doc - Hainberg-Gymnasium Göttingen

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Südkorea von Guido Jura
Noch im Jahre 1960 zählte Südkorea zu den ärmsten und wirtschaftlich rückständigsten
Ländern der Erde. 2003 - keine zwei Generationen später - belegte das Land auf der
internationalen Skala des BIP pro Kopf mit 12 628 US Dollar schon Rang 13 [2006:
20.499 US $, Rang 5, ergänzt] und war im Bereich der hoch entwickelten Industrie und
Konsumgüter ein gleichgewichtiger Wettbewerber der etablierten Industrieländer.
Neben diesem "koreanischen Wirtschaftswunder", das dem deutschen im Hinblick auf
die makroökonomischen Daten in nichts nachsteht, gibt es eine zweite, vielleicht noch
markantere Parallele zwischen beiden Ländern: die Teilung der Nation als Folge des
Zweiten Weltkrieges. Zweifellos ist die Grenze am 38. Breitengrad sowohl in ihrem
Bestand als auch hinsichtlich ihrer möglichen Überwindung von so allgegenwärtiger
Relevanz, dass jegliche Entwicklung im südlichen Teil der koreanischen Halbinsel stets
vor diesem Hintergrund gesehen werden muss.
Die Republik Korea (Südkorea) ist mit einer Fläche von 99 392 Quadratkilometern und
einer Einwohnerzahl von rund 48 Millionen Menschen (jährliche Wachstumsrate 0,6
Prozent) 2003 eines der am dichtesten besiedelten Länder der Erde (482
Einwohner/Quadratkilometer). Gleichzeitig ist kaum eine zusammenhängende Region
der Erde gebirgiger als Korea, was eine extrem ungleiche Bevölkerungsverteilung
befördert: So leben derzeit im Großraum Seoul rund 22,5 Millionen Menschen. Die
Bevölkerung ist dabei ethnisch recht homogen, in religiöser Hinsicht dagegen eher
heterogen: Zwölf Millionen Buddhisten, neun Millionen Protestanten und drei Millionen
Katholiken bilden die zahlenmäßig größten Glaubensgemeinschaften. Aufgrund des
Landschaftsprofils des in der gemäßigten Klimazone gelegenen Landes, das vier
ausgeprägte Jahreszeiten kennt, sind lediglich die westliche und die südliche
Küstenebene landwirtschaftlich nutzbar. Insgesamt sind das nicht mehr als 20 Prozent
der Landesfläche.
Wechselvolle Geschichte
Im östlichen Teil Asiens gelegen, war die koreanische Halbinsel sowohl regional wie
auch geopolitisch über Jahrhunderte hinweg von besonderem strategischen Interesse.
Nach wechselvoller Geschichte konnte sich die Region erst nach dem
chinesischjapanischen Krieg von 1894/95 vom chinesischen Einfluss emanzipieren,
geriet dann aber 1905 unter das Protektorat der neuen Regionalmacht Japan. Von 1910
bis 1945 stand Korea sogar unter japanischer Annexion und war japanische Kolonie.
Die Japaner unterwarfen das Land mit dem Ziel, es zum wichtigsten Reisanbaugebiet
für die Kolonialmacht auszubauen. In dieser Absicht zerschlugen sie die zu dieser Zeit
noch immer in Korea herrschende agrarischfeudale Gesellschaftsordnung: Sie teilten
den Landbesitz des Adels im Rahmen einer Landreform auf und schufen so eine völlig
neue Sozial und Gesellschaftsstruktur, die zusammen mit dem Ausbau der Infra- und
Kommunikationsstruktur zur Grundlage des späteren wirtschaftlichen Aufstieges Koreas
werden sollte. Dieser setzte ab 1939 ein, als die chemische Industrie wie auch die
Schwerindustrie durch die Kriegsproduktion einen enormen Wachstumsschub erhielten.
Somit hatte das Land bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bereits den Weg vom
Agrarland bis an die Schwelle zu einem Industrieland zurückgelegt.
Mit der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg endete die japanische
Kolonialherrschaft. Korea verlor seine japanisch dominierte wirtschaftliche und
wissenschaftliche Führungselite und zugleich den wichtigsten Kapitalgeber und
Absatzmarkt. Die auf der Konferenz von Jalta beschlossene Teilung des koreanischen
Gebietes (die nördlich des 38. Breitengrades gelegenen 55 Prozent der Landfläche
sollten von sowjetischen, die südlich davon gelegenen 45 Prozent von amerikanischen
Truppen kontrolliert werden) und die daraus resultierenden Staatsgründungen stellten
einen weiteren schweren Schock für das Land dar. Die Vorteile einer gewachsenen,
sich binnenwirtschaftlich ergänzenden Wirtschaftsstruktur (Metall, Chemie und
Energieproduktion im Norden, Leicht und Textilindustrie im Süden), konnten nicht
länger genutzt werden. Ohne die Chance auf eine kurzfristige Konsolidierung wurden
die beiden jungen Staaten, die sich von Beginn an feindlich gegenüber standen,
zwischen 1950 und 1953 zum Schauplatz des Koreakrieges. Er begann zunächst als
Bürgerkrieg, nahm aber mit dem Eingreifen der USA zugunsten Südkoreas
internationale Dimensionen an. Nach Beendigung der Kriegshandlungen durch einen
Waffenstillstand, der anstelle eines offiziellen Friedensvertrages noch heute in Kraft ist,
profitierte Südkorea aufgrund seiner strategischen Bedeutung bis 1961 von enormen
Kapitalzuflüssen in Form von Wiederaufbau und Wirtschaftshilfegeldern vor allem aus
den USA. Die Vereinigten Staaten sind zumindest für die Republik Korea bis heute der
(neuerdings aber nicht mehr unumstrittene) wichtigste Partner.
Das Ausbleiben von Reformen sowie die um sich greifende Korruption verstimmten im
ersten Jahrzehnt nach dem Krieg aber nicht nur mehrfach den einflussreichen
Verbündeten jenseits des Pazifiks, sondern führten 1961 auch zum Putsch des Militärs.
Die neuen Machthaber in Seoul unter General Park Chunghee richteten umgehend alle
gesellschaftlichen Kräfte auf den wirtschaftlichen Ausbau und eine strikte
Exportorientierung aus und machten Südkorea zu einem "autoritären
Entwicklungsstaat". Das Regime schränkte politische und gesellschaftliche Freiheiten
radikal ein und hielt mit staatlich verordnetem Lohn und Sozialdumping den Faktor
Arbeit im internationalen Vergleich billig. Die Tätigkeit von Gewerkschaften galt
zunehmend als verdächtig, Streiks waren verboten. Auf diese Weise kompensierte
Südkorea den Mangel an modernen Produktionsmitteln sowie das weitgehende Fehlen
einer leistungsstarken unternehmerischen Elite. Es legte so das Fundament zu einer
beispiellos dynamischen Entwicklungseiner Volkswirtschaft, die bis heute fortwährt und
selbst die schwere Finanzkrise von 1997 eindrucksvoll überstanden hat. Längst
ersetzen die Produkte der modernen Stahl, Elektro-, Schiffbau- und Automobilindustrie
die traditionellen Exportgüter Textilien, Sperrholz, Perücken und Tabak. Das Land
intensivierte auch die eigene Forschung und Produktentwicklung.
Allerdings zahlte die südkoreanische Bevölkerung einen erheblichen Preis für diesen
strukturellen und außenwirtschaftlichen Quantensprung: Politische und ökonomische
Freiheiten blieben den Bürgerinnen und Bürgern fast drei Jahrzehnte lang weitgehend
vorenthalten.
Wandel der letzten Jahrzehnte
Erst 1987 hob die Staatsmacht das Kriegsrecht auf, auf dessen Grundlage sie nach
politischen Unruhen seit 1980 regiert hatte. Gemäß der neuen Verfassung wurde das
Land zu einer präsidialen Demokratie und garantierte die von zahlreichen Dissidenten
und breiten Bevölkerungsschichten lange Zeit vermissten Menschen und Bürgerrechte.
Die neue innenpolitische Kultur öffnete Südkorea die Türen zu Auftritten auf dem
internationalen Parkett: 1988 richtete das Land die Olympischen Spiele aus, 1991 trat
es gemeinsam mit Nordkorea den Vereinten Nationen bei, 1996 wurde es Mitglied der
OECD. Spätestens mit der Präsidentschaft des prominentesten ehemaligen
Regimekritikers und Friedensnobelpreisträgers, Kim Dae Jung (1998-2003), bekräftigte
das Land die Nachhaltigkeit seiner politischen Kehrtwende. Im Jahre 2002 zelebrierte
Südkorea mit der erfolgreichen gemeinsamen Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft
mit seiner ehemaligen Kolonialmacht Japan vor den Augen der Welt ein Stück
Friedensdividende der besonderen Art.
Die Wirtschaft prosperiert, 2002 wurden rund sechs Prozent Wachstum erzielt, und
endlich partizipieren auch die breiten Bevölkerungsschichten an dieser Entwicklung. In
den letzten Jahren ist das Lohnniveau deutlich gestiegen (es kommt inzwischen sogar
schon zu Abwanderungen südkoreanischer Unternehmen in Billiglohnländer wie
Malaysia und Indonesien), und so gewinnt auch der Binnenmarkt zunehmend an
Bedeutung. Die Arbeitslosenquote lag im März 2003 bei 2,7 Prozent, was faktisch
Vollbeschäftigung bedeutet.
Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass Südkorea zahlreiche Schatten der
Vergangenheit verfolgen, die das in jüngster Zeit erfolgsverwöhnte Land vor enorme
Herausforderungen stellen:
Ungewisse Zukunftsperspektiven
Nordkorea ist in mancherlei Hinsicht Dreh und Angelpunkt für die weiteren
Entwicklungen in Südkorea, wobei sich neuerdings Spannungen vor allem zwischen
den Generationen zeigen: Die Älteren scheinen in Erinnerung an das Engagement der
USA im Koreakrieg und an die umfangreichen Hilfen in den 1960er Jahren bereit zu
sein, die harte Haltung Washingtons gegenüber Nordkorea, das dort seit Januar 2001
zur "Achse des Bösen" gerechnet wird, zu unterstützen. Dagegen fordern die Jüngeren
- mehr als zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger sind jünger als 40 Jahre - verstärkt
die Emanzipation von den USA. Sie wollen eine eigenständige Korea-Politik, die auf
Wandel durch Annäherung setzt. Beide Positionen spiegeln sich in der Politik des
Landes schon seit längerem wider, spielten im Präsidentschaftswahlkampf 2002/03
aber eine entscheidende Rolle: Roh Moohyun, der im Februar 2003 die Präsidentschaft
übernahm, versprach im Wahlkampf Südkoreas Neutralität im Falle eines Krieges
zwischen den USA und Nordkorea. Das brachte ihm im Land mehrheitlich Sympathien
und den Wahlsieg ein. Bei allen Wünschen nach Wiedervereinigung wissen die
Südkoreaner jedoch, dass sie im Falle eines plötzlichen Zusammenbruchs ihres
nördlichen Nachbarn angesichts dessen gravierender Wirtschaftsschwäche eine
ökonomisch und soziopolitisch enorme Last zu schultern hätten.
Die Perspektiven der südkoreanischen Politik gegenüber Nordkorea bleiben insgesamt
ambivalent: Pjöngjang setzt offenkundig auf eine Strategie der Mischung aus
Drohgebärden und Einlenkung, die USA erwarten von Seoul eine solidarische Haltung
in ihrer vom "Krieg gegen den Terror" geprägten Politik gegenüber Nordkorea. In
diesem Dilemma gefangen, bemüht sich die Regierung unter Präsident Roh Moohyun
vor allem auch jenseits der ökonomischen Interessen um die Intensivierung des
politischen Dialogs und des kulturellen Austausches mit Japan, den Ländern der
Europäischen Union, Russland und China, um die in vielen Bereichen dominierende
Ausrichtung auf die USA abzuschwächen. Andererseits hegt sie Hoffnungen, dass
Peking und bedingt auch Moskau das nordkoreanische Regime im Sinne süd- bzw.
gesamtkoreanischer Interessen beeinflussen. Im Mai 2004 trafen sich zum ersten Mal
seit dem Ende des Koreakrieges militärische Delegationen Nord- und Südkoreas auf
Generalsebene, um jenseits des internationalen Konflikts über Pjöngjangs
Atomprogramm Maßnahmen zur Entspannung an der innerkoreanischen See und
Landesgrenze zu vereinbaren und um Vertrauen aufzubauen. Bei
Wirtschaftsgesprächen wurde jüngst sogar die Öffnung der Demarkationslinie
vereinbart: Im Herbst 2004 soll mit dem Bau von zwei Straßen und zwei
Eisenbahnlinien begonnen werden, ein regulärer Verkehr soll demnach bereits 2005
beginnen. Dies würde zu der sich vorsichtig abzeichnenden partiellen Öffnungspolitik
Nordkoreas passen und wäre gleichwohl ein Sprung in eine neue Ära der bilateralen
Beziehungen zwischen beiden Koreas. Ob diese Politik nachhaltig sein wird, muss sich
allerdings erst noch erweisen.
In der Innenpolitik kann die noch junge Demokratie einerseits auf Erfolge verweisen:
Die Menschenrechtssituation wurde erkennbar verbessert, und die Demokratisierung
des Landes schreitet genauso fort wie der Aufbau einer maßvollen staatlichen
Sozialpolitik. Es fehlen aber noch wichtige Weichenstellungen, um strukturelle Defizite
aus der Vergangenheit zu überwinden: Die schwere Finanz und Wirtschaftskrise, die in
Südkorea im November 1997 sichtbar wurde, kann zwar gemäß der
makroökonomischen Daten als erfolgreich bewältigt gelten (den vom IWF seinerzeit
eingeräumten Kredit brauchte Südkorea nicht in voller Höhe abzurufen und konnte ihn
überdies vorzeitig zurückzahlen; im Juli 2002 erreichte der Stand der Devisenreserven
mit 115,5 Milliarden US-Dollar einen neuen Höchststand, und das Wirtschaftswachstum
erreichte nach 1998 mit 6,7 Prozent bereits im Folgejahr wieder 10,9 und 2000 9,3
Prozent); doch jene Krise förderte die Probleme einer über Jahrzehnte staatlich
angeleiteten Wirtschaft und die damit verbundenen strukturellen und personellen
Verflechtungen zu Tage: Korruption und Intransparenz von Entscheidungen. Die
Entflechtung der Großkonzerne, die Entstaatlichung der Wirtschaft und die
Emanzipation der Politik von nicht autorisierter Einflussnahme müssen gerade
angesichts der Globalisierung, zu deren größten Profiteuren Südkorea sich bislang
zählen kann, konsequent fortgeführt werden. Die jüngsten Entwicklungen setzen
positive Akzente: Südkorea darf 2004 mit einem Wachstum seiner inzwischen reifen
Volkswirtschaft um rund fünf Prozent rechnen. Die Bevölkerung zeigt inzwischen
demokratisches Bewusstsein: Nach der wahltaktisch motivierten Amtsenthebung von
Präsident Roh Moohyun durch das Parlament kam es im März 2004 zu öffentlichen
Massenprotesten; bei den Parlamentswahlen im April 2004 verloren die Gegenspieler
Rohs massiv an Wählerzuspruch, während die Partei des Präsidenten gestärkt aus der
Wahl hervorging. Mit dem so ökonomisch und partiell auch politisch konsolidierten Tiger
(HDI im internationalen Ländervergleich: Rang 30, 2003 [Rang 26, 2006, ergänzt]) wird
jedenfalls auch global weiterhin zu rechnen sein.
Quelle: Informationen zur politischen Bildung (Heft 286), 2005
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