ARBEITSFELD INTERPRETATION Subjektives Textverständnis Gleich ob sie von einem weiten oder von einem engen Literaturbegriff ausgeht, ist eine zentrale Aufgabe der Literaturwissenschaft die Arbeit am literarischen Text. Ihre Grundlage hat diese im Verstehen, d.h. einem komplexen Prozeß der Bedeutungs- bzw. Sinnbildung, in den menschliche Verstandestätigkeit, Erfahrungsfähigkeit und Einbildungskraft (Imagination) kreativ involviert sind. Beim Lesen fügt der Leser, gemäß der menschlichen Gewohnheit, in Sprachzeichen sinnvolle Mitteilungen zu vermuten, diese zu einer – für ihn – schlüssigen Aussage zusammen. Sein lesendes Verstehen vollzieht sich dergestalt, daß der Leser, der ein sprachliches und ein lebensweltliches Vorwissen mitbringt, prüft, ob der Text die vermutete bzw. die unterstellte Antwort bestätigt oder nicht. Bei diesem kreativen Prozeß des Verstehens entsteht subjektive Textbedeutung. Denn zum einen können allgemeine Bedeutungen eines Wortes durch individuelle semantische Nuancen angereichert und modifiziert werden, die der Lesende nicht oder nur unzureichend entschlüsseln kann. Zum anderen (re-)konstruiert der Leser den Gesamtsinn in je anderer Weise, da er ein Werk auf dem Hintergrund seiner eigenen Bedürfnisse und seiner persönlichen Erwartungen, seines spezifischen Kenntnisstands und seiner individuellen Weltsicht liest. Das von subjektiven Erfahrungen beeinflußte und weitgehend automatisierte lesende Verstehen, das sich als eine vom Text selbst motivierte Hypothesenbildung über den Text vollzieht, heißt in literaturwissenschaftlicher Terminologie Hermeneutik. Der aus griechisch hermeneuein (›verkünden, erklären, auslegen, zum Verstehen bringen‹) abgeleitete Begriff bezeichnet zunächst die sprachlich-grammatische Erklärung unverständlich gewordener Texte, darüber hinaus aber v. a. eine philosophische Ausprägung, die um 1800 aus dem Interesse an den der Auslegung zugrundeliegenden Prozesse entstanden ist. Sie sucht die Voraussetzungen und die Möglichkeiten, das Funktionieren und die Regularitäten des Verstehens zu erhellen. Wilhelm Dilthey (1833–1911) baute die philosophische Hermeneutik zu einer Wissenschaftstheorie aus und begründete auf dieser Grundlage erkenntnistheoretisch wie methodisch die Geisteswissenschaften, die – im Unterschied zu den nach dem Kausalitätsprinzip erklärenden Naturwissenschaften – auf dem geistigen Akt des Verstehens basieren und bei denen das Untersuchungsobjekt gerade nicht unabhängig vom Untersuchenden ist. Später begriffen Philosophen wie Martin Heidegger (1889–1976) und Hans Georg Gadamer (1900–2002) das Verstehen als universale Bestimmtheit des Daseins und als einen nicht-linearen und einen nie an ein Ende kommenden Vorgang. Heute gilt Hermeneuten der verstehende Akt als ein unabgeschlossener Prozeß, der sich stets in einer kreisförmigen Bewegung, dem hermeneutischen Zirkel, realisiert. Nach diesem Modell kann ein Text nur verstanden werden, wenn der Leser bei der Lektüre seiner Teile schon eine Vorstellung von der Bedeutung des Ganzen hat. So geht jede Lektüre von einem Vorverständnis, einer Erwartung bezüglich des Gesamten aus. Das Verstehen der Teile ist aber wiederum Grundlage für das Verständnis des Ganzen. Die erste Vorerwartung wird also im Leseprozeß verifiziert oder falsifiziert. Hermeneutischer Theorie zufolge werden demnach die einzelnen textuellen Komponenten nur in Bezug auf die Gesamtkomposition sinnhaft, während sie selbst wiederum die Bedeutung des ganzen Textes beeinflussen. Das auf diese Weise korrigierte und erweiterte Vorverständnis kann mit neuen Fragen an den Text herantreten und sich in diesem dialogischen Hin- und Her weiterentwickeln. Da das individuelle Vorwissen die notwendige Erkenntnisbedingung ist und das Verständnis eines Textes leitet, erweist sich aber jedes verstehende Lesen als subjektiv gefärbte Sinnproduktion. Hermeneutische Objektivierung des Subjektiven Von ihrem Selbstverständnis und ihrem Anspruch als Wissenschaft zielt eine hermeneutisch arbeitende Literaturwissenschaft auf die Objektivierung des subjektiven Sinnverstehens durch ein methodisch diszipliniertes Vorgehen: die reflektierte und die analysierende Rekonstruktion der individuellen Leseerfahrung, die die gewonnene Lesart auf ihre Gegründetheit im Text überprüft. Dieses regelgeleitete Verstehen, auch Interpretation genannt, überläßt sich weder der persönlichen Willkür des Interpreten, noch liefert sie sich einer sklavischen Fixierung auf den Wortlaut aus. Denn die Hermeneuten sind sich des Sachverhalts bewußt, daß Texte einen Eigensinn entfalten können, der nicht mit dem vom Autor beabsichtigten und nicht mit dem vom Leser wahrgenommenen Sinn kongruiert. Da aus unterschiedlichen literaturtheoretischen Positionen mit einer je eigenen Hermeneutik viele verschiedene Typen des Interpretierens resultieren, von denen aber keine Letztverbindlichkeit beanspruchen kann, existiert die Interpretation nicht. Gleichwohl hat die professionelle Auslegung bestimmte Schritte zu vollziehen, um der wissenschaftlichen Anforderung nach Nachvollziehbarkeit und nach Überprüfbarkeit zu entsprechen. Unverzichtbar ist eine sorgfältige Lektüre, die präzise den Wortlaut und den Aufbau eines Textes erfaßt. An sie schließt sich die Analyse seiner sprachlich-stilistischen und seiner gattungspoetischen Verfahren an, mit denen er Inhalt und thematische Aussage präsentiert. Gründet die Plausibilität einer Interpretation stets auf ihrer Nähe zum Text, so kann (und soll) dieser auch auf weitere Beziehungen zum historischen, geistes-, kultur- und literaturgeschichtlichen, politischen und sozialen Kontext, aber ebenso auf inhaltliche und auf formale Bezüge zu früheren, gleichzeitigen, nachfolgenden Texten befragt werden. In diese Untersuchung ist, um möglichst viele Aspekte des Textes und die mit ihnen verbundenen Bedeutungsmöglichkeiten erschließen zu können, pluralistisch Wissen aus unterschiedlichen Quellen einzubeziehen. Dabei sind insbesondere frühere Lesarten zu berücksichtigen, da sie der aktuellen Deutung als Orientierung dienen und ermöglichen, aus der Spannung zwischen alter und neuer Auslegung weitere Einsichten zu gewinnen. In jedem Fall muß der Interpretierende die ihn motivierenden Interessen, den Zweck der Interpretation sowie die literaturtheoretischen Annahmen, auf denen sein Vorgehen basiert, offenlegen. Ferner muß er die Art, wie er sein Ziel zu erreichen sucht, sowie die Mittel, mit denen er seinen Nachweis führt, deutlich machen. Martina Neumeyer, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe für Romanisten, Berlin: Erich Schmidt, 2003, 16–20. Peter Rusterholz, ›Hermeneutische Modelle‹, in: Heinz-Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München: DTV, 52002, 101–136. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr 6 1990.