Hessischer Rundfunk Redaktion: Heike Ließmann Aufnahme: Marlene Breuer WISSENSWERT Die europäische Idee – vom 17. Jahrhundert bis heute Von Michael Marek Sendung: 29.5. 2007, 8.30 –8.45 Uhr, hr2 Sprecher 1 Sprecher 2 O-Töne und Musik in dabs: Europa Idee (Welle 13) 07-042 COPYRIGHT: Diese Manuskripte sind urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf sie nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (zum Beispiel Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder 1 Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors / der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Einblendung 1: Musikakzent „Europahymne“ [0: ] [Daniel Barenboim, Ludwig van Beethoven/The Ninth Symphonies, WEA 1999, LC 4281] 2.Sprecher: [Regie: über Einblendung 1 legen/verblenden/Zitat] „Wir sagen zu Frankreich, zu England, zu Preußen, zu Österreich, zu Spanien, zu Italien, zu Russland: Es wird ein Tag kommen, wo auch euren Händen die Waffen entsinken werden. Es wird ein Tag kommen, wo der Krieg zwischen Paris und London, zwischen St. Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin ebenso töricht erscheinen und ebenso unmöglich sein wird als er zwischen Rouen und Armeniers, zwischen Boston und Philadelphia unmöglich wäre und töricht erscheinen würde.“ 1.Sprecher: [Regie: über Einblendung 1 legen/verblenden/Zitat] Victor Hugo in seiner Eröffnungsansprache zum 2. internationalen Friedenskongress 1849 in Paris: 2.Sprecher: [Regie: über Einblendung 1 legen/verblenden/Zitat] „Es wird ein Tag kommen, wo du Frankreich, du Russland, du Italien, du England, du Deutschland, wo ihr Nationen des Kontinents alle, ohne eure besonderen Eigenschaften und eure ruhmreiche Individualität einzubüßen, euch innig in eine höhere Einheit verschmelzen und die europäische Brüderlichkeit bilden werdet.“ 1.Sprecher: Wie kein anderer hatte Hugo das Gewissen der Völker aufzurütteln versucht – nach der gescheiterten Revolution von 1848. Und wie kein anderer hatte der französische Dichter und Republikaner für die europäische Einheit gekämpft: 2.Sprecher: für das Recht auf Arbeit in Europa, für die Rechte der Frauen und Kinder, den Wegfall aller Armeen und für eine gemeinsame Währung. 1.Sprecher: Das war Hugos Vision. In der Realpolitik spielte sie damals allerdings keine Rolle. Im Gegenteil, während des 19. Jahrhunderts setzte sich das Prinzip der Nationalstaatlichkeit durch. Konflikte wurden bewusst in Kauf genommen, und notfalls 2 galt der Krieg als legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, so der Historiker Dieter Langewiesche: Einblendung 2: Dieter Langewiesche [0:37] „Es gelang damals nicht, Europa zu einer Ordnungsidee zu formen, von der politische Gestaltungskraft ausging. Darüber nachgedacht hat man durchaus ... friedlich kooperierten ... übte eine große Faszination aus. In der populären Idee vom europäischen Völkerfrühling ist sie zu erkennen. Aber die Zukunft gehörte dem Europa der Nationalstaaten und das war eine blutige Konfliktgeschichte.“ [NDR-Archiv Hannover, Archiv-Nummer 6002784] 1.Sprecher: Europaparlament, Europäischer Völkerbund, Vereinigte Staaten von Europa – heute sind uns all diese Begriffe selbstverständlich. Dabei wurde die Idee von der europäischen Einheit nicht erst im 19. und 20. Jahrhundert geboren. Pläne für den politischen und wirtschaftlichen Zusammenschluss haben eine lange Tradition: Bereits in der Antike war der Name „Europa“ präsent – vor allem in der griechischen Überlieferung. Europa als eine kulturelle Einheit – diese Vorstellung entstand aus einem Gegensatz zu dem, was „nicht Europa“ war, also den damals bekannten Kontinenten Af-rika und Asien mit ihren fremden oder als barbarisch empfundenen Kulturen. Einblendung 3: Claudio Monteverdi „Madrigali guerrieri“ [ : ] [Taverner Consort and Players/Andrew Parrott, EMI Records 1994, LC 0110] 1.Sprecher: [Regie: über Einblendung 3 legen/verblenden] Im 16. und 17. Jahrhundert wurden erste konkrete Europamodelle formuliert. Sie zielten darauf ab, die Einheit der Christenheit herzustellen und den absolutistischen Machtansprüchen einzelner Monarchen oder Staaten entgegenzutreten. Zu diesen Vordenkern ge-hörte Maximilien de Béthune Herzog von Sully. Der Berater und Minister des französischen Königs Heinrich IX. von Frankreich entwarf um 1640 seine Idee von der christlich-europäischen Gemeinschaft: Danach bilden 15 gleich starke Staaten einen „europäischen Bund“. Es gibt ein gemeinsames Heer, das von allen Mitgliedern unterhalten wird. Ein allgemeiner Rat ist mit höchsten richterlichen und politischen Funktionen ausgestattet. Seine Mitglieder werden für drei Jahre gewählt. Das Gremium tagt an wechselnden Orten, darunter auch Straßburg. Und schließlich fordert Sully die Aufhebung der Zollgrenzen und Handelsfreiheit. 3 Einblendung 3: Claudio Monteverdi „Madrigali guerrieri“ [ : ] 1.Sprecher: [Regie: über Einblendung 3 legen/verblenden] Zu den wichtigsten Vertretern eines europäischen Staatenbundes gehörte in der Folgezeit William Penn. Der englische Staatsmann schlug Ende des 17. Jahrhunderts vor, ein gesamteuropäisches Parlament einzurichten. Nachzulesen ist dies in seinem berühmten ... 2.Sprecher: [Regie: Zitat] „Essay zum gegenwärtigen und künftigen Frieden von Europa durch eines europäischen Parlaments, Reichstages oder Staatsbundes“. Einblendung 4: Musikakzent 1.Sprecher: [ : Schaffung ] [Regie: über Einblendung 4 legen/verblenden] William Penn wird 1644 als Sohn eines Admirals in England geboren. Als Student schließt sich der wohlsituierte Agitator den Quäkern an und hält Straßenpredigten, die der offiziellen anglikanischen Kirchenlehre widersprechen. Nach dem Tod seines Vater hinterlässt ihm dieser ein ansehnliches Vermögen und hohe Geldforderungen an die britische Krone. König Karl II. löste sie dadurch ein, dass er Penn einen riesigen Landstrich in Nordamerika als Besitz überträgt. Diesen nennt Penn im Andenken an seinen Vater Pennsylvania. Und er wird erster Gouverneur des neu errichteten Staates. Hier versucht Penn seine Grundsätze von Toleranz und Gewaltlosigkeit umzusetzen. Doch das Experiment scheitert und endet mit Intervention der britischen Krone: Penn wird als Gouverneur gestürzt. In dem 1692 veröffentlichten Essay versuchte Penn, seine Amerika Erfahrung auf die europäischen Machtverhältnisse anzuwenden: 2.Sprecher: [Regie: Zitat] „Der ist kein Mensch, sondern nur eine Steinsäule oder ein Eisenklotz, wer nicht in seinem Innersten aufgerührt wird von der blutigen Tragödie des Krieges in Ungarn, in Deutschland, Flandern und auf den Meeren.“ 1.Sprecher: Penn forderte einen europäischen Staatenbund mit einem Bundesparlament zu gründen. Die Stimmenverteilung orientierte sich an der Größe und Stärke der einzelnen Staaten. Die Zahl ihrer Vertreter wollte Penn nach dem jährlichen Staatseinkommen festlegen. Und auch die Türken und Moskowiter sollten in den Bund aufgenommen werden - eine für Ende des 17. Jahrhunderts unerhörte Vorstellung. Schließlich war der Kampf gegen Heiden und Häretiker das Hauptargument gewesen für europäische Einigungspläne. Über die Allgewalt der 4 Fürsten schrieb Penn: 2.Sprecher: „Wenn das als Einschränkung [Regie: Zitat] ihrer Macht bezeichnet wird, so heißt 5 es nur, dass der große Fisch nicht länger die kleinen auffressen darf, und dass alle Staaten in gleicher Weise vor Übergriffen geschützt sind und daran gehindert werden, solche zu begehen.“ 1.Sprecher: Großen Wert legte Penn auf Ehrenstreit über Rangfragen beispielsweise der Sitzungssaal hatten geheim zu erfolgen, um 2.Sprecher: Protokollfragen und auf Vorkehrungen, damit kein innerhalb der Versammlung entsteht. So sollte rund sein und mehrere Türen haben. Abstimmungen so der Bestechlichkeit vorzubeugen: [Regie: Zitat] „Ein solches überstaatliches Parlament wird Blutvergießen verhindern, das Ansehen des Christentums steigern, Geld sparen und Verwüstungen verhüten. Wir können uns leicht die Bequemlichkeiten und den Vorteil vorstellen, mit dem Reisepass eines beliebigen Landes durch die Staaten Europas zu reisen, wobei dieser Pass durch die Liga des Friedensstaates legitimiert wird.“ 1.Sprecher: In seiner kleinen, kaum 20 Seiten umfassende Schrift, formulierte William Penn bereits eine Fülle prophetischer Vorschläge zur europäischen Einheit. Einblendung 5: Musikakzent [ : ] 1.Sprecher: [Regie: über Einblendung 5 legen/verblenden] In der Person des Abbé Charles Irenée de Saint-Pierre erwuchs der Europaidee ein weiterer bedeutender Protagonist. 1713 veröffentlichte de Saint-Pierre ein dreibändiges Werk: 2.Sprecher: [Regie: Zitat] „Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe – Der Traktat vom ewigen Frieden“. 1.Sprecher: Darin hatte der Abbé die Idee eines europäischen Wirtschaftsbundes entworfen: De Saint-Pierre wird 1658 in der Nähe von Cherbourg geboren, stammt aus einer alten Adelsfamilie und bekleidet am königlichen Hof ein hohes geistliches Amt. Zudem betätigt er sich als Dichter und wird Mitglied der Académie Francaise, der ältesten und wich-tigsten französischen Gelehrtengesellschaft, die ihn jedoch ausschließt, weil de Saint-Pierre die Herrschaft des Sonnenkönigs Ludwig XIV. kritisiert. 6 Nach de Saint-Pierre sollten sich die christlichen Staaten in einer Föderation zusammenschließen, um auswärtigen Gefahren als auch Kriegen im Inneren vorzubeugen. Die bestehenden Herrschafts-verhältnisse blieben bei ihm allerdings unangetastet. 2.Sprecher: [Regie: Zitat] „Der europäische Bund mischt sich nicht in die Regierung der einzelnen Staaten. Er sorgt nur für die Erhaltung ihrer Verfassung im Ganzen und leistet den Herrschern und den Behörden der Freistaaten Beistand gegen Aufruhr und Umwälzungen.“ ((....)) 1.Sprecher: Im Interesse der internationalen Verkehrsentwicklung sollen die Handelsgesetze in allen Ländern gleich sein. Der Warenverkehr bleibt zollfrei. (....) Einblendung 6: Igor Strawinsky „Geschichte vom Soldaten“ [ : ] [Neeme Järvi, Chandos 1986, LC 7038, Best.Nr. 7120] 1.Sprecher: [Regie: über Einblendung 6 legen/verblenden] Der Abbé de Saint-Pierre prognostizierte die europäische Einheit auf die Mitte des 20. Jahrhunderts. Obwohl von Zeitgenossen wie Friedrich II. wurden seine Vorstellungen zum Vorbild französischer Pazifisten. Vor allem nach den schrecklichen Erfahrungen nach gigantischen Materialgefechten mit Millionen kalkulierter einer europäischen Einigung wieder aufgegriffen: oder Voltaire verhöhnt, Internationalisten und des Ersten Weltkriegs, Opfer wurde die Idee Einblendung 6: Igor Strawinsky „Geschichte vom Soldaten“ [ : ] 1.Sprecher: [Regie: über Einblendung 6 legen/verblenden] 1925, im Pakt von Locarno, verzichten Deutschland, Frankreich und Belgien auf die gewaltsame Veränderung ihrer gemeinsamen Grenzen. Sicherheit durch Kooperation, durch wirtschaftliche Verbindungen - die Architekten der Versöhnungspolitik erhalten dafür den Friedensnobelpreis: der französische Außenminister Aristide Briand und sein deutscher Kollege Gustav Stresemann. Einblendung 7: Gustav Stresemann [ : ] „Die Aufgabe unserer Gegenwart ist nicht gegenüber dem, was ge-schehen ist, in Träumen der Resignation zu versinken und ledig-lich wehmütig der Zeit zu gedenken, da der Sonnenglanz der Welt-geltung das Herz jedes Deutschen erwärmte (...) sondern Hand ans Werk zu legen, um einen neuen Bau zu 7 zimmern, der die guten Grundsteine der Vergangenheit benutzt (...)und so zunächst ein Haus zimmert, indem wir wohnen können.“ [DRA-Frankfurt „Von Pan-Europa zur Europäischen Union“, DHM/DRA II-2003] 1.Sprecher: Die deutsch-französische Aussöhnungspolitik gewann zahllose Fürsprecher. entstanden Vereinigungen - mit dem Ziel, internationale Konflikte auszutragen und kontinentale Vereinbarungen zu schließen. Am bekanntesten „Paneuropa-Bewegung“. Gegründet hatte sie 1923 der österreichische Graf Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi: Und es friedlich war die Richard 2.Sprecher: [Regie: Zitat] „Europäer! Europäerinnen! Europas Schicksalsstunde schlägt! In europäischen Fabriken werden täglich Waffen geschmiedet, um europäische Männer zu zerreißen. Dieser drohende Krieg bedeutet den gründlichen Untergang Europas, seiner Kultur und Wirtschaft. Andere Erdteile werden an dessen Stelle treten. Die einzige Rettung ist: Paneuropa; der Zusammenschluss aller demokratischen Staaten Kontinentaleuropas zu einer internationalen Gruppe, zu einem politischen und wirtschaftlichen Zweckverband: die Vereinigten Staaten von Europa!“ 1.Sprecher: Coudenhove-Kalergi in seinem „Paneuropäischen Manifest“. Dem 1894 geborenen österreichischen Diplomatensohn schwebte eine Födera-tion nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika vor – allerdings unter Ausschluss Großbritanniens, der UdSSR und als wirtschaftspolitischer Gegenpol zu den USA. (...) (....) Einblendung 6: Igor Strawinsky „Geschichte vom Soldaten“ [ : 1.Sprecher: ] [Regie: über Einblendung 6 legen/verblenden] Gustav Stresemann und Aristide Briand setzten sich ebenso für die Paneuropa-Idee ein wie Richard Strauß, George Bernard Shaw, Albert Einstein, Thomas und Heinrich Mann. Letztlich blieb die Paneuropa-Bewegung ohne Erfolg. Es gelang ihr nicht, Einfluss auf die verschiedenen Regierungen auszuüben. Von vielen wurde Coudenhove-Kalergi als elitärer Utopist und Romantiker verspottet, von anderen als Idealist geehrt: Einblendung 8: Graf von Coudenhove-Kalergi [ : ] „Europäer aus allen Teilen unseres Kontinents sind hier zusammengekommen, um 8 hier im Augenblick höchster politischer Verwirrung und Verwilderung den europäischen Gedanken hochzuhalten und für die europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu arbeiten.“ [DRA-Frankfurt „Von Pan-Europa zur Europäischen Union“, DHM/DRA II-2003] 1.Sprecher: Coudenhove-Kalergi auf einer Kundgebung 1934 in Wien: Einblendung 8: Fortsetzung Coudenhove-Kalergi [ : ] „Denn die Zeit ist reif. Denn wer durch den Schein hindurch sieht, erkennt die neuen Formen der Politik und Wirtschaft, die sich anbahnen. Er erkennt die Umrisse der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der europäischen Ideengemeinschaft, des kommenden europäischen Staatenbundes ... Dann braucht es Paneuropa.“ [DRA-Frankfurt „Von Pan-Europa zur Europäischen Union“, DHM/DRA II-2003] 1.Sprecher: [Regie: über Einblendung 8 legen/verblenden] Unter dem NS-Regime wurde die Paneuropa-Union verboten. Die Nationalsozialisten setzten mit ihrem antijüdischen, antibolschewistischen Kreuzzug andere , verheerende Schwerpunkte. Einblendung 9: Musikcollage „Kristallnacht/Europahymne“ [ : ] [John Zorn „Kristallnacht“, Tzadik Records 1993, 7301] [Daniel Barenboim, Ludwig van Beethoven/The Ninth Symphonies, WEA 1999, LC 4281] 9