Predigt über 1. Mose 33,3-4

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Predigt über 1. Mose 33,3-4:
Die Versöhnung von Jakob und Esau
(Begegnungen XI)
Linsebühl, 10. Juni 2007; von Pfr. Stefan Lippuner
Lesung: 1. Mose 32 & 33 (aus: Neukirchener Kinderbibel)
Viele Jahre lang lebte Jakob im fremden Land.
Aber immer mehr sehnte er sich nach Hause
zurück. Ob ihm sein Bruder Esau noch böse
war? Ob er es wagen durfte, ihn
wiederzusehen? Jakob hatte immer noch
Angst, wenn er an Esau dachte.
Eines Nachts sprach Gott zu Jakob im Traum:
"Auf Jakob! Geh wieder in deine Heimat
zurück! Und vertraue mir! Ich gehe mit dir." –
Da fasste Jakob Mut, rief seine Frauen und
Kinder herbei und brach auf von Haran mit
allem, was er besass.
Nach Wochen sah Jakob endlich in der Feme
das Land Kanaan. Da schickte er Boten zu
Esau voraus, die sollten ihm ansagen: "Jakob,
dein Bruder, ist da!" Aber bald darauf kamen
die Boten wieder zurück und meldeten Jakob:
"Wir haben Esau getroffen. Er kommt dir
entgegen. Doch nimm dich in acht! Er ist nicht
allein. 400 Männer begleiten ihn!"
Als Jakob das hörte, erschrak er und verlor
allen Mut. Er überlegte bei sich: "400 Männer?
Das ist ja ein richtiges Heer! Womöglich will
Esau Krieg mit mir führen? Was soll ich nur
tun?"
Und Jakob betete zu Gott: "Ach Herr! Du hast
mir bisher immer geholfen. Du hast mich
gesegnet und reich gemacht. Ich bin es nicht
wert, was du an mir getan hast. Aber ich bitte
dich jetzt: Rette mich vor meinem Bruder!
Lass es nicht zu, dass er uns tötet!"
Danach suchte Jakob in aller Eile aus seinen
Herden die schönsten Tiere aus: Ziegen,
Schafe, Böcke und Widder, auch Kamele,
Kühe und Esel, eine riesige Herde. Die
schickte er als Geschenk mit drei Knechten
Esau entgegen. "Wer weiss?" dachte Jakob.
"Vielleicht ist Esau versöhnt, wenn er sieht,
was ich ihm schenke?"
Schon brach die Nacht herein. Da schlug
Jakob sein Zelt am Fluss Jabbok auf. Aber in
dieser Nacht fand Jakob keine Ruhe. Er
wälzte sich auf seinem Lager und dachte voll
Angst an den kommenden Morgen.
Schon ging die Sonne auf. In der Feme rückte
Esau mit seinen Männern an. Schnell lief ihm
Jakob entgegen und verneigte sich vor ihm
siebenmal bis auf die Erde. Aber Esau eilte
auf Jakob zu, und fiel ihm um den Hals. Da
war mit einem Mal alle Angst verflogen. Beide
Brüder lagen sich in den Armen und weinten
vor Freude. Und beide spürten: Gott hatte sie
miteinander versöhnt!
Liebe Gemeinde.
Jakob will in seine Heimat zurückkehren, nach 20 Jahren in der Fremde. Aber er hat immer
noch Angst vor seinem älteren Zwillingsbruder Esau. Und das mit gutem Grund (manche
von Ihnen kennen wahrscheinlich die Vorgeschichte). Jakob hat nämlich seinen Bruder
zweimal aufs hinterhältigste betrogen: Einmal kam Esau ausgehungert von der
Feldarbeit nach Hause; Jakob kochte gerade ein Linsengericht. Esau bat ihn um etwas zu
essen, aber Jakob gab ihm erst etwas davon, als Esau ihm dafür sein Erstgeburtsrecht
verkaufte.
Und später betrog Jakob den Esau auch noch um den väterlichen Segen (der hatte in der
damaligen Zeit einen ausgesprochen hohen Stellenwert). Als nämlich der Vater Isaak
seinen Sohn Esau segnen wollte, schickte er ihn los, ein Wild zu jagen und ihm ein
Wildgericht zuzubereiten. Doch als Esau weg war, nahm Jakob ein Ziegenböcklein, ging
zum Vater und gab sich als Esau aus. Er erdreistete sich also, seinen Vater ins Gesicht
anzulügen. Und weil Isaak kaum mehr sehen konnte, gelang die Täuschung. So bekam
Jakob den väterlichen Segen, den eigentlich Esau erhalten sollte.
Kein Wunder, dass Esau sehr wütend wurde und Jakob umbringen wollte. Darum musste
Jakob in ein fremdes Land fliehen. Er ging zu seinem Onkel Laben. Dort arbeitete er viele
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Jahre lang, bekam dadurch seine beiden Frauen Lea und Rahel und wurde ein
wohlhabender Mann.
Und nun will er also in seine Heimat zurückkehren. Aber eben: Wie wird wohl sein Bruder
Esau reagieren? Kann er ihm wohl vergeben oder ist er immer noch von Wut und Hass
bestimmt? – Jakobs Angst wird noch grösser, als er hört, dass Esau ihm mit 400
bewaffneten Männern entgegenzieht. Er versucht noch, Esau etwas zu besänftigen, indem
er ihm eine grosse Herde mit Tieren als Geschenk vorausschickt. Aber ob Esau dieses
Geschenk annehmen wird?
Am folgenden Tag kommt es zur Begegnung zwischen Jakob und Esau. Und da
geschieht das Wunder (ich meine, es ist wirklich ein Wunder): Esau greift Jakob nicht an,
sondern rennt ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und umarmt ihn mit Tränen der Freude
in den Augen. Nicht wegen der Geschenke; die will er nachher nämlich gar nicht annehmen.
Sondern weil in seinem Herzen Vergebung und Versöhnung gewachsen ist. – Ich muss
sagen: Mich fasziniert diese Begegnung von Esau und Jakob ungemein. Zwei Menschen,
die Feinde waren, Todfeinde, werden miteinander versöhnt. Ein gewaltiges Wunder.
Wenn ich heutzutage um mich schaue, in meiner näheren Umgebung wie auch in der
weiten Welt, dann sehe ich sehr viel, wo auch ein solches Wunder nötig wäre, wo
Versöhnung geschehen sollte. Wenn zum Beispiel eine Tochter zusammen mit ihrer
Familie ihren alten und kranken Eltern gegenüber, die vielleicht sogar in der gleichen Stadt
wohnen, bewusst jeden Kontakt abgebrochen hat, dann ist das doch etwas Tragisches.
Oder wenn Geschwister nicht mehr miteinander reden wegen irgendwelchen ErbschaftsStreitigkeiten. Wenn Nachbarn einander nicht mehr "Grüezi" sagen wegen Zwistigkeiten um
die gemeinsame Waschküche oder den Garagenvorplatz. Wenn Schüler einander
abschlagen, einander das Velo kaputt machen usw., weil sie verschiedenen Jugendbanden
angehören. Wenn eine Büroangestellte von ihren neidischen Kolleginnen psychisch
fertiggemacht wird ('Mobbing' nennt man das) – und so weiter, und so fort. Sie kennen
sicherlich auch solche Situationen, sind vielleicht sogar selbst von einer solchen betroffen.
Situationen, bei denen es in meinem Innern schreit: "Kann da nicht endlich Versöhnung
geschehen?"
Der gleiche innere Schrei kommt in mir auch hoch, wenn ich durch Zeitung, Radio oder
Fernsehen in die weite Welt hinausschaue. In wie vielen Ländern herrschen Hass und
blutiger Streit zwischen Völkern und Volksgruppen! Nur ein paar Stichwörter, ich muss gar
nicht mehr dazu sagen: Irak, Israel, Darfur, Afghanistan, Sri Lanka, Somalia, Korea – ich
könnte noch viele Länder und Gebiete auf unserer Erde aufzählen. Überall Feindschaft,
Hass, Fanatismus, Terror, Krieg. Darum auch da: "Kann da nicht endlich Versöhnung
geschehen?"
Was aber braucht es, damit es zu Versöhnung kommen kann; damit sich Menschen, im
Kleinen wie im Grossen, miteinander versöhnen können, wie dies bei Jakob und Esau
geschehen durfte? – Ich meine, es sind zwei Dinge, die entscheidend sind. Auf der einen
Seite (in unserer Geschichte auf der Seite von Jakob) die Bereitschaft, zu Schuld zu
stehen. Hass, Streit, Unfriede wird immer dadurch verursacht, dass Menschen auf
irgendeine Art und Weise schuldig werden aneinander. Der erste Schritt zur Versöhnung ist
darum der, dass ich erkenne und eingestehe, wo und wie ich schuldig geworden bin, wo
unter Umständen auch meine Familie, meine Vorfahren, meine Volksgruppe etc. schuldig
geworden sind. Schuld erkennen und eingestehen, sich dieser Schuld und ihren
Konsequenzen auch stellen und mit dem Bewusstsein dieser Schuld und mit echter Reue
wieder auf den anderen zugehen, das ist nötig, damit es zu Versöhnung kommen kann.
Ganz klar, das ist alles andere als einfach. Ich meine sogar, das ist etwas vom
Allerschwierigsten für uns Menschen, denn es ist demütigend und tut weh, Schuld
einzugestehen und zu Schuld zu stehen. Viel lieber ent-schuldigen wir uns, schieben wir
Schuld ab, versuchen wir, Schuldvorwürfe zurückzuweisen, uns aus der Verantwortung zu
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stehlen und das schlechte Gewissen zu verdrängen. Das zeigte sich wieder deutlich bei den
kürzlich stattgefundenen Prozessen um das Swissair-Grounding und um den
Flugzeugzusammenstoss bei Überlingen.
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Und doch bin ich überzeugt: Versöhnung, im Kleinen zwischen einzelnen Menschen wie im
Grossen zwischen ganzen Völkern, Versöhnung ist nur möglich, wenn Schuld erkannt,
eingestanden und aufgearbeitet wird.
Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite, auf der Seite von Esau ist eine Bereitschaft
nötig, die auch alles andere als einfach ist, nämlich die Bereitschaft zu vergeben, und
zwar wirklich und unwiderruflich zu vergeben. "Ja, ja, ist schon gut", das hat man schnell
einmal gesagt. Aber oft bleiben die schlechten Gefühle, das Misstrauen und die Vorwürfe
weiterhin bestehen im Herzen und im Kopf. Vergeben heisst: den anderen ganz freigeben
aus seiner Schuld, ihn entlassen aus allen, auch den durchaus berechtigten Vorwürfen. So
hat echtes Vergeben wirklich (wie man oft sagt) mit Vergessen zu tun. Nicht die Situation
vergessen, das ist (vor allem in schweren Fällen) meist nicht möglich; aber das SchuldigWerden des anderen vergessen. Vergeben habe ich dann wirklich, wenn ich meinen
ehemaligen Feind von Herzen in die Arme schliessen kann, wie Esau den Jakob.
Das sind also die beiden Dinge, die nötig sind, damit Versöhnung zwischen Menschen
geschehen kann: die Bereitschaft, zur Schuld zu stehen, und die Bereitschaft, wirklich
zu vergeben. Wobei ich denke, dass in den allermeisten Konflikten von beiden Parteien
gleichzeitig beide Dinge, beide Schritte gefordert sind. Denn es gibt wahrscheinlich nur
sehr wenige Konflikte, in denen nur und allein die eine Seite schuldig geworden ist. Meist
beruht das Schuldig-Werden ja auf Gegenseitigkeit. – Versöhnung, nach der wir uns so
sehnen, Versöhnung kann also dort geschehen, wo alle Beteiligten zu ihrer Schuld, zu
ihrem eigenen Schuldanteil stehen können und den anderen wirklich und ganz vergeben
können.
Allerdings ist das (wie gesagt) nicht einfach; ja ich meine, es ist letztlich sogar unmöglich
rein aus unserer Menschlichkeit heraus. Unser menschliches Herz ist aus sich heraus
letztlich nicht fähig, ganz zur Schuld zu stehen und hundertprozentig zu vergeben. Echte
Versöhnung muss darum letztlich und grundlegend von Gott selbst gewirkt sein.
Im Neuen Testament, im Epheserbrief befasst sich der Apostel Paulus mit der Feindschaft,
die damals zwischen Juden und Heiden bestand, auch zwischen Christen jüdischen
Ursprungs und Christen heidnischen Ursprungs. Und da hinein sagt Paulus: "Christus ist
unser Friede. Er hat die beiden Teile zu einem Ganzen gemacht und die Mauer der
Feindschaft abgebrochen. Er hat die zwei eins gemacht, indem er Frieden stiftete durch das
Kreuz." [Epheser 2,14-16]
Durch Jesus Christus also wird Versöhnung von verfeindeten Menschen möglich. –
Wir haben Freunde, die in Jerusalem wohnen und dort als 'Gemeinschaft der Versöhnung'
wirken. Sie versuchen, Gottes Liebe zu allen Menschen zu leben, von Jesus als dem
Friedensstifter zu erzählen und so Versöhnung zwischen den so verfeindeten Juden,
Arabern und Christen zu bewirken. Und zumindest im Kleinen gelingt ihnen das auch.
Immer wieder dürfen sie erleben, wie Menschen, wenn sie die Liebe Gottes erfahren und in
eine Glaubensbeziehung zu Jesus Christus hineinkommen, bereit und fähig werden, sich
mit Menschen aus anderen Volksgruppen zu versöhnen und mit ihnen Gemeinschaft zu
haben.
Christus ist unser Friede. Im Glauben an ihn, in der Lebensbeziehung zu ihm wird
Versöhnung möglich, im Kleinen und auch im Grossen. Beten wir also dafür, dass der Geist
der Versöhnung von Jesus Christus mehr und mehr zur Wirkung kommt in unserer Welt, in
den Feindschaften der Völker wie in den Streitigkeiten zwischen Familienmitgliedern,
Nachbarn, oder Kollegen. Wenn wir uns persönlich für Jesus Christus öffnen und uns von
seiner Liebe bestimmen lassen, dann dürfen wir Versöhnung erleben und selber zu
Botschaftern der Versöhnung werden.
AMEN
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