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Einführung in die
Psychotherapiewissenschaft:
Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie
4. Vorlesung am 05.04.2017
VO 602.999
Sommersemester 2017
Ao. Univ.-Prof. Dr. Peter Gasser-Steiner
Mag. Dave J. Karloff
Univ.-Prof. Dr. Walter Pieringer
Kontakt: [email protected]
Theorien der unreinen Vernunft
Theorien der unreinen Vernunft
stehen „in einem ironischen Verhältnis
zur Tradition eines reinen Denkens, das ängstlich
sofort zu denken aufhört, wenn es auf Paradoxien,
Selbstwidersprüche, Sphärenwechsel und
Inkonsistenzen trifft. Gerade an jenen Bruchstellen,
an denen es um Unreines und um Häresien, also
um Abfall in jedem Wortsinn geht, ist die Kraft einer
Analyse geboten, die mehr zu sagen hat als ‚so
nicht‘“ (Hörisch, 2011, S.10).
Theorien der unreinen Vernunft
Dialektik und Dialogik
„Aufmerksames
Zuhören führt zu zwei
Arten von Gesprächen,
dialektischen und
dialogischen.“
(Sennett, 2012, S. 35)
Richard Sennett (*1943)
Lehrt Soziologie und Geschichte an der London
School of Economics und an der New York
University. Zahlreiche Preise und Publikationen,
zuletzt: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft
zusammenhält, Berlin, 2012
www.richardsennett.com
Dialektik
Dialektik:
Der Begriff wird durchaus uneinheitlich
verwendet, allgemein: „Kunst der
Unterredung“
Seit G.W.F. Hegel:
1. Lehre vom Widerspruch,
2. von der Einheit der widersprechenden
Gegensätze und
3. von der Methode zur Aufhebung der
Widersprüche
Georg Wilhelm
Friedrich Hegel
(1770-1831)
Dialektik
Dialektische Triade:
Position (These) – Negation (Antithese) –
Negation der Negation (Synthese)
Widerspruch/Negation wird als Antrieb
oder Motor der Wirklichkeit aufgefasst.
Dementsprechend soll/kann dialektischer
Widerspruch nicht einfach aufgelöst
sondern als Synthese dreifach
aufgehoben (aufbewahrt, entschärft, auf
höhere Ebene gehoben) werden.
Karl Marx
(1818-1883)
Dialektik
Die Verneinung/Negation ist demnach eine kreative,
schöpferische Kraft.
Das Ziel der Dialektik als Kunst der Unterredung
(etwa in den Platonischen Dialogen) besteht in der
Herstellung eines neuen, gemeinsamen
Verständnisses (vgl. auch Sennett, 2012).
Dialektik
Dialektik bringt Anerkennung und Verbindung der
gegensätzlichen Positionen (und GesprächspartnerInnen) durch Identifikation/Übereinstimmung.
Bsp.: „Ich habe gemerkt, dass ich gehen kann,
also kann ich bleiben.“
Dialektik
Dialektisch-emotionale Komponente (auf Ebene der
Synthese?): Sympathie
„Sympathie überwindet Unterschiede durch eine in
der Vorstellung vollzogene Identifikation“ (Sennett,
2012, S. 38).
•Feindesliebe
•Bill Clinton (1992): „I feel your pain.“
(http://www.youtube.com/watch?v=sBmFwKH5bVY)
Dialektik
Doch: "Wenn alle Leute eine Übereinstimmung, einen
Konsens hätten, wäre es ja gar nicht nötig weiterhin zu
kommunizieren. Konsens ist daher kommunikationslogisch gesehen Nonsens. Der Dissens, der Diskurs ist
es, der uns am Reden hält" (Hörisch, 2011).
Dialektik/Dialogik: Verweilen beim Negativen
Sigmund Freud (1856-1939)
Psychoanalyse
Kritische Theorie
Max Horkheimer (1895-1973)
Theodor W. Adorno (1903-1969)
Jürgen Habermas (*1929)
u.v.a. // Dialektik der Aufklärung (1944)
Dialogik
„Wo ein Widerspruch laut wird,
dort, meint man, sei etwas falsch,
statt zu begreifen,
dass dort, wo kein Widerspruch vorliegt,
etwas falsch sein muss.“
(Goldschmidt, 1993)
Dialogik
Die Dialogische Philosophie wurde von
Goldschmidt (1948) in Abgrenzung zur
Dialektik formuliert.
Zwei einander widersprechende
Standpunkte sind demnach auszuhalten,
schöpferisch auszutragen und in ihrer
ebenbürtigen Bedeutung anzuerkennen
und nicht in einer Synthese aufzuheben.
Hermann Levin
Goldschmidt
(1914-1998)
Dialogik
„Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner
zwiefältigen Haltung. Die Haltung des Menschen
ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die
er sprechen kann. Die Grundworte sind nicht
Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine
Grundwort ist das Wortpaar ‚Ich-Du‘. Das andre
Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es; (...) Somit ist
auch das Ich des Menschen zwiefältig. Denn das
Ich des Grundworts Ich-Du ist ein andres als das
des Grundworts Ich-Es“(Buber, 2008, S.3).
Dialogik
„Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das
Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des
Grundworts Ich-Es. Wenn der Mensch Ich
spricht, meint er eins von beiden (...) Ich
sein und Ich sprechen sind eins“ (Buber,
2008, S.4).
Martin Buber
(1878-1965)
Dialogik
Dialogisch ist eine Unterredung, wenn sie nicht darauf
hinausläuft, dass man Übereinstimmungen findet
(Ergebnisoffenheit).
„Obwohl man möglicherweise nicht zu gemeinsamen
Auffassungen gelangt, werden die Beteiligten sich durch
den Austausch ihrer eigenen Sichtweise stärker bewusst
und entwickeln ein besseres Verständnis füreinander“
(Sennett, 2012, S. 36).
Dialogik
Dialogisch-emotionale Komponente: Nicht Sympathie und
Übereinstimmung (wie in der Dialektik) sondern Empathie
und Neugier (vgl. Sennett, 2012).
„Ich höre Ihnen aufmerksam zu“ (Begegnung) statt
„I feel your pain“ (Umarmung).
„Man kann dialogische Gespräche durch allzu große
Identifikation mit dem Gesprächspartner auch ruinieren“
(Sennett, 2012, S.37).
Dialogik und Hermeneutik
„Wir sind diejenigen“, sagte Phouchg, „denen er die
Antwort geben wird auf die große Frage nach dem Leben
...!“
„... dem Universum ...“, sagte Luunquoal.
„... und allem ...!“ (...)
„Guten Morgen“, sagte Deep Thought endlich.
„Äh ... Guten Morgen, oh Deep Thought“, sagte Luunquoal
ängstlich, „hast du ... äh, das heißt ...“
„Eine Antwort für euch?“ unterbrach ihn Deep Thought
würdevoll. „Ja. Die habe ich.“ (...)
Dialogik und Hermeneutik
„Sie wird euch bestimmt nicht gefallen“, bemerkte Deep
Thought.
„Sag sie uns trotzdem!“
Na schön“, sagte Deep Thought. „Die Antwort auf die
Große Frage ... “
„Ja ...!“
„... nach dem Leben, dem Universum und allem (...) lautet
...“, sagte Deep Thought und machte eine Pause. (...)
„Ja ...!“
„... lautet ...“
„Ja ...! ...???“
Dialogik und Hermeneutik
„Zweiundvierzig“, sagte Deep Thought mit
unsagbarer Erhabenheit und Ruhe.
Aus: Douglas Adams (2001). Per Anhalter
durch die Galaxis, Heyne, S.174f.
Dialogik und Hermeneutik
Dilthey: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen
wir.“ (Ideen über eine beschreibende und zergliedernde
Psychologie,1894)
Hermes: Götterbote (Philologische Hermeneutik und
historische Interpretation – Verstehen auf der Objektseite)
Hermeneutik meint allgemein „die Kunst oder Fertigkeit des
Auslegens“ (Vedder, 2000, S.13), um Sinn und
Bedeutung(szusammenhänge) zu verstehen.
Dialogik und Hermeneutik
Hermeneuse: Inhaltliche Erklärung oder Interpretation
eines Textes, Kunstwerkes oder des Verhaltens/Handelns
(Vgl. Vedder, 2000)
Hermeneutik: Fragt nach den Regeln, die bei der
Auslegung oder Interpretation von Texten angewandt
werden (hermeneutischer Zirkel)
Dialogik und Hermeneutik
Philosophische Hermeneutik: Fragt nach den
Bedingungen der Möglichkeit, unter denen wir einen Text
oder das Handeln einer Person verstehen können (das
Verstehen verstehen).
Hermeneutische Philosophie: Der Mensch ist ein
hermeneutisches Wesen, das sich selbst versteht und
verstehen muss. Das Seiende ist interpretationsbedürftig
geworden, „ist selbst etwas, das in der Interpretation und
durch sie seine Gestalt erhält“ (Vedder, 2000, S.19).
Hermeneutik: Friedrich Schleiermacher
Hermeneutischer Zirkel: Das Ganze muss
aus dem Einzelnen und das Einzelne aus
dem Ganzen verstanden werden.
Psychologische Hermeneutik („dunkles Du“)
Höhere Maxime des Verstehens: „Man hat
nur verstanden, was man in allen seinen
Beziehungen und in seinem
Zusammenhang nachkonstruiert hat. –
Dazu gehört auch, den Schriftsteller besser
zu verstehen, als er sich selbst.“
Friedrich
Schleiermacher
(1768-1834)
Hermeneutik: Friedrich Schleiermacher
Verstehen heißt bei Schleiermacher wesentlich ein
Sichhineinversetzen in einen anderen.
Verstehen wäre demnach nicht allein durch Komparation,
sondern erst durch den sie ergänzenden divinatorischen
Akt (durch Empathievermögen) möglich (vgl.
Schleiermacher, 1835/1976).
„Verstehen wird so zu einem Rekonstruktionsprozeß der
fremden Individualität“ (Poser, 2001, S. 218).
Hermeneutischer Zirkel
!
Abb.: Der hermeneutische Zirkel (Kunzmann et al., 2001, S. 236)
Hermeneutischer Zirkel
Hermeneutik: Wilhelm Dilthey
Hermeneutik wird als grundlegende
Methode der Geisteswissenschaften (dazu
zählt Dilthey übrigens auch die
Psychologie) gekennzeichnet.
„Nur was der Geist geschaffen hat,
versteht er. Die Natur, der Gegenstand der
Naturwissenschaft, umfasst die
unabhängig vom Wirken des Geistes
hervorgebrachte Wirklichkeit. Alles, dem
der Mensch wirkend sein Gepräge
aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der
Geisteswissenschaften.“
Wilhelm Dilthey
(1833 – 1911)
Hermeneutik: Wilhelm Dilthey
Gegenstände
geisteswissenschaftlicher
Untersuchung
werden in ihrem
konkreten
Zusammenhang
(Kontext)
aufgefasst.
(It‘s the context,
stupid!)
Hermeneutik: Wilhelm Dilthey
Das Verstehen fremden Daseins, vergangener Kulturen
und Persönlichkeiten führt zu einer Umformung des
Selbst (Resonanz- bzw. Rückkoppelungseffekt).
Ob etwas gänzlich verstanden ist, lässt sich nie mit
Sicherheit feststellen (Historizität, Unvollständigkeit des
Materials, externe Kriterien...).
Hermeneutik: Martin Heidegger
„Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das
je eigene Dasein in seinem
Seinscharakter diesem Dasein selbst
zugänglich zu machen, mitzuteilen, der
Selbstentfremdung, mit der das Dasein
geschlagen ist, nachzugehen. In der
Hermeneutik bildet sich für das Dasein
eine Möglichkeit aus, für sich selbst
verstehend zu werden und zu sein“
(Heidegger, 1975 ff., S.12).
(1889 – 1976)
Hermeneutik: Hans-Georg Gadamer
Wie ist Verstehen möglich?
Hermeneutische Differenz: Das was
verstanden bzw. gedeutet werden soll,
ist zunächst fremd und muss erst im
Verstehens- bzw. Deutungsakt
angeeignet werden.
(1900 – 2002)
Hermeneutik: Hans-Georg Gadamer
Hermeneutik findet zwischen Fremdheit und
Vertrautheit statt. "In diesem Zwischen ist der wahre
Ort der Hermeneutik." (Gadamer, 1972, S.279)
Es gilt "immer auch (...) die geschichtliche Situation
des Interpreten" zu reflektieren (Gadamer, 1972,
S.280f.). (Wirkungsgeschichte)
Voraussetzungen: gemeinsamer Überlieferungszusammenhang (Vorwissen/Vorurteil), Offenheit,
Revisionsbereitschaft
Hermeneutik: Hans-Georg Gadamer
„Im Prozeß des Verstehens wird mehr als ein
Verstehen subjektiven Meinens eines Einzelnen
geleistet, denn wegen der Verwurzelung in der
gemeinsamen Tradition (die sich nicht abstreifen lässt,
ohne den eigenen Lebensnerv zu treffen) führt das
Verstehen im wechselseitigen Kontrollverfahren des
Ausgleichs von Vorverständnis und fremder Meinung
oder fremdem Text zu einem Resultat, das jedem, der
in der selben Tradition steht, ebenfalls zugänglich und
nachvollziehbar ist: das Resultat ist insofern
intersubjektiv“ (Poser, 2001, S. 223).
Hermeneutik: Hans-Georg Gadamer
!
Abb.: Der hermeneutische Zirkel als Spiralbewegung des Verstehens (Poser, 2001, S. 222)
Hermeneutik: Hans-Georg Gadamer
Hermeneutik ist vor allem die Kunst des Zuhörens und
hat bei Gadamer (Wechsel-)Spielcharakter (doppelte
Verbindung zur Dialogik).
Tiefenhermeneutik: Szenisches Verstehen
Psychoanalyse ist nach Lorenzer ein
„kritisch-hermeneutisches Verfahren,
dessen kritische Potenz darauf beruht, dass
Psychoanalyse, an den Leidenserfahrungen
der Subjekte ansetzend, das System der
handlungsbestimmenden, sprachlich
kommunizierten Bedeutungen
problematisiert, um so defiziente
Interaktionsstrukturen zu ermitteln und zu
ändern“ (Lorenzer, 1972, S.13).
Alfred
Lorenzer
1922 – 2002)
Tiefenhermeneutik: Szenisches Verstehen
„Motor des psychoanalytischen Erkenntnisprozesses ist
(...) nicht das Interesse an Selbstreflexion, sondern sinnlich
erfahrbares Leiden, das nach Aufhebung verlangt. (…)
Psychoanalyse als kritisch-hermeneutisches Verfahren
bezieht ihren Impuls aus der unerträglichen realen Lage
der Subjekte, sie lebt vom ‚Widerspruch‘ und zielt auch auf
nichts anderes (…) als darauf, blind erfahrene
Widerspruchskonsequenzen in bewußte Erfahrung zu
verwandeln“ (Lorenzer, 1973).
Tiefenhermeneutik: Szenisches Verstehen
Ziel der Psychoanalyse ist „die Herstellung des durch
Konflikt und Konfliktabwehr zerstörten Interaktionsgefüges
in Rekonstruktion der unterbrochenen Bildungsprozesse
des Individuums (...).
Die Rekonstruktion der Lebensgeschichte dient dabei der
Rekonstruktion des Interaktionsgefüges und der
Konstituierung der subjektiven Möglichkeit, Widersprüche,
die verändernde Praxis fordern, zu reflektieren.
Tiefenhermeneutik: Szenisches Verstehen
Psychoanalyse sprengt damit keine objektiven
Handlungsgrenzen, wohl aber beseitigt sie die subjektiven
Barrieren gegen die Entwicklung jener Interaktionsformen,
die verändernde Praxis fundieren“ (Lorenzer, 1972, S.13).
Interaktionsformen sind Bausteine der
Persönlichkeitsstruktur, die aus den Erfahrungen von
Interaktionen hervorgehen. Sie umfassen neben der
leiblich-unbewussten Registration in bloßen
Erinnerungsspuren (Engramme) die ganze Bandbreite
symbolischer menschlicher Ausdrucksformen.
Tiefenhermeneutik: Szenisches Verstehen
Methodischer Schlüssel der Tiefenhermeneutik ist das
szenische Verstehen. Das szenische Verstehen gliedert sich
in vier Schritte:
1) Logisches Verstehen (Verstehen des Gesprochenen)
2) Psychologisches Verstehen (Verstehen des/der Sprechenden)
3) Szenisches Verstehen (Verstehen der Muster in der Interaktion)
4) Tiefenhermeneutisches Verstehen (Verstehen der unbewussten Erzählung)
Tiefenhermeneutik: Szenisches Verstehen
Die Interaktion kann nur verstanden werden, wenn man die
Symbole als Elemente der menschlichen Interaktion
einbezieht (Symbolischer Interaktionismus).
Psychotherapie hat es mit der Rekonstruktion
aufgespaltener Sprachspiele und der Restituierung von
kognitiven und emotionalen Akten, von Reflexionsvermögen
und Handeln in einer erneuerten Interaktion zu tun.
Anwendung auch in der Kulturpsychologie. Bsp.: http://www.youtube.com/watch?v=2Z7YM1PmQhY
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