moment des methodisch nicht Verrechenbaren im Verstehen gibt. Er gesteht zu, daß nicht allein durch
grammatische Erschließung oder durch „Zusammenstellung und
Abwägung minutiöser geschichtlicher Momente“, sondern durch
„das Erraten der individuellen Kombinationsweise eines Autors“
psychologisches Verstehen ermöglicht wird. Diese sich im unsicheren Bereich bloßen Erahnens und Erratens bewegende Interpretation ist „mehr divinatorisch“ und entsteht dadurch, „daß der Ausleger sich in die ganze Verfassung des Schriftstellers möglichst hineinversetzt“.16 Weil jedes tiefere Verstehen auf das Wagnis angewiesen
bleibt, Intentionen und Motive des Autors erahnen und auch erraten zu können, muß man von vornherein davon ausgehen, „daß sich
das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem
Punkt muß gewollt und gesucht werden“17. Dazu bedarf es eines individuellen Erkenntnisorgans, des „Sinns und Geschmacks“, die allein bestimmte Wirklichkeitsbereiche erfassen können. Nach dieser
Sicht ist eine Spezialisierung auch in der Bibelwissenschaft unvermeidlich; auch für den Laien, der wenig von der Seele des Autors
weiß, ist die Bibel – wie jede wertvollere Literatur – nicht leicht erschließbar. Es genügt nicht, Objektives zu rekonstruieren, man muß
auch Subjektives psychologisch nacherleben.18 Schleiermacher teilt
die Interpreten in zwei Klassen ein, die eine Klasse betrachtet die
Schriftsteller der Sprache und der Geschichte nach, die andere Klasse aber wendet sich „mehr der Beobachtung der Personen“ zu,
wobei „sich nur jeder auf diejenigen Schriftsteller beschränkte, die
sich ihm am willigsten aufschließen. Und es mag sich wohl auch
wirklich so verhalten, daß nur die Letzten, weil ihre Kunst weniger
zum Auseinandersetzen mitgeteilt werden kann, auch weniger öffentlich hervortreten, sondern sich der Früchte derselben im stillen
Genuß erfreuen.“19
Daß die Bibel in hermeneutischer Hinsicht eine Sonderstellung
einnimmt, hat vor allem der dänische religiöse Denker Sören Kierkegaard (1813–1855) in den „Philosophischen Brosamen“ (1844) herausgearbeitet. Mit seiner Betonung des Individuellen, Einmaligen,
Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 318f. (Hervorhebung M. O.).
Hermeneutik und Kritik, 92.
18 Vgl. a. a. O. 93.
19 A. a. O. 319.
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