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Resümee zur Sitzung 1 der Vorlesung zur Linguistischen Gesprächsanalyse:
(Wolfgang Boettcher – 15.4.2008)
Erste Informationen zur „Linguistischen Gesprächsanalyse“
Die „Linguistische Gesprächsanalyse“ ist eine Teildisziplin der Linguistischen Pragmatik; sie hat sich seit Beginn der 70er
Jahre in Deutschland etabliert. Sie wird unter verschiedenen Fachbegriffen geführt: „Dialoganalyse“, „Dialogforschung“,
Konversationsanalyse, früher auch unter „Dialoggrammatik“; diese Termini spiegeln teilweise unterschiedliche Konzepte,
teilweise sind es inzwischen terminologische Dubletten geworden.
Sie untersucht an transkribierten (= wörtlich verschrifteten) Gesprächsaufzeichnungen, wie die Gesprächsbeteiligten
miteinander ein Gespräch funktional unter spezifischen Zwecken durchführen. Dabei kann man den Analysefokus
vorrangig auf die spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen (Gespräche vor Gericht, Gespräche in der Schule,
usw.) legen oder auf die konkreten Prozeduren (einander begrüßen, etwas erklären, Missverständnisse reparieren, eigenes
und fremdes Image schonen usw.) oder auf die ggf. festen Strukturen (Phasengliederung, Gesprächsmuster usw.) oder
zahlreiche weitere.
Wissenschaftsgeschichtlich gesehen ist die Gesprächsanalyse die (vorläufig) letzte Etappe in der Entwicklung der
Sprachwissenschaft, die von der Laut-Linguistik (u.a. Paul) in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts über Saussures WortLinguistik Anfang des 20. Jahrhunderts zu Chomskys Satz-Linguistik in den 50er Jahren und Harwegs Text-Linguistik in
den 60er Jahren schließlich zur Gesprächs-Linguistik führte: also eine schrittweise Aufstockung der Komplexität des
Gegenstands.
Theoretische Hinweise auf den grundsätzlich dialogischen Charakter von Sprachgebrauch gibt es natürlich schon lange;
vgl. z.B. Humboldts Einschätzung aus dem Jahre 1827:
„Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des
Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiderung bedingt“.
Eine systematische Erforschung war aber erst nach dem Aufkommen von Tonbandaufnahmen möglich.
Man kann drei direkte Quellen für die Gesprächslinguistik annehmen:
Zum einen die Erforschung der gesprochenen Sprache (insbesondere in der Freiburger Außenstelle des Instituts für
Deutsche Sprache): Viele der spezifischen Charakteristika mündlicher Äußerungen (die sie von schriftsprachlichen Sätzen
unterscheiden) lassen sich erst angemessen verstehen, wenn diese Äußerungen im Kontext des Gesprächs analysiert
werden, in dem sie ihre Funktion und damit auch ihre sprachliche Oberfläche erhalten: vgl. die Äußerung einer Dozentin in
einem hochschulischen Sprechstundengespräch bei der Rückgabe einer Hausarbeit an die Studentin:
„… Ich finde Ihre Arbeit ähm (1) ja also ähm ganz gut [schnell:] es war ja Ihre erste Proseminararbeit, ne?“
Die auffällige Häufung von Verzögerungen (Pause + Verzögerungspartikel „ähm“) vor der Äußerung der Bewertung „ganz
gut“ und das ebenso auffällige beschleunigte Weitersprechen danach sind nicht Zufall oder belanglose Eigenschaft
gesprochener Sprache, sondern haben zu tun mit der der Dozentin offenbar unangenehmen Bewertungsäußerung (=
offenbar findet die Dozentin die Arbeit schlecht, hat aber Probleme, dies offen anzusprechen). Es handelt sich also um eine
funktionale Abweichung an dieser Stelle des Gesprächs. Das in der Literaturliste angegebene Buch von Schank/Schoenthal
von 1976 enthält als Abschluss eine (erste) gesprächslinguistische Analyse des Ratschlaggesprächs, dessen Äußerungen
vorher (lediglich) als Material für Studien zur Gesprochenen Sprache dienen.
Die beiden weiteren – Sprechakttheorie und Ethnomethodologie - werden in späteren Sitzungen erläutert.
Wichtige frühe Publikationen zur Gesprächsanalyse aus den 70er Jahren:
aus dem Ansatz der Erforschung der gesprochenen Sprache:
Schank, G. / Schoenthal, G.: Gesprochene Sprache. Eine Einführung in Forschungsansätze und Analysemethoden, Tübingen
1976 – dort das letzte Kapitel mit einer kompletten Analyse eines transkribierten Radio-Ratschlaggesprächs.
aus dem Ansatz der Sprechakttheorie:
Wunderlich, D.: Kap. 7 "Entwicklungen der Diskursanalyse" in: "Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt 1976, 293-395
aus dem Ansatz der amerikanischen "ethnomethodologischen Konversationsanalyse":
Sacks, H. / Schegloff, E. A. / Jefferson, G.: A simplest systematics for the organisation of turn-taking for conversation. In:
Language 50 (1974), 696-735
als selbständiger neuer Forschungsansatz (symbolisch als erster Artikel im ersten Heft der damals gerade neu erschienenen Zeitschrift
"Studium Linguistik" veröffentlicht):
Kallmeyer, W. / Schütze, F.: Konversationsanalyse. In: Studium Linguistik 1 (1976), 1-28
Gespräche sind in Realzeit von zwei (oder mehr) Personen kooperativ erzeugte Prozesse (die im Transkript als Produkt
vorliegen). Im Unterschied dazu sind (schriftsprachliche) Texte, auch wenn es sich um als Dramen-Dialog präsentierte
Texte (zum Beispiel: „Maria Stuart“) handelt – in historischer Zeit von einer Person erzeugte Produkte.
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Man kann einige allgemeine Eigenschaften von Gesprächen herausarbeiten
(aus:
analysieren. Eine Einführung in konversationsanalytische Methoden“. Opladen 1999, 8):
Arnulf
Deppermann:
„Gespräche
„Eigenschaften [...], die für Gespräche ganz allgemein gelten, wo auch immer und von wem auch immer sie geführt werden. [...]:
Konstitutivität: Gesprächsereignisse werden von den Gesprächsbeteiligten aktiv hergestellt.
Prozessualität: Gespräche sind zeitliche Gebilde, die durch die Abfolge von Aktivitäten entstehen.
Interaktivität: Gespräche bestehen aus wechselseitig aufeinander bezogenen Beiträgen von Gesprächsteilnehmern.
Methodizität: Gesprächsteilnehmer benutzen typische, kulturell (mehr oder weniger) verbreitete, d.h. für andere erkennbare und
verständliche Methoden, mit denen sie Beiträge konstruieren und interpretieren sowie ihren Austausch miteinander organisieren.
Pragmatizität: Teilnehmer verfolgen in Gesprächen gemeinsame und individuelle Zwecke, und sie bearbeiten Probleme und
Aufgaben, die unter anderem bei der Organisation des Gesprächs selbst entstehen.“
und – aus meiner Sicht – auch:
Ganzheitlichkeit: Gespräche sind komplexe Gebilde, die von den Gesprächsbeteiligten selber in ihrem Anfang und Ende aus
umgebenden Interaktionsphänomenen ausgegliedert werden.
Untersuchungsgegenstände der Gesprächsanalyse sind (nach Deppermann a.a.O., 15-17):
1.
einzelne Gesprächspraktiken
2.
Herausarbeitung kommunikativer Gattungen/Genres
3.
Bewältigung von Interaktionsproblemen bzw. -aufgaben
4.
Kommunikationstypik bzw. -spezifik einzelner Institutionen
5.
Kommunikationsportraits sozialer Gruppierungen
Diese Gegenstandsliste ließe sich erweitern:
6.
historische Aspekte
7.
`Gespräche´ als literarische Konstrukte
8.
Gespräche und Gesprächsführung im Kultur-Kontrast
9.
Gesprächsführung einer Person (beim Coaching)
10.
einzelner Gesprächstyp (bei institutionsspezifischen Fortbildungen)
Studierende können die zahlreichen Gesprächstypen und –verläufe im Studienalltag nutzen, um Gespräche bewusst
wahrnehmen, diagnostizieren und sich besser in ihnen bewegen zu lernen (vgl. das transkribierte Sprechstundengespräch).
Lesehinweise:
Basislektüre von Linke u. a. (= wird in der 2. Sitzung als Kopie ausgeteilt)
aus dem Ansatz der Erforschung der gesprochenen Sprache (= über den oben genannten Text hinaus):
Schwitalla, Johannes: Gesprochene-Sprache-Forschung und ihre Entwicklung zu einer Gesprächsanalyse. In:
Brinker, Klaus [u.a.] (Hrsg.): Text und Gesprächslinguistik: ein Internationales Handbuch zeitgenössischer
Forschung (2 Bde.); de Gruyter (2000 f.); 2. Band: Gesprächslinguistik (2001), 896-903
Fiehler, Reinhard: das Kapitel in der Duden-Grammatik von 2005 zu `gesprochener Sprache´ und zu
`Gespräch´
Informationen zum Gesprächstyp „Sprechstundengespräch“:
Vor dem Hintergrund unserer Vorerfahrungen mit Sprechstunden - insbesondere im medizinischen Bereich - nehmen wir
an, `Sprechstunde´ sei ein spezifischer Gesprächstyp.
Tatsächlich haben hochschulische Sprechstunden aber eine Vielzahl von Gesprächszwecken mit jeweils sehr
unterschiedlichen Verläufen, Krisenmöglichkeiten, Gesprächsanforderungen an die Beteiligten.
Unter Sprechstunde verstehe ich daher lediglich einen gesprächsorganisatorischen Rahmen, innerhalb dessen sehr
unterschiedliche Gesprächstypen (mit jeweils spezifischem Gesprächszweck) realisiert werden. Solche Gesprächszwecke
sind zum Beispiel:
studienorganisatorische Zwecke (z.B. Unterschrift holen)
fachliche Unterstützungswünsche (z.B. Einholen von Literaturhinweisen)
kooperationsbezogene Anliegen (z.B. Kontakt- und Image-Pflege vor einer Prüfung: „Ich wollt´ nur noch mal
reinschauen“)
Ratschlag/Beratung (zu Studien- oder zu Prüfungsproblemen)
bewertungsbezogene Zwecke (z.B. Vorbesprechung oder Nachbesprechung einer Leistungsnachweisarbeit)
`karrierebezogene´ Anliegen (z.B. Bitte um Gutachten/Empfehlungen)
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In manchen Gesprächen werden mehrere Zwecke hintereinander verfolgt. Manchmal verfolgen Studierende
einen Gesprächszweck nicht mehr weiter (ev. weil zu großes Risiko). Manchmal wird der Zweck gewechselt. Manchmal
verfolgt man einen manifesten (Thesenpapier vor Prüfung einreichen) und dabei einen latenten Zweck (z.B. Imagepflege).
Studierende sind in solchen Sprechstunden manchmal Bittsteller (Gutachten), manchmal Bewertete
(Leistungsnachweisarbeiten), manchmal selber Bewerter (wenn sie Lehrenden Feedback geben). Fast immer sind sie zwar
gesprächs-initiativ, aber für die Erreichung eines Gesprächszweckes von den Lehrenden abhängig.
Für Interessierte (nicht klausurrelevant):
Einige Ergebnisse unserer empirischen gesprächslinguistischen Forschung zu Sprechstundengesprächen:
Sprechstunden sind für Studierende unvertraute soziale Räume, die zudem weder (wie in Seminaren) durch andere
Studierende noch (wie in Prüfungen) durch andere Lehrende kommunikativ kontrolliert werden.
Studierende haben wenig Vorerfahrungen, sich in Eins-zu-eins-Gesprächen mit Ranghöheren selbstbewusst einzubringen;
ihr defensiver Umgang mit Sprechstundengesprächen verschärft dieses Defizit - mit heiklen Folgen für ihr Verhalten in
Bewerbungsgesprächen beim Berufseinstieg.
In Massenfächern erleben sich die meisten der Studierenden als von Lehrenden wenig wahrgenommen, meist auch als
wenig kompetent und daher den Lehrenden nicht willkommen; sie handeln dieser Einstellung folgend in
Sprechstundengesprächen defensiv.
Lehrende freuen sich über Anerkennung durch Studierende, ihnen reichen dazu jedoch positive Gespräche mit einzelnen
Studierenden. Sprechstundenbetreuung für die üblich große Zahl der bei ihnen Studierenden ist für sie – insbesondere für
Lehrende mit unabgeschlossener Karriere oder gar Zeitstelle – eine erhebliche zeitliche Belastung, für die sie weder in ihrer
inneren Arbeitsplatzbeschreibung noch im Kollegium noch ministeriell angemessenen Platz und Anerkennung erhalten;
Betreuungszeit ist für sie daher Forschungszeit-Verlust.
Studierende erleben Lehrende unter Zeitdruck und sehen sich selber in der Zeit-Konkurrenz zu den (wartenden)
Mitstudierenden. Sie übernehmen das Zeitproblem der Lehrenden, indem sie ihre eigenen Zeitansprüche vorauseilend
minimieren.
Typische Eröffnungsformel bei der Anliegensformulierung: „Ich wollt ma nur kurz fragen“ oder „Ich hab nur ne kleine Frage“.
Typisches Problem von Studierenden: Sie sprechen nur einige ihrer Fragen an, in der Sorge, sie beanspruchten zu viel Zeit.
Studierende sind (und fühlen sich) in vielen Sprechstunden von den Lehrenden hinsichtlich Leistungsansprüchen, Kritik
und Bewertung abhängig und auf deren Wohl-Wollen angewiesen. Dies begünstigt ein Verhalten der kommunikativen
Selbstrücknahme.
Studierende präsentieren sich und ihre Arbeits- und Prüfungsvorhaben nicht als attraktiv, und sie insistieren gegenüber den
Lehrenden nicht auf den eigenen Vorstellungen, sondern geben den Lehrenden und deren Vorstellungen vorschnell viel
Raum. Sie vermeiden damit fachliche Auseinandersetzungen und entschärfen so zwar die momentane Gesprächssituation,
belasten aber ihre eigene weitere Arbeit oft erheblich.
Typische Einleitungsformeln von Studierenden, die an sich schon ein klares Hausarbeitsthema haben: „Ich hab ma so gedacht, ich mach
ma vielleicht was zu ...“ (statt z.B. selbst-bewusster: „Ich möchte zu ... arbeiten; ich finde das fachlich sehr interessant, und ich möchte
Ihre Zustimmung zu diesem Vorhaben“)
Lehrende haben, wenig geübt in zugewandter Konfrontation, Schwierigkeiten, in Sprechstunden Ansprüche und Bewertung
gegenüber Studierenden deutlich zu formulieren. Aus Sorge vor Konflikten bevorzugen sie indirekte, undeutliche
Kommunikationsformen; sie entziehen Studierenden damit Orientierung und erhöhen deren Studienprobleme.
Lehrende verdrängen mit ihren (gut gemeinten) Wissensdifferenzierungen die oft noch irritierbaren ersten Arbeitsideen von
Studierenden. Die Studierenden geben daraufhin oft nach oder ziehen sich zurück.
Studierende zeigen ihre Kompetenz oft nur defensiv: durch Zustimmung und Nachfragen; sie wählen oft `kleine Fluchten´
(Vertagung) oder `große Fluchten´ (Studienabbruch).
Lesehinweise zum Gesprächstyp „Sprechstundengespräche (an der Hochschule)“:
Boettcher, W. / Meer, D. (Hg.): „Ich wollte nur kurz fragen“ – Formen knapper Kommunikation:
Sprechstundengespräche an der Hochschule, Neuwied (Luchterhand) 2000
Meer, D. (2003): Sprechstundengespräche an der Hochschule. Dann jetzt Schluss mit der Sprechstundenrallye.
Hohengehren (Schneider Verlag)
weitere Sprechstundentranskripte (als PDF-Dateien):
Boettcher, W. / Limburg, A. / Meer, D. / Zegers, V. (Hg.): „ich komm (0) weil ich wohl etwas das thema meiner hausarbeit etwas
verfehlt habe,“ – Sprechstundengespräche an der Hochschule. Ein Transkriptband. Radolfzell (Verlag für Gesprächsforschung)
2005 – http://www.verlag-gespraechsforschung.de
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